Frühling auf Saltön - Viveca Lärn - E-Book
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Frühling auf Saltön E-Book

Viveca Lärn

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Beschreibung

Eine schwedische Insel - eine eingeschworene Gemeinschaft: Der Cosy-Romance-Roman „Frühling auf Saltön“ von Viveca Lärn jetzt als eBook bei dotbooks. Eigentlich könnte Emily mit dem liebevollen Christer den zweiten Frühling auf der kleinen Insel Saltön genießen. Doch noch ist sie nicht bereit, ihre Freiheit aufzugeben – und ihr kleines Café in Göteburg, das Herzenswunsch und Zuflucht zugleich ist. Erst eine ungeahnte Wendung der Ereignisse stellt ihr Leben völlig auf den Kopf und veranlasst sie, eine Fähre nach Saltön zu betreten … vielleicht für immer? Und auch für die anderen Inselbewohner wird der Frühling auf der kleinen schwedischen Insel mehr als turbulent! Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Wohlfühlroman „Frühling auf Saltön“ von Bestsellerautorin Viveca Lärn ist der vierte Roman ihrer „Saltön“-Reihe und wird Fans von Mia Jakobssen und Jenny Colgan begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 407

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Über dieses Buch:

Eigentlich könnte Emily mit dem liebevollen Christer den zweiten Frühling auf der kleinen Insel Saltön genießen. Doch noch ist sie nicht bereit, ihre Freiheit aufzugeben – und ihr kleines Café in Göteburg, das Herzenswunsch und Zuflucht zugleich ist. Erst eine ungeahnte Wendung der Ereignisse stellt ihr Leben völlig auf den Kopf und veranlasst sie, eine Fähre nach Saltön zu betreten … vielleicht für immer? Und auch für die anderen Inselbewohner wird der Frühling auf der kleinen schwedischen Insel mehr als turbulent!

Über die Autorin:

Viveca Lärn wurde 1945 in Göteborg geboren. 1975 erschien ihr erstes Kinderbuch. Neben Romanen, Gedichten und Theaterstücken schrieb sie auch für Film und Fernsehen. Viveca Lärn ist heute eine der erfolgreichsten zeitgenössischen Autorinnen Schwedens. Sie wurde mit dem Astrid-Lindgren-Preis und der Nils-Holgersson-Plakette ausgezeichnet.

Viveca Lärns vierbändige Saltön-Reihe wurde äußerst erfolgreich als Fernsehserie verfilmt. Sie umfasst die folgenden Bände, die auch bei dotbooks erscheinen:

Sommer auf Saltön: Die Mittsommernacht

Sommer auf Saltön: Das Hummerfest

Weihnachten auf Saltön

***

eBook-Neuausgabe April 2017

Copyright © der schwedischen Originalausgabe 2002 by Viveca Lärn

Die schwedische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel Sol och vår bei Wahlström & Widstrand, Stockholm.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2006 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Bildagentur Zoonar GmbH

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (sh)

ISBN 978-3-95824-997-4

***

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Viveca Lärn

Frühling auf Saltön

Roman

Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann

dotbooks.

Kapitel 1

Die Jylland-Fähre war an Vinga vorbeigefahren und steuerte jetzt auf den Hafen von Göteborg zu. Es wehte eine steife Brise, und das Salzwasser des Kattegats schlug an die Fensterscheiben des Speisesaals, in dem Christer und Emily noch beim Frühstück saßen. Über dem Tischtuch waren Krümel von dänischem Weißbrot verstreut. Christer warf Emily über die Kaffeetasse hinweg einen verführerischen Blick zu. Sie hatten ein schönes Wochenende auf Skagen gehabt, mit guter Scholle, Spaziergängen und Kunst. Emily spiegelte sich in der Kaffeekanne. Ihre Wangen leuchteten rot trotz des neu gekauften Puders in Natural Beige.

Die sanfte Musik im Speisesaal wurde von einer Lautsprecherstimme unterbrochen, die die Passagiere aufforderte, das Autodeck aufzusuchen. Doch Emily und Christer hatten kein Auto dabei, denn sie spielten, dass sie jung und frei seien und tun könnten, was ihnen gerade einfiel. Allerdings durfte Christer nicht den Zug um 8.42 Uhr ab Göteborg verpassen, denn er musste zu einem Fortbildungskurs an der Polizeihochschule in Stockholm. Und Emily musste um Punkt neun Uhr ihr Café Zuckerkuchen aufmachen, sonst würden die Stammkunden verrückt spielen und sich nie wieder blicken lassen. Die Welt ist schließlich voller Cafés, vor allem in dem schön renovierten Altstadtviertel Haga in Göteborg.

Emily war fast fünfzig, Christer so um die vierzig Jahre alt. »Lass uns an Deck gehen«, schlug Emily vor.

»Ist es dafür nicht zu windig?«

»Kommissar Landratte«, sagte Emily lächelnd und nahm Lederjacke und Rucksack und stand auf.

Christer legte mit einem freundlichen Seufzer die Morgenzeitung weg. In der Türöffnung duckte er sich und gab Emily einen schnellen Kuss auf die Wange.

»Du siehst viel jünger aus, seit du das Zuckerkuchen aufgemacht hast. Das muss ich wirklich zugeben, obwohl es mir natürlich besser gefiele, wenn du noch auf Saltön leben würdest. Da gibt es nicht so viele Cafés, falls du es dir noch…«

Emily lächelte siegesgewiss. Die Lederjacke, die sie bei ihrem Vater auf dem Dachboden gefunden hatte, hatte sie mit zwanzig getragen. Und jetzt konnte sie im Gegensatz zu damals sogar fast den Reißverschluss schließen.

»Ich bin ein Siegertyp«, sagte sie. »Und obwohl ich größer bin als die meisten, kann ich doch erhobenen Hauptes durch eine Türöffnung gehen. Zwar nicht auf dem engen Saltön, aber in der Großstadt. Ich mag höhere Decken lieber.«

Auf dem oberen Deck war die Reling steuerbords von Touristen, Schulklassen, Rentnern und frisch verliebten Paaren gesäumt. Sie blickten auf die Klippen bei Långedrag und Saltholmen. In ein paar Monaten würden an den Ufern zahlreiche Sonnenanbeter liegen, doch jetzt lag in den tiefen Senken nach Norden sogar noch Schnee. Draußen vor den Stegen kreuzten ein paar Windsurfer mit bunten Segeln.

Sie kamen an der Neuen Werft vorbei, wo Emilys Vater als Arzt bei der Küstenartillerie seinen Militärdienst geleistet hatte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie mit einer Quittung aus dem Taxfreeshop abzuwischen versuchte.

»Du denkst zu viel an deinen Papa.«

»Das tue ich gar nicht. Der Wind lässt meine Augen tränen. Mein Papa ist jetzt tot und begraben.«

Christer sah ins Wasser hinunter, das hier blauer war als in Stockholm. Allerdings nicht so blau wie auf Saltön.

Ein junges Paar stand drüben an den Roten Stein gelehnt, die Gesichter zur Sonne gewandt. Der Wind spielte mit ihren Haaren. Ganz oben auf der Älvsborgsbrücke war der morgendliche Verkehr in Richtung Hisingen immer noch dicht.

Emily begleitete Christer zur Straßenbahnhaltestelle am Järntorget. Jetzt war sie froh, dass sie schon am Freitagabend gebacken und alles für das Café vorbereitet hatte. Nun musste sie nur schnell Kuchen und Zimtschnecken aus der Tiefkühltruhe nehmen und im Ofen warm machen. An einem Montagmorgen würde niemand den Unterschied zu frisch Gebackenem bemerken.

