Eddie und die beste Freundin der Welt - Viveca Lärn - E-Book

Eddie und die beste Freundin der Welt E-Book

Viveca Lärn

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Beschreibung

Eddie verbringt den Sommer bei seiner Tante Ann-Sofie am Meer. Doch zuerst muss er ganz alleine mit dem Bus zu ihr fahren. Eigentlich wäre er lieber zu Hause geblieben und hätte am Bach gespielt, denn im Meer gibt es riesige Quallen, vor denen er sich mehr fürchtet als vor Haien oder U-Booten. Doch dann lernt er Johanna kennen. Johanna ist siebeneinhalb, hat eine Zahnlücke und große braune Augen und wohnt in einem blauen Haus. Außerdem kann sie schon schwimmen und scheint vor nichts Angst zu haben. Biografische AnmerkungViveca Lärn wurde 1944 als Tochter des Journalisten und Zeichners Hubert Lärn in Göteborg geboren. Nach einer Karriere als Journalistin bei verschiedenen schwedischen Zeitungen beschloss sie im Jahr 1983, sich vollständig dem Schreiben von Büchern zu widmen. Seit ihrem ersten Kinderbuch aus dem Jahr 1975 hat sie insgesamt 40 Kinderbücher veröffentlicht. Berühmt wurde sie vor allem durch die Mimmi-Buchserie, die mit dem Buch "Mimmi und das Monster im Schrank" eingeleitet wurde. Viveca Lärn wurde mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Astrid Lindgren-Preis, die Nils Holgersson-Plakette und Expressens Heffaklumb.-

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Viveca Lärn

Eddie und die beste Freundin der Welt

Deutsch von Angelika Kutsch

Zeichnungen von Eva Eriksson

Saga

Eddie macht eine Busreise

Ich bin ein echter Busreisender. Niemand kann mich rausschmeißen, dachte Eddie und fühlte in seiner Jackentasche nach. Da lag die Fahrkarte, wo sie hingehörte. Und sie war der Beweis, dass er ein echter Busreisender war. Es ist noch gar nicht lange her, da hat Arne ihn zum Busbahnhof in Göteborg gebracht. Als sie dort ankamen, war der Platz voller Busse, vielleicht fünfunddreißig Stück, und auf dem schmutzigsten Bus stand Lysekil-Express. Der gefiel Eddie am besten, und mit dem sollte er fahren. Auf dem Schild stand 840.

Eddie sah sich vorsichtig um. Wo waren die anderen 839 Busse geblieben, das musste man sich wirklich fragen. Hoffentlich waren sie nicht geradewegs ins Meer gefahren.

Arne hatte Eddie eine kleine Papiertüte aus weichem weißen Papier gegeben. Das war keine Spucktüte für den Fall, dass es Eddie schlecht wurde, oder für irgendwas anderes Dummes, nein, sie war fast bis oben hin mit Süßigkeiten gefüllt, Gummibärchen, Lakritzschnecken und Pfefferminzbonbons. Und das war nicht das einzige Gepäck, das Eddie dabeihatte. Da war auch noch sein Rucksack. In dem lagen zwei T-Shirts, ein bisschen Unterwäsche, eine Taschenlampe, eine leere Schnupftabakdose, der Sultanol-Spray gegen sein Asthma, ein Donald-Duck-Heft von 1993 und das Schraubglas mit der Wasserschildkröte Maxon Jonsson. Eddie hatte Löcher in den Deckel gebohrt, damit Maxon Jonsson während der Reise Luft kriegte.

Arne kümmerte sich um alles für Eddie im Bus. Er ging hin und her und musterte kritisch jeden Platz in dem leeren Bus. Zuerst inspizierte er die Plätze gleich hinterm Busfahrer, schien aber nicht ganz zufrieden zu sein.

