Ein Tag hat viele Farben - Christine Drews - E-Book

Ein Tag hat viele Farben E-Book

Christine Drews

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Beschreibung

Ein Tag ist viel zu kurz für all diese Probleme ... Erst an dem Tag, an dem die Geräte ihres Vaters abgeschaltet werden, kommen die drei Geschwister Mia, Tom und Anna nach Jahren wieder einmal zusammen. Statt gemeinsam zu trauern, beschäftigt sie am meisten, was mit dem Familienschatz geschehen wird. Sie alle haben ihre eigenen Pläne für das wertvolle Pechstein-Gemälde. Doch im Laufe des Tages erfahren sie, dass nicht alles ist, wie es scheint. Und Familie Liebe mit Ecken und Kanten ist ...

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Ein Tag hat viele Farben

Die Autorin

Christine Drews arbeitete schon während ihres Germanistik- und Psychologiestudiums für diverse TV-Produktionen. Nach ihrem Magisterabschluss schrieb sie verschiedene Comedy-Serien und ist seit 2002 als freie Autorin tätig. Sie schreibt Drehbücher für Filme, Familien- und Comedyserien und arbeitet als Autorin für zahlreiche Showformate. Aktuell schreibt sie Drehbücher für Soko Köln und Bettys Diagnose.Von Christine Drews ist in unserem Hause bereits erschienen:Sonntags fehlst du am meisten

Das Buch

Erst an dem Tag, an dem die Geräte von Mick Römer ausgeschaltet werden sollen, kommen die drei Geschwister Mia, Tom und Anna endlich wieder zusammen. Statt in Trauer vereint, sind alle drei vor allem damit beschäftigt, was mit dem Familienschatz, dem »Pechstein« geschehen wird. Denn jeder hat eigene Pläne mit dem wertvollen Gemälde. Aber Geschwister wären keine Geschwister, wenn sie Geheimnisse voreinander verstecken könnten. Im Laufe des Tages kommen unangenehme Wahrheiten ans Licht. Aber auch die Gewissheit, dass Geschwister immer füreinander da sind – in guten wie in schlechten Zeiten …

Christine Drews

Ein Tag hat viele Farben

Roman

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage November 2018© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2018Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, MünchenTitelabbildung: www.buerosued.deAutorenfoto: © Michaela PhilipzenE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-8437-1836-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Eins

Mia

Tom

Anna

Zwei

Mia

Tom

Anna

Drei

Mia

Tom

Anna

Vier

Mia

Tom

Anna

Fünf

Mia

Tom

Anna

Sechs

Mia, Tom und Anna

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Eins

Widmung

Für Anne und Philipp

Eins

Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben.

Karl Kraus (1874–1936)

Mick Römer starrte auf das Bild, das über dem Kamin hing, und versuchte, die Kopfschmerzen zu ignorieren, die ihn heute schon den ganzen Tag über plagten. Normalerweise hatte er solche Beschwerden nur, wenn er zu viel getrunken hatte, aber auch dann war das Pochen in seinem Kopf nicht so schlimm wie heute. Und gestern Abend hatte er keinen Tropfen angerührt.

Vielleicht lag es am Wetter, dachte er und betrachtete weiter das Bild. Wie schön es doch war. Diese Farben, wie sie strahlten und die ganze Umgebung in ein warmes Licht tauchten – einmalig. Der Mann auf dem Bild hatte seine Augen geschlossen, wahrscheinlich schlief er. Er lag auf einer Wiese, auf der Mohnblumen blühten, die Sonne schien von der rechten Seite in sein Gesicht. Vielleicht hatte er die Augen auch einfach nur geschlossen, um nicht geblendet zu werden. Jeder sah das anders. Viele meinten, der Mann sähe ihm ähnlich.

»Natürlich sieht er dir ähnlich!«, sagte Hanna lachend.

Abrupt drehte Mick sich um, wodurch die Schmerzen in seinem Kopf noch schlimmer wurden. Für einen Moment glaubte er, sie nicht länger aushalten zu können. Er hatte das Gefühl, als würde sein Schädel jeden Augenblick platzen. Aber Hannas Anblick ließ ihn die Qualen vergessen. Lächelnd stand sie vor ihm. Das blonde, lockige Haar glänzte, keine kahle Stelle war zu sehen. Ihre Haut war rosig und gesund, ihr ganzer Körper schien unversehrt.

»Das bist doch schließlich du!«, sagte sie und streckte ihre Arme aus.

Mick wollte auf sie zugehen, wollte sie umarmen und küssen, endlich wieder ihre Nähe spüren. Er hatte sie so sehr vermisst. Aber er schaffte es nicht, sich zu bewegen. Die Schmerzen in seinem Kopf wurden immer heftiger, er konnte kaum mehr klar sehen. Der Raum schien zu verschwinden, die Farben von Wand und Fußboden gingen ineinander über, die Vorhänge lösten sich auf und auch die Möbel wurden zu einer einzigen breiigen Masse.

Nur Hanna stand klar und wunderschön. Sie war die einzige Konstante in diesem sich auflösenden Etwas.

»Danke, dass du mir verziehen hast«, sagte sie lächelnd und ihm stiegen die Tränen in die Augen.

»Natürlich habe ich dir verziehen, wie hätte ich dir nicht verzeihen können? Nichts ist stärker als unsere Liebe, das weißt du doch.«

Hanna lächelte ihn an und nickte. Doch plötzlich schien ihr Gesicht verzerrt, die blonden Haare wurden dunkler, der zarte Körper fülliger.

»Hanna?«

»Was redest du da?«

Die Stimme. Sie klang nicht mehr warm und freundlich, sondern misstrauisch, fast schrill.

Mick musste sich am Kaminsims festhalten. Er hatte das Gefühl, als würde der Boden seine Festigkeit verlieren, wanken und schwanken, wie ein in Seenot geratenes Schiff. Langsam sackte er in die Knie.

