Frei und auf den Beinen und gefangen will ich sein - Paul Eisewicht - E-Book

Frei und auf den Beinen und gefangen will ich sein E-Book

Paul Eisewicht

4,8

Beschreibung

"Das Maß aller Dinge der Indie-Szene sind Natürlichkeit, Ehrlichkeit, Authentizität. Die Konstruktion der Authentizität ist jedoch ein bisweilen mühsamer Prozess." Der Anspruch dieser außergewöhnlichen Studie war nicht weniger als "eine möglichst präzise Beschreibung und das Verstehen der zentralen Handlungspraktiken und sozialen Mechanismen der Indie-Szene". Das nun vorliegende Werk - die erste sozialwissenschaftliche Buchpublikation zur Indie-Szene überhaupt - ist mehr: ein motivierendes Beispiel dafür, was eine moderne, ihren Untersuchungsgegenstand ernst nehmende Jugendkulturforschung zu leisten vermag. "Endlich soziologisch erforscht: die Indie-Szene.Wenn sich die Soziologie popkulturellen Phänomenen widmet, sind es meistens welche, deren Anhänger stark auffällig sind - sei es äußerlich, sei es durch Gewalt oder Drogenkonsum, sei es durch schiere Masse. Oft klingt zwischen den Zeilen eine Sorge um die Jugend durch, manches wird unter "Abweichendes Verhalten" subsumiert. Um die Leute, die in die Indie-Disco gehen und die entsprechenden Konzerte besuchen, muss man sich eher nicht so viel Sorgen machen, aber erkennen und unterscheiden kann man sie schon - also kann man sie auch soziologisch beschreiben. Das haben Paul Eisewicht und Tilo Grenz getan. (...)Die Abgrenzung vom Mainstream ist natürlich wichtig, aber zunehmend kompliziert: "Wieder eine tolle Band an die Massen verloren", klagt eine Interviewte über den Erfolg von Snow Patrol. Und der Wert der Natürlichkeit wird mit großem Stylingaufwand hergestellt, die Haare kunstvoll verwuschelt. Harmonie ist wichtig, wenig Konflikte mit den Eltern. Schön auch, mal ein Schaubild zu sehen, in dem die szeneinternen Abgrenzungen von "Fakes" und "Indie-Spießern" hergeleitet werden. Wer als Indie-Anhänger ein bisschen Toleranz für soziologischen Jargon aufbringt, wird bei der Lektüre hübsche Momente des (Selbst-) Erkenntnisgewinns haben." Felix Bayer in: Musikexpress

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Die Autoren:

Paul Eisewicht, geboren 1983, und Tilo Grenz, geboren 1981, sind Diplom-Soziologen und studierten beide bis 2008 an der Technischen Universität Dresden Soziologie, Sozialpsychologie und Sozialpädagogik. Im selben Jahr begannen sie ihre Arbeit am Institut für Soziologie, Medien- und Kulturwissenschaft des heutigen Karlsruher Institut of Technology am Lehrstuhl für Soziologie unter besonderer Berücksichtigung des Kompetenzerwerbs bei Prof. Michaela Pfadenhauer.

Das vorliegende Buch ist die in Teilen abgeänderte und verkürzte Form der von uns an der Technischen Universität Dresden im Jahre 2008 gemeinsam eingereichten Diplomarbeit „Indie – Eine Form (post)moderner Vergemeinschaftung?‘“. Dieses Buch, das legt die in vieler Hinsicht so schnelllebige Szene bereits nahe, muss als eine Momentaufnahme verstanden werden, als eine Geschichte, deren Vervollständigung, Weitererzählung und auch Kritik dem interessierten Leser obliegt. Diese Einschränkungen sollen uns jedoch nicht etwa aus der Affäre naheliegender Diskussionen und Beanstandungen ziehen.

Für die Möglichkeit zur Veröffentlichung gilt dem Archiv der Jugendkulturen e.V. unser besonderer Dank. Für die Ermunterung zur Publikation überhaupt und für sein herzliches Engagement in unserer Sache schulden wir Ronald Hitzler größten Dank. Für ihren Zuspruch und die Hilfe bei der Zusammenstellung des Fotomaterials danken wir Richard Kämmert, Helen Hart und Friederike Haupt.

„FREI UND AUF DEN BEINENUND GEFANGEN WILL ICH SEIN.“

ÜBER DIE „INDIES“

Wissenschaftliche Reihe, Band 5

Originalausgabe© 2010 Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, BerlinAlle Rechte vorbehalten1. Auflage März 2010

Herausgeber:Archiv der Jugendkulturen e.V.Fidicinstraße 3, D – 10965 BerlinTel.: 030 / 694 29 34; Fax: 030 / 691 30 16E-Mail: [email protected]

Vertrieb für den Buchhandel: Bugrim (www.bugrim.de)Auslieferung Schweiz: Kaktus (www.kaktus.net)Privatkunden und Mailorder: www.jugendkulturen.de

Lektorat: Silke EckertUmschlaggestaltung und Layout: Conny Agelunter Verwendung eines Fotos von Meaghan Rahamut, FlickrTitel-Zitat: Die Sterne: Gesprächs-Collage (1997)Druck: werbeproduktion bucherISBN Print: 978-3-940213-53-2ISBN E-Book: 978-3-940213-82-2

Das Berliner Archiv der Jugendkulturen e. V. existiert seit 1998 und sammelt – als einzige Einrichtung dieser Art in Europa – authentische Zeugnisse aus den Jugendkulturen selbst (Fanzines, Flyer, Musik etc.), aber auch wissenschaftliche Arbeiten, Medienberichte etc., und stellt diese der Öffentlichkeit in seiner Präsenzbibliothek kostenfrei zur Verfügung. Darüber hinaus betreibt das Archiv der Jugendkulturen auch eine umfangreiche Jugendforschung, berät Kommunen, Institutionen, Vereine etc., bietet jährlich bundesweit rund 120 Schulprojekttage und Fortbildungen für Erwachsene an und publiziert eine eigene Zeitschrift – das Journal der Jugendkulturen – sowie eine Buchreihe mit ca. sechs Titeln jährlich.

Das Archiv der Jugendkulturen e. V. legt großen Wert auf eine Kooperation mit Angehörigen der verschiedensten Jugendkulturen und ist daher immer an entsprechenden Reaktionen und Material jeglicher Art interessiert. Die Mehrzahl der Archiv-MitarbeiterInnen arbeitet ehrenamtlich. Schon mit einem Jahresbeitrag von 48 Euro können Sie die gemeinnützige Arbeit des Archiv der Jugendkulturen unterstützen, Teil eines kreativen Netzwerkes werden und sich zugleich eine umfassende Bibliothek zum Thema Jugendkulturen aufbauen. Denn als Vereinsmitglied erhalten Sie für Ihren Beitrag zwei Bücher Ihrer Wahl aus unserer Jahresproduktion kostenlos zugesandt.

