Freiheit unterm Ladentisch - Daniel Krause - E-Book

Freiheit unterm Ladentisch E-Book

Daniel Krause

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Beschreibung

»Stinker? Drauf geschissen! Wir waren nicht wie die, und wir wollten es auch nicht werden.« »Es sollte der geilste Tag des Frühlings 1987 werden. Zwischenzeitlich war er es auch – bis die Volkspolizei mit ihren Knüppeln dazwischenfuhr und dem Gefühl von Unbesiegbarkeit, das mich durch meine Jugend als Ostberliner Punker getragen hatte, einen ewigen Dämpfer verpasste.« Daniel Krause ist 18 Jahre alt und Punker, als ihm 1987 bei den Ostberliner Pfingstunruhen erstmals der Ruf »Die Mauer muss weg!« zu Ohren kommt. Endlich scheint der Freiheitsdrang, der seine Jugend in der DDR zum Spießrutenlauf gemacht hat, zur Massenbewegung zu werden. Doch in den Seitenstraßen lauern schon die Sittenhüter des Staates … In Freiheit unterm Ladentisch erzählt der bekannte Seriendarsteller aus »Berlin – Tag & Nacht«, wie Jugendkultur im Osten jenseits von FDJ und politischer Widerstandsbewegung funktionierte, wie die kleinen Freiheiten im Angesicht der großen Unfreiheit aussahen und was Action-Deo, Chromalux-Fernseher und Leifalit-Sprühfarbe zur Wende beigetragen haben. Eine unterhaltsame Zeitreise in die letzten Tage der DDR – geistreich und mit hintergründigem Humor.

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Seitenzahl: 310

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Daniel Krause

FreiheituntermLadentisch

Daniel Krause

FreiheituntermLadentisch

Mein Leben als Punkin der DDR

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.

Für Fragen und Anregungen:

info@rivaverlag.de

Originalausgabe

1. Auflage 2019

© 2019 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Nymphenburger Straße 86

D-80636 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© Daniel Krause: S. 1 oben, 2, 4 unten / © dpa: S. 7 Mitte links / © dpa – Report: S. 4 oben, S. 6 oben / © Nicosch-ink-Photographie Berlin: S. 1 unten, 3, 4 Mitte, S. 6 Mitte und unten, S. 7 oben, Mitte rechts, unten. S. 8 unten / © picture-alliance / akg-images: S. 8 oben / © picture alliance: S. 5 oben / © picture alliance/AP Images: S. 5 Mitte und unten

Redaktion: Sabine Franke, Christian Lütjens

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer:

Umschlagabbildung: Daniel Krause

Satz: bären buchsatz, Berlin

Druck: GGP Media GmbH, Pößneck

eBook: ePubMATIC.com

ISBN Print 978-3-7423-1012-5

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-0649-1

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-0650-7

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.rivaverlag.de

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Freiheit fängt mit der Bereitschaft an, sie anderen zu gewähren. Dass ich diese Erkenntnis gewonnen habe, verdanke ich zwei Menschen, die mir jeden Tag aufs Neue zeigen, wie das geht: Monique und Lu. Euch widme ich dieses Buch. Danke, dass ihr mich festhaltet und trotzdem frei sein lasst.

Inhalt

Prolog

»Helden für einen Tag«

Vorglühen

Abenteuerspielplatz Kuglerstraße

Leidensgenosse Radeburg

Kosmos Kartoffelsteig: vier Schichten, ein ABV und eine Freundschaft ohne Worte

Von schwimmenden Kaugummis und fliegenden Milchtüten

Die Jahre im Ring

Auf die Zukunft!

Formel Eins der Kreuze und Streifen

Bückware, Fehltritte und Action aus der Dose

Ein Mann fällt aus, der andere spielt Scheibe

Durchdrehen

Pankow-Rhythmus

The Unforgettable Fire

Hilfe, die Schmutzels kommen!

Schnappschüsse aus einer Welt der halben Wahrheiten

Heuschrecken mit bunten Haaren

Abschiede und Erkenntnisse

Ein Universum namens Schmenkel

Ostsee-Trip

Ernst des Lebens trifft Wunderkammer

Die Mündigkeit der Unmündigen

Staub über der Punker-Wiese

Bildteil

Aufwachen

Lichtenberger Schmetterlinge

Balanceakte mit dem Boss

Absturz

»Sie sind verhaftet!«

Rummelsburger Lektionen

Verurteilt

»Und was machen wir jetzt?«

Nachwort

Auf die Freiheit!

Prolog

»Helden für einen Tag«

Es sollte der geilste Tag des Frühlings 1987 werden. Zwischenzeitlich war er es auch – bis die Volkspolizei mit ihren Knüppeln und Schlägern dazwischenfuhr und dem Gefühl von Unbesiegbarkeit, das mich durch meine Jugend als Ostberliner Punker getragen hatte, einen ewigen Dämpfer verpasste …

Es war Pfingsten. Ich war 18. Mein erster Sommer als Volljähriger stand bevor. Für mich bedeutete das: Endlich durchdrehen, ohne dass mir irgendwer reinreden konnte. Ich war erwachsen. Mir hatte keiner mehr was zu sagen. Keine Regeln und keine Verbote, stattdessen Freiheit und Freundschaft ohne Ende. Nach Jahren des Suchens, Kämpfens und Aneckens hatte ich, der kleine Punker mit der Pumuckl-Frisur, endlich eine Ersatzfamilie aus gleichgesinnten Freunden gefunden, die mir das Gefühl gab, alles erreichen zu können, was ich wollte. Wenn Ralle, Wolle, Tippel, Wulzo und ich zusammen waren, konnte uns keiner aufhalten. Berlin war unser Revier, seine Regeln unser Spielzeug. Klar, da waren die Grenzen, die uns der DDR-Alltag an allen Ecken und Enden vor die Nase setzte, aber gegen diese Grenzen zu rebellieren war genau das, was uns im Innern antrieb und immer wieder zu Höchstform aufstachelte. Die Verachtung und das Unverständnis der DDR-Spießer waren für uns mehr Ansporn als Einschränkung. Dass uns der Wirt unserer Stammkneipe »Gambrinus« in die Soljanka spuckte und die Bauarbeiter aus unserer zweiten Stammkneipe, dem »Bürgereck«, uns als »Stinker« beschimpften … drauf geschissen. Wir waren nicht wie die und wir wollten es auch nicht werden. Für uns war jedes Zeichen der Ablehnung wie eine Bestätigung. Wir lachten uns jedes Mal halb tot über die Zusammenstöße mit den Stinos. Unter diesen Voraussetzungen versprach dieser Pfingstsamstag extraspaßig zu werden. »Treptow in Flammen« stand an, ein riesiges Volksfest mit Rummel und Feuerwerk im Treptower Park. Da gingen alle hin, die Bonzen genauso wie die Normalos, die FDJ-Streber genauso wie wir, die Punks aus Pankow. Das Beste war aber, dass sich diesmal auch die Punker-Gruppen aus Buch, Treptow, Baumschulenweg und Glienicke angekündigt hatten. Ein großes Treffen der bunten Jungs und frechen Mädchen stand bevor. Ich fieberte diesem Tag schon seit Wochen entgegen.

