Frühlingsgefühle in Briar Creek - Olivia Miles - E-Book

Frühlingsgefühle in Briar Creek E-Book

Olivia Miles

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Beschreibung

Small-Town-Romances für jede Jahreszeit: Willkommen in Briar Creek

Floristin Ivy Birch träumt davon, selbst einmal mit einem wunderschönen Strauß Rosen überrascht zu werden - am liebsten von ihrem heimlichen Schwarm Brett Hastings. Der attraktive Arzt geht ihr seit einem intensiven Kuss auf der Hochzeit ihrer besten Freundin nicht mehr aus dem Kopf. Und Ivy kann ihr Glück kaum fassen, als Brett schließlich nach Briar Creek zieht - aber leider nicht ihretwegen. Enttäuscht beschließt sie, Brett endlich zu vergessen. Dabei ist in einer Kleinstadt wie Briar Creek nichts schwerer, als sich aus dem Weg zu gehen ...

»Olivia Miles begeistert erneut mit einer leidenschaftlichen und emotionalen Romance, die euer Herz erobern wird!« GOODREADS

Dieser Roman ist ein Remake des in einer früheren Ausgabe bei LYX.digital erschienenen Titels Frühlingsgefühle in Briar Creek

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Seitenzahl: 484

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Inhalt

TitelZu diesem Buch12345678910111213141516171819202122232425262728EpilogDie AutorinDie Romane von Olivia Miles bei LYXImpressum

OLIVIA MILES

Frühlingsgefühle in Briar Creek

Roman

Ins Deutsche übertragenvon Yvonne Eglinger

Zu diesem Buch

Floristin Ivy Birch träumt davon, selbst einmal mit einem wunderschönen Strauß Rosen überrascht zu werden – am liebsten von ihrem heimlichen Schwarm Brett Hastings. Der attraktive Arzt geht ihr seit einem intensiven Kuss auf der Hochzeit ihrer besten Freundin nicht mehr aus dem Kopf. Und Ivy kann ihr Glück kaum fassen, als Brett schließlich nach Briar Creek zieht – aber leider nicht ihretwegen. Enttäuscht beschließt sie, Brett endlich zu vergessen. Dabei ist in einer Kleinstadt wie Briar Creek nichts schwerer, als sich aus dem Weg zu gehen …

1

Wenn Ivy Birch die Augen schloss, spürte sie noch immer die Süße von Brett Hastings Lippen auf ihrem Mund. Das Kribbeln im Bauch, als er sich zu ihr herabbeugte und sie begriff, dass ihr ewiger Schwarm sie nach jahrelangem Warten endlich, endlich küssen würde. Ihr Herzschlag setzte für eine Sekunde aus, als sie sich diese erste Berührung, so sanft, so lang ersehnt, in Erinnerung rief. Das Herz fing jedoch umso heftiger wieder an zu pochen, wenn sie daran dachte, wie er die Arme um sie gelegt und sie an seine starke Brust gezogen hatte, wie sein heißer Atem und die Hitze seines Körpers sie derart überwältigt hatten, dass ihr allein bei dem Gedanken immer noch schwindelig wurde. Oh, und sie dachte daran. Ziemlich oft sogar. Vermutlich öfter, als gut für sie war.

Die Klingel über ihrer Ladentür bimmelte und Ivy wurde aus ihren Tagträumen gerissen, öffnete die Augen und betrachtete blinzelnd die langstieligen Rosen, die sie noch immer in der Hand hielt. Vergeblich unternahm sie einen Versuch, in die Realität zurückzufinden und nicht länger diesem einen Augenblick nachzuhängen, der ebenso schnell vergangen war, wie er gekommen war. So schnell, dass sie sich manchmal leicht verwirrt fragte, ob sie ihn sich vielleicht nur eingebildet hatte. Sieben Monate waren seit diesem glückseligen Abend auf der Hochzeit ihrer besten Freundin Grace mit Bretts Cousin Luke vergangen. Sieben Monate, erfüllt von einer einzigen Erinnerung.

