Frei und gefährlich - Klaus Werner-Lobo - E-Book

Frei und gefährlich E-Book

Klaus Werner-Lobo

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Beschreibung

Der Narr, das ist einer, der eine der größten menschlichen Ängste verloren hat: die Angst vor der eigenen Lächerlichkeit. Durch das Annehmen der eigenen Schwäche und Verletzlichkeit befreit er sich von inneren und äußeren Zwängen, kann echte Verbindungen zu Mitmenschen aufbauen und selbstbewusst handeln- auch im Widerstand gegen Mächtige und Unterdrücker. Wer sich nicht davor fürchtet, sich lächerlich zu machen, wer nichts mehr zu verlieren hat, der fürchtet sich vor gar nichts mehr- kennt keine Angst vorm Scheitern, keine Scham und keine Konversation. Und wer sich nicht fürchtet, der wird gefährlich. Deshalb bin ich Clown geworden

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Klaus Werner-Lobo

Frei und gefährlich

Die Macht der Narren

Sämtliche Angaben in diesem Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr. Eine Haftung der Autoren bzw. Herausgeber und des Verlages ist ausgeschlossen.

 

 

 

© 2016 Benevento Publishing,

eine Marke der Red Bull Media House GmbH,

Wals bei Salzburg

 

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

Medieninhaber, Verleger und Herausgeber:

Red Bull Media House GmbH

Oberst-Lepperdinger-Straße 11–15

5071 Wals bei Salzburg, Österreich

 

Satz: MEDIA DESIGN: RIZNER.AT

E-Book-Konvertierung: Satzweiss.com Print Web Software GmbH

 

ISBN 978-3-7109-5015-5

 

 

 

Mit Dank an meine Lehrerinnen und Lehrer.

Kapitel 1: Die Initiation

Um ehrlich zu sein, bin ich Clown.

Kapitel 1 Die Initiation

Drei mal zwei Meter, mein Zimmer. Links der Schreibtisch, rechts offener Koffer mit allem was ich habe, ich auf der Matratze, verschwitzt, Deckenventilator, das Leintuch nass, draußen Sonne, irgendwelche Viecher auf dem Boden und an der Wand, eigentlich überall. Und dann begann das Jucken in den Augen. Zuerst nur ein Jucken, dann wie Sandkörner auf der Netzhaut. Bindehautentzündung, da helfen keine Medikamente, man kann nur Sonnenbrille aufsetzen, aushalten und warten, warten, warten. Nach drei Wochen ist es vorbei.

Was nach drei Wochen nicht vorbei war, war die Einsamkeit. Das Gefühl des Gescheitertseins. Das Gefühl der größte Loser zu sein, ich, ein privilegierter Europäer, einer, der es sich leisten konnte nach Brasilien zu gehen und erstmal ohne konkrete Verpflichtungen nach Lust und Laune dahinzuleben. Hab ich ja auch getan, aber mein Herz war noch verletzt, war verlassen worden und konnte niemanden mehr wirklich lieben und liebte mich selbst am Allerwenigsten. Lebte also in dieser Wohnung eines Deutschen der hier hängengeblieben ist, hier in Santa Teresa, also dem früheren Bohème-Viertel von Rio, wo heute hauptsächlich Hipster, Loser und andere Künstler wohnen. In einem kleinen Zimmer mit Terrassenzugang, ich, er, an manchen Tagen der fünfjährige Sohn aus seiner gescheiterten Ehe mit einer Brasilianerin, und Marco, ein sehr sensibler, zarter Künstler, ein Marionettenspieler und Marionettenbauer, der sein Geld auf der Straße verdiente, viel zu wenig Geld für so viel Sensibilität und so gute Kunst, man muss vielleicht auch dazusagen, dass er aus armen Verhältnissen kam. Und Brasilien fast genauso rassistisch ist wie der Rest der Welt, die armen Verhältnisse also zumeist dunklere Hautfarbe haben. Marco war einer meiner wenigen Freunde in Brasilien, und doch trennte uns etwas: Ich hab noch nie in meinem Leben darüber nachdenken müssen, ob ich am nächsten Tag genug zu essen haben würde oder meine Miete bezahlen könne. Auch wenn ich jetzt in diesem Scheißzimmer lebte: Ich hätte mir auch ein Größeres leisten können, hätte mein Leben auch nicht besser gemacht. Und: ich war in Brasilien weil ich es mir ausgesucht hatte. Weil ich mir, nach der Trennung von meiner Ex, in den Kopf gesetzt hatte, es einfach mal ganz woanders zu versuchen. Und mir das leisten konnte.