»Ich weiß ja nicht, ob der Kurs einem Ortspolizisten vom Lande so viel geben kann, aber es wird schön sein, die Kollegen zu treffen. Und dann natürlich Mutter. Aber du wirst mir fehlen. Jede Stunde, jede Minute. Tschüs dann, geliebte Emily.«

»Was hast du gesagt? Ja klar, das wird gut. Gute Reise.«

Die Straßenbahn arbeitete sich langsam durch den Berufsverkehr. Christer stand ganz hinten und schaute so lange es ging hinter Emily her. Am Hagabad bog sie in eine Straße mit Kopfsteinpflaster ein und ging immer schneller. Doch auf der Nygata in Haga blieb sie abrupt vor einem Geschäft mit Spielsachen und Kinderbekleidung stehen. Sie hatte einen kleinen braunen Bär mit einer Fliege im Schottenkaro gesehen, der so Hilfe suchend aussah, dass ihr fast das Herz zersprang. Plötzlich sah sie die blauen Augen ihrer kleinen Enkelin Karen vor sich. Der Bär würde hervorragend in eines der neuen Auslandskuverts der Post passen. Mit einem Mal glaubte sie, den Duft von Afrika und den Kräuterduft von Jambalaya in Paulas Küche riechen zu können. Wo hatte sie nur gelernt, solche komplizierten Gerichte zu kochen? Als Paula klein war, konnte sie nicht einmal einen einfachen Marmorkuchen backen. Emily hatte wirklich versucht, es ihr beizubringen.

Im Januar, gleich nach der Beerdigung des Doktors, waren Emily und Christer nach Afrika gefahren. Sie hatten Emilys Tochter und ihr neugeborenes Baby besucht, was die Laune aller verbessert hatte. Trotz der schrecklichen Hitze, der Insekten und der Feuchtigkeit strahlte Paula, und die kleine Karen sah ihre Großmutter und Christer freundlich an. Aber als Emily fragte, wann Paula denn wieder nach Hause nach Saltön kommen wolle, wich die Tochter verlegen aus.

Die Erklärung folgte am nächsten Tag, als ein dänischer Arzt in Paulas Haus auftauchte. Er machte, ohne um Erlaubnis zu bitten, den Kühlschrank auf, nahm sich Milch heraus und hielt ganz selbstverständlich Paulas Hand, sodass sie die Kaffeetasse in die linke Hand nehmen musste. Emily saß mit Karen auf dem Schoß da und sah ihre Tochter erstaunt an.

»Morten und ich fühlen uns hier wohl«, sagte Paula.

Sie hatte mit einem Mal eine zufriedene Stimme, die Emily gar nicht an ihr kannte. Sie wurde fast neidisch. Ansonsten hatte Paula nämlich den etwas zickigen Unterton ihrer Mutter geerbt.

Morten war solch ein sympathischer Mensch. Schmale grüne Augen, dünnes, völlig glattes Haar, groß und schlank. Paula war sichtlich dünner geworden, denn eigentlich hätte sie neben ihm wie eine kleine Melone aussehen müssen, aber das war nicht der Fall.

Emily betrachtete sich heimlich im Spiegel. Sie hatte auch abgenommen, doch auf eine völlig andere Weise. Sie war immer noch kräftig und korpulent, aber das Gesicht hatte ausgeprägtere Züge bekommen, und man konnte eine Taille erahnen.

Morten erzählte von seiner Arbeit im Krankenhaus. Endlich hatte er seinen Platz im Leben gefunden – und das in zweifacher Hinsicht.

»Ist er verheiratet?«, flüsterte Emily Paula zu, aber die tat so, als hätte sie es nicht gehört.

»Glaubst du, er ist verheiratet?«, fragte Emily Christer später, als Paula und Morten Karen ins Bett brachten.

»Wer?«

Vor der Afrikareise hatte Emily Angst gehabt, dass Paula Christer nicht akzeptieren würde, aber Christer hatte daran nicht den geringsten Zweifel gehabt. Schließlich mochten ihn alle. Das hatte seine Mutter ihm jeden Tag gesagt, seit er geboren wurde. Er war zuvor noch nie im Ausland gewesen, außer auf seiner Reise nach Athen mit Emily natürlich, und dann einmal mit der Schwimmmannschaft der Polizei in Amsterdam.

Christer durfte Morten zu einem Besuch ins Krankenhaus begleiten. Morten hatte dort bei einem Fall den Verdacht auf Kindesmisshandlung, bei dem Christer mit seiner Erfahrung als Polizist vielleicht würde behilflich sein können. Die Männer verschwanden, und Emily und Paula setzten sich aufs Sofa und tranken Vanilletee, während Karen unter dem Moskitonetz im Kinderwagen schlief.

Alles war unerwartet gut gegangen, aber nun fing Emily an, sich über Christer zu ärgern. Warum war er so groß und fett? Konnte er nicht aufhören zu schnarchen? Musste er immer zu allen nett sein? Es war immer, als würde er nur darauf warten, dass alle alten Damen der Welt auf der Straße umfielen, damit er sich um sie kümmern konnte…

Emily beschloss, direkt zum Café zu gehen, um Zeit zu sparen. Wenn sie über Mittag geschlossen hatte, konnte sie schnell in die Wohnung hinaufgehen und den Anrufbeantworter abhören. Sie sehnte sich nach einer anderen Stimme als der von Christer, obwohl er ein netter Polizist und Mitmensch war. Während der drei Monate, die vergangen waren, seit man Emilys Vater tot in Athen gefunden hatte, war er eine Stütze gewesen. Er hatte sie getröstet, Tütensuppen gekocht, zugehört, ihr den Rücken gestreichelt. Er hatte geseufzt, aber nicht geklagt und war nur manchmal eingeschlafen, wenn er sie ins Theater begleitet hatte, um sie auf andere Gedanken zu bringen. Dass er dort einnickte, lag aber nicht daran, dass er in dieser Zeit fast jeden Tag die Strecke zwischen Saltön und Göteborg zurückgelegt hatte, sondern dass er sich mehr für Handball interessierte als fürs Theater.

Die Straßen waren trocken. Der Wind fuhr ihr in die Kleider und ließ die Markisen knattern, als Emily die Haga Nygata hinuntereilte. Die meisten Souvenirgeschäfte, Antiquariate und Antiquitätengeschäfte machten erst um elf Uhr auf, aber die Tür vom Zigarrenladen stand weit offen. Vor dem Fahrradladen stand ein Werbeschild, dass man sein Fahrrad zum Frühling überholen lassen sollte. Emily winkte und lächelte, und der Fahrradhändler fand, dass sie mit dem Rucksack, dem zerzausten Haar und den langen Schritten, die sie mit ihren kräftigen Waden machte, sehr jung aussah. Der Frühling war definitiv im Anmarsch.

Das Café Zuckerkuchen sah schon von weitem sehr hübsch und einladend aus.

Emily schloss das untere Schloss an der Eingangstür mit dem großen Schlüssel auf und suchte dann eine Weile nach dem kleinen Sicherheitsschlüssel.

»Na, da bist du ja«, murmelte sie und schloss auf.

Als sie die Tür öffnete, gab es einen schrecklichen Knall, und Emily flog augenblicklich zurück. Aus dem Café Zuckerkuchen loderten riesige Flammen.

Der Fahrradhändler rannte leichenblass in seinen Laden zurück und wählte den Notruf.

Die ganze untere Wohnung des dreistöckigen Hauses brannte, und aus allen Richtungen kamen die Leute angelaufen.

In einem Fenster in der obersten Wohnung stand ein schwarzhaariger Mann mit nacktem Oberkörper und lehnte sich raus, um die wild aus dem Erdgeschoss aufflammenden Feuerzungen zu betrachten. Das Schild Zuckerkuchen fiel mit einem Riesenkrach auf die Straße.

»Die Feuerwehr kommt gleich!«, rief eine ältere Frau. »Die holen Sie problemlos da oben runter. Springen Sie nicht! Die schicken eine Leiter rauf, und dann dürfen Sie in einem Meinen Korb fahren, mein Guter.«

Sechs Minuten später hörte man das Martinshorn, und drei Feuerwehrautos und zwei Krankenwagen bogen in die Haga Nygata ein.