«Gute Lüftung! An und für sich ganz gut für Allergiker», sagte er. «Aber zu unruhig. Das kann ja richtig gefährlich werden. Stell dir mal vor, da kommt eine Horde Tanten durch die Vordertür reingestürmt und legt sich sofort mit dem erstbesten Fahrgast an. Und das bist du! Vielleicht haben sie sogar rot karierte Einkaufswagen dabei, mit denen sie zuschlagen können. Und es können noch viel schlimmere Sachen passieren. Falls der Busfahrer ohnmächtig wird und überm Lenkrad zusammensackt – dann musst du eingreifen und fahren, Eddie!»

«Wa-, wa-, was», sagte Eddie und seine Unterlippe begann zu zittern. «Ich kann doch keinen Bus fahren. Ich bin doch erst sieben Jahre alt.»

«Gerade deswegen sollst du ja auch nicht hier sitzen. Dafür sorg ich schon», sagte Arne zufrieden. «Da hast du Glück.»

Sie bahnten sich einen Weg durch den fast unheimlich leeren und stillen Bus. Es war nicht mal richtig hell da drinnen, nein, es war schummrig und es roch nach alten Bananen.

Als sie zum ersten Platz hinter der Mitteltür kamen, leuchtete Arnes Gesicht auf.

«Der ist gut», sagte er. «Hier hast du genügend Platz für die Beine und brauchst dich nicht wie eine Ziehharmonika zusammenzufalten.»

Eddie guckte auf seine kurzen Beine runter. Die Jeans waren fast sauber.

«Das wird prima, Harne», sagte er begeistert. «Hier setz ich mich hin. Hier hab ich genügend Platz für die Beine und muss sie nicht wie eine Ziehharmonika zusammenfalten.»

«Ich heiß Arne», sagte Arne, aber seine Stimme klang nicht böse.

«Genau», antwortete Eddie. «Jetzt fällt’s mir wieder ein.»

Bewundernd guckte er seinen großen Bruder an. Arnes runde Brillengläser waren ganz frisch geputzt und blank. Das waren sie meistens. Weil Arne sich nichts entgehen lassen wollte. Er wusste tatsächlich fast alles, obwohl er doch erst zehn Jahre alt war. Zum Beispiel, wie Zentralschlösser funktionieren. Eddie wäre froh gewesen, wenn Arne im selben Bus wie er mit nach Lysekil gefahren wäre. Aber das wagte er nicht laut zu sagen. Das hätte Arne nicht gefallen.

«Und außerdem sprichst du nicht mit fremden Leuten», schärfte Arne ihm mit strenger Stimme ein. «Fremde Leute wollen dir bloß Kokain aufschwatzen.»

«Ih. Dann nehm ich aber nur ein kleines Stück. Was ist das übrigens?», fragte Eddie. Er fand, es klang irgendwie lecker. Coca-Cola mochte er sehr gern. Von Kokain bekam man wahrscheinlich noch mehr Nasenkribbeln.

Arne seufzte. «Das ist Rauschgift! Weißt du denn gar nichts vom Leben?»

Er fasste nach Eddies Handgelenk. Dort saß ordentlich befestigt Arnes eigene Swatch-Armbanduhr mit Tigerband aus Kunststoff. Plötzlich bereute er es, dass er sie verliehen hatte.

«Pass bloß gut auf meine Tiger-clock auf», sagte er. Er sprach es englisch aus. Teiger-clock sagte er. «Kannst du denn jetzt die Uhr?»

«O ja», sagte Eddie. «Zehn nach neun.»

«Das war es, als wir von zu Hause losgefahren sind, Blödmann», sagte Arne gereizt. «Es ist sinnlos, dass ich dir meine Uhr leihe, wenn du sie doch nicht kannst, das ist dir ja wohl klar. Dann ist es besser, ich trage sie selbst.»

«Aber ich kann die Uhr, Arne», sagte Eddie eifrig. «Frag mich mal, wie spät es ist.»

«Das hab ich grad getan, und da hast du gesagt, es ist zehn nach neun, Blödmann. Das war es doch vor einer Stunde.»

«Ich hab vergessen, dass wir jetzt Winterzeit haben», sagte Eddie listig und beide fingen an zu lachen. Eddie zog die Jackenärmel bis über die Hände, damit Arne seine Uhr vergaß.