Die Luft zitterte förmlich vor Spannung, als wir am Nachmittag aus der S-Bahn stiegen und Richtung »Zenner« tobten. Der »Zenner« war ein Ausflugslokal an der Spree, wo sich die Ostberliner Bevölkerung traf, um bei Bier und Eisbomben den Alltag hinter sich zu lassen. Gleich nebenan lag die Insel der Jugend, wo wir am Wochenende häufig feierten. Aber diesmal war irgendwie alles anders – größer, aufregender, unvorhersehbarer. Wir standen schon in Flammen, als der Treptower Park noch vor sich hinschlummerte.

Als wir mit unseren bunten Haaren, bemalten Lederjacken und ausgelatschten Stiefeln an der Biergartenterrasse des »Zenner« ankamen, ernteten wir sofort die ersten abschätzigen Blicke. Wir waren das gewohnt. Viele der Ausflügler, die sich hier den Bauch vollschlugen und ihr Bier süffelten, hatten so was wie uns noch nie gesehen. Offiziell gab es keine Punks in der Deutschen Demokratischen Republik. Genauso wie es dort offiziell keinen Smog, keine Armut und keine Arbeitslosigkeit gab. Das waren alles Phänomene, die nur im dekadenten Westen vorkamen, für den sich offiziell niemand interessierte. Das war die verzerrte Version der Realität, die das SED-Regime in Schulen, Zeitungen und dem DDR-Fernsehen zu vermitteln versuchte. Für alle, die daran glaubten, muss der Anblick unserer Anarcho-Truppe ein ziemlicher Kulturschock gewesen sein. Zumal wir sehr bald nicht mehr zu sechst waren. Immer mehr Punker sammelten sich um uns herum. Viele von ihnen kannte ich nur flüchtig aus der »Partythek«, dem »Schmenkel-Club« oder von Partys im Jugendtreff am Baumschulenweg, andere hatte ich noch nie gesehen. Trotzdem verband mich mit jedem Einzelnen ein großes, überwältigendes Gefühl von Einigkeit. Das Kribbeln in meinem Bauch wurde immer stärker. Der geilste Tag des Frühlings schien zu halten, was er versprochen hatte.

Am frühen Abend war unsere Gruppe auf knapp Hundert Leute angewachsen, die sich auf der »Zenner«-Terrasse und im Park daneben tummelten. Es war der Wahnsinn. Noch nie hatte ich so viele Punker auf einen Haufen gesehen. Es wurde gesungen, gesoffen, gefeiert und um Berge aus Bierflaschen herumgepogt, dass es die pure Freude war. Ich selbst lag mit Tippel und Wolle in der Wiese und versank in den großen dunklen Augen der kleinen Tilli. Bis jetzt hatte ich die Punker-Schönheit mit der langen schwarzen Mähne und dem herzerweichenden Blick nur im »Schmenkel-Club« aus der Ferne angeschmachtet, ohne mich zu trauen, sie anzusprechen. Doch jetzt saß sie mir direkt gegenüber, hielt mir eine Flasche Berliner Luft entgegen und sagte mit einem hinreißenden Lächeln: »Hier, trink!«

Als der süße, klebrige Pfefferminzlikör meine Kehle hinunterrann und ich die Flasche an Wolle weiterreichte, fühlte ich mich wie im siebten Himmel. Hier lag ich, inmitten einer Armee von Lederjacken-Typen mit bunten Haaren, während das schönste Mädchen der Welt mir sprichwörtlich schöne Augen machte. Konnte es besser kommen? Nie im Leben. Ich war unangreifbar, ich war besoffen, ich war verliebt. Wenn es so etwas wie einen perfekten Moment gab, dann fand er genau hier und jetzt statt. Ich wollte nirgendwo anders auf der Welt sein. Na gut, vielleicht ein paar Zentimeter weiter vorne. Direkt in Tillis Armen. Aber wenn sie so weiterlächelte, war der Weg bis dorthin gar nicht mehr besonders weit. Das Universum meinte es heute offenbar so richtig gut mit mir.

Doch dann: Peng! Während mein Blick noch verzückt auf Tillis geschwungenen Lippen hin und herschaukelte, erklang aus der Menge auf einmal der schneidende Ruf: »Komm, Krause, hoch mit dir, wir müssen los.«

»Los«? »Komm«? Nix da. Ich war im siebten Himmel, und dort würde ich auch bleiben. Als ich widerwillig meinen Blick von Tillis Mund löste und hochguckte, sah ich durch das Meer aus bemalten Lederjacken und hochtoupierten Frisuren Ralle auf mich zurasen. Seine Haare standen noch mehr zu Berge als sonst und sein Blick wirkte wie paralysiert. Er schien völlig außer sich zu sein. Im nächsten Moment hatte er mich am Kragen gepackt und versuchte, mich hochzuziehen.

»Nun gib endlich mal Gas, Alter«, motzte er mich an.

