Freimaurer in Deutschland zwischen den Weltkriegen - Werner H. Heussinger - E-Book

Freimaurer in Deutschland zwischen den Weltkriegen E-Book

Werner H. Heussinger

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Beschreibung

Die Freimaurerei, eines der erfolgreichsten Netzwerke der Welt, war im Lauf der Geschichte heftigen Stürmen ausgesetzt – angefangen von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs über die Unruhen nach dem Versailler Vertrag bis hin zum Dritten Reich, in dem die Verbindung verboten wurde. Das Gedankengut der Freimaurerei konnte jedoch nicht aus dem kulturellen Gedächtnis des Landes der Dichter und Denker ausgelöscht werden. Nur in einer freien Gesellschaft kann sich ein freier Geist entfalten. Anhand bedeutender Freimaurerpersönlichkeiten wie Leo Müffelmann, der sich als Humanist gegen den Nationalsozialismus stellte, Hjalmar Schacht, ehemaliger Reichsbankpräsident, und Gustav Stresemann, Friedensnobelpreisträger, Reichskanzler und Außenminister der Weimarer Republik, wirft dieses Buch Schlaglichter in die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen und macht Mut zu freiem Denken, auch und gerade für die Herausforderungen im 21. Jahrhundert. Die Autoren dieses Buches, alle selbst Freimaurer, verfügen über interne Kenntnisse von Personen und Strukturen der damaligen Freimaurerlogen, darunter brisante private Aufzeichnungen Leo Müffelmanns.

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Seitenzahl: 318

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Originalausgabe, 1. Auflage 2021

© 2021 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

Türkenstraße 89

80799 München

Tel.: 089 651285-0

Fax: 089 652096

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Ulrike Reinen

Korrektorat: Silvia Kinkel

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer

Umschlagabbildungen: shutterstock.com/Everett Collection; shutterstock.com/Everett Collection; ullstein bild Dtl.

Bilder im Innenteil: © privat

Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern

ISBN Print 978-3-95972-363-3

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-669-6

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-670-2

Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter

www.finanzbuchverlag.de

Beachten Sie auch unsere weiteren Verlage unter www.m-vg.de.

Die Autoren richten ihren ganz besonderen Dank an Sabine Nolde und deren Schwester Barbara Naujokat († 2020), den Nichten von Ronald Müffelmann. Ihnen ist es zu verdanken, dass bislang unveröffentlichte Dokumente von Dr. Leo Müffelmann in diesem Buch erstmalig publiziert werden können.

Dieses Buch ist dem Renaissance-Philosophen Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) gewidmet, der mit seiner 1486 verfassten epochalen Rede »Über die Würde des Menschen« die Willensfreiheit als charakteristisches Merkmal des Menschen hervorhob. Das bedeutet Auszeichnung und Herausforderung zugleich.

Inhalt

Geleitwort

Vorwort

I. Der Wunsch nach Freiheit

1. Nur wer frei ist, kann sich erkennen

2. Das Ende des Kaiserreichs: Von Preußen nach Weimar

3. Der Sturm am Horizont: Diktatur als Feind des Individualismus

Bildteil

II. MUTIGE UND FREIE DENKER: STRESEMANN, SCHACHT UND MÜFFELMANN

4. Gustav Stresemann: Staatsmann, Friedensstifter, Friedensnobelpreisträger

5. Hjalmar Schacht: Freigeist, Bankier, Finanzgenie

6. Leo Müffelmann: Humanist, Freimaurer, Patriot

III. PERSÖNLICHKEITS­ENTWICKLUNG HEUTE

7. Das Erbe der Freiheit: Das humanistische Menschenbild

8. Wie wir Persönlichkeiten werden und warum wir sie brauchen

9. Die Persönlichkeit als Garant für Freiheit, Humanismus und Identität im 21. Jahrhundert

10. Persönlichkeitsentwicklung als Streben nach Freiheit in Zeiten von Posthumanismus, Überwachungskapitalismus und autoritären Systemen

Literatur

Glossar

Autoren

Hinweis: Im Folgenden sind alle Begriffe, die im Glossar erklärt werden, beim ersten Erscheinen kursiv gesetzt.

Geleitwort

»Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.«

Goethe, Faust II, 1832

Eben erst hatten die Autoren Werner H. Heussinger, Heike Görner, Ralph-Dieter Wilk mit Prof. Dr. Jan Snoek ihr Buch »Freimaurer«1 herausgebracht, in dem sie ihre Erfahrungen als Freimaurer von heute präsentieren und uns eine faszinierend moderne Sicht auf die uralte freimaurerische Bewegung und ihre lebenspraktischen Prinzipien bieten, da legen sie nun zusammen mit Hans-Peter Quandt hier noch ein weiteres Buch vor: Es exemplifiziert am Beispiel von drei international sehr bekannten deutschen Zeitzeugen aus der Zwischenkriegszeit allgemeine Grundzüge von freimaurerischer Persönlichkeitsentwicklung, wie sie in der Grundhaltung und in den persönlichen Aussagen und Taten dieser drei Persönlichkeiten Gestalt angenommen haben.

Dabei leitet die Autoren immer die heutige gesellschaftliche Situation mit ihren krisenhaften Entwicklungen, die sie im Blick ihrer Reflexion haben. Sie lassen uns damit teilnehmen an aktuellen Fragestellungen und konkreten gesellschaftlichen Herausforderungen von heute, deren Brisanz der Gesellschaft anscheinend erst ganz allmählich bewusst zu werden beginnt, die uns aber hier packend nahegebracht werden. Auch schaffen sie ein Verständnis dafür, dass es nicht zum Wesen der Freimaurerei gehört, als Institution in der Öffentlichkeit zu wirken. Denn es ist nicht die Freimaurerei, die sich für bestimmte Ziele einsetzt, sondern das einzelne Mitglied in seinem gesellschaftlichen Umfeld. So wird Geschichte lebendig, wird im persönlichen Beispiel von vor hundert Jahren zum Anspruch an uns heute, der Menschlichkeit in Recht und Freiheit ihren Weg zu bahnen.