Sieben Monate, in denen sie sich besser immer wieder klargemacht hätte, dass diesem Kuss kein Anruf folgte, kein Strauß Rosen bei ihr eintraf, und keine Zukunftspläne geschmiedet wurden …

»Ähem!«

Ivy zuckte zusammen, wandte sich rasch um und knallte mit der Hüfte gegen einen ihrer hölzernen Präsentiertische, sodass eine Glasvase gefährlich zu schwanken begann. Doch bevor sie auf dem Boden zerspringen konnte, fing Ivy sie auf, beachtete das verschüttete Wasser nicht weiter und ordnete die Irisblüten neu. Sie unterdrückte einen Fluch, setzte stattdessen ein Lächeln auf und hoffte, dass ihre ungeduldige Kundin es erwidern würde.

Doch Mrs Griffin, die Inhaberin der Pension von Briar Creek, starrte sie nur ungnädig an und kniff den Mund noch ein wenig fester zusammen. »Ich dachte schon, Sie wären eingeschlafen«, schnaubte sie.

Ivy lachte leichthin und schüttelte den Kopf. Als Stammkundin im Petals an der Main Street kam Mrs Griffin mindestens zweimal die Woche vorbei, und so viel Treue musste natürlich belohnt werden. »Das wäre eine ganz schöne Leistung, finden Sie nicht? Ich war heute schon früh auf den Beinen.« Lange bevor das Petals morgens öffnete, hatte Ivy bereits allerhand zu tun, beschnitt Stiele, ging die Bestellungen durch, die über Nacht hereingekommen waren, und sorgte dafür, dass jede Pflanze im bestmöglichen Licht erschien.

»Bei mir beginnt der Tag um Punkt vier«, bemerkte Mrs Griffin. »Sieben Tage die Woche, und ich habe in all den Jahren nicht ein Mal verschlafen. Meine Gäste erwarten ein warmes Frühstück und eine Zeitung vor der Zimmertür, wenn sie aufwachen, und ich würde sie niemals enttäuschen wollen.« Sie sah Ivy scharf an.

Die unterdrückte ein Seufzen und lächelte stattdessen noch etwas mehr, auch wenn es ihr schwerfiel. Sie und Mrs Griffin hatten eines gemeinsam: Sie legten beide Wert auf perfekten Kundenservice, wie lästig das auch sein mochte. Ivy hatte zu viel Zeit und Energie in ihr Geschäft investiert, um jetzt alles den Bach runtergehen zu lassen. Und davon war sie gar nicht so weit entfernt, wenn man bedachte, dass sie heute Morgen ihre Blumenschere verlegt und geschlagene fünfunddreißig Minuten danach gesucht hatte (sie fand sie schließlich im kleinen Kühlschrank hinten im Lagerraum, peinlich) und dass sie es gestern Abend nur mit Mühe geschafft hatte, vor Geschäftsschluss neue Vasen zu bestellen. Und das alles, weil sie immerzu an Brett denken musste. Es war kindisch, das wusste sie, schließlich hatte der Mann sie lediglich geküsst. Das war ja nun kein Heiratsantrag.

Heirat. Ivys Herz machte schon wieder einen Satz. Allein die Vorstellung!

Ihre Augen wanderten zu einem wunderschönen Strauß Pfingstrosen in zarten Tönen von Hellrosa bis Apricot, und sie konnte die Stängel förmlich zwischen den Fingern spüren, wie sie den elfenbeinfarbenen Satin ihres Kleides streiften. Oder würde sie Spitze tragen? Lange Zeit hatte sie davon geträumt, wie vor dem Altar Brett auf sie wartete, doch schließlich hatte sie dieses Bild bitter enttäuscht aus ihrer Vorstellung verbannt. Zumindest so gut wie.

»Ähem!«

Ivy gab sich einen Ruck und spürte, wie ihr die Röte in die Wangen schoss, als sie ihre Kundin schuldbewusst ansah. »Tut mir leid«, murmelte sie. Okay, sie benahm sich einfach albern. Das konnte nicht ewig so weitergehen, es sei denn, sie wollte einsam und bankrott enden.

Mrs Griffin verschränkte langsam die Arme vor der Brust und ihre sonst so strengen Augen funkelten amüsiert. »Wenn ich es nicht besser wüsste, Ivy Birch, würde ich sagen, die Liebeskrankheit hat Sie am Ende doch noch erwischt.«

Ivy lachte bei dem Wort Liebeskrankheit kurz auf. »Ich war in Gedanken. Ich hab heute noch eine Menge vor«, erwiderte sie. Sie blickte erschrocken auf die Uhr. Wie die Zeit verging, wenn man sich amüsierte oder an Brett Hastings dachte. Dr. Brett Hastings. Dr. Brett Hastings und Ehefrau.