»Gas geben?« Ich liebte Ralle. Er war es, dem ich meinen Platz in unserer kleinen Punker-Familie verdankte, und er war es, aus dessen Zimmer wir fast jeden Samstag mit ein paar Bier und wilden Plänen im Kopf zu unseren Entdeckungstouren in den Berliner Wochenenddschungel aufbrachen. In diesem Moment hätte ich ihn allerdings am liebsten auf den Mond geschossen. »Warum denn Gas geben? Fängt doch gerade erst an, lustig zu werden.«

Beim letzten Satz zwinkerte ich Tilli verschwörerisch zu, doch der Annäherungsversuch verpuffte. Während Ralle weiter wie ein Besessener an meiner Jacke zerrte, sagte er den Satz, der meinen siebten Himmel von einem Moment auf den anderen in den Hintergrund treten ließ: »Alter, wir müssen zum Brandenburger Tor. Bowie spielt da. Für die Fans im Osten. Echt jetzt, ich hab’s im Westradio gehört.«

Der Name Bowie änderte alles. Neben The Cure, Depeche Mode und U2 war David Bowie schon seit Jahren der Held meiner Samstagnachmittage. Er war zwar kein richtiger Punk, aber eine absolute Stilikone. Seine Musikvideos, die ich etwas krisselig, aber dafür mit größter Aufmerksamkeit im Westfernsehen bei Formel Eins verfolgte, hauten mich regelmäßig aus den Socken. Ich hätte sonst was drum gegeben, den Mann einmal live auf der Bühne zu erleben. Gleichzeitig war mir klar, dass das nie passieren würde. Künstler aus dem Westen gaben im Osten keine Konzerte. Auch sie gehörten zu den dekadenten Phänomenen, für die man sich in der DDR offiziell nicht zu interessieren hatte. Dass sie auf Jugendliche wie uns damit eine umso größere Faszination ausübten, war der logische, aber unerwünschte Nebeneffekt der SED-Abschottung. Man kann sich also vorstellen, was für ein Stromstoß mir bei Ralles Worten durch den Körper jagte. Was hatte er gesagt? »Bowie spielt da. Für die Fans im Osten.« Allein die Vorstellung, dass ein West-Star von Bowies Format unsere Existenz im Schatten der Berliner Mauer auf dem Zettel hatte, verursachte Gänsehaut. Im Nullkommanix war ich auf den Beinen, stolperte Ralle hinterher und riss gleichzeitig Wolle, Tippel und Wulzo mit.

»Wie jetzt, Bowie spielt am Brandenburger Tor?«

»Die machen heute hinter der Mauer ein Riesenkonzert«, erklärte Ralle, während wir durch die Menge pflügten. »Die Westler haben die Bühne extra Richtung Osten gebaut, damit wir mithören können.«

Ein Konzert im Westen, bei dem die Bühne Richtung Osten gebaut war? Das klang ziemlich unglaublich, aber das spielte in diesem Moment keine Rolle. Die Möglichkeit, dass es so sein könnte, reichte, um uns dermaßen zu elektrisieren, dass wir wie die Verrückten zur S-Bahn hetzten. Einige unserer Treptow-in-Flammen-Kumpels bekamen den Aufruhr mit und schlossen sich uns an, sodass sich nach der Fahrt eine ganze Horde von Punks auf den S-Bahn-Bahnsteig an der Friedrichstraße ergoss. Hier war die Welt für uns normalerweise zu Ende, denn hier verlief die Mauer. Am Grenzübergang Friedrichstraße konnten zwar Westler mit Tagesvisum in den Osten einreisen, aber umgekehrt durften die wenigsten Ostler ausreisen. Nur Rentnern, SED-Bonzen und ihren Günstlingen waren Ausflüge in den Westen gestattet. Endstationsorte wie der Bahnhof Friedrichstraße waren normalerweise eine unweigerliche Erinnerung daran, wie eingesperrt und begrenzt wir in der DDR lebten, doch in diesem Moment wischten Spannung und Vorfreude solche Gedanken beiseite. Unsere Lederjacken-Armee jagte die Treppen runter, als gelte es, die Welt zu erobern. Ein bisschen war es ja auch so. Wir waren hier, um zu hören, wie David Bowie für uns sang. In meinen Augen war das ziemlich weltbewegend.

Es muss ein beeindruckender Anblick gewesen sein, wie unser Punker-Pulk die Friedrichstraße hinunter Richtung Unter den Linden trabte. Doch der Anblick, der uns erwartete, als wir am Brandenburger Tor um die Ecke bogen, war noch beeindruckender. Eine riesige Menschenmasse hatte sich auf der Straße versammelt. Während von Westen her aus relativ weiter Entfernung leise Musik über die Mauer tönte, lauschten, tanzten und lachten die Menschen auf der Ostseite, als wären sie bei einem richtigen Konzert. Es herrschte eine lockere, brüderliche Stimmung, wie ich sie im Alltag sonst nur im Kreis meiner Freunde wahrnahm. Niemand hier wirkte argwöhnisch, gebieterisch oder aggressiv. Alle schienen nur gekommen zu sein, um in die Musik einzutauchen und gemeinsam den Moment zu feiern. Während wir uns durch die Menge nach vorne Richtung Brandenburger Tor drängten, erfüllte mich eine erhebende, fast unwirkliche Stimmung, ein beflügelndes Gefühl von Harmonie, Frieden und Grenzenlosigkeit. Ob sich so Freiheit anfühlte?

Rückblickend glaube ich tatsächlich, dass ich an diesem Abend zum ersten Mal eine Ahnung davon bekam, was Freiheit ist. Ich hatte meine gesamte Jugend damit verbracht, mir Freiräume zu erkämpfen, gegen Wände anzurennen und von der großen Freiheit zu träumen. Trotzdem war es mir weder mental noch physisch gelungen, die Grenzen, die mich umgaben, vollständig zu sprengen. Das lag auch daran, dass diese Grenzen von meinen Mitmenschen mitbestimmt wurden. Wie soll man sich in einer Gesellschaft frei fühlen, deren Mitglieder sich verstecken, wegducken, bespitzeln und sich selbst zur Unfreiheit verdammen? Ich glaube, das geht gar nicht. Aber hier, am Brandenburger Tor, in der friedlich tanzenden Menge versteckte sich keiner. Hunderte, vielleicht Tausende von Ostlern waren zu einem Konzert gekommen, das die Westler jenseits der Mauer veranstalteten. Von geheucheltem Desinteresse an den »dekadenten Phänomenen« aus dem Westen war hier nichts zu spüren. War das der Anfang eines Befreiungsschlages? Ein friedliches Auflehnen gegen die verzerrte Realität der SED? Oder vielleicht sogar der Anfang des Einreißens der Mauer?