Emily lag ganz still gleich neben einer Bananenschale, einer Trabrennzeitschrift und vielen neugierigen Füßen auf der Straße. Ein roter Blutfleck umringte ihren Kopf wie ein Heiligenschein, und sie war sehr blass. Jemand von den Umstehenden hatte ihren Rucksack weggezogen, aber niemand wagte es, sie anzufassen.

»Das habe ich bei einem Erste-Hilfe-Kurs gelernt«, sagte eine Frau. »In der Nordstan. Ein Geschenk zum Fünfundsechzigsten von meinen Enkelkindern.«

Man hörte laute Sirenen. Emily fragte sich, warum sie so nah Mangen. Wenn nur Paula und Karen nichts zugestoßen war.

Auch nachdem Paula nach Afrika gezogen war, hatte Emily ein Gefühl der Angst im Bauch verspürt, wenn sie einen Krankenwagen hörte. Und jetzt konnte das Martinshorn auch noch ihrem Meinen Enkelkind gelten. Karen, nach Karen Blixen. Ich hatte eine Farm in Afrika.

»Sprechen Sie nicht«, sagte ein Mann freundlich.

»Wie heißen Sie?«, fragte ein anderer.

Sie wurde hochgehoben, und der Schmerz stach ihr messerscharf in den Kopf, in die rechte Schulter und die Hüfte. Jemand legte eine rote Decke über sie, eine rote Decke mit drei grauen Streifen. Sie fühlte sich gleich etwas besser, bis sie anfingen, sie zu tragen. Emily schloss die Augen, während ihr Café in Flammen auf ging.

Kapitel 2

Auch auf Saltön wehte ein heftiger Wind, aber der Frühling hing ganz klar in der Luft. Eine Vorahnung darauf jedenfalls. Zwei Amseln in einem Busch, japanische Touristen am Kai und hier und da ein Stück hellblauer Himmel zwischen den Wolken, die vorbeijagten.

Ein Mann ging langsam mit seinem dreirädrigen Fahrrad den kopfsteingepflasterten Flügel hinunter. Er trug eine Schirmmütze und einen Overall mit einer Fleeceweste darüber. Die Reflexstreifen auf den Armen glitzerten, und auf dem Gepäckträger seines Fahrrads schimmerte hartnäckiger Raureif. Ab und zu blieb er stehen, beugte sich ein wenig herunter und hob mit Hilfe eines Spießes Müll von der Straße auf. Papier legte er in einen grünen Behälter auf dem Gepäckträger, Plastiktüten in einen roten. Leere Bier dosen nahm er mit der Hand auf und steckte sie in die Tasche, nachdem er in der Luft die letzten Tropfen aus ihnen herausgeschüttelt hatte. Als er das Gesicht ins Licht hielt, sah man, dass er erstaunlich kindlich aussah. Aber Orvar Blomgren war in den Vierzigern, wie er selbst es auszudrücken pflegte.

Als er bei dem Gemeindefahrrad die Bremse einlegte, erblickte er einen weißen Umschlag, der hinter einem Abwasserrohr eingeklemmt war. Er saß so fest, dass er die Handschuhe ausziehen und sein Taschenmesser benutzen musste, um ihn loszukriegen. Dann betrachtete er ihn eingehend. Ein Brief mit einer ausländischen Briefmarke. Ein Brief an Emily Schenker. Er schüttelte den Kopf. Ganz Saltön wusste, dass Emily vor einem halben Jahr weggezogen war. Sie war eine Göteborgerin geworden, und wie man hörte, trug sie die Nase jetzt noch höher denn je. Sie und ihr tolles Café in Göteborg. Keinem tat Emily Leid, obwohl ihr Vater tot in Athen gefunden worden war. Nicht einmal Orvar konnte das geringste Mitleid mit ihr empfinden, obwohl Emily mit seinem großen Bruder verheiratet gewesen war. Sie war ganz einfach seine Ex-Schwägerin.

Orvar betrachtete lange die Briefmarke. Sie war sehr schön. Als er klein war, hatte er fast ein ganzes Jahr lang Briefmarken gesammelt. Er hatte im Hobbykeller gesessen und sie mit Papierleim in ein altes Notizbuch mit geraden Linien eingeklebt. Am besten gefielen ihm die Briefmarken mit Vögeln und Fußballspielern drauf. Aber eines Tages war sein Bruder gekommen und hatte das Buch in den Kamin geworfen.

»Du hast das falsch gemacht«, hatte Thomas gesagt. »Wenn du Briefmarken sammeln willst, dann musst du das richtig machen, damit die Leute dich nicht auslachen. Man darf sie nicht einkleben. Dann werden sie wertlos, du Vollidiot. Aber jetzt habe ich dir geholfen, damit du nicht ausgelacht wirst. Du solltest mir dankbar sein.«

Orvar Blomgren steckte den Brief in die Gesäßtasche des Overalls.

Als er sich dem Laden seines Bruders, Blomgrens Tabak, näherte, wechselte er die Straßenseite. Thomas Blomgren sollte selbst vor seiner Tür kehren. Die Gemeinde hatte mit all dem Müll schon genug zu tun. Die Bewohner von Saltön warfen außer samstags so gut wie nie etwas auf die Straße, aber kaum reisten die Sommergäste an in ihre Hütten, Boote und Wohnwagen, konnte man jedes Wochenende bis zu den Knien im Abfall waten. Und jetzt waren sie wieder im Anmarsch.

Bald war nämlich Ostern, und an Ostern mussten die Sommergäste unbedingt salzigen Wind verspüren und eins mit der Natur sein. Mitten in der Großstadt fühlten sie ihre Lebensgeister erwachen und machten sich dann sofort auf nach Saltön. Sie mussten nach dem Boot schauen, die Persenning vorsichtig abnehmen, die Stirn in tiefe Falten legen und einen Ortsansässigen finden, der an dem Boot, der Veranda, dem Steg, dem Garten oder den Fenstern arbeiten würde – schwarz natürlich.

Orvar dachte an das Meer. Um ein Uhr war er fertig für den Tag, und dann konnte er das Kajak nehmen und zu Kristina rüberpaddeln. Das Leben war herrlich, auch wenn der Job die Pest war.

Das Beste von allem war Kristina, die ihn von seiner Spielsucht befreit hatte. Nie wieder würde er einen Fuji in den Laden seines großen Bruders setzen, um nicht mehr in Versuchung zu geraten.

Ein kleiner Mann kam auf den Laden zugelaufen. Er trug eine Baskenmütze, die mit einem künstlichen grünen Blatt verziert war.

»Guten Morgen, Orvar. Heute habe ich einen Sieger auf der Trabrennbahn in Solvalla. Komm mit rein, dann legen wir ein Tagesdoppel hin.«

»Es ist noch nicht offen«, zischte Orvar und hatte es plötzlich ganz eilig mit dem schweren Fahrrad der Gemeinde. Er warf einen Blick zum Himmel.

»Ach, stimmt ja, ich habe gehört, dass du aufgehört hast zu spielen!«, rief der Mann mit der Baskenmütze hinter ihm her.

Wenn es doch nur bald heller werden würde. Orvar sehnte sich nach dem Sommer, nach den langen hellen Abenden mit leichtem Wind. Jetzt war Saltön wie ein alter Bär, der sich weigerte, die Höhle zu verlassen, weil es drinnen schön warm und gemütlich war und es noch Blaubeervorräte gab.

Er sammelte ein paar zerknüllte Lottoscheine ein und verspürte nicht die geringste Versuchung. Solche Spiele, bei denen man Lebensmittel für zehn Jahre im Voraus oder einen Urlaub in den Bergen oder eine Badezimmerarmatur für 25 000 Kronen gewinnen konnte, hatten ihn nie gereizt. Orvar war immer nur daran interessiert gewesen, bares Geld zu gewinnen. Besser gesagt: Interessiert war er immer noch daran, aber er hatte sich selbst Beschränkungen auferlegt.