Das musste aufhören. Sofort. Als Nächstes würde sie noch ihr Notizheft mit seinem Namen vollkritzeln. Sie war dreißig, verdammt noch mal!

Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und stellte schnell ein paar Überlegungen an. Mrs Griffin ließ sich bei ihrer Auswahl gern Zeit, überlegte hin und her und erwog das aktuelle Angebot und mögliche Farbkombinationen. Sie wollte, dass der Strauß auf ihrem Empfangstisch sowohl elegant als auch unaufdringlich wirkte, und vor allem freundlich und einladend.

»Wie wäre es diese Woche mit Rosen?«, schlug Ivy vor.

»Nein, heute hatte ich an etwas Ausgefalleneres gedacht. Ich würde gern alle Alternativen in Ruhe durchgehen.« Mrs Griffin beugte sich hinab, um am blauen Rittersporn zu schnuppern. »Hm, so was hatte ich nicht gerade im Sinn. Freundlich und dezent, ja, aber nicht besonders –«

»Elegant.« Ivy wusste Bescheid. Sie durchquerte den Verkaufsraum und deutete auf einen ihrer Lieblingssträuße. »Gartenwicken sind ziemlich ungewöhnlich, man sieht sie nicht oft. Ihre Gäste werden positiv überrascht sein.«

Manchmal fragte sie sich, wo sie ihre Einfälle hernahm. Sie liebte ihre Arbeit, die einfache Freude, täglich von herrlichen, farbenprächtigen Blumen umgeben zu sein, die kreativen Freiheiten, die ihr das Zusammenstellen eines Straußes erlaubte. Was sie weniger gern mochte, waren unschlüssige Kunden. Bei all den Bräuten, die sie beriet, hatte sie weiß Gott genug von der Sorte, und in letzter Zeit schienen sich frisch Verlobte in Briar Creek auf unheimliche Art zu vermehren. Es kam ihr so vor, als sei alle Welt am Heiraten. Nur sie nicht.

»Hmm, die sind wirklich hübsch, und anders als die Arrangements, die ich sonst habe.« Mrs Griffin zögerte und legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. »Lassen Sie mich überlegen …«

Die Türklingel bimmelte erneut. Wie gerufen betrat Jane Madison das Geschäft und brachte eine Brise warmer Juniluft herein. Draußen herrschte bereits drückende Schwüle, obwohl es noch nicht einmal Mittag war, doch Ivy störte das nicht. Im Gegenteil, es bedeutete, dass Hortensien, Rittersporn und Callas ihre ganze Blütenpracht zur Schau stellten, und wen sollte das nicht freuen?

Ivy lächelte ihrer Schwägerin in spe vielsagend zu und legte die Schürze ab, die sie im Geschäft ständig trug. Sie hatte darauf gesetzt, sich vor Janes Ablösung noch schnell ein wenig frisch zu machen, doch sie war zu sehr mit ihren Tagträumereien beschäftigt gewesen. Nun reichte die Zeit nicht mehr, außer sie wollte zu spät zu ihrem Termin kommen. Aber sie würde wenigstens etwas zu essen einstecken, um unterwegs nicht in den Unterzucker zu geraten.

»Ich hab jetzt leider eine Verabredung, Mrs Griffin, aber Jane wird sie gerne weiter beraten. Sie ist im Moment ohnehin die Fachfrau, was Gestecke angeht.«

Jane konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich muss zugeben, es macht mir wesentlich mehr Spaß, diese Hochzeit zu planen als meine erste.«

»Bestimmt weil Sie Ihre Vorfreude mit Ihrem süßen kleinen Mädchen teilen können«, meinte Mrs Griffin. Der ganze Ort wusste, wie sehr Janes sechsjährige Tochter Sophie ihrem Auftritt als Blumenmädchen entgegenfieberte.