Wer um die Gewalten weiß, die diesen Weg der Menschlichkeit und Freiheit gerade heute immer noch ständig bedrohen und sabotieren, der kann sich dankbar dieser Vorbilder erinnern, die seinerzeit ihren Mut und ihre Kraft des Geistes und der Tat für die von ihnen erkannte gute Sache einzusetzen sich nicht gescheut hatten, selbst im Scheitern nicht. Wer die Gefahren sieht, die unseren Gesellschaften und der Menschheit insgesamt heute drohen, wird nach solchen Vorbildern suchen – und solches Suchen bestimmt auch den Weg von Freimaurern heute: Ihr Suchen, gespeist aus der Tradition der freien Geister der Renaissance, ist treibende Kraft der Erkenntnis, gerade in schwierigsten Zeiten. Für den Leser gibt es eine Fülle von Beispielen freiheitlichen Denkens und Handelns zum Erhalt der Freiheit und zum Wohle der Gesellschaft zu erfahren und vielleicht die eine oder andere Anregung für sich selbst.

Wenn dieses Buch über die drei herausragenden Freimaurer der Zwischenkriegszeit – die ja keineswegs Mitglieder der Großen Landesloge waren – zum 250. Gründungsjahr eben dieser erscheint, so mag dies auch als freimaurerisches Bekenntnis gewertet werden, dass nicht Anmaßung eitler Attitüde des Besitzes der Wahrheit das freimaurerische Forschen leitet, sondern die redliche Suche nach Wahrheit – entsprechend dem obigen Faust-Zitat, das durchaus freimaurerisch verstanden werden kann.

»Immer strebend sich bemühen« um Wahrheit, sowohl im Sinne von historischer Forschung, welche sich bemüht, die von Anfang an reale Vielfalt unterschiedlicher freimaurerischer Traditionen und deren Entwicklungen bis heute aufzuweisen, wie auch im Sinne von symbolischer Deutung »innerer Wahrheit«, nämlich der Authentizität unserer eigenen Persönlichkeitsentwicklung im Kontext der Zeitgeschichte gerecht zu werden, das ist in diesem Buch nachzulesen und auch nachzuvollziehen.

Klaus Bettag

Vorstandsvorsitzender der Freimaurerischen Forschungsvereinigung Frederik e.V., im Verband der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland

1 Heussinger, Snoek, Görner, Wilk: »Freimaurer«, FinanzBuch Verlag, München 2020

Vorwort

»Gib deine Ideale nicht auf! Ohne sie bist du wohl noch, aber du lebst nicht mehr.«

Mark Twain

Die Freiheit des Individuums ist ein Ideal, ein Streben, eine Hoffnung, ein Versprechen – sprich: Sie ist das Lebenselixier, das die ganze Welt am Laufen hält. Nur so kann es Innovation und Fortschritt geben. Nur so können wir uns als Einzelne selbst erkennen, unseren Platz und unseren Weg finden, um morgen besser zu sein als das, was wir heute sind.

Mit diesem Buch zeigen die Autoren eindrucksvoll, was es bedeutete, sich in einem Land, das langsam aber sicher in den Totalitarismus schritt, der Freiheit zu verschreiben. Es werden historische Zusammenhänge aufgedeckt, die bisher in dieser Form nicht öffentlich bekannt waren. Hierbei wird auch erkenntlich, was es ausmacht, sich als Persönlichkeit für Freiheit und Demokratie einzusetzen. Beim Lesen lässt sich ferner erkennen, was die drei Protagonisten verband: Die Freimaurerei ist nicht etwa ein Klub oder eine geheime Gesellschaft, sondern eine Bewegung und ein Bekenntnis – und nicht weniger als das wohl älteste weltumspannende Social Network der Geschichte.

Das Buch blickt einhundert Jahre in die Vergangenheit, damit wir daraus für die Zukunft lernen. Wo stehen wir heute? Wir sehen uns mit der Globalisierung, der Digitalisierung und dem Klimawandel konfrontiert. Eine Herausforderung jagt die nächste. In der Gegenwart geht es nicht mehr um die Industrialisierung und den Ersatz des Menschen, der Arbeitskraft durch die Maschine, sondern um den Ersatz des Individuums, des Denkens selbst durch die Künstliche Intelligenz. Die nächsten Jahre werden eine Bewährungsprobe: Wie gehen wir mit all diesen Herausforderungen, die zugleich auch Chancen sind, um? Verlieren wir uns dabei selbst? Wie können wir Freiheit und Individualismus bewahren? Es liegt an uns, dass daraus keine Zerreißprobe wird.

Der Blick der Autoren, allesamt Freimaurer, auf ihre drei Bundesbrüder ist erhellend, innovativ und inspirierend: Nur wenigen ist es bisher gelungen, diese Zusammenhänge mit ihren Biografien zu verknüpfen. Alle drei mussten sich auf ihre Weise den Schatten stellen, welche ihnen damals den Weg erschwerten. Sie waren beachtliche Persönlichkeiten ihrer Zeit. Und somit stellen die Autoren die richtigen Fragen: Warum brauchen wir auch heute echte Persönlichkeiten? Und: Wie werden wir selbst eben solche?

Der Prozess der Bildung einer individuellen Identität ist wichtiger denn je: In Zeiten von Social Media und nahezu vollkommener Transparenz bedürfen wir Menschen Integrität, Authentizität und sozialer Kompetenz. Und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen. Diese Eigenschaften und Kompetenzen können aber nicht einfach so erlernt oder vermittelt werden. Sie müssen erlebt und gelebt werden. Dabei können uns Vorbilder helfen: Sie geben uns Orientierung, vermitteln uns Werte und Ideale. Sie sind Leuchttürme, die uns den Weg weisen, um den aufkommenden Sturm am Horizont als freie Menschen zu meistern. All das finden wir in diesem Werk.

Für mich ist das Buch auch persönlich etwas ganz Besonderes – mit der Darstellung des Lebens Leo Müffelmanns finden die Verdienste eines Familienmitgliedes von mir jene Beachtung und Aufwertung, die ihm lange verwehrt geblieben sind. Leo Müffelmann bezog als Freimaurer seinen Idealen folgend frühzeitig öffentlich Stellung gegen den Nationalsozialismus und zahlte dafür mit seinem Leben.

Dr. Jens MüffelmannNew York, USA im Oktober 2020

I. Der Wunsch nach Freiheit

1. Nur wer frei ist, kann sich erkennen

»Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, wird am Ende beides verlieren.«

Benjamin Franklin (1706–1790)

Freiheit ist ein, wenn nicht der zentrale Aspekt der Freimaurerei. Die Freiheit des einzelnen Menschen ist damit gemeint. Das ist zugegebenerweise wenig überraschend. Es ist die Voraussetzung dafür, sich zu entfalten und zu verbessern. Unter dem Begriff »freier Mann« verstehen Freimaurer die Souveränität, über das eigene Leben frei bestimmen zu können. Die Vielzahl und Geschwindigkeit äußerer Einflussfaktoren auf das Individuum haben deutlich zugenommen – manche sprechen schon von einem sinnlosen Aktivismus, der sich bei vielen eingestellt hat – man treibt ziellos dahin oder man wird getrieben. Das Getane ist dann nicht sinnvoll, es wird lediglich ausgeführt, um »in Bewegung« zu bleiben – und steht dann eher unter den Attributen sinnloser Beliebigkeit und Willkür. Es ist das berühmte Hamsterrad, in dem wir rennen, also eigentlich ein Davonrennen, ein Rasen – und am Ende vor allem auch vor sich selbst. Ein selbst gewählter Lebensinhalt sieht anders aus, erst recht das Finden und Einnehmen des eigenen Platzes in der Welt.