Mittags ging ich oft von Santa Teresa nach Lapa, essen. Ich aß meistens allein, wirkliche Freunde hatte ich keine. Las Zeitung. Es war irgendwann Ende Oktober 2004. Rio de Janeiro. Ein Interview mit dem Clown Márcio Libar. Clowns waren für mich damals einerseits Zirkus- oder Kinderclowns mit roten Nasen, die mehr oder weniger lustige Dinge taten und in ihrem zwanghaften Drang lustig sein zu müssen schon auch mal eher unangenehm werden konnten. Andererseits hatte ich ein All-Time-Lieblingsbuch, Ansichten eines Clowns von Heinrich Böll, ihr kennt das: die Story eines sehr unglücklichen, nicht beziehungsfähigen, ziemlich selbstmitleidigen Clowns. Mit dem ich mich leider volle Pulle identifizieren konnte. So sehr, dass ich ab meinem 22. Lebensjahr manchmal mit »Clows« unterschrieb. Da hatte ich das Buch zum zweiten Mal gelesen und hörte am liebsten Tom Waits. Mein Grundzustand war die Einsamkeit mit einem gewissen Hang zum melancholischen Pathos, und so wie Bölls Protagonist Hans Schnier fühlte auch ich mich unverstanden und schrieb Zitate wie dieses in mein Tagebuch: »Ich glaube, es gibt niemanden auf der Welt, der einen Clown versteht, nicht einmal ein Clown versteht den anderen.« Und: »Unter Glück, das länger als eine Sekunde, vielleicht zwei, drei Sekunden dauert, kann ich mir nichts vorstellen.«

Clows. Traurig, aber klug. So klug, dass ich mich für was Besonderes hielt. So klug, dass mich meine Klugheit oft unglücklich machte, dass ich oft jene beneidete, die in ihrer Dumpfheit einfach in den Tag hineinlebten, sich nix schissen und einfach nahmen, was sie brauchten. Und ich: unglücklich, aber wenigstens was Besonderes. Und 15 Jahre später, als 37-Jähriger nach einer gescheiterten Beziehung in Brasilien gelandet, und immer noch der gleiche Depp.

Mir gefiel das Interview, mir gefiel, was dieser Márcio Libar, ein Afrobrasilianer meines Alters aus den Suburbs von Rio, über Clowns sagte: »Der Clown ist derjenige, der fällt, der scheitert, der verliert ... und immer wieder aufsteht. Deshalb lieben wir Clowns wie Charlie Chaplin: weil sie etwas zeigen, was wir selbst verstecken, wofür wir uns selbst genieren – dass wir selbst, jeder und jede von uns, immer wieder fallen, scheitern, verlieren, ein ganzes Leben lang.« Das traf. Ich fühlte mich wie gesagt als der größte Loser ever, und das klang nach Aussicht auf Versöhnung. Versöhnung mit mir selbst.

Ich lebte zu diesem Zeitpunkt schon ein gutes halbes Jahr in Rio, hatte ein Buch über Politik und Menschenrechtsverletzungen durch internationale Konzerne geschrieben, das es zum Weltbestseller gebracht hatte, damit viel Geld verdient und keine Ahnung, was ich in Zukunft machen wollte. Mein Erfolg als Autor und meine Bekanntheit zu Hause hatten mein Ego genährt, aber instinktiv merkte ich, dass mir dieses Ego, die – wenn auch erfolgreiche – Suche nach Anerkennung im Weg stand, mich daran hinderte befriedigende und tragfähige Beziehungen aufzubauen. Ich verstand mich als rebellischen, widerständigen Menschen, der einen Gutteil seiner Energie aus der Kritik an den politischen Verhältnissen bezog, wusste aber gleichzeitig, dass dieser Widerstand auch ein Widerstand gegen die eigenen Verhältnisse, gegen meine bürgerliche Herkunft, mein Land, meine Nazigroßeltern, die Widersprüchlichkeit, sie trotz ihrer politischen Überzeugung dennoch geliebt zu haben, gegen meine Erziehung und meine damit verbundenen Ängste war: Die Angst vor dem Verlust von Anerkennung, die Angst, gesellschaftliche Erwartungen an meine anerzogenen Bilder von Männlichkeit, Erfolg und Stärke nicht zu erfüllen und deshalb nicht geliebt zu werden. Nicht als der, der ich war: ein sensibler, nachdenklicher, selbstzweifelnder und sehr liebesbedürftiger Mittdreißiger. Sondern allenfalls für das, was ich konnte: schreiben, diskutieren, argumentieren, aufbegehren, Konflikte suchen und mich mit den Mächtigen – als Kind mit meinen Eltern und Lehrern, später mit Politikern und Konzernen, mit dem »System« – anlegen.