»Deshalb, und wegen Henry.« Jane betrachtete ihren Verlobungsring, den Ivy im vorigen Winter zusammen mit ihrem Zwillingsbruder ausgesucht hatte. Die Hochzeit war für September angesetzt, und das hieß, dass Ivy in nur wenigen Monaten mit etwas Glück auf einem weiteren Hochzeitsfest mit Brett flirten konnte. Nicht, dass sie ihn noch einmal küssen würde … Nicht, solange er ihr nicht erklärte, wo er die letzten sieben Monate gesteckt hatte. Obwohl er in Baltimore lebte und nur selten zu Besuch kam, wären ein Anruf oder eine E-Mail wohl nicht zu viel verlangt gewesen.

»Gut, ich muss dann los«, sagte Ivy schnell. Sie ließ die beiden Frauen weiter über die farbenfrohen Frühlingsblüten fachsimpeln und verzog sich ins Lager, um ihre Schürze aufzuhängen und sich aus einer Schachtel eine Handvoll Knabberzeug zu schnappen, das sie stets griffbereit hatte. Wenn der Verkehr – und ihr Wagen – mitspielten, käme sie ein wenig vor der Zeit zu ihrem Termin. Dann hätte sie die perfekte Entschuldigung, sich hinzusetzen, kurz zu entspannen und ausführlich darüber nachzudenken, was sie das nächste Mal anziehen wollte, wenn sie Brett Hastings gegenübertrat … Sie würde ihm schon zeigen, was er verpasst hatte.

Und es würde ihn umhauen.

Eine halbe Stunde später spurtete Ivy durch die Automatiktüren des Forest Ridge Hospital und fluchte leise. Dank des kapriziösen Temperaments ihres Autos war sie bereits fünf Minuten zu spät. Außerdem schwitzte sie, als hätte sie einen Marathon hinter sich, obwohl sie es in Wirklichkeit wohl nicht mal bis ans andere Ende ihres Wohnblocks geschafft hätte. Sie zog vorn an ihrer ärmellosen weißen Baumwollbluse und versuchte, sich ein wenig Luft zuzufächeln, dann ließ sie sich in einen Stuhl fallen, um wieder zu Atem zu kommen. Bald würde sie sich ein neues Auto kaufen oder ihrem alten zumindest eine Generalüberholung gönnen müssen, aber Reparaturen kosteten Geld. Geld, das sie lieber in wichtigere Dinge investieren würde, zum Beispiel in ein neues Ladenschild oder eine zusätzliche Aushilfe.

Ihr Blutzuckermessgerät steckte im Innenfach ihrer Umhängetasche, wo sie es seit einiger Zeit immer bei sich trug, und ein Stich bestätigte, was sie bereits ahnte: Der Sprint durch die Tiefgarage und das Treppensteigen, das ihr das Warten auf den Aufzug erspart hatte, waren ihrem Blutzuckerspiegel nicht gut bekommen. Jetzt musste sie schnell etwas essen, um ihn wieder ins Lot zu bringen. Sie kramte eine Tüte Salzbrezeln hervor und riss sie auf.

Sie wusste nur zu gut, dass ihr Arzt ihr regelmäßige Bewegung verordnet hatte, aber jetzt mal ehrlich: Wer hatte dafür schon Zeit?

Nimm dir die Zeit. Henrys Worte hallten in ihrem Kopf wider, aber für ihn war das leicht gesagt. Er verbrachte nicht den ganzen Tag auf den Beinen, und er musste auch nicht bis spät in die Nacht arbeiten, um Abrechnungen zu erledigen und pünktlich Bestellungen aufzugeben. Er brauchte sich nicht darum zu sorgen, dass seine Arbeit zum Gelingen einer Hochzeit beitrug und dass sie einen bedeutenden Teil eines Festtags ausmachte, den man nur einmal im Leben feierte. Während der Öffnungszeiten ihres Geschäfts wurde Ivy oft von früh bis spät von Kunden belagert, und das störte sie auch nicht, aber es bedeutete, dass ihr Arbeitstag noch eine ganze Weile weiterging, nachdem sie die Ladentür zugesperrt hatte.

Dennoch nahm sie sich fest vor, bis zu Janes und Henrys Hochzeit wieder besser in Form zu sein. Vielleicht würde sie diesen Pilates-Kurs ausprobieren, von dem ihre Freundin Kara immer so schwärmte. Außerdem würde sie sich Strähnchen machen und die Beine wachsen lassen – für alle Fälle. Ihre Haut wäre straff und seidenglatt, und sie hätte dieses gewisse unwiderstehliche je ne sais quoi, wie die Franzosen sagten. Wenn Brett sie nur sah, könnte er gar nicht anders, als sie wieder zu küssen, mit neu erwachtem Verlangen und dem Versprechen, nie mehr nach Baltimore zurückzugehen.