Weitere Infos unter www.jugendkulturen.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort von Professor Karl Lenz

Danksagung der Autoren

1.        Einleitung

I.         THEORETISCHE GRUNDLAGEN & AKTUELLE PERSPEKTIVE

2.        Zugang zum Begriffsfeld: Gesellschaft, Gemeinschaft, Szene

2.1      Das Projekt der Vergemeinschaftung – eine Hinführung

2.2      Die anderen „Modernen“ und die Folgen für den Menschen

2.3      Biologisch abbaubares Plastik – Gemeinschaftsprojekte revisited

2.4      Szenen als Formen gegenwarts-gesellschaftlicher Vergemeinschaftung

2.5      Szenen und Jugend

2.6      Szenen als Erlebnis- und Identitätsprojekte – einige Anmerkungen

3.        Aktuelle Szeneforschung – ein prominentes Beispiel

3.1      Indie und Szeneforschung?

3.2      Die Szenekartographie nach Hitzler, Bucher, Niederbacher

II.        DURCHFÜHRUNG DER STUDIE

4.        Die Zielsetzung und Forschungsfragen

5.        Die Grounded Theory als Methodologie und Methode

5.1      Hinführung und Vorannahmen

5.2      Das Begriffswerk und die Verfahrensschritte

5.3      Praktische Hinweise zur Eignung der Grounded Theory

5.4      Das Experteninterview

5.5      Zur Eignung des Experteninterviews im Rahmen der Grounded Theory

6.        Anmerkungen zur Datenerhebung und -auswertung

6.1      Überlegungen zur Forschungsökonomie

6.2      Der Expertenstatus und Interviewakquise

6.3      Das leitfadengestützte offene Interview

6.4      Vorstellung der geführten Interviews

III.       ZUR HERSTELLUNG VON ZUGEHÖRIGKEIT IN DER INDIE-SZENE

7.        Abstract

8.        Was ist überhaupt Indie?

8.1      Streifenshirt und Strokes im Ohr – persönliches Vorwissen

8.2      Die Begriffsbedeutung

8.3      Was bedeutet Pop?

8.4      Die geschichtliche Entwicklung von Indie

9.        Die Gesellung in der Szene, ihr soziales Profil und Zugangsmöglichkeiten

9.1      Über die Aspekte der allgemeinen Gesellung

9.2      Die Szene als sozialer Ort und die Möglichkeiten des Zugangs

9.3      Die individuelle Szeneorientierung – zwischen personal und kollektiv

10.      Das Weltbild des Indie

10.1     Die Rolle der Werte und Einstellungen.Der Indie zwischen Natürlichkeit und Erlebnis

10.1.1 Der Zusammenhang von globalen Werten, Einstellungen, Szene und lokalen Szenegemeinschaften

10.1.2 Eine Zusammenschau globaler Indie-Werte

10.2     Die Bezugs- und Verbreitungsmedien

10.2.1 Von tanzbar bis melancholisch – die Musik

10.2.2 Von abgetragen bis schick und immer authentisch – die Kleidung

10.2.3 Die Verbreitungsmedien

10.3     Abgrenzungsmotive

10.3.1 Der Mainstream – die Infragestellung eines bekannten Unbekannten

10.3.2 Die Abgrenzungen von den Lebensstilen anderer Gruppen

10.3.3 Die Distanz der Szene zu sich selbst

11.      Die Routinen und Strategien des Zugehörigkeitsmanagements

11.1    Indie-Mädchen und -Jungen – Geschlecht als Orientierungsmuster

11.2    Der vertraute Fremde – das Kontaktverhalten

11.3    Freund und Indie oder Indie und Freund – das Beziehungsverhalten

11.4    Gespräche als Mittel der Zugehörigkeits-bekundung und -positionierung

11.5    Die Bezugsmedien – Beschaffung und Rezeption von Kleidung und Musik

11.5.1 Der kleine Laden um die Ecke und der Großmarkt nebenan – zur Beschaffung

11.5.2 Intensive Recherche und ausgelassener Tanz – zur Rezeption

11.5.3 Musik und Kleidung zwischen Suche und Schöpfung – Verschränkungen von Beschaffung und Rezeption

11.5.4 Der Kreislauf von Verfügung, Rezeption und Recherche

12.     Die Typologie des Zugehörigkeitsmanagements

12.1    Orientierung, Rezeption und Darstellung – eine Zusammenschau

12.2    Entfaltung der Typologie am Beispiel der Musikrecherche

12.3    Kurzcharakterisierung der Typen des Zugehörigkeitsmanagements

13.     Stabilität, Mobilität und Entwicklung als Folgen des Zugehörigkeitsmanagements

13.1    Zur Grundlage der Reaktualisierung

13.2    Status und Verlauf als Prozesse der innerszenischen Mobilität

13.2.1 Der Status als Ergebnis kommunikativer Wissensbekundungen

13.2.2 Der Verlauf – „typische“ Entwicklungsphasen und -wege

13.3    Vermassungs- und Kommerzialisierungserscheinungen innerhalb der Szene – ein Wandel?

13.3.1 Allgemeine Hinweise zum Wandel

13.3.2 Handlungspraktische Ursprünge der Vermassung und Kommerzialisierung

13.3.3 Vormarsch und Rückzug – unterschiedliche Reaktionen auf den Szenewandel

IV.        SCHLUSSBETRACHTUNG

14.     Indie im Anschluss an die Szeneforschung

14.1    Ist Indie eine Szene?

14.2    Sind Szenen gleich Szenen?

14.3    Individualisierte Szene – riskante Vergemeinschaftung

15.     Qualitätssicherung, Limitierung und Ausblick

15.1    Einige Worte zur Qualitätssicherung

15.2    Limitierung und Ausblick

16.     Epilog

16.1    Zusammenfassung

16.2    Schlussbemerkungen

Abbildungsverzeichnis

Literaturverzeichnis

VORWORT VON PROFESSOR KARL LENZ

Als Paul Eisewicht und Tilo Grenz das erste Mal zu mir kamen, um ihr geplantes Diplomarbeitsthema vorzustellen, musste ich meine Unkenntnis eingestehen. „Indies? Was ist das für eine Jugendkultur?“ Sicherlich mag dazu beigetragen haben, dass ich mich aus dem Gebiet der Jugendforschung, in dem meine Dissertation angesiedelt war, schon seit zwei Jahrzehnten verabschiedet habe. Ich vermute aber, dass jenseits der aktiven SzenenforscherInnen auch heute viele noch mit einer ähnlichen Frage reagieren, wenn sie dieses Buch in die Hand nehmen. Mir konnte damals gleich Aufklärung geboten werden. Schon am Anfang ihrer Diplomarbeit, als diese eine bloße Idee war, waren die beiden Autoren im hohen Maße kundig und gaben mir einen informativen ersten Einblick in diese Vergemeinschaftungsform. Mit Indie griffen die beiden Autoren eine Jugendszene und damit ein teilkulturelles Phänomen auf, welches sich trotz seiner jugendkulturellen Popularität bis dato der neuen wissenschaftlichen Forschung entzogen hat. „Indie“ leitet sich – ich lernte es und gebe es gerne weiter – von dem englischen Wort „independent“ ab. Angezeigt wird mit diesem Namen ein Code, der auf Unabhängigkeit, Eigenständigkeit, Selbstorganisation und Selbstständigkeit abzielt. Abgelehnt wird alles – in der Musik und in der Lebensführung –, was massenhaft, allseits bekannt und nicht authentisch ist, also nicht als Ausdruck von Individualität gedeutet werden kann.

In vielen Diskussionsrunden während der Bearbeitung erweiterte sich mein Kenntnisstand. Weit übertroffen wurde dies alles allerdings dann durch das Lesen der fertigen Diplomarbeit. Zuerst schon mal rein quantitativ: Das Gemeinschaftswerk, das für mich ein Musterbeispiel einer gegenseitigen intellektuellen Anregung und Befruchtung ist, umfasste in der vorgelegten Form gut 250 Seiten. Hinzu kam ein Anhang, der sich über 400 Seiten erstreckte und umfangreiche Arbeitsmaterialien umfasste. Aber noch viel wichtiger war die Qualität: Trotz der begrenzten Bearbeitungszeit für eine Diplomarbeit gelang es den beiden Autoren, eine dichte Beschreibung der untersuchten Szene zu präsentieren, die schlicht beeindruckt. Wer dieses Buch liest, bekommt nicht nur einen Einblick in die Szene, sondern erfährt zugleich auch, wie aufschlussreich eine theoretisch inspirierte soziologische Analyse einer Vergemeinschaftungsform sein kann.

Die vorliegende Arbeit ragt weit über das zu erwartende Niveau einer Qualifikationsarbeit hinaus. Aus diesem Grunde begrüße ich sehr, dass diese Studie nunmehr veröffentlicht werden kann. Durch die freundliche Unterstützung des Verlags des Archivs der Jugendkulturen e.V. in Berlin können Paul Eisewicht und Tilo Grenz ihre umfangreiche Forschung einem größeren Leserkreis zugänglich machen und diesem geben, was sie mir gegeben haben: einen kompetenten Einblick in eine fremde Welt. Für die Veröffentlichung wurde die Arbeit überarbeitet und komprimiert. Auch wurde sie durch eine Reihe illustrativer Fotografien erweitert, die die Analyse der Indie-Szene visuell bereichern.