Daher erregte der zweite Teil des Interviews, in dem Márcio Libar über die gesellschaftliche Funktion von Clowns sprach, noch mehr meine Aufmerksamkeit:

 

Der Archetyp des Clowns umfasst den ewigen Kampf zwischen Autorität und Macht, zwischen Macht und Rebellion. In jedem von uns steckt ein Autoritärer und ein Rebell. Seitdem der Mensch in Gemeinschaft mit anderen lebt, existiert dieser Konflikt: Der Konflikt zwischen dem, der du wirklich bist, und demjenigen, der so ist wie es die Gesellschaft von dir erwartet. In diesem Widerspruch liegt unser existenzieller Kampf: Stehe ich auf oder bleibe ich noch im Bett? Esse ich noch ein Stück Schokokuchen oder halte ich Diät? Küsse ich jemand anderen oder bleibe ich treu? Trinke ich Caipirinha oder Tee? Wir befinden uns in einem ständigen Konflikt: mein Körper ist an die Schwerkraft gebunden, während meine Seele frei fliegen möchte.

Der Clown lebt genau in der Mitte dieses Konflikts, in diesem Widerspruch. Deshalb blickt er oft in die eine Richtung und geht in die andere – und läuft dann gegen die Wand. Er hat immer zwei Blickrichtungen, zwei Ziele. Er will die Welt auf den Kopf stellen. Die Welt der Komik ist verkehrt herum, und der Clown, ihr wichtigster Archetyp, sieht es als seine Mission, sie auf den Kopf zu stellen, sie verkehrt herum einzurichten, sie von innen nach außen zu stülpen. Wenn ich das sage, erschrecken die Leute, weil es so aussieht als wollte ich eine neue Welt erfinden. Die verkehrte Welt von dem, was wir kennen, würde aber schon bestehen, wenn alle Rechte und Gesetze die wir kennen, gelten würden. Damit wäre die Welt schon, so wie sie real existiert, auf den Kopf gestellt.

 

Und genau deshalb sei der Clown für Mächtige gefährlich. Weil er Widersprüchlichkeiten aufzeigt. Weil er nicht kontrollierbar ist, weil er sich selbst nicht einmal unter Kontrolle hat. Er ist kein Rebell der Rebellion wegen, aber er hat keine Angst vor der eigenen Lächerlichkeit, den eigenen Widersprüchen. Er akzeptiert sich in seiner Nicht-Perfektion, seiner Unzulänglichkeit, seinem Loser-Sein. Und das macht ihn nicht nur menschlich, es macht ihn auch gefährlich für jene, deren Macht auf die Angst gegründet ist, dass wir uns alle vorm Scheitern, vor sozialem Abstieg, vor dem Verlust von Anerkennung fürchten. Und er ist frei: denn wer alles verloren hat, der hat nichts mehr zu verlieren. Und wer komplett in der Scheiße steckt, wer nichts mehr zu verlieren hat, der kann alles machen.

Wumms. Das war’s. Gefährlich sein. Und frei. Genau das war’s was ich für mein Leben wollte. Frei und gefährlich sein. Das wollte ich lernen.

Das Interview war die Ankündigung einer Theatershow von Márcio Libar. Ein paar Tage später besuchte ich sein Solostück O pregoeiro – der Ausrufer oder Marktschreier. Dieses Stück, und was darauf folgte, sollte mein Leben verändern.

 

*

 

Was ist ein Clown? Die meisten Menschen kennen Clowns aus dem Zirkus oder von Kinderfesten, als bunt gekleidete Spaßmacher mit roter Nase. Viele haben schlechte Erfahrungen mit ihnen gemacht, aus einem ganz einfachen Grund: Die meisten Clowns sind grottenschlecht und in ihrer bemühten, aufdringlichen Witzigkeit ein Fall zum Fremdschämen. Viele Kinder, auch manche Erwachsene, fürchten sich vor ihnen. Für die Angst vor Clowns gibt es sogar einen Fachbegriff: Coulrophobie. In einer 2008 durchgeführten Studie der englischen University of Sheffield gaben fast alle der 250 befragten Kinder im Alter zwischen vier und 16 Jahren an, sich beim Anblick von Clowngesichtern zu fürchten oder zumindest unwohl zu fühlen. Der Grund dafür dürfte nicht nur im ungewohnten Erscheinungsbild und dem abnormen Verhalten von Clowns liegen, sondern in der Vermutung, dass diese hinter ihrem fröhlichen Auftreten ihre wahren Emotionen verbergen. Ab den späten 1980er-Jahren fanden böse Clowns außerdem massenmediale Verbreitung, allen voran mit der Verfilmung von Stephen Kings Roman Es und seinem Horrorclown Pennywise sowie Jack Nicholson und später Heath Ledger in der Rolle des Joker in Batman. Der US-amerikanische Serienmörder John Wayne Gacy vergewaltigte und ermordete als Pogo der Clown bei Kinderfesten mindestens 33 Jugendliche und wurde dafür 1994 hingerichtet. In Frankreich tauchten Ende 2014 an vielen Orten Männer in Clownskostümen auf, die grundlos Passanten anpöbelten und verprügelten.