Jedes Mal, wenn seine Füße auf dem Weg zum Laden des Bruders oder zur Trabrennstelle außerhalb der Stadt waren, steckte er die Kassette in seinen Walkman und die kleinen Kopfhörerstöpsel in die Ohren. Sogleich hörte er die beruhigende Stimme des Spieltherapeuten. Der sprach davon, wie stark er war und dass er, wenn er dieser Versuchung widerstehen würde, bald wieder etwas Sinnvolles tun könnte. Vielleicht ein Buch lesen?

Eigentlich war das alles die Schuld des Bibliothekars Hans- Jörgen, der so viel Geld im Lotto gewonnen hatte, dass er vielleicht für den Rest seines Lebens nicht mehr würde arbeiten müssen, auch wenn er sich für einen Großteil des Geldes einen komischen Antikladen gekauft hatte. Man stelle sich mal vor, dass der kleine, blasse Bibliothekar es gewagt hatte, sich gegen Lizette Månsson zu stellen, der die ganze Konservenfabrik und noch eine Menge anderer Häuser gehörten. Als sie seine Miete erhöhen wollte, hatte er einfach über seinen Anwalt die ganze Bude gekauft. Anwalt! Das wollte Orvar werden: cool und reich.

Aber stattdessen ging es in nur wenigen Monaten geradewegs den Bach hinunter. Orvar hatte die Kontrolle verloren.

Er wettete mit immer größerer Besessenheit bei Trabrennen. Am Ende weigerte sich sein Bruder, ihm noch mehr Geld zu leihen. Hätte er das Kajak nicht gehabt und Kristina kennen gelernt, dann hätte es kein gutes Ende mit ihm genommen. Die Sucht war immer noch da, aber er spielte nicht mehr. Nicht einmal an dem einarmigen Banditen im Kleinen Hund. Eine Entscheidung war eine Entscheidung, und Kristina hatte ihm ein Ultimatum gestellt, fast wie in einer amerikanischen Fernsehserie.

»Das Spiel oder ich, Orvar.«

Nun, das war eine leichte Entscheidung bei einer netten und echten Blondine.

Auf dem höchsten Hügel von Saltön klapperten die Leinen der Fahnenmasten im Wind. Lizette Månsson starrte durch das Panoramafenster der Direktorenvilla über das Meer, jedoch ohne wirklich etwas zu sehen. Die Ledersofas lagen voller alter Aktenordner, und der Laptop auf dem Glastisch wollte gerade auf den Bildschirmschoner mit langsam schwimmenden Piranhas umschalten.

Sie verspürte Lust, sich die Augen zu reiben, um klarer zu sehen, aber sie hatte bereits ihre künstlichen Wimpern angeklebt. Das Theater mit den Wimpern war fast die einzige Eitelkeit, die sie sich nunmehr leistete. Vor langer Zeit schon hatte sie den Eyeliner, der ihre Augen umrahmte, eintätowieren lassen, und die Augenbrauen saßen jetzt ebenfalls etwas höher, als die Natur es ursprünglich vorgesehen hatte. Das Silikon aus Sydney war perfekt platziert.

Sie sank in ihres Vaters stufenlos verstellbaren Sessel aus braunem Büffelleder. Er war der einzige, der nicht mit Papieren belegt war. Das ganze Mobiliar stammte natürlich von ihrem Vater, der an Mittsommer vor einem Jahr völlig überraschend gestorben war. Sie hatte dem Haus noch keinen eigenen Stil verleihen können, weil sie seither sieben Tage die Woche in der Fabrik, die sie geerbt hatte, schuftete.

Sie wurde für ihre professionelle Weise, die Fabrik zu leiten, die sie schon in jungen Jahren an den Tag legte, bereits geachtet und bewundert, das war offenkundig. Doch sie hatte auch die Fähigkeit ihres Vaters geerbt, den Angestellten, die ihr Büro betraten, Angst einzujagen. Hingegen war es ihr nicht gelungen, sich diese onkelhafte Vertraulichkeit anzueignen, die ihr Vater und ihr Großvater besessen hatten. Sie hatte keinen Schnaps im Schrank und hielt in ihrem Büro auch keinen abgewetzten Stuhl für Gespräche über kaputte Ehen bereit.

Die Konservenfabrik lief gut, aber nicht besser als vorher. Lizette war ungeduldig.

Ungeduldig, weil sie keine Steigerung erzielt hatte, nicht zur Geschäftsfrau des Jahres gewählt und nicht einmal von der Salto Tidning als die erfolgreichste Frau der Insel interviewt worden war. Und wo waren die Wirtschaftswoche und Industrie heute geblieben? Interessierten die sich etwa nicht für Fabrikantinnen außerhalb Stockholms? Sie musste neue Kontakte knüpfen. Oder vielleicht etwas Neues erfinden und Saltön bekannt machen.

Außerdem wurde ihr langsam unheimlich, weil sie kein Privatleben mehr hatte. Die Uhr tickte, und die Jahre vergingen. Aber wie sollte sie denn auch die Zeit finden, jemanden kennen zu lernen? Mit ihrem IT-Typen in Australien hatte sie, als sie nach Hause gefahren war, aus praktischen Erwägungen Schluss gemacht. Wie sollte sie jemanden kennen lernen, wenn niemals etwas über sie in der Zeitung stand? Nicht einmal das Lokalfernsehen hatte sich herbemüht.

Seit Lizette die Villa übernommen hatte – oder die Residenz, wie ihr Vater sie immer genannt hatte –, war nicht ein einziger Gast über die Schwelle getreten, und am Ende hatte sich ihr Zuhause in einen Ableger des Büros verwandelt. Als ihr Vater noch lebte, hatte sie niemals irgendwelche Papiere herumliegen sehen, aber er hatte natürlich auch Frauen gehabt, die für ihn aufgeräumt hatten.

Lizette beschloss, die Morgendämmerung zu nutzen, um das Chaos zu lichten – sie schlief niemals mehr als fünf Stunden –, und ging in den Keller, um Kisten zu holen.

Es dauerte ärgerlich lange, sich zu überlegen, wie sie das Organisieren organisieren würde.

Als die Kirchturmuhr in Saltön acht Uhr schlug, beschloss sie, zur Fabrik zu gehen.

Unten am Berg stand ein einziges Auto, und zwar das von Kabbe.

»Ein Omen«, murmelte Lizette.

Sie nahm ihr Handy, wählte die Nummer vom Kleinen Hund und hörte schon bald Kabbe mit seiner eintönigen Stimme antworten.

»Hallo, Kabbe. Lizette Månsson hier.«

»Hallo, Lizette«, sagte Kabbe und betrachtete einen Eiszapfen, der vor dem Restaurantfenster hing und in der Sonne kleine hoffnungsvolle Tropfen absonderte.

»Ich würde gern für heute Mittag einen Tisch bestellen.«

»Du weißt doch, dass man um diese Jahreszeit einfach nur kommen muss«, erwiderte Kabbe. »Ein Tisch für eine Person?«

»Nein, für zwei bitte.«

»Wie nett. Ist es jemand, den ich kenne?«

»Das hoffe ich. Du bist es nämlich selbst.«

Lizette trug ein kurzes vanillefarbenes Kleid und hohe Stiefel. Kabbe musterte sie von Kopf bis Fuß, doch das ignorierte sie.

Das Restaurant war nicht völlig leer. An einem Tisch saß eine Gruppe von norwegischen Geschäftsleuten, und an einem anderen fand ein größeres Familienfest statt, vielleicht ein sechzigster Geburtstag. Der Großvater hielt gerade eine Rede, während zwei der kleinsten Gäste unter dem Tisch herumkrochen.

Lizette bestellte Toast mit falschem Kaviar und Hundshai, und Kabbe entschied sich für dasselbe.

»Mineralwasser«, sagte Lizette.