In dem Augenblick kam der Busfahrer. Er sah die Jungen nicht einmal an, sondern zog seine Jacke aus, die er an einen Haken in der Fahrerecke hängte. Dann öffnete er seine Fahrkartentasche und holte eine magnetische Karte hervor, die er in dem grünen Fahrkartenapparat stempelte.

«Hast du das gesehen?», fragte Arne. «Der arme Fahrer, der muss auch bezahlen, obwohl er den Bus fährt.»

Der Fahrer hatte fettige Haare und ernste blaue Augen. Er guckte in den Rückspiegel, stellte das Radio ein und dann startete er den Motor.

«Hilfe», flüsterte Eddie. «Jetzt fährt er los, du musst aussteigen, Harne, tu’s nicht!»

Arne presste die Lippen zusammen. Er wünschte, der Bus nach Lysekil wäre kleiner. Eddie sah in diesem hier so winzig aus.

Seine Brillengläser beschlugen. Er versetzte Eddie einen Stoß gegen die Schulter, sodass Eddie auf den Sitz plumpste.

«Tschau, Eddie!», sagte er.

Eddie blinzelte und schluckte.

«Tschau, Arne», flüsterte er.

Arne sprang bei der Mitteltür hinaus und blieb mit den Händen in den Taschen an der Haltestelle stehen. Als der Bus anfuhr, gab er Eddie ein Zeichen, indem er den Kopf ein wenig zurückwarf, und lächelte lieb mit seinen neuen, großen, schiefen Zähnen. Er stellte den Schirm seiner Mütze aufrecht.

Eddie versuchte, auch ein bisschen zu lächeln. Anstelle von Schneidezähnen hatte er eine Lücke und er hatte keine Schirmmütze. Er winkte Arne mit beiden Händen und fühlte, wie es sich in seinem Bauch komisch zusammenkrampfte, als ob er tausend runtergefallene Pflaumen gegessen hätte.

Der Bus rollte davon. Eddie presste das Gesicht gegen die Fensterscheibe. Die war ganz kalt. Er konnte in die Autos runtergucken. In einem Rückfenster sah er einen flauschigen Hund mit großen Ohren. Eddie seufzte ein bisschen. Er durfte nicht mit Hunden zusammenkommen. Nicht mit einem einzigen. Dann kriegte er Asthma.

Ein bisschen wurde er auch deswegen nach Lysekil geschickt. Dort sollte er ein paar Herbsttage verbringen. Sein Papa Lennart hatte sich in den Kopf gesetzt, dass Meeresluft gut für Eddie wäre. Er selber würde achtundzwanzig Tage in ein Heim gehen, wo er «trocken» werden sollte. Das heißt, er sollte lernen, keinen Alkohol mehr zu trinken. Und Arne? Ja, der musste ausgerechnet heute zum Zahnarzt, weil er eine Zahnspange kriegte. Später würde er mit einem anderen Bus nach Lysekil hinterherkommen.

Was für ein Durcheinander! Eddie seufzte wieder. Wenn er selbst hätte entscheiden dürfen, wäre er zu Hause an seinem kleinen Bach geblieben. Dort wusste er, wie alles war. Und nachts hätte er in seinem eigenen Bett gelegen und den Lichtschein betrachtet, der immer dann über die Zimmerdecke wanderte, wenn unten auf der Landstraße ein Auto vorbeifuhr. Das war Geborgenheit. Nicht irgendeine fremde, schreckliche Stadt am großen, kalten, tiefen Meer.

«Bei meiner Schwester geht’s euch gut», hatte Lennart zufrieden gesagt. «Atme ordentlich durch, Eddie, wenn du schon mal am Meer bist. Das ist gut für dich.»

Eddie baumelte mit den Beinen. Er überlegte, wie alt man werden musste, bis sie zum Fußboden reichten. Wenn seine Tante ihn nun mal nicht abholen kam! Das sähe ihr richtig ähnlich. Sie hatte so eine kreischige Stimme und eine wütende Stirn.

«Ach, Eddie, hätte ich ihn abholen sollen? Wie sollte ich mir das merken – ich hab doch so viel zu tun. Ich muss Weißwäsche waschen und Buntwäsche und die Spüle putzen und noch so einiges. Wer ist das übrigens – Eddie?»