Für ihre Forschungsarbeit und ihre herausragenden Studienleistungen wurden die beiden Autoren im letzten Jahr an der Technischen Universität Dresden mit der Viktor-Klemperer-Urkunde ausgezeichnet, die jeweils an die besten 2% der AbsolventInnen eines Studienganges verliehen wird. Dass herausragende Studienleistungen auch den Berufseinstieg erleichtern, haben die beiden Autoren ebenfalls unter Beweis gestellt. Unter hohem Zeitdruck mussten sie ihre letzten Prüfungen absolvieren, um eine bereits in Aussicht gestellte Stelle an der Universität Karlsruhe rechtzeitig antreten zu können. Da sie – wie schon bei der Erarbeitung dieser Studie – im „Doppelpack“ bei Michaela Pfadenhauer eine Stelle antreten konnten, können sie auch weiterhin gemeinsam an ihrem Themenfeld der Szenen- bzw. Vergemeinschaftungsforschung weiterarbeiten. Ich wünsche diesem Buch viele begeisterte Leser, von denen ich der erste sein dürfte. Auch bin ich sicher, dass die soziologische Kreativität beider Autoren uns noch manches zu lesen geben wird, worauf ich mich schon jetzt freue.

DANKSAGUNG DER AUTOREN

Nach teils abenteuerlichen Reisen, äußerst spannenden Gesprächen, lehrreichen Erfahrungen, langen, bis tief in die Nacht geführten Diskussionen, durchaus an die Substanz gehenden Kontroversen, unter denen auch unser Umfeld mitunter leiden musste, und mehr denn je fasziniert von der praktischen Sozialforschung, können wir nun diese Arbeit vorlegen. Wir hoffen, an ihr gewachsen zu sein und fühlen uns, wenigstens ein bisschen, gereift.

Für die gesamte Betreuung, das Führen auf den richtigen Weg und ein immer offenes Ohr danken wir in erster Linie Herrn Professor Karl Lenz sowie PD Gabriela Christmann. Besonders aufschlussreich, auch wegen der thematischen Nähe seiner eigenen Forschungsarbeit, waren die Gespräche mit Sebastian Schröer. Da wir sicher ohne die Ausführungen von Professor Ronald Hitzler während des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie nicht auf das spannende Feld der Szeneforschung aufmerksam geworden wären, gilt natürlich auch ihm großer Dank. Für den immer wieder anregenden Meinungsaustausch und ermunternden Beistand möchten wir uns bei Martin Förster und Frank Nicht bedanken. Paul Eisewicht dankt seiner gesamten Familie für die liebevolle Unterstützung in jeglicher Hinsicht während der Arbeit und darüber hinaus. Für ihr unermüdliches Engagement und den Beistand in allen Phasen dieser Arbeit als bedingungslose Begleiterin dankt Tilo Grenz seiner Freundin und Frau Natascha.

Aber allen voran gilt der höchste Dank den ungemein freundlichen und zugänglichen Menschen, welche allesamt auskunftsbereit und begeistert mit uns gesprochen und uns mit in ihre Welt des Indie genommen haben. Ohne sie wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen.

Karlsruhe, Oktober 2009Paul Eisewicht & Tilo Grenz

1. EINLEITUNG

Die Argumente nahezu jeder sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdiagnostik lehnen sich in vielgestaltigen Ableitungen an die schon fast schlagwortartig hervorgebrachten Prozesse der gesellschaftlichen Individualisierung und Pluralisierung an. Der Mensch der wie auch immer zu bezeichnenden Moderne sieht sich aus vormalig vertrauten, traditionalen Selbstverständlichkeiten der bestimmten Arbeits-, Sozial- und Lebensformen entlassen. Der Verlust verlässlicher, gleichermaßen umfassender wie alltäglicher Orientierungsmuster geht mit seiner (potenziellen) biografischen Alleinstellung einher. Gleichzeitig sieht sich der moderne Akteur nun einer Vielzahl unterschiedlichster Weltanschauungen und möglichen Handlungsweisen gegenüber. Welchen Berufsweg man etwa einschlägt, welche persönliche Lebensform man wählt, was in den Alltagsinteraktionen als richtig, was als falsch gelten kann, welches Wissen, welche Kenntnisse, welche Fähigkeiten sich später als notwendig erweisen sollen – all diese Entscheidungen sind potenziell aus dem vormals verlässlichen Definitionsbereich gesellschaftlicher Garantien in den unmittelbaren Aushandlungsbereich (biografischer Bastlerei) des Einzelnen verschoben und damit prinzipiell in Disposition. Individuelle Freisetzung und Entscheidungs- bzw. Positionierungszwang sind somit als zwei unmittelbar verschränkte Prozesse zu verstehen.

Diese unbedingte Freisetzung stößt jedoch an ihre Grenzen, indem sie offenbar zu einer Sehnsucht nach Sicherheit in neuem gemeinschaftlichem Zusammenleben führt. Denn die allumfassende Erosion der lange Zeit unhinterfragten Selbstverständlichkeiten betrifft ganz nachhaltig auch die früheren Garanten der individuellen gesellschaftlichen Orientierung, vor allem die dominierenden klassenkulturellen und konfessionellen Institutionen. Die aus den individualisierten Lebenslagen erwachsenden Unbestimmtheiten und Unsicherheiten des Einzelnen gehen also über die nun unüberschaubare Pluralität der Lebensformen und -stile, mit der Entscheidung für unterschiedliche Gesellungsformen einher. Über jene binden sich die Menschen in zunehmendem Maße an neue Gemeinschaftsprojekte, neu abgesteckte Sinnwelten unterschiedlichster Couleur, welche durch die individuelle, freiwillige Zuordnung zu mehr oder weniger verlässlichen Koordinaten der alltagsweltlichen Handlungs- und Deutungsversicherung avancieren.

Vor diesem Hintergrund erfahren die westlichen Gegenwartsgesellschaften einen regelrechten Boom dieser partiellen, freizeitlichen Gesinnungsgemeinschaften. Sie vermögen, häufig über maßgeblich ästhetisch-konsumptorische Angebote, den ungewissen Zustand der Einzelstellung des Menschen (sinnhaft) regelrecht zu überfärben. Das bedeutet, diese Gemeinschaftsprojekte verleihen eine zumindest zeitweilige Gewissheit. Der Begriff der Szenen ist hierbei ein prominenter Verweis auf eine charakteristische Form jener gegenwärtigen Gemeinschaftsprojekte. Beispiele sind dabei die Techno-Szene, die Rollenspieler oder die Sportkletterer. Die mitunter sogar mehrfachen Zugehörigkeiten in diesen Gemeinschaften bzw. zumindest die Orientierungen an kulturellen Symbolvorräten und Verhaltensmustern appellieren an eine notwendig eigenverantwortliche Selbstorganisation. Somit lässt sich treffend von einer individualisierten Vergemeinschaftung sprechen.

Wir leben also in einer Zeit, welche infolge der individuellen Freisetzung und der massiv pluralisierten Lebensstile und Weltanschauungen die selbstbestimmte Entscheidung, personale Einzigartigkeit und (inter)aktive Autonomie zum kulturellen Leitbild schlechthin kürt. Mit Blick auf die zahlreichen Szenestudien scheint es jedoch ganz besonders verwunderlich, dass ausgerechnet jenes Gemeinschaftsprojekt, welches sich die eigene und gleichermaßen kollektive Individualität expressis verbis auf die eigene Namensfahne schreibt, noch keiner sozialwissenschaftlichen Untersuchung unterzogen wurde.

Was ist in einer Zeit unzähliger Lebensstile und Moden überhaupt noch individuell und populär?