»Hanna … Bist du das wirklich?«

Dann sah er sie wieder klar. Mit einem Lächeln, das sie immer auf den Lippen hatte, wenn sie an der Staffelei saß, ging sie auf ihn zu und kniete sich zu ihm auf den Boden.

»Ja, Liebster. Ich bin es.«

Dann legte sie die Arme um ihn und er sackte auf ihrer Brust zusammen.

»Hanna … Ich liebe dich so sehr …«, sagte er glücklich.

Doch kurz bevor der Schmerz verschwand und alles um ihn herum dunkel wurde, riss er noch mal erschrocken die Augen auf, als er das schrille Schreien hörte:

»Ich bin nicht Hanna, verdammt noch mal! Ich bin Constanze! Deine Frau! Was fällt dir ein …!«

Dann war es still.

Mia

Er sieht fast so aus wie der Kerl auf dem Pechstein, dachte Mia, als sie ihren schlafenden Mann betrachtete. Mit offenem Mund lag Mark neben ihr und atmete gleichmäßig ein und aus. Sie hatten früher häufig darüber diskutiert, ob der Mann auf dem Bild schlief oder nur die Augen geschlossen hatte, weil er von der Sonne geblendet wurde.

»Interpretationssache«, hatte ihr Vater immer gesagt. »Jeder sieht in dem Bild etwas anderes.«

»Für mich hat er die Augen überhaupt nicht geschlossen«, hatte Constanze dann geantwortet und alle hatten ihr vehement widersprochen. Natürlich hatte er die Augen zu, das war eindeutig. Auch wenn das eine vielleicht einen winzigen Spalt offen stand, wie das bei schlafenden Menschen schon mal vorkommen konnte. Aber Constanze sah ja in allen Bildern etwas anderes, als der Rest der Familie, was nach Mias Meinung an dem mangelnden Kunstverständnis ihrer Stiefmutter lag, das nur aus oberflächlich angelesenem Wissen bestand, mit dem sie auf Partys Small Talk machen konnte. Die Tiefe und raue Schönheit des Gemäldes hatte sich ihr nie erschlossen, Kunst war für sie Dekoration, nicht mehr und nicht weniger.

Warum musste sie jetzt an das Bild denken? In zwei Stunden klingelte der Wecker, dann würde der traurigste Tag ihres Lebens beginnen. Der Tag, an dem sie ihren Vater verlieren würde – und ihre Familie wiedersehen musste. Jedenfalls glaubten die anderen ihre Familie zu sein. Dabei hatte sie nur Halbgeschwister und eine Stiefmutter, die sie in den letzten Jahren nur selten gesehen hatte. Einzig zu ihrem Vater hatte sie den Kontakt gehalten. Er, nur er war ihre Familie. Die anderen waren irgendwann dazugekommen, nachdem das Schicksal so unerbittlich zugeschlagen hatte. Und jetzt stand dieses Familientreffen an, aus einem Anlass, der ihr die Tränen in die Augen trieb.

»Ich habe für hinterher einen kleinen Snack vorbereitet«, hatte Constanze zu ihr am Telefon gesagt. »Du kommst doch?«

Einen Snack? Für hinterher? Mia hatte es nicht fassen können. Geräte ausschalten und dann erst mal was essen. Das war so typisch für Constanze. Erst mal was essen, dann sah die Welt gleich wieder anders aus. Und Constanze selbst langsam auch.

»Das ist der Stoffwechsel«, hatte sie ihr irgendwann mal gesagt. »Wenn du die vierzig überschritten hast, Liebes, dann wird es auch für dich immer schwieriger, das Gewicht zu halten.«

»Du isst jeden Tag mindestens ein Stück Kuchen.«

»Zum Kaffeeründchen, selbstverständlich. Da ist doch nichts bei.«

»Wenn du meinst. Hauptsache du fühlst dich wohl in deiner Haut.«

Constanze hatte sie empört angeschaut. »Du tust ja gerade so, als wäre ich zum Walross mutiert!«, sagte sie und holte im nächsten Augenblick zum Gegenschlag aus: »Ich hab immerhin zwei Kinder auf die Welt gebracht, das verändert den Körper einer Frau nun mal – für immer!«

Bang. Das saß. Mias ungewollte Kinderlosigkeit beendete zuverlässig jeden Streit, da sie grundsätzlich den Raum verließ, sobald das Thema auf den Tisch kam. Dabei wusste niemand in ihrer Familie, wie lange sie es schon erfolglos versuchten, eigentlich wusste sogar niemand, dass sie sich überhaupt Kinder wünschten, da Mia immer fluchtartig verschwand, wenn sie darauf angesprochen wurde. Constanze rief ihr dann stets noch Entschuldigungen hinterher, aber die wollte Mia nicht mehr hören. Meistens reiste sie kurz darauf mit Mark ab.

»So’n bisschen bist du es aber auch selbst Schuld«, hatte er das letzte Mal zu ihr gesagt, als sie wütend das Haus ihres Vaters verlassen hatte. »Du weißt doch, wie empfindlich Constanze mit ihrem Aussehen ist. Warum musst du denn immer wieder in dieselbe Kerbe hauen? Ist doch klar, dass die dann irgendwann zurückschlägt.«

In Sachen Familienstreit kannte Mark Winter sich aus. Seine Schwester Caro hatte über ein Jahr kein Wort mit ihrem Vater gewechselt, bis es schließlich an der Goldenen Hochzeit von Mias Schwiegereltern zur tränenreichen Versöhnung gekommen war.