Welches Bild hat man vor Augen, wenn es um Freiheit und Unabhängigkeit und der damit verbundenen Hoffnung darauf geht?

Frédéric-Auguste Bartholdi, genannt Auguste Bartholdi, war ein französischer Bildhauer und Mitglied der Pariser Freimaurerloge »Alsace-­Lorraine«. Er war es, der die Freiheitsstatue – offiziell »Liberty Enlightening the World« – geschaffen hatte. Sie steht auf Liberty Island im New Yorker Hafen und ist ein Geschenk des französischen Volkes an die Vereinigten Staaten. Am 28. Oktober 1886 wurde die Freiheitsstatue eingeweiht. Und natürlich findet man hier offensichtliche, freimaurerische Symbolik. Manche Freimaurer erachten das Buch, welches »Lady Liberty« in der linken Hand hält, als die Bibel – tatsächlich ist sie aber auch ein Symbol der Freimaurer. Den siebenzackigen Sternenkranz sehen manche als Hinweis auf das Siebengestirn, auf die Verbindung mit dem Himmel. In der rechten Hand hält Bartholdis Libertas, die römische Göttin der Freiheit, die hoch- und weithin leuchtende Fackel mit dem für manche Erleuchtung verheißenden Licht, dem Richtziel für die aus der »Dunkelheit Kommenden«. Wie dem auch sei, an Symbolkraft ist die Freiheitsstatue kaum zu überbieten und sie ist fest in unserem kollektiven Gedächtnis verankert. Der Schirmherr der Feierlichkeiten zur Einweihung der Freiheitsstatue war der amerikanische Präsident Grover Cleveland, der in seiner Ansprache erklärte: »A stream of light shall pierce the darkness of ignorance and man’s oppression until Liberty enlightens the world.« Auf Deutsch heißt das: »Ein Lichtstrom soll die Dunkelheit der Ignoranz und der Unterdrückung des Menschen durchdringen, bis die Freiheit die Welt erleuchtet.«

Manche Demokratien der Welt haben heute zum Teil schon vergessen, was es bedeutet, als Individuum frei zu sein, Freiheit zu leben und sie anderen zuzugestehen. Auf dem Demokratieindex, der den Grad der Demokratie misst und den die Zeitschrift »The Economist« für 167 Länder herausgibt, finden sich auf den hinteren Rängen dann auch eher Länder wie Nordkorea, Saudi-Arabien, Iran, Vereinigte Arabische Emirate, Bahrain, Afghanistan, Jemen oder China. Die vorderen Plätze belegen unter anderem Schweden, Norwegen, Dänemark, Niederlande, die Schweiz oder Deutschland. Nur eine freie Gesellschaft ist auf Dauer lebenswert, denn ohne Freiheit schneiden wir uns von dem ab, was uns geprägt hat: unserem kulturellen Gedächtnis der Freiheit. Persönlichkeitsentwicklung, Freiheit, Humanität und Fortschritt sind in der Freimaurerei untrennbar miteinander verbunden. »Freimaurerei war immer« – das sagte schon der Dichter Gotthold Ephraim Lessing. Nirgendwo sonst haben sich über die Gezeiten der Weltgeschichte hinweg unterschiedlichere Geister getroffen und ausgetauscht. Die Freimaurerei hat die Form, unter der sie in Erscheinung getreten ist, mehrfach im Laufe der Zeit gewechselt, sie hat auch nicht immer den Namen »Freimaurerei« geführt, aber das unnennbare Etwas ist immer tätig gewesen, seit Menschen in Gemeinschaften leben, und hat die treibende Kraft gebildet zur Entwicklung des Ganzen.

Dichter und Philosophen wie Johann Gottfried Herder und Gotthold Ephraim Lessing waren überaus engagierte und sehr aktive Freimaurer, denen es gelungen ist, die Symbolik auf die Gesellschaft zu übertragen. Man baute dann im übertragenen Sinn am Tempel der Humanität, am »großen Bau der Menschheit«.

Dass sich Goethe, Mozart und George Washington in die Reihe der Freimaurer einordnen, ist allgemein bekannt. Gustav Stresemann, Reichskanzler und Außenminister der Weimarer Republik, erhielt gemeinsam mit seinem Freimaurerbruder Aristide Briand, französischer Ministerpräsident und Außenminister, 1926 den Friedensnobelpreis. Aristide Briand kritisierte die harten Bedingungen des Versailler Vertrages gegenüber Deutschland, während sich Gustav Stresemann für einen friedlichen Ausgleich mit Frankreich und für Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund einsetzte. Erwähnt sei in diesem Zusammenhang: Als Deutschland 1926 tatsächlich in den Völkerbund aufgenommen wurde, kam bei Stresemanns öffentlicher Beitrittsrede freimaurerisches Vokabular zum Einsatz. So sprach er beispielsweise vom »göttlichen Baumeister der Erde«. Gustav Stresemann kam es damals ganz bestimmt noch nicht in den Sinn, dass einige Jahre später die Logen von den Nationalsozialisten verboten und Freimaurer im Konzentrationslager landen würden oder gar umgebracht werden konnten – und das alles unter dem Vorwand, dass Freimaurerei die »Weltmacht hinter den Kulissen«, so ein Propaganda-Buchtitel von 1934, sei und sie Teil des »internationalen jüdischen freimaurerisch geführten Bolschewismus« wäre1. So drückte es zumindest SS-Chef Heinrich Himmler aus, der, bevor er als NSDAP-Parteifunktionär Karriere machte, unter anderem als Laborant in einer Fabrik für Düngemittel arbeitete oder sich erfolglos als Hühnerzüchter versuchte und stets den Ruf eines verklemmten Sonderlings hatte. Der Spiegel schreibt als Titelgeschichte in der Ausgabe 45/2008 über Himmler: »Ohne Himmler hätte der Holocaust so nicht stattgefunden« und nennt ihn »Radikalster unter Hitlers Radikalen«. Auch über das Christentum hat sich Himmler ausgelassen und bezeichnete es als »die größte Pest, die uns in der Geschichte anfallen konnte«.2 Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass während der Zeit des Nationalsozialismus Jesuiten wie Freimaurer unter dem abscheulichen Begriff »Volksschädlinge« subsumiert wurden.