Ivy schüttelte diesen Wunschtraum ab. Es war Zeit, sich der Realität zu stellen.

Sie warf die Brezeltüte in den Müll und drückte den Knopf für den Aufzug. Ungeduldig tappte sie mit der Fußspitze, als die Metalltüren langsam zur Seite glitten. Sie wollte einfach nur einsteigen und noch einigermaßen pünktlich zu ihrem Termin kommen, aber als sich der Fahrstuhl vollständig geöffnet hatte, wich ihre Sorge, sich zu verspäten, einem ganz anderen Schrecken.

Mit zerzaustem braunem Haar stand Brett Hastings vor ihr, Objekt ihrer Jugend- und seit Neuestem auch Erwachsenenträume. Ivy starrte ihn verwirrt an und fragte sich, ob ihre Fantasie schließlich doch mit ihr durchging. Sie konnte sich gerade noch davon abhalten, die Hand auszustrecken und ihn anzustupsen, um sich von seiner Echtheit zu überzeugen.

Ja, er war vollkommen real. Real und noch viel süßer als sie ihn in Erinnerung hatte. Er neigte leicht den Kopf, wodurch das Grübchen in seinem Kinn besonders gut zur Geltung kam. Die Hände hatte er lässig in die Taschen seiner grauen Anzughose geschoben, das braune Haar glänzte im Neonlicht des Aufzugs, und die perfekt geschwungenen Brauen zogen sich nachdenklich zusammen, als sein Blick sich auf sie heftete.

Sie hätte ihn den ganzen Tag einfach nur ansehen können, doch da spürte sie einen kalten Schweißtropfen, der sich nach der wilden Jagd durch die Tiefgarage auf ihrer Oberlippe gebildet hatte und nun langsam hinabzurinnen begann …

Schnell leckte sie sich über die Lippen und lächelte, als wäre alles in bester Ordnung, als wummerte ihr Herz nicht wie ein Presslufthammer in der Brust, und als hätte sie nicht seit Monaten Tag und Nacht von diesem einen Augenblick geträumt, bis sie sich damit abfinden musste, dass Brett, wie so viele andere vor ihm, einfach nicht interessiert war.

»Brett!« Sie versuchte, ihr Haar lässig über die Schulter zu werfen, aber die feuchten Strähnen blieben ihr hartnäckig am Hals kleben.

Brett zog die Brauen noch etwas stärker zusammen. »Na, das ist ja eine Überraschung.« Das konnte er laut sagen. »Was machst du denn hier?«

Wenn man bedachte, dass Brett Hastings den Staat Vermont nur äußerst selten mit seiner Anwesenheit beehrte, seit er vor über zehn Jahren fürs Studium weggezogen war, fand Ivy, dass eigentlich ihr das Recht auf diese Frage zustand. Doch im Moment wollte ihre Zunge ihr nicht gehorchen, sie fühlte sich ein wenig benommen und blinzelte nervös, während ihr Blick über seine breiten Schultern, die muskulöse Brust und den schwarzen Ledergürtel um seine Hüften glitt.

Schnell sah sie wieder hoch. Gut, er war nun mal ein heißer Typ. Es gab auch noch andere gut aussehende Männer auf der Welt. Nicht dass sie die bereits alle geküsst hätte …

»Ich hab einen Termin, reine Routine«, antwortete sie beiläufig und hoffte, er würde nicht weiter nachfragen. Sie hatte ihren Befund schon als Kind lieber für sich behalten, und auch als Erwachsene blieb sie dabei. Briar Creek war ein Nest, und die Bewohner hatten sich in der Vergangenheit genug das Maul über sie und ihre Familie zerrissen. Sie wollte ihnen nicht noch mehr Angriffsfläche bieten. Außerdem war das sicher nicht der richtige Moment, um Brett mit nervigen Einzelheiten über ihren Kampf gegen den Diabetes zu langweilen. Es war an der Zeit, die Romanze zwischen ihnen neu zu entfachen, die an jenem frischen Herbstabend so vielversprechend begonnen hatte. Oder ihm den Vorfall zumindest wieder in Erinnerung zu rufen …

Er war ein viel beschäftigter Mann, erinnerte sie sich. Außerdem lebte er mehrere Stunden entfernt. Und er sah verdammt gut aus in seinem eleganten Hemd. Vielleicht könnte sie sich erbarmen und ihm nicht allzu lange böse sein …

Brett lehnte sich lässig zurück, sah sie flüchtig an, wandte dann jedoch den Blick ab. Ihr Blick hingegen blieb an seinem Mund hängen und sie spürte, wie sich ihre Lippen leicht öffneten. Ob das seiner Erinnerung wohl auf die Sprünge helfen würde, fragte sie sich.