Mia wusste, dass sie es war, die immer den Streit suchte. Es war ein Reflex, der sich in ihrer Kindheit bereits zeigte und in Mias Pubertät sicherlich seinen Höhepunkt fand. Natürlich war Constanze nicht zu dick, in den letzten zwanzig Jahren hatte sie sich von Kleidergröße achtunddreißig auf eine gute zweiundvierzig hochgefuttert, das war beim besten Willen nicht dramatisch viel für eine Frau Mitte fünfzig. Und sie hatte genug Freunde, deren Rundungen und Ernährungsgewohnheiten ihr vollkommen wurscht waren.

Es ging nicht um Ernährung oder eine schlanke Linie. Es ging um Constanze. Mia wusste, wie sehr die Frau ihres Vaters darunter litt, nicht mehr die knackige Figur von früher zu haben. Das Alter und der Zahn der Zeit, der trotz aller Hilfsmittel auch an Constanzes Schönheit nagte, waren ihre Achillesferse. Und in regelmäßigen Abständen musste Mia sie einfach verletzen. Es war eine Art Stiefmutter-Tourette, das sie als rebellierender Teenager perfektioniert hatte. In der Pubertät war Mia der lebende Albtraum gewesen.

Wenn sie daran dachte, wie sie sich damals benommen hatte, wie sie mit ihrer Clique, die größtenteils aus düsteren und merkwürdigen Gestalten bestand, nachts über die Friedhofsmauer geklettert war, um eine Erdpfeife direkt neben dem Grab des unbekannten Soldaten zu rauchen, dann wurde ihr jetzt noch schlecht. Diese Mia von damals hatte rein gar nichts mehr mit der Frau von heute zu tun. Heute trug sie ihre blonden Locken zu einem Zopf gebändigt, damals standen sie wild toupiert von ihrem Kopf ab und waren mit bunten Strähnchen durchsetzt. Heute schaute sie ihren Kollegen kopfschüttelnd hinterher, wenn die das Lehrerzimmer verließen, um draußen schnell eine Zigarette zu rauchen, früher hatte sie sich fast jedes Wochenende zugekifft. Es war keine gute Zeit für sie gewesen und es wurde erst besser, als sie von zu Hause auszog. Dabei war es kein Wunder, dass sie als Teenager so schwierig war: Den Tod der eigenen Mutter zu verarbeiten war für sie ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Als wäre das nicht schon schwer genug gewesen, musste sie auch noch Constanze als neue »Mutter« verkraften, da ihr Vater nicht allzu lang mit seiner zweiten Hochzeit wartete.

Heute sollte sie froh und dankbar sein, dass ihr Vater nach dem Tod ihrer Mutter mit Constanze wieder glücklich geworden war, aber noch immer konnte Mia nicht über ihren Schatten springen. Sie konnte es einfach nicht ertragen, dass ihr Vater eine Frau genauso liebte, wie er ihre Mutter geliebt hatte.

Es war immer Papa gewesen, der dem Streit zwischen den beiden Frauen ein Ende setzte, in dem er versuchte zu schlichten. Oder besser gesagt, versuchte ihn zu überdecken, sodass wieder Frieden herrschte. Er tat es immer auf dieselbe Art: Er erzählte einfach eine besonders absurde Hämorridengeschichte, die den Rest der Familie in ein einstimmiges »O mein Gott, bitte hör auf damit!«-Flehen vereinte.

Aus einer persönlichen Betroffenheit heraus und ohne Scham, diese auch immer wieder zu betonen, hatte Mias Vater sich in den 1970er-Jahren dem Thema Hämorriden angenommen. Als Medizintechniker entwickelte und patentierte er den sogenannten Analspreizer, der die Operation von Hämorriden revolutionierte. Heute hatte dieses Operationswerkzeug weltweite Verbreitung gefunden und der Familie ein gutes Auskommen ermöglicht.

Mia wusste genau, wie sehr es ihren Vater wurmte, dass die Leute Witze über seine Erfindung rissen. Lange Zeit war er offensiv dagegen angegangen und hatte die Wichtigkeit seiner Erfindung immer wieder betont. Aber natürlich machte sein Gerede alles nur noch schlimmer. Das Thema eignete sich einfach nicht besonders gut als Partytalk. Mia ahnte, wie sehr ihr Vater darunter gelitten hatte, dass ihm die Anerkennung für seine Erfindung selbst von seinem engsten Umfeld stets verwehrt geblieben war.

Leise kletterte sie aus dem Bett und schlich sich aus dem Zimmer. Sie würde sowieso nicht mehr schlafen können, dann konnte sie auch aufstehen und diesen schrecklichen Tag beginnen. Im Flur nahm sie, wie jeden Morgen, ihr Handy, das griffbereit auf der Kommode lag. Und wie jeden Morgen schaute sie als Erstes, ob sie neue Nachrichten von Ella hatte.

Ella war das, was man in der Amtssprache einen unterprivilegierten Teenager nannte. Der Vater war unbekannt, die Mutter Alkoholikerin, und so lebte die 13-Jährige seit einer ganzen Weile in einer Wohngruppe für Jugendliche, die auf dem Gelände der Diakonie untergebracht war. Seit drei Jahren kümmerte sich Mia nun um sie, half ihr bei den Hausaufgaben und begleitete sie zu den Besuchen ihrer Mutter. Die ganze Grundschulzeit war sie ihre Klassenlehrerin gewesen, hatte dort von ihrem Schicksal erfahren und sie unterstützt, wo sie nur konnte. Inzwischen war das Mädchen ihr regelrecht ans Herz gewachsen.

Sie öffnete den Chat und stellte zufrieden fest, dass Ella, nachdem sie gestern gegen halb zwölf die letzten Nachrichten ausgetauscht hatten, nicht mehr geschrieben hatte. Offenbar war sie danach wirklich schlafen gegangen, so wie sie es vereinbart hatten.