»Wie wäre es denn mit einem Glas Chablis? Ich habe gerade …«

»Nein.«

Kabbe entschuldigte sich und ging zum Koch.

»Nicht den amerikanischen Kaviar«, sagte er. »Nimm den schwedischen von Kalix. Diese Dame hier durchschaut alles.«

»Weiß nicht, ob wir den haben, ja doch, vielleicht«, sagte Klasse.

»Verdammte Hacke, hier herrscht aber auch gar keine Ordnung«, sagte Kabbe zu seinem Koch und wurde rot im Gesicht. »Du solltest die Stellung halten, während ich im Krankenhaus lag.«

Klasse antwortete nicht, und Kabbe verließ die Küche wieder. Die Tür schwang nach ihm durch.

»Wir haben eben nicht geglaubt, dass du so schnell zurückkommen würdest«, sagte Klasse zu dem Glasfenster in der Tür.

Das hatte keiner geglaubt, und der Psychiater, der Kabbe entlassen hatte, riet ihm ganz entschieden davon ab, zu früh wieder anzufangen.

»Diese Sache hier dauert länger, als Sie sich vorstellen können«, hatte er gesagt. »Ich schreibe Sie ein halbes Jahr krank, das ist das Mindeste.«

»Man merkt, dass Sie nicht selbständig sind«, hatte Kabbe dem Psychiater geantwortet, der das Logo des Landeskrankenhauses auf dem Hemd trug.

»Und mit den Tabletten hören Sie nicht auf, egal, wie gut Sie sich fühlen.«

Kabbe war mit dem Taxi nach Hause gefahren, hatte den Mantel aufgehängt, die Nummer seiner Krankenversicherung gewählt und sich gesundschreiben lassen. Aber seine Antidepressiva nahm er weiterhin.

»Auf Saltön muss irgendwas passieren«, sagte Lizette und sah ihm geradewegs in die Augen. Dann deutete sie mit der Hand zum Fenster.

»Sieh selbst. Der Ort ist tot.«

»Erzähl mir was Neues. So ist es um diese Jahreszeit doch immer. Und das kann dich ja wohl nicht stören. Konserven essen die Leute doch das ganze Jahr über. Denk doch mal an mich mit meinem Restaurant. Wenn jemand klagen könnte, dann wäre ich das, aber das tue ich nicht.«

»Die Heringskonserven würden sich auch besser verkaufen, wenn die Leute sich noch zu anderen Zeiten für Saltön interessierten als nur im Sommer«, sagte Lizette. »Zum Beispiel im späten Frühling und im frühen Herbst. Außerdem könnte man sich doch eine Zusammenarbeit zwischen uns und den Leuten, die mit Touristen zu tun haben, vorstellen. Dass man Saltön auf die Karte setzt, sozusagen.«

Kabbe pfiff leise und vergaß dabei sogar, ihr in den Dekolltéansatz zu schauen.

»Du meinst Geld.«

Lizette nickte.

»Unter anderem.«

Sie schwiegen, während der frisch gebratene Hai mit Rösti und Preiselbeeren serviert wurde.

Kabbe sah sich im Restaurant um. Die meisten Tische standen seit Wochen gedeckt, aber unberührt da.

»Manchmal hat man nicht übel Lust, den ganzen Scheiß abzufackeln.«

»Dein Lebenswerk?«

Kabbe lachte laut.

»Ich bin nicht so sentimental. Und ich bin bis zum Schornstein gut versichert.«

Lizette legte das Besteck weg und sah sich kurz um, ehe sie sich über den Tisch beugte.

»Ein Erlebniscenter. Unten am Strand. Rutschbahnen, Ponyreiten und Karussells für die Kleinen. Freilichtkino. Fassadenklettern, auf Nägeln gehen und Feuerspeien für die Jugendlichen. Nachtclub mit Show und Spielhalle für die Erwachsenen. Ich glaube, dass es in dieser Stadt nur zwei Menschen gibt, die das hinkriegen könnten.«

Kabbes Augen begannen zu leuchten.

»Ich sehe es vor mir«, sagte er. »Kabbeland.«

»Wir sind zu zweit!«

»Aber Lizeland geht ja nun mal nicht. Das klingt wie Liseberg, und das gibt es schon.«

»Um die Details kümmern wir uns später, Kabbe. Jetzt versuchen wir erst mal im Großen zu denken.«

Lizette winkte mit der Mineralwasserflasche, um der Bedienung ein Zeichen zu geben. Kabbe knirschte mit den Zähnen. Sollte er hier irgendwie die zweite Geige spielen?

»Vergiss nicht, dass ich dein Vater sein könnte.«

»Du bist es aber nicht.«

Kabbe lachte belustigt.

»Du bist noch nicht mal dreißig, und ich bin über vierzig.«

»Deutlich über vierzig, könnte man sagen. Aber vergiss es. Mich interessiert die Kompetenz mehr als das Alter. Wenn du mal einen deiner Angestellten bitten könntest, den Tisch abzuräumen, dann würde ich dir meine Zeichnung zeigen.«

Über eine Stunde lang saßen sie über den Entwurf gebeugt, bedachten größere und kleinere Schwierigkeiten bei der Planung, aber vor allem die Möglichkeiten.

»Zusätzliches Kapital würde nicht schaden«, sagte Lizette, als sie aufstanden.

Kabbe lächelte schief.

»Ja, kennst du jemanden, der Kohle hat?«

Sie sahen einander an.

»Emily. Die hat schließlich was geerbt.«

Kabbe half Lizette in den Mantel.

»Die kannst du doch wohl um den Finger wickeln, oder?«

»Lässig.«

Lizette ließ sich amüsiert die Hand küssen.

»Und noch was: Nimm mal diese Gipskatzen aus dem Fenster, die verschandeln das ganze Ortsbild.«

Kapitel 3

Emily wurde im Krankenhaus untersucht, verbunden und genäht.

»Sie sind bestimmt weich gefallen«, sagte die Krankenschwester freundlich.

»Ja, ich weiß, dass ich dick bin.«

Die Schwester sah sie erschrocken an.

»Nein, Entschuldigung, ich meine, Ihr Rucksack hat den Sturz gemildert.«

Emily versuchte, höflich zu lächeln. Alles strengte sie an. Das Handgelenk war verstaucht. Aber ansonsten hatte sie nur blaue Flecken, meinte der Arzt, der nicht viel älter war als Paula und kurzsichtig in den Krankenbericht blickte, während er mit Emily redete. Sie hatte nicht übel Lust, ihn darauf hinzuweisen, dass die Brille aus der Brusttasche seines weißen Kittels herausschaute.

»Sie werden eine Zeit krankgeschrieben, damit wir die Fäden am Hinterkopf ziehen können. Und die Polizei möchte natürlich auch mit Ihnen reden, denn schließlich haben Sie in dem Haus gewohnt, das abgebrannt ist. Die werden von sich hören lassen. Aber jetzt dürfen Sie erst mal nach Hause fahren.«

»Ich dachte, mein Haus ist abgebrannt.«

Der Arzt sah auffordernd zu der Krankenschwester, setzte sich die Brille auf die Nase und ging.

Während Emily auf das Taxi wartete, machte sie ihr Handy an, das gut geschützt im Rucksack gelegen hatte, als sie auf die Straße geprallt war. Ihre Hände zitterten heftig, während sie ihre Nachrichten abhörte. Drei von Christer. Wie hatte er das rausgekriegt? Vielleicht hatte jemand auf Saltön angerufen. Ihre alte Nummer aus der Zeit, als sie mit Blomgren verheiratet gewesen war, stand mit Filzstift in den Rucksack geschrieben. Sie seufzte und wählte Christers Nummer. Er saß schon wieder im Zug zurück nach Göteborg.