So war es in der Tat. Bis mir das endgültig klar wurde, verging aber noch eine Stunde. In dieser Stunde verlor sich unsere Punker-Gang immer mehr in der Menge, sodass am Ende nur der harte Kern an der Grenzabsperrung beieinander stand: Ralle, Wolle, Tippel, Wulzo und ich. Wir stellten fest, dass die Bühne nicht westlich des Brandenburger Tors, sondern am Reichstag stand. Sie war auch nicht nach Osten ausgerichtet, sondern nur sehr nah an die Mauer gebaut. Aber das reichte, um die Musik und die Ansagen der Künstler auf unserer Seite zu hören. So vernahmen wir irgendwann tatsächlich die Stimme von David Bowie. Als er »China Girl« sang, schloss ich die Augen und driftete weg. Als er in einer Zwischenansage die Menschen in Ostberlin grüßte, sahen meine Freunde und ich uns ungläubig an und waren nicht sicher, ob wir das alles nur träumten. Und als er bei »Heroes« ein paar Worte auf Deutsch sang, drückte er damit haargenau das aus, was wir in diesem Moment fühlten: »Dann sind wir Helden für einen Tag.«

Diese Textzeile ist das Letzte, was mir von der friedlichen und freiheitlichen Stimmung dieser Nacht in Erinnerung geblieben ist. Danach wurde es auf einmal unruhig in der Menge. Vereinzelt erklangen Sprechchöre. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich den Ruf »Die Mauer muss weg«. War es jetzt so weit? Würden wir die Mauer mit Schreien niederreißen? Egal. Wir brüllten einfach mit. Allerdings nur kurz. Dann stürmten aus den Seitenstraßen auf einmal wütende Ordnungshüter hervor. Sie waren in zivil, aber ihr Verhalten ließ keinen Zweifel daran, dass sie im Auftrag der Stasi handelten. In Dreier- und Vierergruppen pflügten sie durch die Menge, schnappten sich wahllos irgendwelche Leute und zerrten sie weg in die Seitenstraßen. Währenddessen rückten unablässig weitere Zivilbullen nach. Sie gingen die friedlichen Konzertbesucher hart an, versetzten ihnen Tritte und schleiften sie über den Bürgersteig. Anfangs waren wir total überrumpelt von der plötzlichen Attacke. Erst allmählich regte sich Widerstand. Leute fingen an zu pfeifen und zu protestieren. Einige rannten weg, Opfer wehrten sich, andere versuchten, die Zivilbullen aufzuhalten. Auch ich tat mein Bestes, um die Angreifer abzuwehren, allerdings ohne großen Erfolg. Es waren einfach zu viele.

Aus Gedränge und Geschubse wurde in Sekundenschnelle rohe Gewalt. Ein Mann, der sich schützend vor seine Freundin stellte, wurde niedergeprügelt, bis er am Kopf blutete, während die Freundin gnadenlos mitgenommen wurde. Leute wurden in den Schwitzkasten genommen, im Polizeigriff abgeführt und zu Boden getreten, wahllos droschen die Schläger mit Knüppeln in die Menge. Das Gelände, auf dem eben noch friedlich gesungen und gefeiert worden war, war zum Schlachtfeld geworden. Die Schläge und Tritte wurden stetig brutaler, die Situation immer unübersichtlicher.

Auf einmal fing Ralle, der minutenlang wie erstarrt dagestanden hatte, laut an zu schreien. Noch nie hatte ich ihn so schreien hören, voller Angst und Entsetzen. In seinem Blick flackerte die pure Verzweiflung. Zusätzlich schlug und trat er um sich wie ein Irrer. Seine Panik war ansteckend. Bald standen wir anderen neben ihm und machten mit. Während die Welt um uns herum in Gewalt, Chaos und kopflosem Durcheinander versank, standen wir in der Menge und schrien uns die Seele aus dem Leib. Der geilste Tag des Frühlings 1987 endete in blankem Horror und mein erstes Gefühl von Grenzenlosigkeit mit einer gewaltsamen Bestätigung dessen, was mir unterbewusst schon seit meiner Kindheit klar war: Dass mein unbändiges Bedürfnis nach Freiheit in diesem Land nur ins Verderben führen konnte.

Vorglühen

Abenteuerspielplatz Kuglerstraße

Der Freiheitskönig meiner Kindheit war Adolar, der Titelheld einer ungarischen Zeichentrickserie, die immer im DDR-Fernsehen lief. Adolar hatte ein Raumschiff unterm Bett, das er aufpusten konnte. Wenn seine Eltern schlafen gingen, holte er das Ding raus und flog mit seinem sprechenden Hund zu allen möglichen Planeten. In einer Folge eroberten sie den Märchenplaneten, in der nächsten den Krimiplaneten und so weiter. Für Adolar war nichts unmöglich. Er war ein Genie, für das es keine Grenzen gab. Diese Mobilität unterschied ihn von Pittiplatsch, Schnatterinchen, Mischka, dem Bären, und den anderen Figuren, die das Kinderfernsehen der DDR bevölkerten und meist in ihrem vertrauten Umfeld blieben. Okay, es gab noch Jan und Tini auf Reisen, zwei Puppen, die in einem Auto aus Karton durch die DDR brummten und den sozialistischen Alltag zwischen Ostsee und Erzgebirge erkundeten. Wenn sie richtig weit kamen, landeten sie auch mal in der Tschechoslowakei. Aber eine Welt außerhalb des Ostblocks existierte für sie nicht. Sie waren schließlich eine Erfindung des DFF, der staatlichen Fernsehsendeanstalt der DDR. Dort wurde Propaganda schon für die ganz Kleinen zu pädagogisch wertvoller Unterhaltung aufbereitet.