Mia nahm das Handy mit ins Bad, legte es auf den Badezimmerschrank, zog sich aus und ging unter die Dusche, wobei sie die Temperatur so heiß einstellte, dass sie es gerade noch auf der Haut ertragen konnte. Es war grenzwertig, kaum auszuhalten, aber die Freude darauf, sich in ein paar Minuten eiskalt abduschen zu können, war immer das Schönste.

Sie unterdrückte einen Schrei, als der eiskalte Wasserstrahl ihre Haut traf. Ihr Herz schlug schneller und in ihren Armen und Beinen kribbelte es. Geschafft. Schwungvoll zog sie den Duschvorhang zur Seite und schrie auf.

»Ah! Mark! Himmelherrgott, du hast mich zu Tode erschreckt!«

Ihr Mann stand vor ihr, nur mit einem T-Shirt bekleidet, unter dem eine riesige Erektion hervorschaute. Verschlafen strich er sich durch seine verwuschelten Haare.

»Tut mir Leid, Süße.«

»Und kannst du dir bitte was anziehen? Du siehst aus wie ein Exhibitionist.«

»Die Schlafanzughose ist irgendwie zu eng …«, murmelte Mark und gähnte herzhaft. Dann klappte er den Toilettendeckel hoch und setzte sich. »So kann ich nicht pinkeln. Mist«, murmelte er nach einem Moment des Wartens.

Seit sechs Jahren war sie jetzt mit Mark zusammen, zwei davon verheiratet. Natürlich kannten sie jede Intimität voneinander, es gab nichts, was der andere noch nicht gesehen hatte. Trotzdem zog Mia es vor, alleine im Bad zu sein. Sie fand es immer noch ungewohnt, wenn ihr Mann auf dem Klo saß, während sie sich anzog.

»Wenn wir im Lotto gewinnen, will ich ein eigenes Bad haben.«

»Wir spielen kein Lotto.«

»Vielleicht …« Sie biss sich auf die Unterlippe und schwieg.

»Was vielleicht?«

»Nichts.«

Zum Glück schien Mark noch zu müde zu sein, um weiter nachzufragen. Mia schämte sich für ihren Gedanken, dafür, dass sie kurz überlegt hatte, ob sie von ihrem Vater vielleicht so viel erben würde, dass sie schon bald eine vermögende Frau war, die sich locker ein zweites Bad in ihre Eigentumswohnung bauen konnte. Und vielleicht würde sie den Pechstein ja doch irgendwann verkaufen und sich mit der Million ein hübsches Häuschen anschaffen.

»Die verdammte Morgenlatte will nicht verschwinden«, stöhnte Mark, als sie sich gerade ihre Unterwäsche anzog. »Hast du nicht heute deinen Eisprung?«

»Mark!«

»Ich frag ja bloß.«

»Du weißt doch, was das heute für ein Horrortag wird!«

»Natürlich, das versteh ich ja auch total. Ich wollte ja nur nachfragen, weil du doch immer sagst, wir dürfen keinen Zyklus auslassen.«

Genervt ging sie aus dem Bad, um sich im Schlafzimmer anzuziehen. Eisprung. Hatte er recht? Natürlich hatte er recht. Sie konnte es manchmal kaum glauben, wie gut er über ihren Zyklus Bescheid wusste. Klar, wenn es eine Gelegenheit zum Vögeln gab, dann hatte er die Termine natürlich im Kopf. Sonst konnte er sich nie irgendwas merken, keinen Geburtstag, keine Adresse, nichts. Aber wenn es darum ging, drei Tage hintereinander Sex zu haben, dann hatte sich das in sein Hirn gebrannt.

Mia überlegte für einen Moment. Es wäre ja schnell erledigt und es ging ja nicht darum, dass sie weiß der Teufel was für leidenschaftlichen Sex hatten. Rein, raus und wenn es gut lief, würde es vielleicht endlich mal klappen. Sie war es so leid. Wie lange probierten sie es schon? Zwei Jahre mindestens, davon ein Jahr mit Hormonen und zwei fehlgeschlagenen Inseminationen. Die nächste stand in einem halben Jahr an, bis dahin sollte sie gesund leben, Clomifen zur Unterstützung eines perfekten Eisprungs nehmen und es weiter so versuchen. Das hatte zur Folge, dass ein normales Liebesleben nicht mehr existierte, gevögelt wurde nur noch nach Plan. Alles andere konnten sie sich in ihrem Alter nicht mehr erlauben. Mia war siebenunddreißig, Mark schon sechsundvierzig. Also sollte sie vielleicht doch eben …

Energisch schüttelte sie den Kopf. Nein, die letzten Stunden im Leben ihres Vaters waren angebrochen. Die Vorstellung, dass sie ein Kind zeugten, während er seine letzten Atemzüge tat, war einfach unvorstellbar. Auf einen Monat mehr oder weniger kam es jetzt auch nicht mehr an.

Mia schlüpfte in ihre Jeans und zog eine weiße Bluse an. Sie hörte, dass Mark unter der Dusche stand und betrat wieder das Bad, um sich einen Pferdeschwanz zu binden und etwas Make-up aufzulegen. Sie überlegte, wo sie ihre wasserfeste Mascara hingelegt hatte, eine andere wollte sie heute nicht benutzen.

Mia wusste jetzt schon, dass es heute Abend wieder Streit um das Bild geben würde. Tom würde diese elendige Diskussion, dass sie kein alleiniges Anrecht auf das Bild habe, garantiert wieder anstoßen. Am besten wäre es, wenn sie den Pechstein verschwinden lassen könnte, dachte Mia, als sie sich die Wimpern tuschte. Wenn sie eine Gelegenheit finden würde, ins Haus zu kommen und das Bild wegzubringen, ohne dass Tom oder Constanze sie daran hindern konnten. Würde sie es dann verkaufen können? Nein, das würde Mia nicht übers Herz bringen. Dafür war ihr das Bild zu wichtig. Gegen eine saftige Gebühr an ein Museum verleihen, das konnte sie sich schon eher vorstellen. Aber dafür musste sie das verdammte Ding erst mal aus dem Haus ihres Vaters kriegen.