»Wirst du nie müde?«

»Jetzt sag doch so was nicht. Ich bin so froh, dass du noch lebst. Die Kollegen haben gesagt, es sei eine echte Explosion gewesen. Weißt du, wie es im Café anfangen konnte zu brennen? Hast du irgendeinen Ofen oder eine Herdplatte oder so was vergessen? Eine Kerze vielleicht?«

»Stehe ich in irgendeiner Weise unter Verdacht?«

»Entschuldige, das ist der Polizist in mir.«

»Ist schon gut. Das werden sich natürlich alle fragen. Aber warum sollte ich mein Lebenswerk in Brand stecken?«

»Entschuldige, Emily. Ich bin jetzt in Södertälje. Ich werde dich im Krankenhaus besuchen, sowie ich in Göteborg ankomme. Das ist in weniger als drei Stunden. Bleib jetzt einfach ganz ruhig.«

»Lass das, Christer. Steig in Herrljunga um und fahr direkt nach Saltön. Ich komme dahin, das verspreche ich dir.«

»Sicher?«

Sie versuchte mit ruhiger und klarer Stimme zu sprechen.

»Ganz sicher. Mir fehlt nichts. Nur ein paar Kratzer. Ich komme zu dir nach Hause.«

Er zögerte.

»Ja, vielleicht ist das besser. Ich bin ja gerade erst in den Zug gestiegen.«

Kaum hatte sie aufgelegt und war ins Taxi gestiegen, da rief er sie wieder an.

»Mir ist ja klar, dass meine hässliche Junggesellenwohnung nichts für dich ist, aber sie hat ziemlich viele Schränke, und das mögen Frauen doch. Wenn wir damit anfangen, dann können wir uns später vielleicht nach einem kleinen Reihenhaus umsehen.«

»Abwarten, Christer, abwarten.«

Sie kurbelte die Scheibe herunter, sodass der Wind direkt auf den Rücksitz blies.

»Das war mein Freund, der gerade angerufen hat«, sagte Emily in Gedanken versunken. »Und es klang, als würde er um meine Hand anhalten.«

Der Taxifahrer murmelte etwas. Er war sich nicht sicher, ob sie mit ihm sprach.

Das Auto fuhr zum Linnéplatz hinunter.

Schon bald würden die Bäume im Botanischen Garten ausschlagen. Emily beschloss, jetzt nicht an Christer zu denken. Es dröhnte schon genug in ihrem Kopf. In diesem Jahr wollte sie zur Stelle sein, wenn der exotische Taschentuchbaum mit seinen Tausenden von winkenden weißen Taschentüchern blühte. Als sie klein war, war sie jedes Jahr mit ihrem Vater zum Vogelsee Hornborgasjön gefahren, um dort die Kraniche tanzen zu sehen. Sie hatte die Vögel mit ihrem geraden Rücken so gerne betrachtet, vor allem die ungefähr dreißig, die als Erstes kamen, um zu nisten und den ganzen Sommer zu bleiben. Die anderen kamen später, tanzten eine Weile und zogen dann wie eine reisende Theatertruppe weiter.

»Der Tanz dient dazu, dass Herr und Frau Kranich ihren Rhythmus finden. Ein Kranichpaar bleibt das ganze Leben zusammen, Emily. Stell dir vor.«

Sie musste aufhören, an ihren Papa zu denken.

Der Schnee war weg, und im Schlossgarten konnte man schwarze Beete in ordentlichen Winkeln und Wegen erkennen.

Der Taxifahrer warf ihr im Rückspiegel einen langen Blick zu. Schicke Frau. Riesig. Er selbst lebte mit einem Mädchen von den Philippinen zusammen.

Als das Taxi in die Övre Husargatan einbog, begann Emily zu schwitzen. Sie war sich eigentlich nicht sicher, ob sie schon so weit war, Zerstörung und Tod des Zuckerkuchens anzusehen. Sie schaute sich um, als würde sie diese Stadt zum ersten Mal besuchen.

Ein Mädchen warf eine Videokassette in einen Kasten, ein älterer Mann in weißem Hemd und schwarzer Weste fegte vor dem Gyllene Prag Kies weg. Vor dem französischen Café saßen die Leute in Decken gewickelt und tranken Kaffee. In einiger Entfernung konnte man die Einmündung der Skolgatan auf den Skanstorget sehen. Sie fragte sich, welchen Weg der Fahrer wohl nehmen würde. Plötzlich wehte der Brandgeruch durch das offene Fenster und biss ihr in die Nase.

»Halten Sie hier an!«

Der Fahrer fuhr vor dem Kino rechts ran. Emily bezahlte, nahm ihren Rucksack und ging mit klopfendem Herzen über den kleinen Platz.

Der Anblick, der sich ihr bot, war nicht schön: Schmutz, Wasser, Rauch und das Skelett eines Hauses. Sie lehnte sich an ein Schaufenster, hinter dem gebrauchte Kleider zu sehen waren, und kämpfte gegen die Tränen an. Mehrere Male musste sie schlucken.

»Aber ein Lebenswerk ist es schließlich noch nicht«, sagte sie laut und streng zu sich selbst. »Ich habe das Café ja nicht einmal ein halbes Jahr lang gehabt.«

Sie machte auf dem Absatz kehrt, durchquerte ein paar Innenhöfe und kam vor der Journalistenhochschule in Vasastan raus.

Zeitungen, dachte sie bei sich. Ich habe ja noch nicht einmal eine Zeitung gesehen. Es müssen ja Extraausgaben mit massenhaft Details über den Brand gekommen sein. Aber erst denken. Ich muss denken.

Die Studenten, die in der Allee mitten auf der Vasagatan saßen und mit und ohne Fahrrad und Rucksack viel Platz brauchten, würdigten sie keines Blickes, obwohl sie halblaut mit sich selbst redete.

»Ich muss hier weg«, murmelte sie. »Hier weg.«

»Man kann vor sich selbst nicht fliehen«, hörte sie eine Stimme sagen. Sie wusste nicht, ob die von außen oder von innen zu ihr sprach. In ihrer Nähe konnte sie nur einen frei laufenden Schäferhund entdecken, der sie mit schräg gehaltenem Kopf ansah und mit dem Schwanz wedelte.

Emily drehte sich um und ging zur Haga Nygata.

Das war kein gemütlicher Geruch von Feuer, keiner, den man verspürt, wenn man am Osterabend in Bohuslän um die Flammen aus aufgeschichteten alten Weihnachtsbäumen herumsteht. Das hier war eine fette, ölige und feuchte Schicht, die sich wie eine Glocke über Haga gelegt hatte.

Als sie sich dem Haus von Osten her näherte, sah sie nur Zerstörung. Direkt an ihrem Schaufenster, wo vor kurzem noch neue karierte Gardinen hingen und in das sie eine Schale mit frischen Zimtschnecken gestellt hatte, stand ein Feuerwehrauto. Nicht einmal die Fensterscheibe war noch da. Die Etage darüber, in der sie ihre kleine Wohnung gehabt hatte, war völlig ausgebrannt. Die oberste Etage schien intakt zu sein, doch alles sah ganz schrecklich aus, und auf dem Bürgersteig standen massenhaft Leute und glotzten.

Warum war sie hergekommen? Wenn die Polizei oder die Versicherung sie erreichen wollte, dann gab es doch Telefone. Ihr wurde ganz schwindelig.

Plötzlich gaben die Beine unter ihr nach, und Emily konnte gerade noch denken, dass sie nun in Ohnmacht fiel, ehe sie in Ohnmacht fiel.

»Nur ein paar Sekunden, meine Gute«, sagte eine freundliche junge Männerstimme. Eine Stimme voller Wärme. »Sie waren nur ein paar Sekunden weg.«

Sie saß auf einer Bank vor dem Fahrradladen, neben sich einen Feuerwehrmann. Sie sah ihn erstaunt an. Er musste riesengroß sein.