Lennarts ältere Schwester Ann-Sofie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit ihrem kleinen Bruder. Wenn Lennart nüchtern war und ein kariertes Hemd trug, sah er fast wie Elvis Presley aus. Ann-Sofie sah eher aus wie ein japanischer Ringkämpfer oder wie eine der Frauen bei der Essensausgabe in der Schule. Und außerdem hatte sie vier riesige erwachsene Kinder, die alle einen Ring im Ohr trugen. Aber die waren von zu Hause ausgezogen, zum Glück. Eddie wurde fast ein bisschen wütend, als er daran dachte, dass Ann-Sofie vergessen könnte, ihn vom Bus abzuholen, wenn er ankam. Stand wahrscheinlich zu Hause und briet Fisch oder legte ein Riesenpuzzle, so ein ganz langweiliges, das hundertsechzehn Schwäne zeigte, die zwischen Eisschollen herumschwimmen. Oder sie blätterte in einem Versandhauskatalog mit der neuesten Damenunterwäsche und melierten Herrenunterhemden.

Der Bus fuhr über die Brücke über den Göta-Fluss und Eddie schaute zur Hafeneinfahrt hinüber. Die Herbstluft war klar und kalt, er konnte also ganz weit sehen. Warum durfte er nicht hier in Göteborg bleiben? Hier gab es doch reichlich Meeresluft? Er sah sogar eine Möwe. Aber Quallen gab es in Göteborg genauso wie in Lysekil. Von allem Gefährlichen, was es im Meer gibt, sind Quallen das Gefährlichste. Das fand Eddie jedenfalls. Haie: kein Problem. U-Boote: auch leicht reinzulegen. Aber Quallen! Denen war nicht beizukommen. Die konnten unschuldige Menschen wer weiß wie lange verfolgen und sie verbrennen, sodass sie zwei Tage mit kühlen Umschlägen im Bett liegen mussten. Und vier Augen haben die. Wenn die Quallen müde werden, können sie mit zwei Augen schlafen und mit den anderen beiden Augen gucken und weiter Leute verfolgen. Und sobald sie einen Arm oder ein Bein erwischen, fangen sie an, mit ihren schrecklichen Fäden zu brennen, sodass die armen Menschen fast verbrennen. Als Eddie klein war, ist er selbst mal schwer verbrannt worden an den Armen und am Hals. Genau in Lysekil. Eine gefährliche Stadt. Mit Eddies Bach war das doch was anderes – da gab es nicht eine einzige Qualle.

Er hatte eine weite Reise vor sich und wusste nicht, wie er sich die Zeit vertreiben sollte. Er beschloss, schielen zu lernen. Arne konnte das prima. Ob Quallen wohl schielen können? Eddie wollte sie übertrumpfen. Er versuchte, auf seine Nase zu gucken. Das war der beste Trick. Aber man musste aufpassen (sagte Arne immer), dass der Wind nicht drehte und gleichzeitig der Hahn krähte, denn sonst schielt man bis in alle Ewigkeit. Eddie spürte keinen Wind und er sah auch keinen Hahn, Eddie konnte also intensiv trainieren. In Kungälv stieg eine einzige Person zu, eine griesgrämige Frau mit braunem Regenmantel und roter Baskenmütze.

Wo die sich wohl hinsetzt, dachte Eddie nervös und umklammerte die Fahrkarte in seiner Tasche. Genau wie er befürchtet hatte, war das eine Frau ohne Manieren. Sie kam den Mittelgang mit einem Haufen Tragetaschen in den Händen entlang und ließ sich auf den Sitz neben Eddie plumpsen. Er rutschte näher ans Fenster. Die Frau guckte ihn freundlich an und holte eine Banane hervor. Als sie sie geschält hatte und anfing zu essen, verließ der Bus die Haltestelle und fuhr weiter nach Norden. Da holte sie noch eine Banane heraus.

«Da ist eine Banane für dich», sagte die Frau zu Eddie.