»Hast du eigentlich in der Schule gesagt, warum du heute nicht kommst?«, fragte Mark, als er nackt und klatschnass aus der Dusche kam. Im Gegensatz zu ihr trocknete er sich immer nur mit einem kleinen Handtuch ab.

»Nimm doch ein großes. Du tropfst ja alles voll«, überging sie seine Frage, warf ihm ein großes Handtuch zu und rettete ihr Handy vor den Wassertropfen, indem sie es schnell in ihrer Hosentasche verschwinden ließ.

»Also nicht.«

Er kannte sie einfach zu gut.

»Ich habe mich für den Rest der Woche krankgemeldet.« Dabei gab es im Moment kaum etwas, auf das sie mehr achtete, als auf ihre Gesundheit. Unter gar keinen Umständen wollte sie krank werden und sie reagierte inzwischen fast panisch, wenn jemand in ihrem Umfeld nieste und schniefte. Mia war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Chancen, schwanger zu werden, rapide schrumpften, wenn sie sich einen Infekt einfing.

»Deine Kollegen hätten es sicherlich verstanden, wenn du den wahren Grund genannt hättest.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Kann schon sein. Aber für so etwas gibt es nur einen Tag Sonderurlaub. Und …« Sie stockte und spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Ich glaube einfach nicht, dass ich damit auskomme«, fügte sie noch leise hinzu. Die wasserfeste Wimperntusche musste noch auf ihre erste Bewährungsprobe warten.

Mia konnte einfach nicht weinen, wenn jemand in ihrer Nähe war. Weder vor Glück noch vor Traurigkeit, bei keinem anrührenden Film und keiner Hochzeit. Wenn irgendjemand bei ihr war, konnte sie keine Träne fließen lassen. Manchmal, wenn sie alleine war und wusste, dass weder Mark noch sonst jemand kommen würde, schaltete sie einen besonders kitschigen Film ein. »Legenden der Leidenschaft« mit Brad Pitt eignete sich dafür hervorragend. Sie kuschelte sich unter eine Decke, trank ein Glas Rotwein und heulte Rotz und Wasser, obwohl sie den Film schon in- und auswendig kannte und nicht einmal besonders gut fand.

Mark umarmte sie und drückte sie an sich. »Wir werden das zusammen schaffen«, flüsterte er. »Versprochen.«

Für einen Moment standen sie einfach nur da, dann löste sie sich aus seinen Armen und räusperte sich.

»Müsli oder Toast?«, fragte sie, während sie Richtung Küche ging.

»Toast«, meinte Mark und hielt sie im nächsten Augenblick am Arm fest. »Hast du große Angst?«, fragte er einfühlsam und Mia spürte, wie ihr wieder die Tränen in die Augen schossen. Sie nickte stumm. »Das kann ich mir gut vorstellen. Hast du noch irgendeine Erinnerung daran, wie es damals war, als deine Mutter starb? Ich meine, an den Moment, als es passierte?«

Seitdem sie sich kannten, hatten sie schon häufig über den Tod ihrer Mutter gesprochen. Natürlich, es war ein zentrales Thema in Mias Leben, nichts hatte sie mehr geprägt als die Tatsache, ihre Mutter bereits mit fünf Jahren verloren zu haben. Sie konnte sich daran erinnern, wie krank ihre Mutter damals war, wie viele Schmerzen sie hatte, wie sehr sie litt. Der Krebs war überall gewesen, die Ärzte von Anfang an machtlos. Drei Monate hatte sie nach der Diagnose noch gelebt, drei Monate voller Schmerzen und Leid. Es war eine furchtbare Zeit gewesen, die Mia niemals in ihrem Leben vergessen würde. Aber erinnerte sie sich noch an den Moment, als ihre Mutter starb? Ihr Vater hatte ihr gesagt, sie wäre im Raum gewesen, gemeinsam mit ihm und ihrer Großmutter. Aber stimmte das auch? Müsste sie sich dann nicht daran erinnern? So etwas Einprägsames vergisst man doch nicht, schon gar nicht als Kind.

»Da ist nichts«, sagte sie kopfschüttelnd. »Ich sehe die Tage vorher noch genau vor mir, auch die Zeit danach und die Beerdigung. Aber der Moment, in dem sie starb … nein, nichts. Keine Erinnerung.«

»Vielleicht ist das besser so. Vielleicht verdrängt man als Kind so etwas, weil es einen sonst zu sehr belasten würde«, meinte Mark.

Mia zuckte mit den Achseln. »Ja, wahrscheinlich.« Sie schwieg für einen Moment. »Aber heute kann ich nichts verdrängen«, fuhr sie dann leise fort. »Das heute werde ich für immer mitnehmen. Und vielleicht habe ich davor am meisten Angst: dass ich diese Bilder nie wieder aus dem Kopf kriege.«

Zwei Stunden später saß Mia auf dem Beifahrersitz, während Mark den Wagen auf die Autobahn lenkte. Sofort drückte er das Gaspedal durch und raste mit Vollgas auf die linke Spur. Reflexhaft krallte sich Mia an dem Sicherheitsgriff fest, der seitlich über ihrem Kopf hing.

»Wenn wir gut durchkommen, sind wir in einer Dreiviertelstunde da«, sagte Mark. »Eigentlich hätten wir ja auch über Köln fahren können. Wäre jetzt von Heinsberg ja nicht so’n riesen Umweg gewesen. Dann hätte Anna nicht mit dem Zug fahren müssen.«

»Die Zugverbindung von Köln nach Düren ist hervorragend.«

»Sie hätte nicht allein fahren müssen.«

»Im Zug ist man doch nie allein.«

Mark seufzte. Und Mia wusste sofort warum. Ihm gingen die ewigen Streitereien unter den drei Geschwistern mächtig auf die Nerven.