Gemeint ist das sich selbst, in Abkürzung des englischen Wortes Independent, als Indie-Szene bezeichnende Gemeinschaftsprojekt. Dieses drückt sich durch einen relativ einheitlichen Lebensstil und eine charakteristische Alltagspraxis aus, spätestens seit seinem Durchbruch in Deutschland mit etwa der Jahrtausendwende. Dabei basiert interessanterweise die Mitglieds- und Kollektivzuordnung, nämlich Indie zu sein, entlang des Kodes der Unabhängigkeit ausdrücklich auf Eigenständigkeit, Selbstorganisation und Selbstständigkeit. Maßgeblich über den thematisch zentralen Musikdiskurs wird sich hier von allem abgegrenzt, was szeneintern als nicht authentisch, nicht unabhängig, massenhaft, allseits bekannt und demnach als nicht eigenständig gedeutet wird. Jedoch, was ist in einer Zeit unzähliger, differenzierter, paralleler Weltanschauungen, Lebensstile und Moden, Wertevorräte und Verhaltensweisen überhaupt noch bzw. schon nicht mehr individuell und populär? Nun ist es zudem so, dass diese mannigfachen kulturellen „Taktgeber“ ganz und gar nicht nur „unter sich“ oder gar verdeckt existieren. Vielmehr muss man sich außerdem das allgegenwärtige Wirken (massen)medialer Präsentationen, Inszenierungen und Selbstdarstellungen dieser verschiedenartigen Anschauungen vor Augen halten, um das Ausmaß der beschriebenen Pluralität halbwegs zu fassen. Und vor all dem erlegt sich die Indie-Szene, scheinbar vermessen, den Zwang stetiger Grenzrealisierung gegenüber einem derartig vielgestaltigen Antipoden auf, welcher jedoch unmittelbar aus der Flüchtigkeitslogik der Gegenwartsgesellschaft selbst erwächst: dem Mainstream.

Vor diesem faszinierenden Kontext der Selbstpositionierung der Indie-Szene interessierte die vorliegende Forschungsarbeit in allererster Linie, was überhaupt in dieser Gemeinschaft vor sich geht. Dabei sollte mit gleichsam kultivierter Naivität und vor allem möglichst unbeeinflusst von betreffenden Konzeptionen aus der soziologischen Literatur das Handlungsfeld der Indie-Szene erschlossen werden. Diese sollte, mit Blick auf die Mitglieder, in ihren wichtigen Merkmalen detailliert beschrieben und hinsichtlich zentraler Mechanismen bzw. typischer Handlungspraktiken erklärbar werden.

Daher ist der in der Ergebnisdarstellung verwendete Szenebegriff zunächst nicht an das existente, soziologische Begriffskonstrukt angelehnt, sondern entspringt in erster Linie der Eigenbeschreibung der Handlungsfeldakteure. Es ist also ausdrücklich keine Ausgangshypothese der vorliegenden Forschung, dass es sich bei Indie um eine Szene nach den in der einschlägigen Literatur spezifizierten Definitionsmerkmalen handelt. Die Verwendung des Begriffs im Präsentationsteil der Studie orientiert sich zwangsläufig an einer Minimaldefinition, welche die Indie-Szene als ein aktuelles teilkulturelles Gesellungsphänomen auffasst. In diesem Ansinnen ist es dabei fast schon Indie, dass hierbei eine Literatur-unabhängige und dem Phänomen eigenständig beikommende, nicht-standardisierte methodische Vorgehensweise zur Anwendung kommen musste. Denn vielmehr soll erst in einem zweiten Schritt in einem eigenständigen Zusatz, und dann mit fundiertem Blick auf das eigenständig erforschte Gemeinschafts-Phänomen, ein Abgleich mit der bekannten Vergemeinschaftungs- bzw. Szenekonzeption im Fach angedeutet werden.

Die vorliegende Arbeit besteht im Kern aus der vorzustellenden empirischen Studie, d. h. aus den gewonnenen Erkenntnissen zum Phänomen Indie. Darüber hinaus ist eine theoretische Klammer eingefügt worden, welche versucht, den Leser bereits im Vorfeld mit dem einschlägigen Diskurs der soziologischen Gemeinschafts- und Vergemeinschaftungskonzeptionen im Allgemeinen und dem spezifischen Modell der Szenen als eine Form gegenwärtiger Vergemeinschaftung im Besonderen, vertraut zu machen. Im Rahmen einer Ergebnisbesprechung soll dann ein kritischer Abgleich zwischen den empirisch gewonnenen Erkenntnissen und den im Vorfeld vorgestellten Diagnosen und Modellen der soziologischen Literatur versucht werden. Hauptaugenmerk liegt jedoch klar auf der empirischen Studie und der entsprechenden Ergebnisdarstellung.

I. THEORETISCHE GRUNDLAGEN & AKTUELLE PERSPEKTIVE

2. ZUGANG ZUM BEGRIFFSFELD: GESELLSCHAFT, GEMEINSCHAFT, SZENE

Dieses Kapitel soll den gemeinschafts- und gesellschaftstheoretischen Bezug der vorliegenden Arbeit erörtern. Im Aufbau dieses Kapitels wird zunächst dem Begriff der Gemeinschaft bzw. der Vergemeinschaftung nachgegangen. Ausgehend von der Konzeption Ferdinand Tönnies werden dabei neuere Sichtweisen und Kritiken eingeflochten. Daran anschließend werden gesellschaftliche Tendenzen erörtert, welche sich auf die Bildung aktueller Gemeinschaftsformen auswirken. Hierbei sind Zygmunt Bauman, Ulrich Beck und Anthony Giddens zentrale Bezugsautoren. Anschließend soll es um den Einfluss der gesellschaftlichen Konstitution auf Formen der Vergemeinschaftung gehen, wobei die Analysen von Gerhard Schulze eingearbeitet werden. Dies führt schließlich dazu, Szenen als eine charakteristische Form der Vergemeinschaftung in der Gegenwart zu beschreiben. In Bezug auf die aktuelle Szeneforschung soll dabei besonders auf die theoretischen und praktischen Ausführungen Ronald Hitzlers eingegangen werden. Es sei dabei darauf hingewiesen, dass die dargelegten Überlegungen für die Studie selbst, entsprechend der Forschungslogik (vgl. Kap. 6), nicht leitend waren. Vielmehr dienen die Betrachtungen der kontrastreichen Darstellung der Arbeit, das heißt, der theoretischen Kontextualisierung der vorliegenden Studie in Bezug zur aktuellen, soziologischen Forschung. In der vorliegenden Arbeit wurde sich explizit an einer autonomen, kritischen Diagnose des Phänomens orientiert, was auch zur Wahl der Grounded Theory führte.

2.1 DAS PROJEKT DER VERGEMEINSCHAFTUNG – EINE HINFÜHRUNG

Die Indie-Szene beschreibt zunächst eine Gruppe von Menschen, die ihr angehören und als ihr zugehörig wahrgenommen werden. Es ist also davon auszugehen, dass eine Verbindung zwischen diesen Akteuren besteht, die über eine systematische, theoretische Zusammenschau hinausgeht, also von diesen selbst realisiert wird (vgl. Tönnies 1988: 3). Demzufolge ist es nahe liegend, dass die Szenezugehörigen in einem Verhältnis zueinander stehen, welches die gegenseitige Wahrnehmung als Gruppe sowie Beziehungen untereinander ermöglicht. Diese grundsätzlichen Vorannahmen werden als uneingeschränkt gültig eingestuft, um sich dem Feld Indie im Rahmen einer soziologischen Studie zu widmen. In diesem Sinne ist es zunächst hilfreich, sich der Gemeinschaftskonzeption der klassischen Soziologie zuzuwenden, um ein einführendes Verständnis der Indie-Szene zu erlangen. Die Darstellung zielt nicht darauf ab, die theoretischen Ausführungen einzeln und erschöpfend zu erörtern, sondern eine synthetische Zusammenschau dessen zu geben, was unter Gemeinschaft verstanden werden kann und was für die hier vorliegende Arbeit in ihrer Betrachtung hilfreich ist.