Als Kind kapierte ich das natürlich noch nicht. Ich fand Jan und Tini ganz knuffig, auch wenn sie alles toll fanden, was mit Arbeiterkommunismus zu tun hatte. Letztendlich musste man als Puppe ja auch das erst mal hinkriegen. Ich war immer völlig fasziniert, dass sich diese Figuren ohne fremde Hilfe in der realen Welt fortbewegen konnten. Mir war ein Rätsel, wie das funktionierte. Ich forschte allerdings nicht weiter nach. Dazu gab es in meiner Kindheit dann doch zu viel Wichtigeres zu tun. Zumal der klobige Schwarz-Weiß-Fernseher für meinen großen Bruder und mich in der Regel sowieso tabu war. Mit seinen großen silbernen Tasten, die man zum Umstellen der Programme fest ins Gehäuse drücken musste, thronte er eher wie ein Museumsstück als wie ein Gebrauchsgegenstand im Wohnzimmer unserer Wohnung in der Kuglerstraße im Prenzlauer Berg. Meist war der Stecker gezogen. Das bedeutete, dass fernsehen verboten war. Ich glaube, meine Eltern befürchteten, dass das Teil auch Strom verbrauchte, wenn es gar nicht an war. Oder dass es kaputtging, wenn es permanent unter Strom stand. Letzteres wäre eine Katastrophe gewesen. In der Welt meiner Kindheit waren Fernseher etwas unglaublich Wertvolles. Es war alles andere als eine Selbstverständlichkeit, einen zu besitzen. Die meisten unserer Nachbarn hatten keinen. Wir gehörten also zu den Privilegierten. So wurde das Ding gehegt, gepflegt, mit Samthandschuhen angefasst und am besten gar nicht erst angeschaltet. Was nicht benutzt wurde, konnte sich auch nicht abnutzen.

Diese eigenwillige Logik begegnete einem im Ostalltag häufig. Als meine Mutter von unseren Westverwandten eine weiße Wit-Boy-Jeansjacke geschenkt bekam, war die Freude zwar riesig, trotzdem hing das Ding die meiste Zeit im Schrank und wurde nur zu besonderen Anlässen hervorgeholt. Die Musikkassetten, auf denen meine Eltern Musik aus dem Westradio aufgenommen hatten, wurden zwar fast nie gespielt, wir Kinder durften sie aber wegen Zerstörungsgefahr trotzdem nicht anrühren. Und wenn meine Mutter vor Weihnachten aus dem Intershop ausnahmsweise Westschokolade mitbrachte, wurde sie erst versteckt und später streng rationiert zum Verzehr freigegeben. Das klappte allerdings nur, solange wir noch klein waren. Später wussten mein Bruder und ich vor den Feiertagen immer schon, dass jetzt wieder Schogetten im Haus sein mussten. Wenn meine Eltern bei der Arbeit waren, suchten wir so lange, bis wir sie gefunden hatten, dann aßen wir sie in einem Rutsch auf. Das war was anderes als die Creck-Schokolade und die Schlager-Süßtafeln, die im Osten Standard waren und irgendwie nach nichts schmeckten. Nur wenn gerade mal eine gute Lieferung Kakao aus Kuba gekommen war, konnte man Glück haben und an eine Tafel mit echtem Schokoaroma geraten. Aber das passierte selten. Noch schlimmer war es mit den Schokoriegeln: Fetzer und Joker. Die waren hart, pappig und changierten irgendwo zwischen Proteinriegel und reiner Zuckerstange. Kein Wunder, dass wir uns jedes Mal mit Heißhunger auf die Schogetten stürzten, auch wenn klar war, dass es anschließend Riesenärger geben würde. Den nahmen wir in Kauf. Der ungedrosselte Genuss war es wert.

Ansonsten waren meine Kindertage im Prenzlauer Berg geprägt von einer Mischung aus Nachkriegsromantik und Abenteuerspielplatz-Gefühl. Der Kiez in der Kuglerstraße bot alles, was ich zum Leben brauchte: kleine Läden, kleine Parks, eine Eisdiele und Nachbarskinder, mit denen ich Cowboy und Indianer spielen konnte. Ich war in der Cowboy-Gang. Wir nahmen das Spiel ziemlich ernst, deshalb war das Leben gefährlich. Einmal war ich auf dem Weg zur Eisdiele, da sprangen plötzlich die Indianer-Kinder aus dem Gebüsch und ich bekam einen Plastik-Tomahawk über den Schädel gezogen. Danach hatte ich einen Riesenschnitt überm Auge, blutete wie ein Schwein und es herrschte erst mal Waffenstillstand. Praktischerweise lag die Poliklinik gleich um die Ecke. Wie einen toten Häuptling trugen mich die Indianer-Kinder ins Krankenhaus und warteten, bis meine Mutter kam und ich wieder zusammengenäht war. Das Personal der Poliklinik kannte uns schon. Alle paar Wochen landete einer von uns hier und musste verarztet werden. Allein ich kann mich an fünf Behandlungen wegen gebrochenem Finger, verdrehtem Fuß, abgebrochenem Zahn, verrenktem Arm und eben dem kaputten Kopf erinnern. Die Ärzte und Schwestern in der Poliklinik waren ein bisschen ruppig, aber sie machten ihren Job ordentlich. Ich hab auch nie gejammert. Im Gegenteil. Eigentlich fand ich die Aufmerksamkeit nach Verletzungen sogar ganz toll. Dann guckten die Mädchen ehrfürchtig und ein Kindergartenkollege musste mir die Tasche tragen, während ich mit meinem Verband angeben konnte und von meinen Eltern Trostgeld für eine Extrakugel Eis bekam.