»Wir können sie ja mit zurücknehmen«, fügte sie deshalb etwas sanfter hinzu. »Es ist ja nicht so, als wenn ich nicht mit ihr zusammen fahren wollte, das musst du nicht denken. Ich habe kein Problem mit Anna.«

»Na ja. Keins ist stark untertrieben.«

Mia biss sich auf die Unterlippe. Sie wusste, was Mark jetzt sagen wollte, und sie hatte keine Lust, diese Unterhaltung zu führen. Nicht jetzt, nicht heute.

»Anna kann schließlich nichts dafür, dass sie Micks Liebling ist.«

Jetzt hatte er es doch gesagt. Verdammt noch mal, sie wollte das jetzt nicht hören!

»Mit Tom streitest du dich immer über dieses Bild, was ich verstehe. Er benimmt sich bei dem Thema auch wirklich saublöd. Aber Anna kannst du einzig und allein nur aus dem Grund nicht ausstehen, weil dein Vater sie vergöttert. Und das ist irgendwie nicht in Ordnung von dir.«

»Jetzt hör aber auf!« Konnte er nicht endlich seinen Mund halten? Merkte er denn nicht, wie sehr sie diese Wahrheiten verletzten? »Er hat sie nicht vergöttert! Das ist doch totaler Blödsinn. Sie ist die Jüngste, das verwöhnte Nesthäkchen, das kennt man doch, das ist doch der Klassiker. Wenn jemand einen besonderen Draht zu ihm hatte, dann doch wohl ich. Was ja auch nur verständlich ist.«

Mark warf ihr einen zweifelnden Blick zu. »Weil er deine Mutter mehr liebte als Constanze?«

Mia atmete hörbar aus. »Können wir diese Diskussion bitte ein anderes Mal führen? Ich möchte mich nicht unnötig aufregen. Der heutige Tag strengt mich schon genug an.«

»Du hast ja recht, es tut mir leid. Soll ich das Radio anmachen?«

»Nein, schon gut. Es ist ja nicht so, als möchte ich mich nicht mit dir unterhalten. Ich möchte nur einfach möglichst friedlich von Papa Abschied nehmen und nicht bereits in einer aufgewühlten Stimmung dort ankommen.«

»Klar.« Mark erhöhte das Tempo erneut, um einen Sportwagen zu überholen, der mit mindestens 180 Sachen auf der mittleren Spur fuhr.

Mia versuchte, nicht auf den Tacho zu schauen. Sie öffnete den Riemen an ihren Stiefeletten, die etwas drückten. Es waren nicht die bequemsten Schuhe, die sie hatte, aber sie wollte sie heute unbedingt tragen. Als sie sie gekauft hatte und gerade gut gelaunt den Laden verlassen wollte, hatte Constanze sie auf dem Handy angerufen und ihr gesagt, was passiert war. Das war vor genau sieben Wochen gewesen. Seitdem hatte sie die Schuhe nie angehabt und sie hatte sich nicht vorstellen können, sie überhaupt zu tragen. Heute Morgen allerdings war ihr klar geworden, dass sie nur diese Schuhe heute tragen konnte.

»Weißt du schon, wann die Beerdigung sein wird?«

»Mark! Er ist noch nicht mal tot!«

»Ich dachte, es ist jetzt ja irgendwie … absehbar.«

»Mach das Radio an.«

»Natürlich, Süße.«

Mia starrte aus dem Fenster und versuchte, die munteren Stimmen der 1Live-Moderatoren auszublenden. Warum hatte eigentlich jeder in dieser Familie so einen nüchternen Umgang mit dem, was heute passieren würde? Ihr Vater würde sterben, sie alle würden dabei sein, nein, noch viel schlimmer, sie würden entscheiden, wann der Arzt den Knopf drücken sollte, der die Geräte abschaltete. Auch wenn er keine Chance mehr hatte, waren es doch seine Frau und seine Kinder, die schlussendlich sagen mussten: Aus. Tot. Vorbei. Und zwar jetzt. Alle taten so, als wäre das nicht eine kaum zu verkraftende Verantwortung. Sie mussten Gott spielen – warum sah das eigentlich niemand? Constanze sorgte sich um die richtigen Häppchen für danach, Anna hatte schon im Vorfeld jede Menge Papierkram erledigt, damit gewisse Sachen heute einfacher gingen und Tom – tja, sie hatte keine Ahnung, wie er damit umging.

Ihr selbst graute vor dem, was ihnen bevorstand. Kein Mensch wusste, was ihr Vater noch mitbekam. Auch wenn es keine messbaren Hirnströme mehr gab, wer konnte ihr denn versichern, dass da nicht doch noch welche waren? Welche, die man mit dem heutigen medizinischen Gerät nur noch nicht messen konnte? Die man in fünfzig Jahren aber ganz klar feststellen würde? Kein Mensch konnte ihr mit Sicherheit sagen, dass ihr Vater sie nicht hörte, dass er nicht vielleicht doch innerlich damit rang, weiterleben zu wollen, dass er sich aber nicht äußern konnte und nun einfach da lag und ertragen musste, wie die Menschen, die er am meisten liebte, seinen Tod beschlossen.

»Und wenn er doch noch eine Chance hat?« Sie hatte den Satz ganz leise gesprochen, so leise, dass sie sicher war, Mark würde ihn nicht hören.