Dass Freimaurer nicht nur unter den Nationalsozialisten verhasst waren, sondern auch im Kommunismus als »wahre Feinde« gesehen wurden und werden, ist allgemein bekannt. Im sozialistischen China, das bis heute von der alleinherrschenden kommunistischen Einheitspartei Chinas autoritär bis totalitär regiert wird, gibt es natürlich keine Freimaurer. Im Ostblock war die Freimaurerei letztlich verboten und die Moskauer »Prawda« titelte einst, dass die Logen eine »Agenten­truppe des Imperialismus und Kapitalismus« seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine kurze Wiederbelebung des Logenlebens in der Sowjetischen Besatzungszone bis zum Herbst 1946; in der DDR wurde die Freimaurerei aber nicht mehr zugelassen, was im Grunde einem Verbot gleichkam. Und in einem DDR-Lexikon wurden Freimaurerlogen als »Männervereinigung mit dem Ziel, die Herrschaft der bürgerlichen Klasse auf dem Weg der Gesellschaft zu sichern« beschrieben.3

Es gibt viele gute Gründe, die Vergangenheit der Freimaurerei zu erforschen. Der wichtigste, vielleicht der einzige wichtige Grund aber ist die Zukunft der Freimaurerei. Geschichtsschreibung ist essenziell für den Fortbestand von Gesellschaften, leben sie doch insbesondere von ihren Erinnerungen. Nur so kann letztlich auch ein kulturelles Gedächtnis lebendig gehalten werden. »Nur wer die Vergangenheit kennt, hat eine Zukunft!« – so drückte es der Gelehrte, Schriftsteller und Staatsmann Wilhelm von Humboldt aus. Nur auf diese Weise kann eine Gesellschaft ein Bild – bewusst oder unbewusst – entwerfen, wer sie ist und wer sie zukünftig sein will.

Übergeordnet geht laut dem Kulturwissenschaftler-Ehepaar Aleida und Jan Assmann das europäische kulturelle Gedächtnis maßgeblich auf die »Griechen« zurück – gemeint sind hier vor allem die griechischen Philosophen – und auf die Bibel. Von keinen anderen Bereichen und Inhalten wurden wir Europäer mehr beeinflusst und geprägt. Kein Wunder, dass der Humanismus als Menschenbild der prägende Begleiter im europäischen kulturellen Gedächtnis Europas geworden ist. Wichtig ist es aber für jede Gesellschaft, für jede Generation, sich kritisch mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen, um zu lernen.

Das passiert eben nicht von allein, sondern dazu braucht es Persönlichkeiten im wahrsten Sinn des Wortes; eigenes selbstständiges Denken und die Entwicklung eigener persönlicher Urteilsfähigkeit sind gefragt. Nur von »echten« Persönlichkeiten werden Gesellschaften getragen und nur »echte« Persönlichkeiten können zu ihrer Weiterentwicklung Positives beitragen. Sie müssen mutig sein und dürfen sich nicht zum Spielball von vorgedachten Meinungen machen; schon gar nicht dürfen sie sich von einem vorgegebenen Denken anderer abhängig machen. Einer auftretenden gefährlichen Stromlinienkultur mit Denkschablonen gilt es entgegenzuwirken. Das kostet natürlich Kraft und gerade in der heutigen Zeit ist es alles andere als leicht, zu einer echten Persönlichkeit heranzureifen. Heute werden wir mit immer mehr Informationen, Nachrichten, Kommentaren und Kolumnen konfrontiert. Es ist nicht übertrieben, von einem digitalen und kognitiven Overflow zu sprechen. Umso wichtiger ist es daher, sich eine kritische eigene Meinung zu bilden und sie vor allem auch zu bewahren. Bewahren bedeutet in diesem Zusammenhang nicht, für ewige Zeiten daran kleben zu bleiben. Ansichten können sich ändern, wenn man sich kritisch reflektiert. Die Herausforderung dabei ist, sich nicht wie ein Fähnchen im Wind zu drehen. Das kritische Hinterfragen gehört zum Rüstzeug, das der Freimaurer als »geistiges Werkzeug« mit auf seinen Weg bekommt. Die innere Freiheit eines Freimaurers, die er sich mithilfe des Rituals und dem Einüben in der Loge mit anderen Freimaurern »erarbeitet«, ist ein gutes Bollwerk gegen den Ansturm so mancher Manipulationsversuche aus der Außenwelt. Und diese innere Freiheit wird heutzutage mehr denn je in unserer – vor allem digitalisierten – Welt benötigt.

Freimaurerei ist vor allem aber auch eine Plattform, damit unterschiedliche Menschen miteinander in Kontakt und in Kommunikation treten können. Dies ist wichtig, um Brücken zu bauen und um scheinbar unüberwindbare Differenzen doch zu bewältigen. Freimaurer sind nicht selten gute Moderatoren und Mediatoren. Sie sollten darin geübt sein, Konflikte beizulegen und einen nachhaltigen Lösungsprozess herbeizuführen. In den Logen werden schließlich Menschen zu Brüdern, die sich im profanen Leben wahrscheinlich nicht mal getroffen, geschweige denn kennengelernt hätten. Menschen werden in dieser Art wirklich zusammengeführt. Manche sprechen von einem »Stück Kitt«, der Menschen verbindet. Nicht umsonst stellte der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler am 15. Dezember 2008 bei einem Treffen mit führenden Freimaurern auf Schloss Bellevue fest: »Die Freimaurerei hat einen festen Platz in unserer freiheitlichen Gesellschaft.«4 Dass Freimaurerei oft als eine Institution des Brückenbaus zwischen Kulturen und zwischen Menschen gesehen wird, ist sicherlich zutreffend, vor allem unter den folgenden Prämissen: Alle Menschen sind gleichwertig. Alle Menschen sind Brüder und Schwestern. Alle Menschen müssen frei sein.