Die Gänge zur Eisdiele waren immer spannend, denn sie waren mit einer großen Frage verbunden: Gab es wieder nur Schoko, Vanille und Erdbeer, oder landete man diesmal den Jackpot? Waldmeister! Der Jackpot-Vergleich ist nicht übertrieben, denn Waldmeister gab es nie. Eigentlich gehörte diese Sorte sogar zu den Phänomenen, die es gar nicht geben durfte, denn sie galt in der DDR als krebserregend. Trotzdem redeten wir ständig davon. Waldmeister war Trend, ohne zu existieren. Es spaltete die Gesellschaft. Wenn ich beim Eisdielenbesuch voller Hoffnung, aber immer erfolglos, fragte, ob Waldmeister im Angebot war, gab es immer mindestens einen Erwachsenen, der hinter mir in der Schlange grunzte: »Sei froh, dass dir das Zeug erspart bleibt. Sollen doch die Westler davon krank werden.« Ich wäre zu gern von Waldmeister krank geworden. Dann hätten die Mädchen bestimmt noch ehrfürchtiger geguckt. Es klappte leider nie. So viel zum Abenteuerspielplatz.

Was die Nachkriegsromantik angeht: Alle Wohnungen im Prenzlauer Berg hatten noch Außentoiletten, wenn wir telefonieren wollten, mussten wir entweder zur Telefonzelle gehen oder nach Weißensee zu meinen Urgroßeltern fahren, die schon einen Wählscheibenapparat hatten, und weil alle Wohnungen mit Kohleöfen geheizt wurden, bedeuteten die Winter immer Rennerei. Die Asche musste runter- und die Kohlen hochgetragen werden. Beide Tätigkeiten waren klassische Kinderjobs, dementsprechend waren mein Bruder und ich von Oktober bis März ständig am Wetzen. Wenn die Kohlenträger kamen, liefen wir mit unseren Kohlenkarten auf die Straße und tauschten sie gegen Kohlen ein, die dann erst in den Keller gebracht wurden, um später in die Wohnung transportiert und verheizt zu werden. Wenn die Winter lang und kalt waren, konnten die Kohlen auch mal knapp werden. Dann wurde nur noch abends und nachts geheizt, während wir tagsüber mit dicken Strickjacken durch die Wohnung liefen. Das war gar nicht so selten. Damals gab es ja noch richtige Winter.

Ich kann mich an bitterkalte Winter erinnern, an denen ich mit Schneegleitern durch tief verschneite Straßen zum Kindergarten schlitterte. Schneegleiter waren eine Art Mini-Skier, die man mit Lederriemen unter den Schuhsohlen befestigte. Super Erfindung. Es war ein Riesenspaß, mit den Dingern durch die Gegend zu rutschen. Am liebsten hätte ich es den ganzen Tag getan. Ging leider nicht: Ich musste ja in den Kindergarten, den ich von Anfang an gehasst habe. Das Frühstück, bei dem ich immer genötigt wurde, Butter zu essen, die derben Erziehungsmethoden, bei denen einem auch mal eine gelangt wurde, wenn man nicht spurte, das scheußliche Mittagessen aus Armeekübeln, das Singen von Arbeiterschlagern wie »Wenn wir schreiten Seit’ an Seit’« oder »Wer will fleißige Handwerker sehn« – das war alles nichts für mich. Anfangs hat mich mein Vater vorne im Kindergarten abgeliefert und ich bin hinten wieder aus dem Fenster rausgeklettert und zu meinen Großeltern geflüchtet. Es dauerte ein paar Wochen, bis ich mich in mein Schicksal fügte. Allerdings auch dann nur äußerlich. Im Innern rebellierte ich schon damals gegen die Gesetzmäßigkeiten einer Welt, die mich in ein organisatorisches Raster pressen wollte, das nicht zu mir passte.

Entziehen konnte man sich diesem Raster allerdings kaum. Als ich in die Schule kam, wurde auch ich Mitglied der »Pionierorganisation Ernst Thälmann«, einer Vorstufe der Freien Deutschen Jugend (FDJ). Eigentlich war die Mitgliedschaft freiwillig, aber ich kann mich nicht erinnern, gefragt worden zu sein. Also bekam ich zur Einschulung ein weißes Hemd mit einem »Seid bereit«-Aufnäher in Fackeloptik auf dem Ärmel sowie ein blaues Halstuch und wurde vom Schuldirektor in der Riege der Jungpioniere begrüßt. Na, Prost Mahlzeit. Zum Glück galt die »Was nicht benutzt wird, nutzt sich nicht ab«-Maxime auch für das Jungpionier-Outfit. Es wurde nur zu besonderen Anlässen getragen: erster Schultag, Tag der Arbeit und Tag der Republik am 7. Oktober. Den Rest des Jahres schonten sich Hemd und Halstuch mit der Wit-Boy-Jeansjacke meiner Mutter um die Wette und lagen ungenutzt im Kleiderschrank in der Kuglerstraße. Allerdings nur für ein Jahr. Dann mussten sie gemeinsam mit dem Schrank, dem Fernseher, den Musikkassetten und unserem neuen Familienmitglied (meiner fünf Jahre jüngeren Schwester) umziehen. An den Stadtrand. Nach Blankenfelde. In ein Haus, das in einer Straße mit dem gruseligen Namen Kartoffelsteig stand. Kartoffelsteig! Man könnte annehmen, dass das Leben dort unweigerlich zu Ende war. Aber so war es nicht. Eigentlich fing es dort erst an.

Leidensgenosse Radeburg

Der Umzug nach Blankenfelde passte mir überhaupt nicht. Er bedeutete, dass ich aus meinem vertrauten Kiez an den Arsch der Welt verpflanzt wurde und meine Cowboy-und-Indianer-Kumpels zurücklassen musste. Für einen Siebenjährigen ist so was starker Tobak. Ich verstand auch gar nicht, was meine Eltern so wahnsinnig vorteilhaft daran fanden, in einem eigenen Haus zu wohnen. Klar, jetzt hatten wir mehr Platz und einen Garten, aber dafür hatten wir keine Eisdiele und keine Poliklinik mehr um die Ecke. Das Schlimmste war allerdings: Ich musste mit dem Beginn der zweiten Klasse die Schule wechseln. Das hieß, ich würde der Neue sein, der einzige fremde Trottel in einer Schule voller Kinder, die sich schon lange kannten. Vor meinem inneren Auge sah ich bereits vor mir, wie der Klassenlehrer mich aufforderte, aufzustehen, um mich meiner neuen Klasse zu präsentieren. Schon bei der Vorstellung der belustigten Blicke und der tuschelnden Schüler hätte ich im Boden versinken können. Leider tat ich es nicht. So gingen die Sommerferien vorbei und die Stunde der Wahrheit brach an.