Festzuhalten ist, dass die Indie-Szene zunächst eine Form der Gesellung ist, in der sich Gesellende ein „Verhalten, das auf Zusammensein mit anderen Menschen ausgerichtet ist“ (Schlichting 1994: 242), aufweisen. Doch darüber hinaus soll die Frage aufgeworfen werden, ob es sich um eine Form der Vergemeinschaftung handelt. Die vergemeinschaftende Verbindung der Menschen beruht auf „subjektiv gefühlter (affektueller oder traditionaler) Zusammengehörigkeit der Beteiligten“ (Weber 1984: 69) und wird in der klassischen Soziologie von der Vergesellschaftung unterschieden. Während nämlich Vergesellschaftung prospektiv, also in die Zukunft gerichtet ist und auf das rational motivierte Aushandeln individueller Anliegen zielt, welche von voneinander verschiedenen Einzelnen geäußert werden, zielt Vergemeinschaftung auf einen Glauben an die Zusammengehörigkeit, der sich auf retrospektive, also vergangenheitsbezo-gene Erfahrungen der Einheitlichkeit der Gruppe gründet (vgl. Bauman 1997: 87; Tönnies 1988: 73, 153). Die dichotome Gegenüberstellung von Gemeinschaft und Gesellschaft, wie sie sich in den Ausführungen von Tönnies darlegt (vgl. Tönnies 1988: 3, 19), verstellt jedoch den Blick auf die gesellschaftliche Eingebundenheit gemeinschaftlicher Formen des Sozialen, also die gesellschaftliche Bedingung dieser (vgl. Bonacker 2007: 165f), ihre anthropologische Begrenztheit (vgl. Gebhardt 1999: 169, 179) sowie die instrumentelle Nutzung gemeinschaftlicher Lebensformen für selbstorientierte Zwecke (vgl. Sennett 1998: 316).

Dennoch orientiert sich die Vergemeinschaftung an einer tendenziell positiv aufeinander eingestellten Beziehung. Weber spricht auch von dem gemeinten Sinn der Vergemeinschaftung, wenn er diese in Opposition zum Kampf bzw. zu negativ aufeinander eingestellten sozialen Beziehungen stellt (vgl. Weber 1984: 70). In Verschärfung der Spannung zwischen realisierter und gemeinter Vergemeinschaftung kann von postulierten Gemeinschaften gesprochen werden. Diese zeichnen die Gemeinschaft als Projekt aus, das aufgrund individueller Entscheidungen der Mitglieder verteidigt und damit reaktualisiert werden muss (vgl. Bauman 2003: 199). Vergemeinschaftung vollzieht sich also durch eine Verhaltensorientierung an dem Gefühl der Zusammengehörigkeit (vgl. Weber 1984: 71), das der individuellen Vorstellung von der Gemeinschaft entspringt. Dieses Gefühl wird als Eigenwert angesehen und von einem Gefallen und Vertrauen begleitet, welches ein gemeinsames Verständnis erzeugt (vgl. Tönnies 1988: 3, 14, 19). Dieses Vertrauen bzw. die Einheit der Gemeinschaft wird zum Teil auch erst durch die Gemeinschaft, z. B. durch einheitliche Kleidung, konstruiert (vgl. Maffesoli 1996: 90f; Mestrovic 1997: 115).

Die konkrete Gemeinschaft als solche zeigt sich maßgeblich an einer gegenseitigen, positiv bewerteten Resonanz der einzelnen Handlungen in der Wahrnehmung und Anerkennung durch andere Gemeinschaftszugehörige. Sie kann sich so allerdings nur aus Interaktionen bilden, d. h. aus den Bestätigungen des eigenen Handelns und eigener Äußerungen durch andere Gemeinschaftszugehörige. Und nur darauf kann sich schließlich aufbauen, worum sich die Zusammengehörigkeit abspielt (vgl. Tönnies 1988: 3, 195), was also der konkrete Inhalt der Vergemeinschaftung ist.

Realisieren kann sich eine Gemeinschaft nach Ferdinand Tönnies als eine des Blutes, des Ortes und des Geistes (vgl. ebd.: 12). Im Rahmen dieser Arbeit ist die Gemeinschaft des Geistes besonders anschlussfähig. Diese Gemeinschaftsform konstituiert sich durch Gleichheit und Ähnlichkeit, welche in zugänglichen, leicht verfügbaren und regelmäßigen Reaktualisierungsmöglichkeiten gegeben ist. Der Eigenwert der Gemeinschaft ermöglicht die räumliche und teilweise zeitliche Loslösung, denn eine derartige Gemeinschaft erwächst aus der selbst gewählten Zugehörigkeit, welche dem Einzelnen innerhalb dieser Gruppe individuelle Freiheiten garantiert. Dies resultiert in einem geteilten Verständnis bzw. geteilten Vorstellungen über die Gemeinschaft, welche die gegenseitige Orientierung aneinander und darin die Orientierung an der Gemeinschaft reaktualisieren (vgl. ebd.: 13-18).1 Gemeinschaft ist zwar nicht direkt aushandelbar oder bestimmbar, wohl aber von Aushandlungsprozessen begleitet und stark auf diese angewiesen. Zentral ist, dass die Gemeinschaft bestehen bleibt, soweit sie im Handeln prozessiert wird.

2.2 DIE ANDEREN „MODERNEN“ UND DIE FOLGEN FÜR DEN MENSCHEN

Eingangs wurde auf die gesellschaftliche Bedingtheit von Gemeinschaften verwiesen, der sich nun zugewandt werden soll. Es soll erörtert werden, wie gesellschaftliche Entwicklungen, auch in den „internen Nebenfolgen der Nebenfolgen industriegesellschaftlicher Modernisierung“ (Beck, Giddens, Lash 1996: 10), auf die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung einwirken. Bezüglich einer diagnostischen Charakteristik werden dabei in der Literatur die unterschiedlichsten Eigenschaftswörter verwendet. In Bezug auf die hier zugrunde liegenden Werke wird u. a. von der „zweiten Moderne“ (Beck, Giddens, Lash 1996) oder von der „Postmoderne“ (Bauman 1997; 1998) gesprochen. Es soll hier allerdings nicht um eine Positionierung gegenüber dieser Unterscheidung gehen. Vielmehr sollen hier Tendenzen aktueller gesellschaftlicher Zustände und Entwicklungen in der Zusammenschau betrachtet werden, um daraus Schlüsse für die Konstitutionen von Gemeinschaften ziehen zu können.

Bei der Betrachtung der verschiedenen Gegenwartsdiagnosen sticht hervor, dass die aktuelle Gesellschaft eine moderne ist, welche sich in ihrer Verfassung jedoch radikal anders darstellt, als es vorherige moderne Gesellschaften getan haben (vgl. Beck 1996b: 30, 45). Dabei wird konstatiert, dass die Gegenwartsgesellschaft sich vor allem durch eine gesteigerte Inkohärenz (vgl. Bauman 1997: 140f) auszeichnet, welche gesellschaftliche Basisverbindlichkeiten früherer Modernen (vgl. Beck 1996b: 19) verwirft. Als Ursache dieses Auflösungsprozesses werden massive Individualisierungs- und Globalisierungstendenzen2 angegeben (vgl. ebd.: 20f; Beck 1998: 303f; Giddens 1996: 115).