Jede Generation muss die Freimaurerei für sich neu entdecken. Jede Generation hat ihre eigenen Themen und bekommt durch die Freimaurerei dazu Antworten. Es sind zeitlose Antworten und zeitlose geistige Werkzeuge, welche die Freimaurerei anbietet, die aber eben jedes Mal neu auf Probleme und Fragestellungen angepasst werden müssen – durch die freie individuelle Persönlichkeit. In den Logen gibt es daher selbstverständlich keine Ideologie, die das eigenständige Denken ersetzt. Niemals kann somit etwas »im Namen der Freimaurer« geschehen. Nicht die Großloge, nicht die einzelne Loge vor Ort kann etwas bewegen. Es ist der einzelne Freimaurer, der sich engagiert, der etwas in der Gesellschaft oder in seinem direkten Umfeld verändert. Dem legendären chinesischen Philosophen Laotse, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt haben soll, wird folgender Gedankengang zugeschrieben: »Würden die Menschen danach streben, sich selber zu vervollkommnen, statt die ganze Welt zu erretten, selbst innerlich frei zu werden, statt die ganze Menschheit befreien zu wollen, wie viel würden sie zur wahren Befreiung der ganzen Menschheit beitragen.« Freimaurerisch kann man das nicht besser ausdrücken.

Eine Gesellschaft aus freien und mündigen Staatsbürgern hat sich letztlich ständig mit zwei divergenten Tendenzen auseinanderzusetzen, die ihren Bestand bedrohen: Einerseits der Neigung zur Auflösung in eine Vielfalt von Einzelinteressen, andererseits dem Prozess der Erstarrung in monolithischen Blöcken gleichgeschalteten Denkens und Tuns. In dieser Auseinandersetzung ist es wichtig, in freiwillig übernommener Verantwortung und selbst gewählter Disziplin für Toleranz, Brüderlichkeit und Humanität einen Beitrag zur geistigen Strukturierung der Gesellschaft zu leisten. Es ist sicherlich nicht übertrieben, von einer klaren Herausforderung an unsere Bewusstseins- und Persönlichkeitsentwicklung zu sprechen, wenn es um die Zukunft unserer Gesellschaft geht, insbesondere bezogen auf die scheinbar harmlosen Selbstläufer »Alles wird digitalisiert, was digitalisierbar ist« und »Alles wird automatisiert, was automatisierbar ist«. Freimaurerei als ältestes und preiswertestes Programm zur Persönlichkeitsentwicklung, das durch Mitgliedschaft lebenslang gebucht werden kann, ist hier sicherlich hilfreich. Freimauerlogen waren schon immer ein Ort freien und ungezwungenen Austauschs. Die Erkenntnis, dass sich ein freier Geist nur in einer freien Gesellschaft entwickeln kann, ist nicht neu. Doch ist es unzweifelhaft eine der Hauptaufgaben der Freimaurer, es sich Tag für Tag neu ins Gedächtnis zu rufen. Gleichzeitig ist ein Freimaurer Mitglied im erfolgreichsten Netzwerk der Weltgeschichte. Freimaurer brauchen dabei grundsätzlich den freien Menschen; daran knüpfen sie an. Aber nicht Freimaurer verändern den freien Menschen, sondern er sich selbst – die Freimaurerei reicht nur Werkzeuge zur Selbsterkenntnis und Selbstverbesserung. Als erfolgreichstes soziales Netzwerk der Welt ist es für die Freimaurerei Aufgabe und Hoffnung zugleich, Freiheit, Toleranz, Humanität und Menschlichkeit als Grundpfeiler des individuellen Handelns aufzustellen. Der systematische Gebrauch geistiger Werkzeuge eröffnet dem Menschen dabei nicht nur neue Horizonte bei der Betrachtung seiner Umwelt, sondern auch tiefere Einblicke in sich selbst. Letztlich bedient die Freimaurerei die Neugier des Menschen auf sich selbst, seine Mitmenschen und seine Umwelt. Nur ein freier Geist kann sich umblicken und das sehen, was wirklich ist. Wer Freiheit sät, wird Demokratie ernten. Winston Churchill, der als bedeutendster britischer Staatsmann des 20. Jahrhunderts gilt und auch Freimaurer war, sagte über die Demokratie: »Niemand behauptet, dass die Demokratie perfekt ist. Es ist immer wieder gesagt worden, dass die Demokratie die schlechteste Form der Regierung ist, ausgenommen all die anderen Formen, die von Zeit zu Zeit versucht werden.«5

Die NSDAP wurde bei den Reichstagswahlen am 31. Juli 1932 stärkste Partei im Reichstag. Damit einhergehend waren die Verhältnisse für die deutsche Freimaurerei immer schlimmer geworden. Die Hetze und die Übergriffe gegen Freimaurer nahmen deutlich zu. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass Tausende Freimaurer, besonders ab 1933, aus ihren Logen austraten. Schließlich galt es, die negativen Auswirkungen, insbesondere im Alltag, für sich und die eigene Familie zu vermeiden. Was natürlich erschwerend hinzukam, war die Uneinigkeit zwischen den deutschen Großlogen.

Den meisten Großlogen auf deutschem Boden wurde aber schnell klar, dass aufgrund der Freimaurerhetze bei der Machtübernahme durch Hitler ein Verbot der Freimaurerei unausweichlich wäre. Auch ging man letzten Endes sogar von progromähnlichen Übergriffen gegen einzelne Freimaurer aus. Kein Wunder, dass dann immer mehr das Wort »Selbstauflösung« innerhalb der deutschen Freimaurerei die Runde machte. Durch die Auflösung erhoffte man sich, zumindest die Kontrolle über das Eigentum behalten und eine Zwangsauflösung durch die Nazionalsozialisten vermeiden zu können. Von »Freimaurerei ist überflüssig in der Gesellschaft und überkommen« bis hin zu Behauptungen, dass »Freimaurerei eine staatsfeindliche Organisation« sei, reichte damals die Palette der böswilligen Unterstellungen. Vergessen waren die großen deutschen Freimaurer-Persönlichkeiten. Friedrich der Große von Preußen sprach von der Freimaurerei, in der er an führender Stelle stand, als einem Mittel, »die Menschen als Glieder der Gesellschaft höher zu bilden, sie tugendhafter, wohltätiger zu machen«. Der Philosoph und bedeutendste Vertreter des Deutschen Idealismus Johann Gottlieb Fichte – ebenfalls Freimaurer aus innerster Überzeugung – sagte: »Der Freimaurer, der als Mensch geboren war und durch die Bildung seines Standes, durch den Staat und seine übrigen gesellschaftlichen Verhältnisse hindurchging, soll auf diesem Boden wieder ganz und durchaus zum Menschen gebildet werden.« Und Gotthold Ephraim Lessing, bedeutendster Dichter der deutschen Aufklärung, erklärt in seinen Freimaurergesprächen »Ernst und Falk«: »Maurer ist jeder, der sein eigenes Leben aufbaut, damit er zur Vollendung des Kunstwerkes des ganzen Menschheitslebens beitragen könne. Zum Besten der Menschheit kann niemand beitragen, der nicht aus sich selbst macht, was aus ihm werden kann und soll.«6