Sofort drehte er das Radio leiser. »Schatz, die eine Gehirnhälfte ist komplett schwarz. Da ist nichts zu machen.«

»Und wenn doch?«

»Dann wäre er ein totaler Pflegefall. Er könnte nichts mehr, würde nur so da liegen, an Maschinen und Geräten angeschlossen, eine schreckliche Vorstellung.«

»Aber er wäre da«, sagte Mia leise und musste an Ella denken, die immerhin noch zu ihrer Mutter gehen konnte, auch wenn diese immer besoffen und dadurch auch irgendwie eine Art Pflegefall war.

»Aber so, wie er es nie wollte.« Mark warf ihr wieder einen Blick zu, der für ihren Geschmack zu lang war und ihn zu sehr von der Straße ablenkte. »Denk daran: Es ist sein Wunsch. Das, was ihr heute Nachmittag macht, ist der Wunsch deines Vaters. Und den solltest du respektieren. So schwer es dir auch fallen mag. Er kann nicht nur für euch weiterleben, nur dafür, dass du ihn nicht verlierst.«

Mia musste schlucken. Natürlich wusste sie, dass Mark recht hatte. Der Wunsch, dass ihr Vater weiterleben sollte, war ein rein egoistischer. Es war für sie einfach tröstlicher, an ein Krankenbett zu gehen und seine warme Hand zu halten, als ihn in der kalten Erde des Friedhofs zu wissen. Im Krankenhaus könnte sie ihn besuchen, ihm eine Stunde etwas aus ihrem Leben erzählen und dann wieder in genau dieses zurückkehren. Und dabei immer hoffen, dass vielleicht doch noch ein Wunder geschah. Was natürlich Quatsch war. Tatsächlich wäre ihr Vater wie eine lebende Leiche ans Bett gefesselt, ohne Aussicht auf Besserung.

Sie dachte an das Gespräch, das sie vor einer Weile mit Ella geführt hatte. Einmal im Monat begleitete sie das Mädchen, wenn es ihre Mutter besuchte. In der kleinen, verwahrlosten Wohnung stapelten sich die leeren Schnapsflaschen und Ellas Mutter war meistens nicht in der Lage, mehr als zwei, drei Sätze zu lallen und ansonsten dumpf ins Nichts zu starren. Trotzdem beklagte sich Ella nie und ließ keinen der Besuchstermine ausfallen, die für Mia manchmal kaum auszuhalten waren.

»Wie schlimm sind diese Besuche für dich?«, hatte Mia das Mädchen irgendwann gefragt. »Wenn du es nicht mehr aushältst, könnte ich mal mit dem Jugendamt sprechen. Vielleicht kann man die Besuche für eine Weile aussetzen.«

Ella hatte sie aus ihren großen, dunklen Augen erstaunt angesehen. »Ich will sie nicht aussetzen. Sie ist doch meine Mutter!« Und dann hatte sie den Satz gesagt, der Mia seitdem nicht mehr aus dem Kopf ging. »Wenn ich sie nicht mehr habe, habe ich doch gar keine Familie mehr.«

Es war dem Mädchen ein Trost, dass es ihre Mutter sehen konnte, egal, in welchem Zustand diese war. So lange Ella sie besuchte, hatte sie die Hoffnung, dass sich etwas bessern könnte, an der Mutter und am Leben. Niemand durfte ihr diese Hoffnung nehmen.

Für eine Weile schwiegen sie. Mark lenkte den Wagen auf die mittlere Spur und reduzierte das Tempo. Gleich kam die Abfahrt nach Düren. Bis heute konnte Mia sich nicht daran gewöhnen, dass Mark grundsätzlich erst in allerletzter Sekunde auf die Abbiegerspur fuhr, zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sich schon längst in der rechten Spur eingeordnet hätte. Aber sie sagte nichts. Sie wusste, dass sie eine schlechte Beifahrerin war und immerhin war Mark seit über zwanzig Jahren unfallfrei, wie er gerne betonte, sobald sie sich über seinen Fahrstil beschwerte. Außerdem wollte sie sich nicht mehr über Kleinigkeiten aufregen. Sie neigte dazu, sich in Unerhebliches hineinzusteigern, wenn etwas tatsächlich Wichtiges bevorstand. Das waren ihre Häppchen und ihr Papierkram, das war ihre Art, echte Sorgen auszuhalten.

»Ist das dein Handy?«, sagte Mark in dem Moment. Tatsächlich, der etwas penetrante Piepton, den sie extra vor knapp zwei Monaten ausgewählt hatte, um ihn auch ja nicht zu überhören, drang aus ihrer Handtasche.

»Hoffentlich ist nichts mit Papa«, murmelte sie, während sie nervös in ihrer Tasche wühlte, die zwischen ihren Beinen im Fußraum des Wagens stand. »Unterdrückte Nummer«, fügte sie hinzu, als ihr Blick auf das Display fiel. »Aber das Krankenhaus zeigt doch die Nummer an, oder?«

»Weiß ich nicht. Geh doch einfach ran.«

Nervös nahm Mia den Anruf an.

»Hallo, Frau Winter, Caren Schuhmacher am Apparat.« Caren Schuhmacher? Wer zur Hölle ist Caren Schuhmacher? Eine Ärztin? Krankenschwester? »Ich bin die Mutter von Leon.«

O nein, bitte nicht. Die Halbjahreszeugnisse standen kurz bevor und Mia hatte, wie es an ihrer Grundschule üblich war, allen Kindern im Vorfeld mitgeteilt, ob sie mit einer Gymnasialempfehlung zu rechnen hatten oder nicht. Diese Informationspolitik hatte die Direktorin der Schule vor ein paar Jahren eingeführt, als eine Schülerin, die fest mit einer Gymnasialempfehlung gerechnet hatte, sich mit ihrer eingeschränkten Empfehlung nicht nach Hause traute und erst am späten Abend von der Polizei in einer Schrebergartensiedlung gefunden wurde. Abgehauen wegen einer eingeschränkten Gymnasialempfehlung. Der Druck, den einige Viertklässler schon jetzt zu spüren bekamen, war unglaublich.