Ich ging jetzt auf die 17. Polytechnische Oberschule. Wie überall begann auch hier der erste Schultag mit einem großen Antreten im Schulhof, bei dem die FDJler in römischen Kohorten das große Halstuchfeuerwerk abfackelten. Auch ich trug mein blaues Jungpioniertuch und das Hemd mit dem »Seid bereit«-Aufnäher. Alle Klassen waren versammelt, der Schulchor sang und die Direktorin erzählte irgendwas von neuem Schwung, Fleiß und sozialistischen Idealen. Dann kam der Moment, vor dem mir schon seit Wochen graute. Nachdem sie ihre Ansprache beendet hatte, rief die Direktorin: »Und nun begrüßt mit mir unsere neuen Schüler.«

Ich atmete tief durch und wartete darauf, aufgerufen zu werden. Einsam und verlassen fühlte ich mich. Wie ein Kalb, das zur Schlachtbank geführt wird. Zu meiner Überraschung wurde als Nächstes nicht mein Name genannt, sondern der eines anderen Jungen: »Sven Radeburg …«

Wahnsinn! Über die Möglichkeit, dass es noch andere Neue geben könnte, hatte ich vorher überhaupt nicht nachgedacht.

»… und Daniel Krause. Bitte einmal vortreten!«

Im nächsten Moment stand ich neben einem schmächtigen, blonden Jungen mit Brille, der mindestens genauso betreten auf den Boden guckte wie ich selbst, vor der versammelten Schulmannschaft, um mich der Begutachtung durch meine neuen Mitschüler zu stellen. Wir mussten sagen, wer wir waren, wo wir herkamen und in welche Klassenstufe wir gingen, und wurden danach wahrscheinlich mit dem berühmten »Freundschaft«-Gruß der FDJ willkommen geheißen. So genau weiß ich das nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich riesig erleichtert war, den Moment, vor dem mir seit Tagen graute, nicht allein durchstehen zu müssen. Es war, als würde mich mit dem Jungen mit der Brille von einem Moment auf den anderen ein unsichtbares Band verbinden. Das war ein enorm ermutigendes Gefühl.

Als wir von unserer Lehrerin ins Klassenzimmer geführt wurden, fühlte ich mich schon sehr viel weniger einsam und verlassen. Klar, ich war immer noch der fremde Trottel in einer Klasse, in der sich alle kannten, aber ich war wenigstens nicht der einzige. Es passierte wie von selbst, dass Sven Radeburg und ich uns eine Bank teilten. Keine Frage, es war die Exotenbank. Es kam auch genauso, wie ich es mir vorgestellt hatte. Die anderen guckten komisch, tuschelten, es fielen dumme Sprüche. Aber all das war nur halb so schlimm, weil wir zu zweit waren. In diesem Moment spürte ich zum ersten Mal das beflügelnde Gefühl des »Wir gegen die anderen«, das sich wie ein roter Faden durch meine Jugend ziehen sollte. Sven Radeburg und ich, wir waren jetzt ein Team, auf Gedeih und Verderb aneinandergekettet.

In der Pause fragte mich mein Leidensgenosse dann: »Wo wohnst du denn?«

Ich druckste herum und wollte nicht mit der Sprache rausrücken. Meine neue Adresse zu nennen, war mir unangenehm. Da hätte ich ja gleich antworten können, dass ich im Kuhstall oder auf dem Misthaufen wohnte. Also zuckte ich mit den Schultern und antwortete: »Immer die Straße runter. Ist nicht weit. Und du, wo wohnst du?«

Nun war es Sven, der rumdruckste. Doch dann sah er mir durch seine Brillengläser direkt in die Augen und sagte mit leichter Verachtung in der Stimme: »Kartoffelsteig.«

Damit war unsere Freundschaft endgültig besiegelt.

Kosmos Kartoffelsteig: vier Schichten, ein ABV und eine Freundschaft ohne Worte

Sven Radeburg wohnte im Kartoffelsteig Nummer 17, ich in der 38. Schon bald waren wir unzertrennlich. Er half mir in der neuen Umgebung Fuß zu fassen und den Verlust meiner Cowboy-und-Indianer-Gang schnell zu verwinden. Während wir uns in der Schule gegenseitig vor den Schikanen des Klassen-Tyranns Marco schützten, erkundeten wir nach der Schule gemeinsam per Fahrrad unser neues Revier, fuhren zum Badesee oder spielten mit Svens Matchbox-Autos. Letzteres war für mich eine kleine Sensation. Mein neuer Freund hatte tatsächlich echte Matchbox-Autos aus dem Westen. Es ging ihm sowieso ziemlich gut. Eigentlich waren Radeburgs eine Schickimicki-Familie, wie es sie in der DDR gar nicht hätte geben dürfen. Sie hatten das schönste Haus der Siedlung, sie hatten die besten Klamotten, sie hatten sogar einen Swimmingpool – kein Planschbecken, in dem man sich nicht der Länge nach ausstrecken konnte, ohne dass das Wasser über die Ränder schwappte, sondern einen richtigen Swimmingpool mit Pumpe und allem Drum und Dran.

Die Erklärung für den unverschämten Luxus war einfach: Svens Vater war Taxifahrer. Das hieß, er war reich. Als Taxifahrer konnte man in Ostberlin dreimal so viel verdienen wie zum Beispiel als Arzt. Ähnlich war es bei Tankwarten und Kellnern. Das waren die Edelberufe – weil es Trinkgeldjobs waren, bei denen Gehälter verdreifacht werden konnten. Besonders, wenn man in Grenznähe arbeitete, wo die Westleute Devisen hin- und herschoben. Blankenfelde war in Grenznähe. Svens Vater fuhr die Westler immer zum Grenzübergang Bornholmer Straße und kassierte dabei gut ab. Von dem Geld hatte er sich das schöne Haus und den Pool gegönnt und konnte seinem Sohn echte Matchbox-Autos kaufen. Deshalb hatte er ständig Angst, dass die Stasi ihm die Bude einrennt. Eigentlich war es in einem Staat wie der DDR, der alles überwachte, ja kaum möglich, materielle Privilegien auf Dauer aufrechtzuerhalten. Wenn jemand zu protzig lebte, konnte man davon ausgehen, dass kontrolliert wurde, wie er zu dem Reichtum gekommen war. Da wurde auf den Busch geklopft, und wenn man als Trinkgeldjäger entlarvt wurde, war es schnell mal vorbei mit dem Luxus. Taxifahrer Radeburg hat sich da clever durchgemogelt.