Was haben Gustav Stresemann, Hjalmar Schacht und Leo Müffelmann gemeinsam? Zum einen die Vorliebe für Tugenden wie »Wertschätzung« und »Vertrauen«. Schacht war außerdem freimaurerischer Bürge von Leo Müffelmann bei dessen Aufnahme. 1923 wurde Schacht von Reichskanzler Gustav Stresemann – übrigens trotz des Widerstands von rechten Parteien und gegen das einstimmige Votum des Reichsbankdirektoriums – zum Reichsbankpräsidenten ernannt oder besser ausgedrückt als sein Protegé »durchgesetzt«. Leo Müffelmann äußerte sich selbst in seinem Tagebuch während seines Aufenthalts im Konzentrationslager Sonnenburg 1933: »Reichsbankpräsident Dr. Schacht, dessen Assistent ich lange Jahre war und der auch als früherer Logenbruder meiner Aufnahme beigewohnt hat, wird jederzeit über mich Auskunft geben können.«7 Darüber hinaus unterzeichneten Leo Müffelmann, sein Vater Ludwig und Hjalmar Schacht im Dezember 1919 einen Aufruf von insgesamt acht Freimaurerbrüdern zur Unterstützung und Verbreitung des Völkerbundgedankens in der Freimaurerei, genannt der Bluntschli-Ausschuss der deutschen Liga für den Völkerbund. Zum anderen sind es natürlich die persönlichen Einsichten der drei Protagonisten dieses Buches in die Ideenwelt freimaurerischen Gedankenguts. Der Wunsch nach Freiheit – ob die innere oder die äußere – spielt dabei die zentrale Rolle.

Das Jahr 1923 war für Gustav Stresemann in vielerlei Hinsicht ein besonderes Jahr. Zum einen trat er im Mai 1923 in Berlin in die Loge »Friedrich der Große«ein, die zur altpreußischen Großloge namens Große National-Mutterloge»Zu den drei Weltkugeln« gehörte. Zum anderen wurde Stresemann im August 1923 zum Reichskanzler und Außenminister ernannt, an der Spitze einer Großen Koalition von DVP, DDP, Zentrum und SPD. Die Deutsche Volkspartei, kurz DVP, hatte er im Dezember 1918 mitgegründet und war einstimmig zum Parteivorsitzenden gewählt worden. Stresemann verstarb bereits 1929 im Alter von nur 51 Jahren. In seiner beeindruckenden Rede vor der Völkerbundversammlung in Genf am 10. September 1926 brachte er sein persönliches freimaurerisches Gedankengut deutlich zum Ausdruck. Nicht nur, dass er vom »göttlichen Baumeister der Erde« sprach – wie bereits erwähnt. Er formulierte auch:

»Wichtiger aber als alles materielle Geschehen ist das seelische Leben der Nationen (...) So verbindet sich Nation und Menschheit auf geistigem Gebiete (...) Diese innere Verpflichtung zu friedlichem Zusammenwirken besteht auch für die großen moralischen Menschheitsfragen. Kein anderes Gesetz darf für sie gelten als das Gesetz der Gerechtigkeit. (...) können Hilfsbereitschaft und Gerechtigkeit die wahren Leitsterne des Menschenschicksals werden. (...) Nur auf dieser Grundlage läßt sich der Grundsatz der Freiheit aufbauen, um den jedes Volk ringt wie jedes Menschenwesen.«8

Die wiederkehrenden Motive der Ausbildung einer eigenen Persönlichkeit und ihr Bezug zur Gesamtheit kommen bei Gustav Stresemann bereits früh zum Vorschein. So schrieb er zwei Jahrzehnte vor seinem Eintritt in die Bruderkette der Freimaurer in einem Aufsatz mit dem Titel »Maurertum und Menschheitsbau«: »Der Mensch soll in jedem Moment seines Denkens und Handelns von der Überzeugung sich tragen lassen, daß er eine Mission auf Erden zu erfüllen hat, daß ihm Kraft gegeben ist, zur Veredelung des Menschheitsbaues beizutragen ...«9

Das Finanzgenie Hjalmar Schacht, von manchen auch zum »Architekten von Hitlers Wirtschaftsaufschwung« gemacht, aber am Ende des Hitler-Regimes sogar als Häftling im Konzentrationslager eingesperrt, spiegelt in den Stationen seines Lebens durchaus vortrefflich den zentralen Konflikt in der jüngeren deutschen Geschichte. Schacht war kein angepasster Zeitgenosse. Er war alles andere als das. Mit Konventionen und oberflächlicher Gruppenzugehörigkeit konnte Schacht nichts anfangen. Er studierte Nationalökonomie und Journalismus. Letzteres galt damals alles andere als »seriös«. Schacht kümmerte das wenig. Und schließlich wurde er Freimaurer. Er blieb es sein ganzes Leben lang – auch und insbesondere unter Adolf Hitler. Allein diesen Umstand näher zu beleuchten ist zeitgeschichtlich spannend und vielleicht wichtiger denn je, um daraus Schlüsse ziehen zu können.

Hjalmar Schacht, einst Mitgründer der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei, kurz DDP, und Verfechter freien Unternehmertums, ist unbestritten der berühmteste deutsche Notenbankchef des 20. Jahrhunderts. Neben Stresemanns DVP repräsentierte die DDP den politischen Liberalismus zwischen 1918 und 1933. 1908 wurde Hjalmar Schacht als Freimaurer aufgenommen und Mitglied der Berliner Freimaurerloge »Urania zur Unsterblichkeit«, die zur altpreußischen Großloge Große Loge von Preußen, genannt Royal York zur Freundschaft gehörte.