All dies trug dazu bei, dass der Begriff »Clown« für viele als Schimpfwort gilt, mit dem als besonders dumm empfundene Menschen oder auch »Politclowns« wie Donald Trump oder Silvio Berlusconi bedacht werden. Schon der römische Konsul und Philosoph Cicero wurde von konservativen Zeitgenossen abschätzig als Scurra, einer Clownfigur des alten Roms, bezeichnet, da er seine Reden häufig mit Humor würzte.

Laut dem Oxford English Dictionary wurde das Wort »Clown« ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts als abfällige Bezeichnung für Zuwanderer vom Land verwendet, also aus der Sicht des städtischen Bürgertums ungebildete, rüpelhafte Menschen niedriger Abstammung, die mit den sozialen Normen der Stadt nicht vertraut waren. Ob es vom lateinischen colonus für Bauer stammt oder oder dem altnordischen klunni für ungebildete, unhöfliche, rüpelhafte Tölpel entlehnt wurde, ist ungeklärt.

Erstmalig literarisch verbürgt ist der Begriff rund um das Jahr 1600 bei William Shakespeare, in dessen Dramen immer wieder sowohl Clowns als auch Hofnarren als Angehörige unterer Klassen in komischen Szenen auftreten – häufig als gewitzte Gegenspieler seiner adeligen Protagonisten. So wie etwa jene beiden Clowns, die nach Ophelias Selbstmord den Schädel des königlichen Hofnarren Yorick für Prinz Hamlet ausgraben und an dessen komisches Talent erinnern. Sie sind clever und rechtskundig, also alles andere als dumm. Für das gemeine Volk, das die billigen Stehplätze des Londoner Globe Theatre bevölkerte, waren sie wegen ihrer Herkunft und ihres populären Gestus die heimlichen Stars. Und so wie die mittelalterlichen Hofnarren waren sie es, die unter dem Schutzmantel des Humors unangenehme Wahrheiten straflos aussprechen konnten.

In der deutschen Hamlet-Übersetzung ist nur von Totengräbern die Rede, der Begriff Clown fand außerhalb Englands erst im Lauf des 19. Jahrhunderts Verwendung. Zu jener Zeit wurde er in England vor allem für Schauspieler verwendet, die in den Pausen von Theaterstücken mit komischen Nummern oder als tolpatschige Kunstreiter in der Manege auftraten und damit die Karriere der Zirkusclowns begründeten, die sich in der Folge in ganz Europa ausbreiteten.

Wir sehen also: Clowns waren ursprünglich vor allem soziale Randfiguren, die sich die Freiheit herausnahmen, zunächst zum Beispiel am Hofe und im Theater, den Mächtigen einen Spiegel vorzuhalten und damit Menschen zum Lachen zu bringen.

 

*

 