Betrachtet man diese Auflösungstendenzen näher, so werden vor allem nicht intendierte Nebenfolgen, mit teils erheblichen Bedrohungspotentialen, ersichtlich (vgl. Hitzler 1998: 81). Hierunter fällt z. B. die massive Ausweitung von gesellschaftlichen und individuellen Unsicherheiten durch die Auflösung von Klassen und das Aufkommen ökologischer Krisen. Es sind nahezu gesellschaftliche Selbstgefährdungen, ausgelöst durch nichtlineare Rationalitätssteigerungen, welche desintegrativ auf der Ebene von Institutionen und Systemen wirken (vgl. Beck 1996b: 45-53). Diese Desintegrationseffekte, die also aus den unerwarteten Nebenfolgen der Rationalitätssteigerung erwachsen, zeitigen massive Risiken und erzeugen Unsicherheiten. Stabilisierende gesellschaftsstrukturelle Verbindlichkeiten, wie sie etwa Religion, Klasse und Nationalität bereitstellten, sind weggefallen. Im Sinne fehlender Verbindlichkeiten kann von einer „posttraditionalen Gesellschaft“ (Giddens 1996) gesprochen werden (vgl. Beck 1996a: 139f). In der Orientierung an Traditionen, sprich der Vergangenheit, können Gesellschaften die Bewältigung der Gegenwart organisieren. Traditionen wandeln sich zwar, weisen aber auf eine emotional bindende Referenz hin, die das Handeln moralisch normiert, legitimiert, ritualisiert und darin letztlich begründet. In Rekurs auf Traditionen erzeugen diese Handlungen ergo Sicherheit und Gewissheit (vgl. Giddens 1996: 122-129).

Jede Wahl unter den möglichen Orientierungen stellt ein Risiko dar.

Die posttraditionale Gesellschaft stellt dem nun einen Pluralismus an möglichen Interpretationen und Orientierungen gegenüber, an denen soziales Handeln orientiert sein kann. Damit gerät das Individuum, als Träger sozialen Handelns, in eine hohe Entscheidungsspannung. Denn jede Wahl unter den möglichen Orientierungen selbst stellt ein Risiko dar, vor allem, da jede mögliche Art von Vertrauen in diese Wahl flüchtig ist (vgl. Beck 1996a: 116-120). Ein entsprechendes Vertrauen generiert sich sozusagen nur aus der Wahl selbst. Es entsteht quasi eine Doppelbelastung für das gesellschaftliche Individuum, das sich nicht nur den unsicheren gesellschaftlichen Veränderungen anpassen, sondern dabei angesichts fehlender gesellschaftsweiter Orientierungen immer wieder partikulare, individualistische Lösungsstrategien erarbeiten muss.

„Riskante Freiheit“

Auf der Ebene des Einzelnen kommt es so zu einer „Verflüssigung des Lebens“ (vgl. Bauman 2003), welche aus der Ungleichheit von individueller Freiheit und Sicherheit erwächst (vgl. Beck 1996a: 116, 189f). In der Freisetzung des Individuums3 weist dieses eine Eigenverantwortlichkeit auf, die in Anbetracht unsicherer Entscheidungshilfen Unsicherheit und Angst erzeugen kann (vgl. Bauman 2003: 199ff; Beck, Giddens, Lash 1996: 9). Mit Blick auf das Individuum kommt es zu einer „riskanten Freiheit“ (Beck, Beck-Gernsheim 1994: 11) der eigenen Biografie, die von traditionalen Lebensformen gelöst ist und in einer gleichsam experimentalen Versuchsanordnung zu einer „Bastelexistenz“ (Hitzler, Honer 1994) gerät. Dies bedeutet, dass persönliche Entscheidungen getroffen, bewertet und gegebenenfalls revidiert werden können und müssen, wenn sie z. B. für das Individuum nicht (mehr) den gewünschten Effekt aufweisen.

Welche Wertmaßstäbe und Verhaltensorientierungen kann der Einzelne folglich bei der Konstruktion und Stabilisierung der eigenen Identität anlegen? Mit welchen sozialen Reaktionen muss er bei bestimmten Identitätsentwürfen und entsprechenden Verhaltensäußerungen rechnen? Und wie wiederum sollte er diese für sich bewerten? Hier kommt es zu einer grundlegenden Subjektivierung. Auf der entscheidungsrelevanten Ebene des Einzelnen gilt nur die subjektiv wahrgenommene Resonanz eigener Handlungen, also das eigene Erfahren bzw. Erleben. Folglich sind entsprechende Wahlen vorrangig an der eigenen Erwartung eines Erlebnisses, an einer „Erlebnisrationalität“ orientiert. Erlebnis bedeutet dabei das Schöne, positiv Bewertete (vgl. Schulze 2005: 35, 39). Darunter fällt auch das Erleben einer emotional aufeinander eingestellten Gruppe (vgl. Maffesoli 1996: 10) und nicht zuletzt auch das Erleben des eigenen Selbst. In diesem Sinne sind Erlebnisse in Projekten der Vergemeinschaftung als solche angelegt und der Wahrnehmung eigener Identität dienlich. Aber auch die Erlebnisorientierung unterliegt der Unsicherheit, was erlebenswert sei und, wenn gewählt, ob es dies dann auch ist. Erlebnis als Orientierung ist dennoch eine zentrale Motivation für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, da sie in der letzten Begründung ausschlaggebend personal gebunden und erfahrbar ist (vgl. Schulze 2005: 59, 431). Der Einzelne kann sich in seiner Entscheidung auf die eigene, emotional und rational gefilterte Wahrnehmung stützen und diese als potenzielle Kontinuität seines Handelns setzen.

Im Zusammenspiel dieser bezeichnenden Subjektivierung von Entscheidungen und der pluralisierten Erlebniswelten zeigen sich Individualisierungstendenzen, welche stets aufs Neue eine Reihe von geradezu symptomatischen Komplikationen auf der Ebene persönlicher Beziehungen hervorbringen. Nun mögen potenzielle Kurzweiligkeit und Brüchigkeit sozialer Beziehungen und dadurch die Gefährdung der eigenen Individualität „der Preis für das Recht sein, individuelle Ziele zu verfolgen, aber [sie] sind notwendigerweise und zugleich ein ziemliches Hindernis beim Versuch, diese Ziele effektiv zu verfolgen“ (Bauman 2003: 200), da jede Wahl riskant ist. Die daher notwendige Segmentierung und Dezentralisierung von Identität führt dazu, dass diese, wie ihr Erlebnis selbst, konstruiert werden kann und muss. Identität bezeichnet dabei die Zusammenschau einer Innen- und Außenperspektive des Selbst, welche im Handeln prozessiert wird (vgl. Kastner 2000: 117, 120). Darin vereint sie den aktuellen wie den angestrebten Zustand des Selbst. Identität entsteht im Prozess dieses Vergleichs.

„Die zentrale Angst war in den modernen Zeiten die Sorge um Haltbarkeit; heute ist es das Interesse an der Vermeidung von Bindung.“

Aufgrund der beschriebenen Zunahme gesellschaftlicher Unsicherheiten nimmt die Bedeutung der eigenen Identität zu, bei der es gilt, anpassungsfähig zu sein, um der gesellschaftlichen Flexibilität folgen zu können. Die eigene Flexibilität ist daher für das Individuum bedeutender als Stabilität und Konsistenz über die Zeit hinweg (vgl. Bauman 1997: 133ff). Dadurch wird die Verfolgung von unverbindlichen, erlebnisorientierten Handlungen erst möglich, deren Erleben immer flüchtig (vgl. Schulze 2005: 40ff) wie auch die verfolgte Identität immer riskant ist (vgl. Beck, Beck-Gernsheim 1994: 13). Oder anders ausgedrückt: „Die zentrale identitätsbezogene Angst war in den modernen Zeiten die Sorge um Haltbarkeit; heute ist es das Interesse an der Vermeidung von Bindung. Die Moderne baute in Stahl und Beton; die Postmoderne in biologisch abbaubarem Plastik“ (Bauman 1997: 134).