Doch er verschränkte nur die Arme vor der Brust und legte den Kopf schief. »Geht mir ähnlich, Termine über Termine«, sagte er mit lässigem Lächeln, und Ivy lief ein warmer Schauer über den Rücken. Dieses Lächeln machte sie jedes Mal völlig fertig, schon seit der siebten Klasse, als sie ihn im Mathewettbewerb geschlagen und er ihr nach dem Unterricht gratuliert hatte. Er sah auf die Uhr. »Und ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss dann mal los.«

Ivy erstarrte. »Ja, natürlich. Bist du –« Sie hätte sich für die Frage am liebsten in den Hintern gebissen. »Bist du länger in Briar Creek?«

»Weiß noch nicht.« Er runzelte leicht die Stirn. »Ich bin gestern erst angekommen.«

Sie überspielte ihren Schmerz darüber, dass er schon einen ganzen Tag in der Stadt war und sich nicht bei ihr gemeldet hatte. Schnell rief sie sich in Erinnerung, dass er sicher mit seiner Mutter und seinem Bruder, die er lange nicht gesehen hatte, eingespannt gewesen war. Bestimmt hatte er geplant, nachher ins Stadtzentrum zu fahren und im Laden vorbeizuschauen, sie zu fragen, wann sie Feierabend machte …

Oder vielleicht … ganz vielleicht hatte er das auch nicht geplant. Ganz vielleicht war dieser Mann einfach nur ein Idiot, der sie küsste, ein bisschen mit ihr rummachte, seine Hände über ihren Körper wandern ließ und dann keinen Gedanken mehr an sie verschwendete.

Bei dieser Überlegung krampfte sich ihr der Magen zusammen. Die Stille dehnte sich ins Unendliche. Sie wartete darauf, dass er noch etwas sagte, sie zum Abendessen oder auf einen Drink einlud. Doch er schwieg beharrlich. Er sah sie einfach nur an, mit seinen dunklen, entschlossenen Augen. Betrachtete wohl die Schweißperlen, die sich inzwischen auf ihrer Stirn gebildet haben mussten, wie sie voll Unbehagen vermutete.

»Tja, dann sehen wir uns ja sicher noch, während du hier bist«, sagte sie vorsichtig, mit wohl dosierter Andeutung, einem wohl dosierten Wink.

»Ja, gut möglich. Aber ich muss jetzt wirklich weiter. Hat mich gefreut, Ivy!« Brett lächelte, und ehe sie noch etwas erwidern konnte, knuffte er sie gegen den Oberarm und ging seines Weges. Keine Anspielung auf ihren Kuss. Keine Bitte um ein weiteres Treffen. Nicht einmal eine Einladung zu einem faden Kaffee in der Krankenhauscafeteria.

Ivy blieb stumm und wie versteinert stehen, den Mund noch halb geöffnet für die Erwiderung, die ihr nicht über die Lippen gekommen war, und starrte die Metalltüren des Aufzugs an, die ihr verzerrtes Bild widerspiegelten. Sie wirkte absolut nicht glücklich. Im Gegenteil, sie war schwer enttäuscht.

Zum zweiten Mal in wenigen Monaten hatte Brett es fertiggebracht, ihr Leben auf den Kopf zu stellen. Nur diesmal überhaupt nicht so, wie sie es sich erhofft hatte.