»Dann ist es also Ihr Café gewesen, das da in Rauch aufgegangen ist. Sie sind Emily, nicht wahr?«

Er hatte struppiges rotes Haar und blasse Haut unter dem Helm. Und er hatte einen roten Schnurrbart, was Emily lustig fand. Sie konnte sich aber nicht erinnern, warum. Vielleicht wegen irgendeines Kinderliedes. Kommissar Larsen mit dem breiten Schnurrbart? Ihr war immer noch schwindelig.

»Ich habe Männer mit Schnurrbart nie leiden mögen«, sagte sie. »Aber dich mag ich.«

Sie lehnte sich an ihn. Er war groß und muskulös und hatte runde blaue Augen und helle Sommersprossen.

»Das ist gut«, sagte er. »Auf einen Feuerwehrmann kann man sich immer verlassen.«

Sie konnte hören, dass er aus Stockholm stammte, hatte aber keine Kraft, darauf hinzuweisen. Normalerweise hätte sie nie eine Gelegenheit verstreichen lassen, zu zeigen, wie aufmerksam sie war, aber jetzt war es ihr nicht möglich. Sie fühlte sich, als würde sie siebenhundertfünfzig Kilo wiegen und hätte keine Knochen mehr. Irgendein frecher Lümmel im Krankenhaus musste sie für zukünftige Forschungszwecke entwendet haben, und jetzt bestand ihr Körper nur noch aus einer weichen rosa Masse. Ein gigantischer Wackelpudding. Der Kopf tat ihr weh.

Der Feuerwehrmann lächelte Emily an, und sie fragte sich dabei, ob sie ihm schon einmal begegnet war. Er trug eine dicke schwarze Jacke und roch nach Rauch.

Dann reichte er ihr ein Glas Wasser.

»Der Tabakhändler hat gesagt, dass Sie in der Wohnung darüber gewohnt haben?«

Sie nickte. Es tat weh.

»Zum Glück war niemand zu Hause. Wir haben einen alten Mann aus der Wohnung über Ihnen geholt, aber er sagte, er wisse, dass Sie verreist seien.«

Emily nickte vorsichtig.

»Haben Sie allein da gewohnt?«

»Ja.«

»Wir waren ein wenig beunruhigt, als wir die Wohnung durchsucht und die Wände getestet haben, denn wir haben eine Puppenstube gefunden, die offenbar auch benutzt wurde, oder wie immer man dazu sagt. Da hatten wir Angst, dass noch kleine Kinder im Haus sein könnten.«

Emily schüttelte den Kopf. Das tat richtig weh.

»Meine Tochter ist erwachsen. Sie ist in Afrika.«

Er lachte.

»Und da hat sie vergessen, das Puppenhaus mitzunehmen, oder wie?«

Er zog seine Handschuhe aus. Die Hände waren mit Sommersprossen bedeckt und jung, mit langen, schmalen Fingern.

»Haben Sie das Puppenhaus gerettet? Wo ist es?«

»Nein. Keine Chance. Hätten Sie das gewollt? Ist es vielleicht eine Erinnerung an die Zeit, als Sie selbst klein waren?«

»Nein, ist schon in Ordnung, dass es verbrannt ist.«

»Verbrannt ist es nicht, aber es ist total kaputt. Im Haus sind unglaublich viel Wasser und Rauch, das sehen Sie, wenn Sie da mal hochschauen.«

Sie folgte seinem Blick.

Emily fragte sich, wo sie nun wohnen sollte und ob die Puppen aus dem Puppenhaus wohl tot waren. Um die Beerdigung musste sie sich auf jeden Fall selbst kümmern. Sie hatte vom Tod ihres Vaters noch genug frische Erinnerungen an Psalmen, Dankeskarten und die Haushaltsauflösung.

Der Feuerwehrmann sah sie fragend an und rückte an der Axt, die er am Gürtel trug.

»Hast du was gesagt?«

»Das Feuer muss in Ihrem Café ausgebrochen sein. Könnte es sein, dass Sie den Ofen oder so etwas vergessen haben, Emily?«

Sie lächelte ihn an.

»Wie fürsorglich du bist. Nein, ich vergesse niemals etwas und verliere auch niemals etwas. Meine Fehler und Schwächen hegen anderswo.«

Der Feuerwehrmann lachte. Emily würde am liebsten für den Rest ihres Lebens neben ihm sitzen.

»Wie heißt du?«

»Ich heiße Odd.«

»Odd. Hallo, Odd. Du hast einen schönen Namen. Bist du aus Norwegen?«

»Emily und Odd«, sagte er. »Das klingt schön. Wie ein Gesang.«

Sie musste ihm beipflichten.

»Aber als ich Feuerwehrmann in Farsta war, wurde ich die Wühlmaus genannt. Nun habe ich gerade eben erst in Göteborg angefangen, und hier nennen mich auch schon einige Wühlmaus.«

»Das ist vielleicht nicht ganz so schön. Emily und die Wühlmaus. Du siehst gar nicht aus wie eine Wühlmaus. Eher wie ein Fuchs.«

»Und du siehst aus wie ein riesiges Huhn. Wenn ich dich nun auffresse?«

Sie lächelten sich an. Es warteten tausend Geheimnisse.

Wie alt mochte er wohl sein? Höchstens fünfunddreißig. Sie musste sich zusammenreißen.

»Ich muss nach Saltön fahren«, sagte sie. »Da habe ich früher gewohnt. Und mein Vater wohnte dort. Und früher auch mal meine Mutter. Und mein Exmann. Und meine Tochter. Da muss ich jetzt hinfahren.«

»Saltön in Bohuslän?«

Sie verdrehte die Augen. Das tat nicht weh.

»Es gibt in Bohuslän mindestens fünf Saltön. Und hundert in Schweden.«

»Und im Weltall?«

Was für ein ungewöhnlich netter Mensch.

»Ich bin noch nie auf Saltön gewesen«, sagte er, »aber ich war schon ein paar Mal drauf und dran, hinzufahren. Meine einzige Verwandtschaft wohnt dort. Aber wir sind uns noch nie begegnet.«

»Eine Cousine?«

»Nein, der Cousin meines Vaters. Du hast keine Rivalinnen auf Saltön.«

»Du spinnst ja. Wie heißt er denn, der Cousin deines Vaters?«

»Jetzt versuch nicht, mir weiszumachen, du würdest alle Menschen auf Saltön kennen.«

»Man merkt, dass du noch nie da warst.«

»Okay. Er heißt Knappe. Ich glaube, er hat eine Kneipe. Ich habe ihm im Januar geschrieben, aber er hat nicht geantwortet, obwohl er weiß, dass er mein einziger noch lebender Verwandter ist.«

Sie stand auf, aber er war schneller. Er war einen Kopf größer als sie, mindestens einsfünfundneunzig. Emily streckte ihm die Hand entgegen, und Odd schaute darauf.

Dann schlang er die Arme um sie, hielt sie ganz fest und ließ sie ebenso plötzlich wieder los.

»Gib mir deine Handynummer, Emily«, bat er.

Sie gehorchte verwirrt, nahm das Telefon aus dem Rucksack und gab es ihm.

Odd lachte.

»Nein, Emily. Nur die Nummer.«

Er holte Papier und Stift aus seiner Jacke und schrieb sie auf.

»Rufst du auch ganz bestimmt an?« – Was machte sie da eigentlich?

Er nickte und strich ihr mit einem sommersprossigen Finger, auf dem kleine goldgelbe Härchen wuchsen, über die Wange und kehrte dann zu den anderen Feuerwehrleuten zurück. Die gingen gerade im Haus umher und testeten die Wände.

Emily warf einen letzten Blick auf den Zuckerkuchen. Es war ihr schon fast egal. Aber natürlich war es ihr nicht egal. Hatte sie denn völlig den Verstand verloren? Das Problem war, dass sie sich nicht erinnern konnte, wie es drinnen ausgesehen hatte, obwohl sie tagein, tagaus darin gelebt und gearbeitet hatte. Wie viele Tische gab es, welche Farbe hatten die Tischtücher? Wo hatte der Ofen gestanden, oder hatte sie alles in der Mikrowelle gebacken? Hatte es in der Küche Gardinen gegeben? Wenn ja, welche Farbe hatten sie? Wahrscheinlich rauchfarben. Oder kohlrabenschwarz.