Ein kräftiger Mann mit imposanten Dreadlocks in protziger Gangsterrapper-Montur, Lederjacke und Silberschmuck, betritt die Bühne: »Mein Name ist Márcio Libar. Eigentlich Márcio Limar-Barbosa. Limar ist der Nachname meiner Mutter, Barbosa der vom besten Freund meines Vaters.« Ein Sickerwitz. Gelächter. »Ich habe ihn auf Libar gekürzt.« Holt ein dickes, staubiges Lexikon aus seinem liebevoll ausgestalteten Zirkuskoffer, klopft den Staub ab: »Libar: Trinken, Saugen, Genießen«. Das portugiesische Wort für Genießen, gozar, wird auch für den Orgasmus verwendet. Gelächter. »Allein mein Name verdient schon einen Applaus! – Halt, stopp, nicht so einen billigen Applaus wie in einer dieser billigen Fernsehshows. Ich will empfangen werden wie ein Superstar! Lasershow, künstlicher Schnee, das volle Programm.« Blickt sich im Saal um, einer aufgelassenen Schweißerei, die zum Kulturzentrum umgewidmet wurde. »Ich bin ein armer Superstar, ich komme aus den Suburbs, wo man sich auch mit billigen Mitteln zu helfen weiß.« Márcio Libar verteilt Luftschlangen und weist das Publikum an, ihm einen fulminanten Empfang zu bescheren. Nach ausführlicher Erklärung verlässt er die Bühne und tritt wenige Sekunden später zu den tosenden Fanfaren von Richard Strauss’ »Also sprach Zarathustra« wieder auf, die Hände zum Triumph erhoben, währen das euphorisierte Publikum die Papierschlangen als glamouröse Girlanden über sein Haupt gleiten lässt. »Mein Superheld«, tobt es ihm weisungsgemäß entgegen, »Du geile Sau!« (»Ihr dürft lügen!«), »Bravo! Bravissimo!«

Na, war das ein Auftritt? »Und die Show hat noch nicht einmal begonnen!« Was nun folgt ist ein Feuerwerk an Gags, Gesang, Tanz und Jonglage, immer unter vollem Körpereinsatz und im Dialog mit dem Publikum. Dabei sind weder die Gags besonders gut, noch kann der Typ besonders gut singen, tanzen oder jonglieren. Aber eines wird sofort klar: Dieser Mann hat nicht das geringste Problem damit, sich lächerlich zu machen. Und er schafft es auf Anhieb, das Publikum, also mich und alle anderen, in den Bann seiner Performance zu ziehen: Nicht das, was er tut, bindet unsere Aufmerksamkeit, sondern wie er es tut: ohne jeglichen Anspruch auf Perfektion und ohne den geringsten Anflug von Scham. Im Gegenteil: Er provoziert und genießt offenbar das Gelächter über seine Tolpatschigkeit, seine offenkundige Vortäuschung akrobatischer Exzellenz und seine körperlichen Unzulänglichkeiten. Wie ein Kind freut er sich über den Applaus für seine gescheiterten Versuche, etwas Besonderes zu vollbringen – um am Ende zuzugeben, dass ihm das Talent und der Ehrgeiz fehle, ein großer Artist zu werden. Und er deshalb erkannt habe, dass er nur als Clown erfolgreich sein würde: »Denn der Clown ist jener, der fällt, der irrt, der verliert.«

Ab nun nimmt die bis jetzt rasante Show eine andere Wendung. Begleitet von Charlie Chaplins bekannter Melodie »Smile« entledigt sich Márcio Libar vor Publikum seiner protzigen Montur, um in ein schlichtes Clownskostüm zu schlüpfen – kurze schwarze Baumwollhose, weißes Shirt, buntes Gilet, gelber Filzhut. Während er sich langsam umzieht, redet er mit zärtlicher Stimme:

 

Der Clown ist jener, der fällt, der irrt, der verliert. Als ich das verstanden habe, habe ich die Essenz des Lebens verstanden: Weil zu verlieren ist eines der essenziellsten Dinge unseres Lebens. Wollt ihr wissen, warum? Wir werden unsere Eltern verlieren – wenn alles gutgeht. Wenn’s nicht gutgeht, sterben wir vor ihnen. Wir verlieren Freunde, Geliebte, das Gedächtnis, die Gesundheit, den Job; manche verlieren ihre Haare, die Spannkraft der Muskeln, des Busens, deines Schwanzes, und so weiter und so fort. Da habe ich verstanden, warum die größten Clowns immer die ältesten sind: Weil die Alten schon viel von dem verloren haben, was es zu verlieren gibt. Sie haben vor allem etwas verloren, das jeder Clown verlieren muss: die Eitelkeit. Sehen wir uns Charlie Chaplin an. Er war ein Vagabund, ein armer Loser, der sich in der Mitte des Filmes unglücklich verliebte, der Opfer unzähliger Ungerechtigkeiten wurde und am Ende immer allein blieb. Allein und einsam. Und, Leute, ich habe eine schlechte Nachricht für euch: jeder von euch, jeder von uns, wird am Ende allein sein. Denn die Einsamkeit ist die Grundkonstante des menschlichen Lebens. Und da habe ich verstanden, warum ein Clown wie Chaplin auf der ganzen Welt geliebt wird: Weil er die Inkarnation unserer einzigen Hoffnung ist: Er ist der Verlierer, der immer wieder von vorne beginnt. Sogar nach den größten Verlusten fangen wir immer wieder von vorne an.