Grob gesagt, gab es im Osten zwei Arten von Menschen: Diejenigen, die mit der SED verbandelt waren oder sich zumindest mit ihr arrangierten, und diejenigen, die ihr auswichen. SED-Mitglieder wurden in meiner Welt eigentlich nur gemieden. Von denen wusste man, dass sie andere Leute anschissen oder anzeigten und dass sie allzeit für den Staat die Ohren aufsperrten. Um ihnen gar nicht erst eine Angriffsfläche zu bieten, redete man nicht mit ihnen und war auch gegenüber ihren Angehörigen und Familienmitgliedern vorsichtig, selbst wenn die teilweise gar nichts für ihre Verwandten konnten. Schließlich passierte es immer wieder, dass stramme Parteisoldaten ihre eigenen Angehörigen anschwärzten und in den Knast brachten.

Solche Fälle hab’ ich im Mikrokosmos des Kartoffelsteigs allerdings nicht mitbekommen. Trotzdem kann man sagen, dass sich im Vier-Schichten-System der Siedlung durchaus die Struktur der DDRGesellschaft spiegelte Die vier Schichten waren: Achtung-Kandidaten, Schweiger, Rentner und Durchschnittsleute. Wir gehörten zu Letzteren. Meine Eltern wurschtelten sich durch, versuchten Probleme mit der Stasi zu vermeiden und wollten auch sonst nach Möglichkeit nichts mit ihr zu tun haben.

Bei den Rentnern war es ähnlich. Die hatten den Zweiten Weltkrieg und die Zeit vor der Gründung der DDR miterlebt und waren oft allein aufgrund von Erfahrungen beim Einmarsch der Russen skeptisch gegenüber dem Sowjetkommunismus eingestellt, an dem sich die DDR orientierte. Sie wurden vom Staat allerdings auch weitgehend in Ruhe gelassen. Weil sie nicht mehr arbeiteten, trugen sie nicht zur Einhaltung der Erfüllungspläne der Planwirtschaft bei, also waren sie nicht mehr so wichtig fürs Regime, und weil sie alt und nicht mehr so mobil waren, war die Fluchtgefahr nicht so hoch. So lebten sie in einer eigenen Welt, in der sich alte und neue Gepflogenheiten vereinten. Die alten Leute auf dem Kartoffelsteig hielten Hühner, pflanzten Obst und Gemüse an und verhielten sich sonst sehr solidarisch. Von denen bekamen wir Eier geschenkt, man konnte mit ihnen über alles reden, und wenn meine Eltern arbeiten mussten, passten sie auf uns Kinder auf. Ihre Türen standen immer offen. Damit waren sie das genaue Gegenteil zu den Schweigern.

Schweiger wirkten verschlossen, redeten nicht viel und ließen sich normalerweise nie auf der Straße blicken. Sobald in der Siedlung aber irgendetwas Ungewöhnliches los war, waren sie im Nullkommanix zur Stelle. Wenn es bei uns laut wurde, weil es Streit gab, stand auf einmal ein Schweiger am Gartenzaun und machte einen langen Hals, ohne dass wir bemerkt hatten, wie er dorthin gekommen war. Wenn wir Besuch bekamen, klingelte spätestens zehn Minuten nach der Ankunft der Gäste ein Schweiger an der Haustür, um sich eine Tüte Zucker zu borgen und scheinheilig zu fragen: »Ach, ihr habt Besuch? Gibt’s denn was zu feiern?« Schweiger waren auch bei jedem Siedlungsfest dabei, ließen sich im Gegensatz zu allen anderen aber nicht volllaufen, sondern standen nur am Rand und schienen auf irgendwas zu warten. Mit anderen Worten: Es war klar, dass diese Leute für die Stasi arbeiteten, deshalb hielt man in ihrer Gegenwart die Klappe oder mied sie. Im Prinzip erkannte man sie daran, dass sie immer allein in der Gegend rumstanden. Im Kartoffelsteig gab es nur zwei Schweigerhaushalte, die sich bei der Observation vermutlich abwechselten.

Eine etwas kniffligere Kategorie waren die Achtung-Kandidaten, die zwar leutselig und zugänglich waren, bei denen man aber nie genau wusste, auf welcher Seite sie standen und ob sie hintenrum Leute anschissen, um sich für sich selbst oder ihre Familie Vorteile zu erschleichen. Vor denen musste man sich in Acht nehmen. Als DDR-Bürger entwickelte man einen siebten Sinn für solche Leute.

Und dann war da noch der ABV – der Abschnittsbevollmächtigte. Das war der Polizist im Kiez. Jedes Viertel und jede Siedlung hatten einen. ABVs waren eine ebenso feste Größe im DDR-Alltag wie die polizeilichen Postenhäuschen, die überall in der Landschaft rumstanden und in denen Beamte saßen, um darauf zu achten, dass … Ja, worauf eigentlich? Egal, jedenfalls war unser ABV ein schluffiger Normalo, der mit seiner schwarzen Herrenhandtasche und seiner grünbraunen Uniform die Einhaltung von Recht und Ordnung im »Abschnitt« Kartoffelsteig überwachte. Nennen wir ihn Genosse Manfred. Wenn Genosse Manfred vom Revier Nachricht bekam, rückte er aus, um nach dem Rechten zu sehen. Wenn er Langeweile hatte, tat er es auch aus freien Stücken. Dann ging er Streife und stand auf einmal im Vorgarten, um zu fragen, ob alles in Ordnung sei, während wir angesichts seiner bloßen Anwesenheit sofort fürchteten, dass eben nicht alles in Ordnung war.



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