2.3 BIOLOGISCH ABBAUBARES PLASTIK – GEMEINSCHAFTSPROJEKTE REVISITED

Unter den Bedingungen einer posttraditionalen Gesellschaft ist nun zu betrachten, inwieweit sich entsprechende posttraditionale Gemeinschaften (vgl. Hitzler 1998) gestalten, worauf sie reagieren und wie sie dies tun, welche Charakteristika ihnen also eigen sind. Wie angedeutet, bedeuten gesellschaftliche Krisen zugleich individuelle Krisen. Die gesellschaftlichen Unsicherheiten und Risiken erzeugen individuelle Unsicherheiten und Sinnkrisen (vgl. Hitzler, Honer 1994: 307). Zum Beispiel erzeugte die Auflösung von Klassen Selbstklärungsfragen der Individuen, die vorher eben jenen Klassen zugeordnet werden und daraus Sicherheit ziehen konnten. In den gesteigerten Ansprüchen an das Individuum kommt es gleichsam zu Krisen des Selbst, welche zudem, angesichts geringer Bindungskraft und Sinngebung traditionaler, gesellschaftlicher Momente, zunehmend selbst bewältigt werden müssen. Sie schaffen dies z. B. durch die Wahl von Zugehörigkeiten, welche zumindest kollektive Sicherheiten bereithalten. Daher erfahren Gemeinschaften eine ganz wesentliche Bedeutungssteigerung für die eigene Identitäts- und Handlungsorientierung (vgl. Bauman 1998: 295; Beck 1996b: 91; Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 30). Gemeinschaften stabilisieren, erweitern und generieren Identitäten in den Selbst- und Erlebniserwartungen der ihr Zugehörigen (vgl. Schulze 2005: 465). In ihnen kann der Einzelne seine Individualität durch Selbststilisierungen konstruieren und dabei auch von anderen kopieren (vgl. Luhmann 1994b: 191ff), gerade auch kollektiv in Anlehnung an bereits in der Gemeinschaft vorliegende Individualitätsentwürfe (vgl. Mestrovic 1997: 111).

Vergemeinschaftungsprojekte werden also massiv gesucht und hängen auch mehr denn je von den individuellen Motivationen ab, diese Gemeinschaft zu tragen und sie auch durch Einheitlichkeit füreinander erkennbar zu machen (vgl. Bauman 2001: 111; Maffesoli 1996: 13, 86). Gemeinschaften unter gegenwärtigen Bedingungen sind maßgeblich über Inszenierungen identifizierbar, z. B. über spezielle Kleidung, Sprachverwendung etc., und von anderen Gemeinschaften darin unterscheidbar. Angesichts der Vielzahl an Vergemeinschaftungsangeboten bedeutet dies auch eine Positionierung und Grenzrealisierung, z. B. über den massiven Konsum bestimmter kommerzieller Güter (vgl. Beck 1996b: 27; Schulze 2005: 186ff), die eine notwendige, tendenziell sogar anti-individualisierende Einheit erzeugen können. Vorgelagerte kommerzielle Angebote ermöglichen meist überhaupt erst die Inszenierung und darüber die Konstitution von Gemeinschaft (vgl. Hitzler 1998: 82). Und in dieser grenzrealisierenden, konsumbasierten Gruppenzugehörigkeit bilden sich flüchtige, ereignisbegrenzte und auf Zeit gestellte Gemeinschaften (vgl. Klein 2004: 42f).

Damit der Einzelne sich einer Gemeinschaft zuordnet, muss er sich vor allem in der Gemeinschaft wohl fühlen, Spaß haben und Außergewöhnliches mit und in ihr erleben, folglich: immer wieder Spaß haben, auch durch anderes und neues Erleben, um dieses Spaßlevel halten zu können. Im Erkennen, dass die anderen eben diesen Spaß auch wollen, dieses Erleben auch suchen, weil sie ihm irgendwie ähnlich sind, bildet sich das Dazugehören-Wollen des Erlebnissuchenden. Denn gerade in der wahrgenommenen Ähnlichkeit, der unterstellten Natürlichkeit der Zugehörigkeit und im Erleben des Selbst und der Gemeinschaft, stabilisieren sich Motivationen der Zugehörigkeit (vgl. Maffesoli 1996: 11; Schulze 2005: 432f; Sennett 1998: 309).

Die Bedeutung von Gruppenzugehörigkeiten für die eigene Identität und Individualität ist dabei hinlänglich bekannt. „[E]s gibt keinen Individualismus in Geschichte und Cultur, außer wie er ausfließt aus Gemeinschaft und dadurch bedingt bleibt“ (Tönnies 1988: XXIII), schreibt Ferdinand Tönnies bereits 1887. In der Gegenwartsgesellschaft ist aber die Vielzahl an verfüg- und erreichbaren Gruppenzugehörigkeiten und Lebensstilen4, die der Selbstversicherung der eigenen Identität, Individualität und dem Erlebnis dienen können, enorm (vgl. Hitzler, Honer 1994: 308; Schulze 2005: 55). Die Reichweite der Zugehörigkeiten und Teilidentitäten ist dabei gegebenermaßen gering und gegenwärtige Gemeinschaftsprojekte erweisen sich vielmehr als „Rüstung mit Reißverschluss“ (Bauman 2003: 199; vgl. Hitzler, Honer 1994: 309f). In ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit müssen und können sie notwendigerweise nur ebenso flüchtig sein. Sie sind für den Einzelnen dennoch von außerordentlicher Wichtigkeit, in ihren positiv bewerteten Folgen und im Rahmen einer Vertrautheit angesiedelt (vgl. Tönnies 1988: 3), die, wenn dieses Vertrauen auch vergänglich ist, zunächst auf eine zeitlich unbefristete Zugehörigkeit angelegt ist. Die Entscheidung, eine bestimmte Musik zu hören, ist eine eigene, aber eine, die in der Gruppe geteilt wird und die Ähnlichkeit zu den anderen herstellt. Darin erweist sie sich als situativ richtig und wichtig für die eigene Identität. So konstituiert sich das Vertrauen, dass diese Gemeinschaft zu einem passt und man selbst zu ihr.

Um kurz zusammenzufassen: Zugehörigkeiten dienen der identitätsstiftenden Verfolgung des Einzelnen (vgl. Bauman 1997: 136-150), als übernommenes Muster einer sozialen Identität (vgl. ebd.: 150-153; Luhmann 1994b), als Grundlage erlebnisorientierter, unverbindlicher, selbstbezogener Handlungen (vgl. Bauman 1997: 156-159; Maffesoli 1996; Schulze 2005) oder als festgelegter Raum für darauf bezogene Statusgewinne und Anerkennungen innerhalb der Gemeinschaft (vgl. Bauman 1997: 159ff; Luhmann 1994b).

Nachdem es bisher um die Beziehung von Individuum und Gesellschaft als auch Gemeinschaft und Gesellschaft ging, stellt sich nun die Frage, wie es sich mit dem Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Gemeinschaftsmitglied verhält. Für die Beantwortung dieser Frage bietet sich der Rückgriff auf das Konzept des Tribes an. Denn, was „die Identität betrifft, so bedeutet Individualisierung: Tribalisierung“ (Bauman 1998: 299). „Tribes“ (Maffesoli 1996) oder „Stämme“ (vgl. Hitzler 1998: 85; Klein 2004: 45ff) stellen eben jene „beweglichen sozialen Konstellationen“ (Klein 2004: 46) dar, die der Konstruktion von Identität und Individualität unter den Erfordernissen der posttraditionalen Gegenwartsgesellschaft dienen. Im Vergleich zu Stämmen nicht moderner Gesellschaften unterscheiden sie sich durch ihren zumeist situativen Charakter und ihre kaum existentielle Funktion für den Einzelnen. Sie sind aber trotz fehlender manifester Grenzen ebenso integrativ wie distinktiv, also grenzrealisierend (vgl. ebd.: 46; Maffesoli 1996: 76). Basis der Vergemeinschaftung sind dabei gemeinsame Interessen und Erfahrungen.