Und es ist interessant, was diese Sache mit dem Verlieren mit der Liebe zu tun hat. Der brasilianische Dichter Nelson Rodrigues hat folgenden Satz geschrieben: »Não ama verdadeiramente quem não pensa na morte.« Niemand liebt wirklich, der nicht an den Tod denkt. Probiert einmal Folgendes: Denkt ein paar Sekunden an jemanden, den ihr wirklich liebt. Ein paar Sekunden. Und dann stellt euch vor, dass er oder sie morgen früh nicht mehr mit euch frühstücken kann. Merkt ihr, wie sich in diesem Moment eure Liebe zu diesem Menschen verändert?

 

Absolute Stille im Saal – bis auf die leisen Töne von Chaplins sich wiederholender Melodie. Márcio Libar nimmt einen kleinen Taschenspiegel zur Hand und beginnt sich zu schminken: Lediglich ein paar weiße Striche auf die Augenbrauen und die Unterlippe machen im Gesicht dessen, der vor ein paar Minuten noch den coolen Macker raushängen ließ, plötzlich fast kindlich liebevolle, zärtliche Züge sichtbar. Es ist, wie wenn er eine Maske abgelegt hätte.

 

Jeder Mensch will geliebt werden. Jeder Mensch will akzeptiert werden, angenommen werden. »Ich liebe dich« oder »ich hab dich lieb« sind Sätze, die wir am liebsten hören: von unserem Vater, von unserer Mutter, von unseren Kindern, von Freunden, vom Partner, der Partnerin ... und wenn er mit einer Gehaltserhöhung verbunden wäre, dann würden wir ihn sogar von unserem Chef gerne hören!

Das Problem ist, dass die meisten Menschen das gesamte Leben damit verbringen, sich Masken aufzusetzen und weitere Masken, um die Masken zu verdecken, und darüber Masken und Masken und Masken – um akzeptiert zu werden. Und um vorzutäuschen, dass sie es nicht nötig haben, diesen einen Satz zu hören: Ich liebe dich. Die Leute sagen eher: »Ah, so wichtig ist sie mir eh auch nicht« oder »ich brauch eh nix von dir!« oder »pff, bin eh auch nicht verliebt«.

Heute brauche ich so was nicht mehr. Weil ich nun Clown bin. Und wenn ich hier hergekommen bin, bin ich nur hergekommen, um zu lieben und um geliebt zu werden – von euch, von meinem Publikum.

 

Márcio ist fertig geschminkt, wendet sich mit zärtlichem Blick ans Publikum.

 

Habt ihr mich lieb?

 

Verhaltenes Gelächter. Ein paar »Sim!« – Ja!

 

Nein, ich meine, habt ihr mich sogar dann lieb, wenn ich mich so lächerlich benehme wie gerade eben? Mich für euch zum Idioten mache? Mit diesem unförmigen Körper, meiner ganzen Ungeschicklichkeit und Unbeholfenheit?

 

»Sim!!!«

 

Irgendwann einmal hat einer meiner Lehrer, der Weltklasseclown Jango Edwards, zu mir gesagt: »Du wirst niemals jemand sein, der du nicht bist. Ich werde nie so gut sein wie du, wenn ich sein will wie du. Und du wirst nie so gut sein wie ich, wenn du sein willst wie ich.«

 

In dem Moment war’s um mich geschehen. Ich hatte mich verliebt. Ich liebte diesen Menschen. Noch mehr: Ich erkannte mich in ihm wieder, ich sah mich in ihm, in seiner, meiner Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit. Ich erkannte, dass ich diese seine, meine Unzulänglichkeit und Fehlerhaftigkeit, meine ganze Lächerlichkeit akzeptieren konnte, mich selbst akzeptieren, obwohl ich nicht so war, wie ich bis dahin glaubte sein zu müssen, weil es von mir erwartet wurde, weil ich es von mir zu erwarten gelernt hatte. Und all diese Erwartungen und Ansprüche fielen wie eine Last von mir ab und wichen einem befreienden Lachen. Tränen in den Augen. Zum ersten Mal seit meiner Trennung liebte ich wieder! Liebte: mich selbst.

 

Sei der du bist, sagten meine Clownlehrer, wisse, wer du bist, lebe deine Träume, und nimm deine Lächerlichkeiten an, deine Fehler, deine Schwächen. Akzeptiere dein Bäuchlein, deine Dummheit, deine Selbstzweifel, deine Sehnsüchte, aber hör nie auf deinen Nächsten zu fragen: Liebst du mich sogar so? Und darin liegt das Geheimnis dieser Kunst.