»Frau Schuhmacher, ich bin noch die ganze Woche krankgeschrieben. Wir können gerne …«

»Sie sind im Auto, das kann ich doch hören. So krank können Sie gar nicht sein.«

»Ich bin auf dem Weg zum Arzt.«

»Der Sie gerade krankgeschrieben hat? So, so.« Mia hasste die Frau jetzt schon. »Sie werden ja wohl zwei Minuten haben. Wenn Sie wieder gesund sind, ist schon Zeugnisausgabe und dann steht mein Junge ohne da. Wie kommen Sie bitte auf die Idee, dass er eine Realschulempfehlung bekommen soll?«

»Leon hat in einigen Fächern ein paar Schwierigkeiten …«

»Mein Mann und ich sind beide Akademiker!«

»Er steht in Mathe und Deutsch auf Vier.«

»Und da fassen Sie sich nicht an Ihre eigene Nase? Mathe und Deutsch – das sollten doch die Kernkompetenzen einer Grundschullehrerin sein! Aber Sie haben es nicht geschafft, ihm den Stoff anständig zu vermitteln!«

Die Stimme der Frau hatte sich in eine schrille Tonlage hochgearbeitet. Und während sie weiter auf Mia einredete, ihr einen Vortrag darüber hielt, wie schlecht die Didaktik ihres Unterrichts gewesen sei und dass andere Eltern das ja ähnlich sehen würden, musste Mia an ihren Vater denken.

»Warum willst du denn Grundschullehrerin werden?«, hatte er sie ratlos gefragt. »Warum willst du dir das antun? Kein Mensch wird anerkennen, was du da leistest, die Eltern werden dich hassen, wenn du schlechte Noten verteilen musst und die Blagen werden dir den letzten Nerv rauben.«

»Es gibt kaum einen Beruf, der sich besser mit eigenen Kinder vereinbaren lässt«, hatte Mia ihm geantwortet und Papas Gesicht war ein einziges Fragezeichen geworden.

»Aber das kann doch nicht das Hauptkriterium für deine Berufswahl sein«, hatte er mit Nachdruck gesagt. »Kinder sind doch ganz schnell groß und dann hast du immer noch dreißig Jahre Berufsleben vor dir!«

Aber sie hatte es sich nicht ausreden lassen, sie war davon überzeugt gewesen, dass es keinen besseren Beruf gab, als Grundschullehrerin, wenn man mindestens drei Kinder haben würde, so wie Mia. Und jetzt wurde sie einfach nicht schwanger. Was für eine Ironie.

»Hören Sie mir überhaupt zu?« Die schrille Stimme von Frau Schuhmacher bereitete ihr Kopfschmerzen.

»Ja, natürlich. Aber wie gesagt, ich bin krank und …«

»Ich will von Ihnen ja auch nur wissen, ob Sie die Realschulempfehlung nicht in eine eingeschränkte Gymnasialempfehlung abändern können. Sonst wird mein Sohn doch von vorneherein auf dem Gymnasium abgelehnt!«

Mia sah den Jungen förmlich vor sich. Leon, der Störenfried, der im Unterricht eigentlich nur Mist machte, der nicht in der Lage war, sich auch nur für fünf Minuten zu konzentrieren, der bei der Stillarbeit immer noch Lärmschutzkopfhörer tragen musste, damit ihn die anderen Kinder nicht ablenkten, der das kleine Einmaleins bis heute nicht richtig draufhatte und die Rechtschreibung beherrschte wie ein Zweitklässler. Der aber im Werkunterricht ausgesprochen talentiert war, kein anderes Kind konnte mit Holz so geschickt umgehen wie er.

Sie hätte es der Mutter besser nicht gesagt.

»Was für eine Frechheit!« Jetzt wurde Frau Schuhmacher laut. »Sie wollen mir doch nicht ernsthaft sagen, dass mein Junge handwerkliches Talent besitzt! Eine kleine Grundschullehrerin will eine mögliche akademische Laufbahn zerstören, nur weil sie glaubt, ein Zehnjähriger hätte handwerkliches Talent?«

»Ich glaube, ich kann Ihren Sohn ganz gut einschätzen …«, denn wahrscheinlich verbringe ich mehr Zeit mit ihm als Sie, hätte Mia am liebsten noch hinzugefügt.

»Sie haben keine Kinder, nicht wahr?«

Mia musste schlucken, um nicht ausfallend zu werden. »Nein.«

»Dann wissen Sie auch nicht, wie das ist.« Jetzt begann Frau Schuhmacher zu dozieren und Mia fragte sich, welchen akademischen Beruf die Frau wohl ausübte. »Muttersein bedeutete früher vielleicht Essenkochen und Rumkuscheln, aber die Zeiten sind zum Glück vorbei. Ich sehe mich da eher als Beraterin und Förderin. Schon im Kindergarten hat Leon spielerisch den Umgang mit Buchstaben gelernt und beim Zähneputzen gebe ich ihm immer ein paar Rechenaufgaben. Es ist mir daher ein völliges Rätsel, wieso Sie ausgerechnet in diesen Fächern eine Schwäche bei ihm sehen. Ehrlich gesagt, kann das nur an Ihnen liegen.«

Mia atmete tief durch. »Wissen Sie«, begann sie, obwohl sie genau wusste, dass sie einen Fehler machte, »als ich zur Schule kam, war meine Mutter bereits tot. Sicherlich fehlte mir auch mal ihr Rat, aber als Beraterin und Förderin, habe ich sie am wenigsten vermisst. Dass sie mich nicht in den Arm nehmen und einfach bei mir sein konnte, das fehlte mir dagegen unendlich.«

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