Gerade in seiner Flüchtigkeit entbindet der Tribe von der konkreten, verpflichtenden Funktion des Einzelnen, die er in organisierten Vergemeinschaftungen innehatte, und ermöglicht ihm die freie Übernahme und Anpassung verschiedenster Rollen (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 18; Maffesoli 1996: 76). Es zeigt sich, dass in gegenwärtigen Projekten der Vergemeinschaftung die Individuen tendenziell im Rahmen der Gruppe, an der sie sich orientieren, freigesetzt sind. Dadurch ermöglichen Tribes Zugehörigkeit und Individualität, vor allem in der Außenwirkung gegenüber anderen Stämmen und der Gesellschaft. In der Interessengemeinschaft eines Stammes findet sich aber auch das spezifische Publikum, der Spiegel der eigenen Konstruktionen (vgl. Schulze 2005: 460f). Szenen wiederum sind als Form von Tribes bezeichenbar bzw. stellen möglichen Tribes Rahmen zur Verfügung.

2.4 SZENEN ALS FORMEN GEGENWARTSGESELLSCHAFTLICHER VERGEMEINSCHAFTUNG

Szenen5 sind eine Form der Gesellung und Vergemeinschaftung in dem Sinne, dass sie auf positiv aufeinander eingestellte Beziehungen verweisen, die mit positiv bewerteten Erlebnissen einhergehen. Szenen bieten Erlebnispotenziale (vgl. Klein 2004: 41-45), welche nahezu frei zugänglich sind (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 30) und demzufolge geringe Verbindlichkeiten aufweisen (vgl. Hitzler 2006). Sie bieten tribalisierte, unverbindliche Gemeinschaftserfahrungen (vgl. Klein 2004: 45ff) auf der Basis ähnlicher Interessen (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 20) und sie bieten Ansätze für die eigene Identitätskonstruktion und -inszenierung (vgl. ebd.: 19; Klein 2004: 47-50). In einer kurzen Definition des Begriffes Szene lässt sich zusammenfassen, dass Szenen „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen [sind], die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln“ (Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 20).

Szenen zeichnen sich durch geteilte Interessen aus. Sie fokussieren auf ein bestimmtes Thema, wie z. B. eine bestimmte Musik, Sportart oder Lebensweise. Die geteilten Handlungspraktiken, welche die Szene bereitstellt, wie die sprachlichen und symbolischen Kommunikationen der Szene, sind an diesem Thema ausgerichtet. Sich so ergebende Gesinnungsgemeinschaften weisen zudem unter den Szenemitgliedern geteilte Einstellungen auf (vgl. ebd.: 20f; Schulze 2005: 466). Dies realisiert sich über eine bestimmte Kontaktintensität, Homogenität und Vernetzung unter den Szenemitgliedern. Im Zusammentreffen von Personen an bestimmten Orten zu bestimmten Zeiten und Anlässen, also in Erlebnisangeboten, entstehen und bestehen chancenhaft Szenen, die räumlich und zeitlich verortbar sind (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 20; Schulze 2005: 462).

Szenen sind besonders auf ihre kommunikative Reaktualisierung und Symbolisierung angewiesen. Zudem sind sie in ihrer (Deutungs-) Reichweite begrenzt und kaum umfassend, sie stellen eben „Teilzeitvergemeinschaftungen“ (Gebhardt 2006: 6) dar. Zur Inszenierung und Positionierung im sozialen Feld (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 21f) bilden sie einen spezifischen ästhetischen Stil aus, der als Symbolisierung der Lebensweise dient. Der Stil einer Szene meint dabei Aspekte des Image, der Haltung, des Jargons und der Musik (vgl. Müller-Bachmann 2002: 145). Szenen sind in Anpassung an ihren Stil zwar leicht zugänglich, verfügen aber auch über eigene Wissens- und Kenntnisbestände sowie Kompetenzen, die der Einzelne sich aneignen kann (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 21f).

Da sie den beliebigen Ein- und Austritt von Szenemitgliedern nicht kontrollieren können, sind Szenen labil. Feste Orte zu bestimmten Zeiten dienen als Treffpunkte und Erlebnisräume der Stabilisierung der Gemeinschaft und sind vor allem bezüglich der räumlichen Nähe zum Szenemitglied und dessen Erfahrungen und Wissensbeständen vermittelt. Bedeutend sind zudem jeweils szenetypische Events (vgl. Gebhardt 2000). Events sind konstruierte, zumeist interaktive Veranstaltungen, welche verschiedene Erlebnisse unter Berücksichtigung eines Themas bieten. Sie versprechen Einzigartigkeit und Besonderheit und dienen der intensiven Erfahrung der Gemeinschaft. Dabei können diese Veranstaltungen auch als kommerzielle Angebote gestaltet sein. Events führen Mitglieder in ihren Aktivitäten zusammen und sind so essenziell für die Wahrnehmung und Konstitution der Szene. Über den zentralen Fokus darauf, dass eben etwas passiert, das erlebenswert ist, „verführen“ sie zur Zugehörigkeit (vgl. Gebhardt 2000: 18-21; Hitzler 2000: 403; Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 24, 26f). Dies gelingt ihnen durch die affektuelle Wirkung der Masse und ihrer Exklusivität, also in Antizipation derer, die drin sind, und derer, die es nicht sind (vgl. Gebhardt 2000: 21; Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 29).

Ein weiteres Merkmal besteht darin, dass Szenen aus verschiedenen ineinander in Beziehung stehenden Gruppen bzw. Stämmen bestehen, welche sich selbst der größeren Gemeinschaft der Szene zuordnen (vgl. Gebhardt 2006: 5). Eine Szene ist also in jedem Falle in verschiedener Hinsicht differenziert, wenn auch, etwa im Vergleich zu Organisationen, vergleichsweise unstrukturiert. Gruppen zeichnen sich wiederum durch verdichtete Kommunikationen nach innen aus. In Zugehörigkeit zur Szene besteht auch Kommunikation zwischen den Gruppen, die für die Szene als überlokale Vergemeinschaftungsform von Bedeutung ist. Vermittelt werden Inter-Gruppen-Kommunikationen über das Erkennen der Zugehörigkeit zur selben Szene, also über Symbolisierungen und Inszenierungen der Zugehörigkeit. Dadurch bilden sich Szenenetzwerke von untereinander verschiedenen Gruppen, welche sich voneinander in ihren Wissensbeständen unterscheiden. In Rückgriff auf Szenewissen werden von (meist langjährigen) Szenemitgliedern Events veranstaltet. Die privilegierten, innovierenden „Organisationseliten“ und die diese Events und Kulturgüter betrachtenden „Reflektionseliten“ (vgl. ebd.: 7) stellen verschiedene Elite-Netzwerke. Dies sind die Szenekerne um die herum sich Freunde und stark mit der Szene verbundene, dem Kern nahe Mitglieder sammeln. Erst danach kommen so genannte „normale“ Szenegänger und ganz am Rand diejenigen, welche die Szene eher imitieren, ihr Publikum stellen, aber von Szenegängern nicht wirklich als Mitglieder akzeptiert werden (vgl. Hitzler, Bucher, Niederbacher 2001: 27f, 212f).

Szenen sind immer auch einem Wandel unterworfen. Die zentralen Entwicklungstendenzen sind Intensivierung und Extensivierung der Szene. Intensivierung meint eine stärkere Bindung und Abgrenzung nach außen, Extensivierung eine Erweiterung um potenzielle Szenemitglieder bei schwächerer Szenebindung. Aus dieser unlösbaren Spannung von Bindung und Zugänglichkeit ergibt sich, dass Szenen sich vor allem über kurzlebige Trends und Moden zu stabilisieren versuchen. Szenen tendieren dabei vor allem zu Medialisierung, Differenzierung, Ästhetisierung, Eventisierung und Kommerzialisierung (vgl. ebd.: 227-231). Aufbauend auf die hier beschriebenen Charakteristika erarbeiteten Hitzler, Bucher und Niederbacher schließlich eine „‚kartographische’ Operationalisierung des Szenekonzeptes“ (ebd.: 31), welche Szenen in der Darstellung systematisch, nach klassifikatorischen Merkmalen, zu strukturieren sucht (vgl. auch Kapitel 3 dieses Buches).

2.5 SZENEN UND JUGEND