Als Clown setze ich sogar meine Würde aufs Spiel, die Würde, die Verhaltensregeln, die ich gelernt habe, die Würde, die das System für uns vorgesehen hat, damit wir uns nicht gegen dieses System auflehnen. Und ich gewinne damit eine andere Form von Würde. Und an dieser Stelle möchte ich all jenen danken, die mir meine Würde und meinen Glauben an mich selbst gegeben haben: Meine Großeltern, meine Eltern, meine Geliebten, meine Lehrer und Meister. Große Clowns wie der verstorbene Nani Colombaioni, der mit Fellini gearbeitet hatte. Benjamin de Oliveira, der erste schwarze Clown Brasiliens, Sohn afrikanischer Sklaven, die für ihre Befreiung gekämpft hatten. Wenn dieses Land einen Funken Würde hätte, wäre er ein Nationalheld. Applaus für sie alle!

 

Niemand lacht mehr. Viele haben Tränen in den Augen. Und dann zieht Márcio Libar ein kleines, liebevoll verziertes Holzkästchen hervor, öffnet es und zeigt eine rote Clownsnase aus Latex.

 

Das hier, das ist mein Cuti-Cuti. Mein Clown. Meine schwierigste Nummer, die mir am meisten Mut abverlangt. Und die ich euch nun zeigen werde. Ok?

 

Musik aus. Márcio dreht sich mit dem Rücken zum Publikum. Absolute Stille. Er zieht sich die Clownsnase, die kleinste Maske der Welt, übers Gesicht. Zum getragenen Swing von Count Basies »Li’l Darlin’« wendet er sein Gesicht langsam wieder zum Publikum – wie ein kleines Kind, das vorsichtig und schüchtern unter der Bettdecke hervorlugt und in die neue, fremde Welt blickt, unsicher, ob es ihr standhalten kann, freudig vertraute Gesichter wiedererkennend. Das Kind ist ein Erwachsener, ein Mensch mit Geschichte und Lebenserfahrung, mit Verletzungen und Rückschlägen, einer, der immer wieder hingefallen und immer wieder aufgestanden ist. Cuti-Cuti, der Clown, ausgesprochen Kutschi-Kutschi, was nichts anderes heißt als das, wie es klingt: Ei-Ei. Die pure Zärtlichkeit. Wir kennen ihn, diesen Clown, wir erkennen uns in jedem einzelnen seiner Gesichtszüge wieder, seiner Verletzlichkeit, seinen Ängsten, seiner Hoffnung auf Verbindung, Beziehung und Geborgenheit, seiner universalen Menschlichkeit, seinem Wunsch nach Lieben, Geliebtwerden, In-den-Arm-genommen-werden. Wir sind er, er ist wir, und wir nehmen in diesem Moment gemeinsam an einem Ritual teil, das unser Leben verändern wird, weil wir es vollständiger, liebevoller, menschlicher verlassen werden als wir, wir Gebrochenen und Verletzten, Abgelehnten und Verlassenen, Strengen und Funktionierenden, gekommen sind. Verdammte Scheiße, ist das geil! Cuti-Cuti, alles ist gut.

Für mich war ab diesem Zeitpunkt klar: Ich will das auch können. Nein, nicht die in liebevoller Unschuldigkeit gespielten, klassischen Clownnummern, die dieser bis dahin redselige Libar nun als sprachloser Cuti-Cuti in den verbleibenden 40 Minuten des Abends darbot. Ich werde nie so gut sein wie du, wenn ich sein will wie du. Und du wirst nie so gut sein wie ich, wenn du sein willst wie ich. Das wollte ich können: Ich selbst sein, ohne Verstellungen und Verrenkungen, und dafür geliebt werden. Ohne nix. Einfach so. Und ich ahnte, wie das gelingen könnte: wenn ich es schaffen würde, mich nicht mehr hinter einer Maske zu verstecken. Und ich ahnte, wie mir die kleinste Maske der Welt, die Clownsnase, dabei helfen würde. Was ich nicht ahnte: wie schwierig und schmerzvoll es werden würde, die Masken abzulegen, die ich mir in den Jahrzehnten meines Lebens zu meinem eigenen Schutz, zum Schutz vor meiner Verletzlichkeit, aufgesetzt hatte.