Im Jahr 1937 nahm er auf die Frage nach der Bestimmung des Menschen Bezug auf seine Antwort, die er bereits 20 Jahre zuvor niedergeschrieben hatte und die sehr starke freimaurerische Anklänge und Bezüge aufweist:

»Die Bestimmung des Menschen kennen wir nicht, aber da wir selbst einen Teil von jener Kraft in uns fühlen, nach deren ewigen ehernen großen Gesetzen sich des Daseins Kreise vollenden, so fühlen und sehen wir, dass sich alles Leben vollzieht zwar in fortwährendem Kampf gegen die Mächte der Zerstörung, aber doch stetig fortschreitend vom Unvollkommenen zum Vollkommeneren. Wir fühlen und sehen, dass die Ordnung das Chaos, die Vernunft das Unvernünftige, die Liebe den Hass überwindet. Wir fühlen und sehen, dass auch unser Dasein einem vernünftigen, vollkommeneren Ziele zustrebet. Aus diesem Bewusstsein entspringt unser sittliches Pflichtgefühl, das uns antreibt, unser eigenes Handeln mit jenen großen Gesetzen des Daseins in Übereinstimmung zu bringen, indem wir Vernunft, Ordnung und Liebe zur Richtschnur unseres Handelns machen.«10

Natürlich ist es nicht leicht, eine Persönlichkeit, die auch unter Adolf Hitler gewirkt hat, so zu bewerten, dass nicht stets das Damoklesschwert einer wie auch immer gearteten nationalsozialistischen Vergangenheit über allem schwebt. Daher soll sich vor allem in diesem Buch mit Schachts Gedanken in seinen Reden auseinandergesetzt werden und natürlich ist dabei besonders der freimaurerische Kontext auszuleuchten. Freimaurerei kann in diesem Zusammenhang auch als Methode gesehen werden, sich einer Problematik zu nähern, ohne dabei mit Anschuldigungen die eigentliche Sicht zu vernebeln – möglichst frei von Vorurteilen und von persönlichen Vorlieben oder Bedenken.

Leo Müffelmann ist sicherlich der am wenigsten bekannte Freimaurer verglichen mit Stresemann und Schacht. Diametral entgegengesetzt zu seinem Bekanntheitsgrad in der breiteren Öffentlichkeit war aber sein Wirken innerhalb der deutschen und internationalen Freimaurerei. Leo Müffelmann war sicherlich eine der bedeutendsten Persönlichkeiten und einer der prägendsten Brüder in der deutschen Freimaurerei im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Sein Leben und sein Wirken stehen stellvertretend für diese einschneidende Epoche und sind vielleicht in vielen Punkten auch heute noch aktuell. Der Visionär und Reformer gründete weitsichtig im Jahr 1930 die Symbolische Großloge von Deutschland, um damit überzogenen nationalistischen Tendenzen in den deutschen Logen entgegenzuwirken. Müffelmanns Haltung begleitete ihn sein Leben lang und basierte auf Völkerverständigung, Humanität und Friedenswillen. Für seine gelebte freimaurerische Haltung und seine damit verbundenen Aktivitäten kam Leo Müffelmann im September 1933 ins Konzentrationslager. Dort wurde er schwer misshandelt und, gesundheitlich stark angeschlagen, im November des gleichen Jahres wieder entlassen. Er verstarb im August 1934. Leo Müffelmann stellte mit Logengründungen in Palästina die Weichen dafür, das Licht der deutschen Freimaurerei ins Exil zu bringen und legte damit auch einen entscheidenden Grundstein für die heutige Freimaurerei in Israel. Das von ihm aus Deutschland in den Dreißigerjahren nach Jerusalem gerettete Licht der Symbolischen Großloge von Deutschland wurde schließlich feierlich am 19. Juni 1949 in die neu gegründete Vereinigte Großloge von Deutschland eingebracht.

Zurück in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg: Durch gezielte Propaganda wurden die deutschen Logen ein Teil des nationalsozialistischen Feindbildes. 1929 verstarb bereits Stresemann und 1934 Müffelmann. Hjalmar Schacht hingegen lebte bis 1970 und spielte auch in der Anfangszeit der Bundesrepublik eine zumindest mediale Rolle als zum Teil gern gesehener Interview-Gast. Im Mai 1935 intervenierte Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht, einziger Freimaurer in der nationalsozialistischen Regierung, vergeblich bei Hitler, um die Freimaurerei in Deutschland doch noch auf irgendeine Weise erhalten zu können. Am 17. August 1935 ordnete der Reichsminister des Innern, Wilhelm Frick, schließlich das endgültige Verbot der Freimaurerei in Deutschland an. Aber auch schon in der Weimarer Republik war es nicht einfach gewesen, als Deutscher ein Freimaurer zu sein. Leo Müffelmann und die mit seiner Person aufs Engste verbundene Symbolische Großloge von Deutschland zeigten, dass es trotzdem möglich war, im freimaurerischen Sinn Farbe zu bekennen. Die Zeitschrift der Symbolischen Großloge von Deutschland hieß »Die alten Pflichten«. Hier ein Beispiel für die klaren Worte von Leo Müffelmann aus der Ausgabe vom Dezember 1931:

»Die wahre Freimaurerei erkennt aber heute ihre Aufgabe. Das Ziel der wahren Freimaurerei ist heute der Kampf gegen Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Sie steht hier trotz aller Gegensätze Seite an Seite mit der römischen Kirche als Kämpfer für die freie Persönlichkeit, für Humanität und Menschheit gegen die gewaltige Reaktion von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Der Kampf hat begonnen. Es geht um die gemeinsame Verteidigung der abendländischen Kultur. Da müssen Rivalitäten zwischen Freimaurerei und Katholizismus verblassen gegenüber der größeren Idee von Freiheit und Menschlichkeit.«11

Heutzutage haben wir andere Gefahren. Zum Beispiel werden im sogenannten Überwachungskapitalismus menschliche Erfahrungen zu Marktgütern gemacht. Das hört sich erst einmal harmlos an – das Gegenteil aber ist der Fall. Der Datenrohstoff daraus führt nämlich in gewisser Weise zur Kontrolle unserer Zukunft. Die US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff bringt es auf den Punkt:

»In sieben Jahren eingehender Beschäftigung mit dem Phänomen bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass die Folgen des Überwachungskapitalismus weit hinausreichen über die traditionellen Domänen des Kapitalismus und seiner Ökonomien. Die tiefere Wahrheit ist, dass er die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts auf eine ebenso menschen- wie demokratiefeindliche Art und Weise umwälzen wird – und das allein um des finanziellen Gewinns aus der Überwachung willen (...) Tobten die Titanenkämpfe des 20. Jahrhunderts zwischen Industriekapital und Arbeiterschaft, steht im 21. Jahrhundert das Überwachungskapital der Gesamtheit unserer Gesellschaft gegenüber, bis hinab zur und zum letzten Einzelnen. (...) Wir dürfen uns den Überwachungskapitalismus nicht als etwas »irgendwo da draußen«, in den Fabriken und Büros einer vergangenen Ära vorstellen. Vielmehr sind seine Ziele wie seine Auswirkungen hier – seine Ziele wie seine Folgen sind wir.«12