«Iss nur, du siehst so mickrig aus. Und jetzt, wo der Wind von vorn bläst, müssen wir Menschen zusammenhalten.»

Eddie sah die Frau lange an. Dann streckte er einen Arm in die Luft und blieb so eine Weile sitzen.

«Ist was mit dir, Kind?», fragte die Frau besorgt.

«Aber wir haben doch keinen Wind von vorn», flüsterte Eddie. «Es bläst überhaupt kein Wind im Bus.»

Da lachte die Frau. «Nun iss mal, Kind, damit du groß und stark wirst.» Sie klopfte ihm auf die Schulter und dann sah sie geradeaus auf die Straße.

So sind sie wohl, die Leute aus Lysekil, dachte Eddie, während er die Banane aß. Die merken sogar im Bus, wenn draußen der Wind von vorn bläst.

Tante Ann-Sofie

Der Bus erreichte Lysekil und rollte langsam die Pier entlang, nah an den Schiffen, Eddie spähte übers Meer. Ob er hier noch Boden unter den Füßen hatte? In seinem Bach hatte er das. Wenn ihm etwas in seinen Bach fiel – und das passierte hin und wieder –, konnte er es fast immer wieder rausholen. Hier am Meer war vermutlich alles schlimmer. Eddie kontrollierte, dass Arnes Armbanduhr noch fest an seinem Arm saß. Er spürte förmlich Arnes festen Griff im Nacken, während er, Eddie, zu erklären versuchte, warum Arnes Armbanduhr auf dem Meeresboden lag. Eddie schluckte, dann fing er an zu lachen. Was sollte das eigentlich? Er hatte sie ja noch gar nicht verloren. Er tastete seinen Nacken ab. Keine packende Hand.

«Südhafen!», rief der Busfahrer und Eddie stieg schnell aus.

Ann-Sofie sah er sofort. Da stand sie und unterhielt sich mit einer anderen Frau, während sie den Bus anstarrte. Dann ließ sie die andere Frau stehen und kam auf Eddie zu. Sie schüttelte ihm etwas feierlich die Hand und sie sah freundlich aus, obwohl sie nicht lächelte.

«Da bist du ja», sagte sie. «Du siehst aus, als ob du was zu essen brauchtest. Hast du keinen Koffer?»

Eddie schüttelte den Kopf. Sie gingen über den Marktplatz. Am anderen Ende lag eine ziemlich große, verlockende Imbissbude. Aber leider duftete es nach nichts.

«Ist dein Papa jetzt in diesem Heim?», fragte Ann-Sofie.

Eddie nickte.

«Er soll lernen, nicht mehr zu trinken», sagte er. «Wenn er ganz trocken ist, kommt er nach Hause.»

«Das werden wir ja sehen», sagte Ann-Sofie und seufzte.

«Was siehst du?», fragte Eddie höflich.

«Na, eben das», fauchte Ann-Sofie.

Eddie lächelte ein bisschen unsicher. Sie kamen an einem Stand vorbei, an dem ein Mann frische Krabben verkaufte. Eddie guckte weg. Wenn der nun auch Quallen verkaufte! In Lysekil gab es bestimmt massenhaft Quallen. Vielleicht aßen die Leute ja anstelle von Käse oder Wurst Quallen als Brotbelag! Knäckebrot mit gebratener Qualle, das schmeckte wahrscheinlich nicht besonders gut.

«Dann sag ich einfach, ich bin Vegetarier», sagte Eddie entschlossen zu sich selbst.

«Was hast du gesagt?», fragte Ann-Sofie.

«Na, eben das», sagte Eddie.

Seine Tante ging mit sehr energischen Tantenschritten, sodass Eddie fast neben ihr herlaufen musste. Er wünschte, sie hätte ihn an die Hand genommen. Viele Tanten machten das, wenn sie mit einem Kind spazieren gingen. Kein Rowdy würde sich trauen, so eine zusammengeschweißte Gesellschaft auch nur anzugucken. Nicht mal die großen schrecklichen Jungen mit den kahl rasierten Köpfen und Sicherheitsnadeln in den Backen.