 

*

 

Nach der Show wartete ich im Foyer. Ich musste diesen Typen kennenlernen. Als er nach 20 Minuten aus dem Umkleideraum kam, begrüßte er mich und die anderen Wartenden mit einer langen, herzlichen Umarmung. »Ich hab dich gesehen. Was machst du hier, Gringo? Es gibt nicht so viele Gringos in meiner Show. Hast du alles verstanden?« Ich hatte natürlich nicht alles verstanden, mein Portugiesisch war damals nicht besonders gut, und Márcio sprach schnell und mit dem schweren Akzent der sozialen Unterschicht Rios. Aber ich wollte ihm gefallen, wollte seine Aufmerksamkeit und haspelte mein halbes Leben daher, meine Erfolge als Autor, leider noch nicht auf Portugiesisch, aber ich könne ihm ein spanisches Exemplar meines letzten Buches besorgen, und dass ich sein Interview gelesen habe und mich der politische Ansatz seines Clowns als Machtkritiker und so weiter interessiere, weil ich ja selber und so weiter ... – »Komm in zwei Wochen hierher, da gebe ich einen Workshop, da lösen wir dein Problem. Obwohl du ein schwerer Fall bist und noch dazu ein Gringo. Aber ich bin schon mit anderen fertig geworden.« Hahaha.

Die noble Kunst der Clownerei

Zwei Wochen später war ich pünktlich Samstag neun Uhr am Orte des Geschehens, dem Saal der Aufführung im Kulturzentrum Fundição Progresso im Zentrum Rios. Der Kurs hieß »Die noble Kunst der Clownerei« und sollte zwei Tage dauern. Mit mir noch weitere siebzehn erwartungsvolle Kursteilnehmer, größtenteils Schauspieler in Ausbildung oder andere Künstler, auch hauptberufliche Clowns. Einige machten bereits Stretching, andere jonglierten, der Rest unterhielt sich angeregt. Ich, der einzige Ausländer und überhaupt: Au Scheiße, was mach ich hier?

Vorhang auf. Herein tritt Márcio Libar, diesmal mit Zylinder und Frack. Am Stock. Fordert Applaus ein. Alle stehen auf, er schreitet uns ab wie bei einer Parade, blickt jedem lange und intensiv, aber zärtlich, in die Augen. Au Scheiße. Der Typ sieht alles, was ich ihm nicht zeigen will, spüre ich: in meinen Augen, in meiner Seele. Standhalten. Ich halt das aus. Verberge, dass mir die Tränen kommen, was soll das jetzt, sehe, dass er sie sieht. Er nickt, wie zustimmend, geht zum Nächsten.

 

Gut, ihr Idioten. Ich hab ein paar sehr schöne neue Idiotengesichter gesehen. Ich bin der Messiê, der Direktor dieses Zirkus, und ich kann neue Idioten gut gebrauchen. Aber ihr müsst mir Respekt zollen: Der Messiê ist Mitglied einer noblen Ahnenreihe von Messiês. Er ist mehr oder weniger 420 Jahre alt – er kann sich nicht genau erinnern, wahrscheinlich weil er sehr viel Wein trinkt. Aber er hat schon alles erlebt, weiß alles und sieht alles. Niemand kann ihm etwas vormachen.

Eines Tages klopft ein Idiot an die Tür des Messiê und möchte das Geheimnis der Clownerei erfahren. Der Messiê schlägt die Tür vor ihm zu. Der Idiot bleibt da und wartet, und nach zwei Stunden öffnet der Messiê die Tür, wieder um ihn wegzuschicken. Die Nacht bricht an, und der Idiot ist noch immer da. Bis ihn der Messiê schließlich empfängt. Der Messiê kommt ursprünglich aus dem Mittelalter, also sagt er zum Idioten: »Du willst Clown werden? Stell einen Stuhl auf den Platz, bitte jemanden, ihn wegzuziehen und fall auf den Boden.« Der Idiot tut wie ihm geheißen, fällt vom Stuhl, und niemand lacht. Er probiert es wieder, weitere 100 Mal, bis der Idiot eines Tages sein Scheitern akzeptiert. Und alle lachen! »Warum das denn?« – »Sie lachen, weil sie dich gesehen haben!« Am nächsten Tag kehrt der Idiot zum Platz zurück, glücklich und selbstbewusst, das Geheimnis erfahren zu haben, und tut genau dasselbe noch einmal – und niemand lacht.

Warum ich euch das erzähle? Damit ihr seht, worum es in dieser Kunst geht, die darin besteht, die eigene Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit zu zeigen. Wenn ihr euch davor schützt, werdet ihr niemanden zum Lachen bringen.

 

Ich verstand kein Wort, nur dass dieser 420 Jahre alte Knacker sehr weise war und dass ich gut daran tun würde, seinen Anweisungen zu folgen, was immer da käme.