Dabei ist das Phänomen des Überwachungskapitalismus kein Selbstläufer, sondern hausgemacht. Die Nutzer haben sich dazu entschieden. Als im Jahr 2000 die Dotcom-Blase platzte, sahen sich nicht wenige Unternehmen und Investoren einem Scherbenhaufen gegenüber. Auch Google hatte damals zu kämpfen. Es ging um alles oder nichts. Die Idee war, mit Daten Geld zu machen, also Daten und Werbung irgendwie miteinander zu verknüpfen. Deshalb entschied sich Google dafür, den Nutzern ihr wertvollstes Etwas aus der Tasche zu ziehen: die persönlichen Daten. Die Verhaltensweisen der Nutzer werden analysiert und Muster werden erstellt, was wiederum wichtig für den Einsatz von personalisierter Werbung ist. Es geht darum, an jene Daten zu kommen, welche die Nutzer eigentlich gar nicht preisgeben möchten. Mit dem Börsengang von 2004 zeigte Google der Welt: Mit Daten verdient man das große Geld. Und: Persönlichkeitsrechte und Daten werden nicht mehr beste Freunde werden. Heute können wir das Internet gar nicht mehr anders nutzen, als dass wir dadurch mehr von uns preisgeben, als wir möchten. Die Gesetzgeber reagierten besonders in Europa zu spät, zu unkoordiniert und hilflos. Inzwischen sind wir gläsern, was nicht zuletzt durch den Siegeszug der Smartphones zu begründen ist, die beinahe schon ein Körperteil von uns geworden sind. Der Informationskapitalismus basiert nun inzwischen auf dem Überwachungskapitalismus: Wir haben mittlerweile einen zweiten Schatten, er ist digital. Er ist so messerscharf in der Darstellung unserer Persönlichkeit und unseres Nutzungsverhaltens, dass nicht selten inzwischen von einer digitalen Identität gesprochen wird. Früher ging es um Industrieprodukte, dann um Dienstleistungen und schließlich um den Transfer von Daten. Die aktuelle Industrielle Revolution aber hat uns selbst als Produkte entdeckt. Unsere digitale Identität ist als Massenprodukt geschaffen worden, von Google, Facebook, Amazon und Konsorten. Es sind die Regeln dieser Plattformen, an die wir uns halten müssen, wenn wir sie nutzen wollen. Wir bezahlen doppelt: mit unserem sauer verdienten Geld und unseren Daten, die wir überall liegen lassen, wo wir sind. Gleichzeitig ist dieses Massenprodukt das Ziel der profitreichsten Geschäfte, welche je auf der Erde stattgefunden haben – willkommen im Überwachungskapitalismus. Die Folgen sind jedoch dramatischer, als wir es wahrhaben wollen: Wenn uns andere besser kennen als wir selbst, öffnen wir Tür und Tor für Manipulation. Was wir online kaufen, sehen, hören und lesen, wird immer mehr durch entmenschlichte Algorithmen fremdbestimmt. Wir entscheiden uns immer mehr nur noch zwischen Optionen, die uns fremdbestimmt angeboten werden. Am Ende ist das Massenprodukt Mensch nichts weiter als ein digitaler Spielball. Wir geben unsere Entscheidungsrechte immer öfter ab, ohne es zu merken. Der digitale individuelle Konsum ist Dreh- und Angelpunkt dieser Entwicklung und genau deshalb löst sich die Individualität immer mehr in Luft auf: Der digitale Massenkonsum ist fremdgesteuert, entmenschlicht und kollektiv. Das ist nicht paradox, sondern schlichtweg die Folge der Digitalisierung. Unsere individuellen Daten gehören schon lange nicht mehr uns. In den kommenden Jahrzehnten wird sich entscheiden, ob unsere tatsächliche Individualität uns gehören wird oder nicht.

2. Das Ende des Kaiserreichs: Von Preußen nach Weimar

»Man müsste es dahin bringen, dass sich alle Menschen des Fanatismus und der Intoleranz schämen.«

Friedrich der Große (1712–1786)

Als Geburtsstunde der Freimaurerei in Deutschland gilt der 6. Dezember 1737 – und der Geburtsort war Hamburg. An diesem Tag und an diesem Ort konstituierte sich die älteste deutsche Freimaurerloge. Ihr Name damals lautete »Loge d’Hambourg«. Heute ist diese Loge unter dem Namen »Absalom zu den drei Nesseln« bekannt. Bedeutender für die gesamte Entwicklung der Freimaurerei auf deutschem Boden war aber ein anderes, nur wenige Monate später stattfindendes Ereignis. Eine Delegation dieser Hamburger Loge nahm in Braunschweig im August 1738 den Kronprinzen von Preußen, den späteren König Friedrich den Großen, in ihre Reihen auf. Unter der Nummer 31 registrierte das Mitgliedsverzeichnis der Loge d’Hambourg: »Friedrich von Preussen, geb. 24. Jan. 1712, Kronprinz«. Als Tag und Ort der Aufnahme ist dort dann der 14./15. August 1738 in Braunschweig verzeichnet. Damit gehörte Friedrich zu den ersten deutschen Freimaurern überhaupt und es verwundert daher auch kaum, warum gerade Preußen für die weitere Entwicklung der deutschen Freimaurerei eine so große Rolle spielte. Ohne Zweifel hat diese Aufnahme der deutschen Freimaurerei einen besonders starken Auftrieb gegeben.

Friedrich der Große war alles andere als ein passiver Freimaurerbruder. Er selbst hielt begeistert Logen ab, nahm Freimaurer auf, oft auch aus seinem direkten familiären Umfeld, wie beispielsweise seinen Bruder Wilhelm und dann später auch seinen Schwager, den Markgrafen Friedrich von Brandenburg-Bayreuth. Er blieb der Freimaurerei sein ganzes Leben, auch über die persönliche Ebene hinaus, treu verbunden. Wie im Kleinen, so machte er seinen Einfluss auch im Großen geltend: Er hatte in seinen Staaten nicht nur der Freimaurerei den Weg im Hintergrund geebnet, sondern sie sogar proaktiv gefördert. Nicht umsonst haben dadurch die sogenannten altpreußischen Großlogen in mancherlei Hinsicht eine fast schon staatstragende Bedeutung erlangen können. Beispielsweise stattete er die Große Landesloge(Freimaurerorden) mit einem sogenannten Protektionsbrief aus (hier im Originalwortlaut):13

»Protektorium des Königs Friedrich II. vom 16. Juli 1774