In dem Augenblick nahm Ann-Sofie ihn bei der Hand, und zwar ziemlich fest. Es war wunderbar, obwohl ihre Hand so groß und rissig war und ganz rot. Eddie war plötzlich sehr fröhlich und hatte Lust, zu pfeifen und zu schielen und auf einem Bein zu hüpfen.

«Was machst du?», fragte Ann-Sofie.

«Das», sagte Eddie und kicherte.

Ann-Sofies Mann hieß Malkolm und er saß oft auf dem Sofa. Das heißt auf der Bank in der Küche. Da saß er, weil er von dort so gut sehen konnte. Ja, eigentlich sah er den Fernseher und die Keksdose und die Wanduhr, aber vor allen Dingen sah er das Fenster. Und da Ann-Sofie so fleißig aufräumte und ihre Fenster oft putzte, konnte er auch richtig durch die Fenster hindurchsehen. Bei Eddie zu Hause konnte man das meistens nicht.

Von seinem Platz aus betrachtete Malkolm das Meer durchs Fenster. Oder die See, wie Malkolm sagte. Das ganze große Meer, das sich über den halben Erdball erstreckt, von der kleinen Stadt Lysekil bis zur Polizeischule in New York (das hatte Arne gesagt) – all das Wasser, viele Liter, nannte Malkolm die See.

So sind die meisten Leute in dieser Gegend, behauptete Eddies Papa. Ließen sich von nichts beeindrucken. Nennen das Meer die See. Man muss sich fragen, wie sie einen Bach nennen würden. Vielleicht eine kleine Wasserpfütze. Sehr komisch.

Eddie guckte aufs Meer. Er stellte sich vor, dass die Welle, die gerade gegen die Klippen bei Lysekil rollte, vielleicht vor drei Wochen in den USA gewesen war. Allein das. Diese Welle hatte vielleicht Michael Jackson baden gesehen, Maxon Jaxon, wie Eddie ihn nannte. Er schüttelte den Kopf. Die Sache mit dem Meer konnte er nicht begreifen. Und dann nennt Malkolm es die See!

Malkolm hatte kräftige Unterarme und dicke Hände mit Sommersprossen drauf. Er trug fast immer einen blauen Overall, und wenn er den auszog, konnte man sehen, dass M/S Gullan auf seinem T-Shirt stand. Das war übrigens sehr leicht zu lesen, das T-Shirt war nämlich ein bisschen zu klein für Malkolms breiten Brustkorb. Die Buchstaben waren also sehr breit und deutlich. Das Schiff, auf dem Malkolm arbeitete, hieß M/S Gullan. Gut, dass er so ein T-Shirt hatte. Dann wusste er doch jeden Morgen, wo er hingehen musste. Malkolm hatte rötliches Haar, ein bisschen dünn, und seine Gesichtshaut war ganz rot und aufgesprungen. Aber seine Augen waren hellblau und lieb. Malkolm redete nicht viel. Meistens guckte er aus dem Fenster. Wenn er was sagte, ging es fast nur ums Wetter. Er sagte, ob es sich ändern würde. Ob mehr Wolken aufziehen würden oder weniger. Ob der Wind zu- oder abnehmen würde. Klarere Sicht oder Nebel. Mehr Sonne oder weniger.

Arne nannte Malkolm «Wetterfrosch». Oh, Arne konnte so witzig sein. Eddie hatte Sehnsucht nach ihm. Er guckte auf seine Armbanduhr. Arnes Uhr. Ann-Sofie und Malkolm konnten sicher sehen, dass das eine Uhr war, die für einen größeren Jungen als Eddie bestimmt war.

«Setz dich zu Malkolm», sagte Ann-Sofie ungeduldig und zeigte auf die Küchenbank. «Steh nicht so rum.»

Eddie kapierte gar nichts. Er guckte auf seine nackten Füße, die auf einem Flickenteppich mitten in der Küche standen. Durfte man nicht einfach so rumstehen? Vielleicht musste man in Lysekil immer sitzen?

«Ja, komm und setz dich», sagte Malkolm freundlich.