Sie winkte sich ein Taxi heran. Ihr Herz pochte, und der Kopf schmerzte.

»Bitte zum Hauptbahnhof.«

Kapitel 4

Emily schlief im Zug tief und fest. Als sie aufwachte, fiel ihr erst gar nicht ein, was mit dem Zuckerkuchen geschehen war. Aber an Odd erinnerte sie sich. Sie stieg an der Endstation des Zuges am Bahnhof von Saltön aus und fühlte sich seltsam ausgeruht und frisch.

Der Frühling lag in der Luft, die Wellen schlugen leise an die Kaimauer. Obwohl Emily zur Stadt hinaufgehen wollte, trugen ihre Füße sie zu den Klippen und dem Meer.

Auf den Wegen waren gefrorene Fußspuren im Eis zu erkennen. Emily fragte sich, welche davon sie wohl wieder erkennen würde. Vielleicht die von ihrem Exmann Blomgren, denn er war einer der wenigen, der immer noch seine Schuhe besohlen ließ. Die Schuhmacher wollen auch leben, Emily. Hast du noch nicht bemerkt, dass die Schuhmacher heutzutage schon Reißverschlüsse in Jacken einarbeiten müssen? Und Nieten ins Leder? Das ist bitter.

Christers Fußabdrücke würde sie leicht wieder erkennen, denn sie waren die größten in der Stadt. Gleich danach kamen wohl ihre eigenen.

Sie schaute nach oben. Der Raureif auf dem Kirchturm war so dünn, dass man ihn wegfließen sah. Eine Möwe flog in weiten Schwüngen um den Turm, als würde sie nach etwas suchen, das sie verloren hatte. Das Meer war grau und trübe, aber so ruhig, dass man darauf spazieren könnte, wenn man ein Wasserläufer wäre. Am Horizont balancierten die kleinen Inseln. Nur in der Riesenkasserolle, der vom Touristenbüro umhegten Sehenswürdigkeit, lag immer noch dick und sahneweiß das Eis.

Ein eifriger alter Mann versuchte, den gefrorenen Sand auf der Boulebahn zu harken. Das Osterfeuer am Strand bestand bislang erst aus vierzehn abgenadelten Weihnachtsbäumen und einem struppigen Wacholderbusch. Zwei Krähen hackten im gelben Gras herum. Jetzt brauchte man nur ein einziges Streichholz. Emily musste wieder an Odd denken.

Die Büste des alten Månsson war mit Grünspan bedeckt, und das versteinerte Profil starrte über das Meer. Wer würde das Denkmal jetzt polieren? Ob sich Lizette darum kümmerte, jetzt, wo die Witwe des alten Månsson tot war? Magdalena Månsson hatte die Putzlumpen ein für alle Mal in den Schrank gelegt und neben Emilys Vater ihre ewige Ruhe gefunden.

Emily hatte noch nicht einmal entschieden, ob sie erst zum Haus des Doktors oder direkt zu Christers Wohnung gehen würde. Oder vielleicht nach Hause zu Blomgren. Mit einem Mal konnte sie sich nicht mehr erinnern, warum sie so böse auf ihn war. Sie fragte sich, ob Johanna dort eingezogen war und jetzt am Fenster stand und mit ihren durchdringenden Augen nach draußen starrte. Ja, diese ganze Person war irgendwie durchdringend.

Emily hatte wirklich kein schweres Gepäck – nur den Rucksack, den sie auf der Fahrt nach Dänemark dabeigehabt hatte. Die Kleider mussten gewaschen werden. Sie hatte es nicht geschafft, sich in Göteborg neue zu kaufen.

Sie war schon auf der Höhe von MacFies Haus, als sie beschloss, hinaufzugehen und zwischen ihren alten Zelten im Schrank von Blomgrens Gartenhaus nach etwas Passendem zu suchen.

In MacFies Garten stand eine große, schlanke Frau in einem knöchellangen, schwarzen Kleid und hängte Wäsche auf eine Leine, die zwischen Hühnerhaus und Holzschuppen gespannt war. Sie unterbrach ihre Arbeit, als sie Emily sah.

»Emily, ich hab dich erst gar nicht erkannt. Es tut mir so Leid für dich, dass dein Vater gestorben und dein Café abgebrannt ist.«

Emily starrte sie an.

»Wir kennen uns doch kaum. Wie kannst du das alles wissen?«

Sara lächelte etwas schief.

»Wie lange warst du denn nicht in diesem Tratschloch? Hier weiß man doch alles schon, bevor es überhaupt passiert ist. Das habe ich inzwischen gelernt.«

Von den Bienenkörben her kam MacFie, ging zum Zaun und streckte Emily seine knochige Hand entgegen. Nach einigem Zögern strich er ihr über die Schulter.

»Tut mir Leid, Emily, aber zumindest war er glücklich.«

Emily nickte und kämpfte mit den Tränen.

»Und dann ist mir auch noch das Haus abgebrannt«, sagte sie. »Das ganze verdammte Café.«

MacFie zuckte mit den Schultern.

»Das ist doch nur ein Haus. Das ist doch nichts Wichtiges. Um deinen Papa musst du trauern, aber nicht um irgendein verdammtes Café.«

»Und was würdest du machen, wenn dein Haus abbrennen würde?«, murmelte Emily.

Sara, die auch zum Zaun gekommen war und MacFie fest und besitzergreifend umarmte, lachte laut.

»Gar nichts. Wir werden nach Paris ziehen.«

MacFies Augen leuchteten. Emily hatte ihn noch nie so glücklich gesehen.

»Und das Haus, werdet ihr das verkaufen?«

In ihrer Stimme klang etwas Hoffnung mit.

Jetzt war MacFie an der Reihe, sein heiseres, raues Lachen hören zu lassen.

»Vergiss es, Emily. Eine Prinzessin kann nicht ohne Elektrizität leben.«

»Prinzessin?« Sara rümpfte die Nase.

»Ja, der Doktor hat sein kleines Mädchen immer Prinzessin genannt.«

»Das hatte ich ganz vergessen«, sagte Emily.

Plötzlich konnte sie es nicht mehr aushalten, murmelte ein »Auf Wiedersehen« und ging in Richtung Stadt.

Auf dem Weg begegnete ihr ein Mann in einer Pelzjacke, den sie nicht kannte. Die Boote lagen mit ihren blauen und schwarzen Kielen nach oben am Strand, im Wasser brachen sich die Wellen über einem Grund, den man im Sommer nie sehen konnte. Unter dem Regattaturm lagen Raketenstöckchen verstreut, und eine in der Neujahrsnacht zerschlagene Scheibe war durch ein Holzbrett ersetzt worden.

Emily bog vom Weg ab und schwang die Arme.

»Seltsam«, sagte sie. »Odd. Seltsam. Odd.«

Als sie zu ihrem Haus kam, erkannte sie den Briefkasten nicht wieder. Sie konnte sich nicht erinnern, welche Farbe er gehabt hatte, aber auf keinen Fall diese hier. Sie klappte den Deckel hoch, aber der Kasten war leer. Umso besser. Das Tor quietschte nicht, und die Haustür war verschlossen. Sie nahm ihr Schlüsselbund aus der Tasche und versuchte, den langen Schlüssel in das Sicherheitsschloss zu stecken. Er passte nicht.

Emily seufzte. Also musste sie zum Tabakladen gehen und mit Blomgren reden. Sie schüttelte den Kopf. Wann konnte man sich auf seinen Ehemann schon mal verlassen.

Sie ging zum Holzschuppen und tastete auf der Leiste oberhalb der Tür entlang, aber der Ersatzschlüssel war auch weg.