2

Ivy kniff die Augen zusammen und starrte auf das silbern eingefasste Krankenblatt, das an der ansonsten kahlen weißen Wand des Untersuchungszimmers hing. Wenn sie daran dachte, wie viel Zeit sie auf diesen Mann verschwendet hatte! All die Energie, die Gefühle, die Hoffnungen! Und wofür? Für einen Mistkerl im weißen Kittel. Er war so ein netter Junge gewesen, still und fleißig, ganz anders als die anderen Typen aus ihrer Klasse. Aber heute …

Heute war er keinen Deut besser als all die anderen Kerle, die sie in den letzten zehn Jahren getroffen hatte. Keinen Deut besser als die flüchtigen Bekanntschaften und Dates, die über die Jahre gekommen und gegangen waren; Männer, die zunächst so vielversprechend gewirkt, sich dann aber als totale Enttäuschung entpuppt hatten. Jedes Mal hatte sie sich gesagt: Was soll’s, es ist besser so, er war nicht der Richtige. Und jedes Mal hatte sie insgeheim an Brett denken müssen. Den süßen Brett mit den braunen Augen, mit dem man so gut reden konnte, der so hübsch war, so ernsthaft, klug, witzig und … perfekt. Und sie hatte gedacht, wenn er doch nur zurück nach Briar Creek zöge, dann könnten sie vielleicht …

Eine Träne rollte ihr die Wange hinunter und sie wischte sie schnell weg, bevor ihr Arzt den Raum betrat und am Ende noch die falschen Schlüsse zog. Es war ein lustiger Abend gewesen, wie es sich für eine gute Hochzeit gehörte. Sie hatte einfach zu viel hineininterpretiert. Und das tat weh. Sehr weh. Sobald sie mit dieser dämlichen Untersuchung durch war, würde sie nach Hause gehen und jede Erinnerung an jenen Tag aus ihrem Leben tilgen, angefangen bei dem purpurroten Brautjungfernkleid.

Die ewige Brautjungfer, dachte sie und sah den kommenden Hochzeiten mit plötzlichem Schrecken entgegen. Es würde schwer genug werden, Henrys Feier durchzustehen, aber wenigstens hätte sie da alle Hände voll zu tun; als Schwester des Bräutigams und all das Pipapo. Annas und Marks Hochzeit würde die größere Herausforderung werden, denn Brett wäre als Bruder des Bräutigams garantiert dabei. Anna und Mark hatten noch keinen Termin festgelegt; sie waren zu sehr mit ihrem Restaurant beschäftigt, um sich um solche Dinge zu kümmern. Bisher hatte das Ivys Geduld auf eine harte Probe gestellt. Doch damit war ab jetzt Schluss. Wenn sie Glück hatte, würden die beiden einfach durchbrennen und ganz allein heiraten.

Ein kurzes Klopfen gab ihr genügend Zeit, sich noch einmal unter den Augen entlangzuwischen. Dann öffnete ihr Arzt die Tür, den Kopf mit dem schütter werdenden Haar über ein Klemmbrett gebeugt. Er blätterte eine Seite um und nahm auf einem Drehhocker Platz, bevor er zu Ivy aufsah, die auf dem Rand der Untersuchungsliege saß. »Das Blutbild sieht gut aus«, meinte er und musterte sie eingehend durch seine filigrane Brille. »Wie fühlen Sie sich?«

»Gut. Super.« Ging mir selten schlechter.

»Irgendwelche Schwindelanfälle in letzter Zeit?« Er stand auf und griff nach seinem Stethoskop, das ihm um den Hals hing.

Ihren kleinen Dauerlauf durch die Tiefgarage, für den sie sofort die Quittung erhalten hatte, verschwieg sie ihm wohl besser. Wenn sie es ihrem Arzt zu erklären versuchte, würde das nur zu einer langen Reihe weiterer Fragen und einer Strafpredigt über ihren Lebenswandel führen, was sie um jeden Preis vermeiden wollte. Sie hatte sich ein wenig überanstrengt, das war nichts gegen ihre Fehler der Vergangenheit. »Nö, eigentlich nicht. Ich hab den Ernährungsplan befolgt, den Sie mir gegeben haben.«

»Schön.« Er drückte ihr das Stethoskop an den Rücken. »Tief einatmen, bitte.«

Ivy gehorchte und fragte sich, ob das Instrument wohl ein gebrochenes Herz diagnostizieren konnte. Doch der Arzt schien zufrieden, trat wieder zurück und machte einen Vermerk in ihrer Akte.

»Sie nehmen täglich Ihr Insulin?« Er sah sie lange und durchdringend an.

Ivy schluckte. »Hab nicht eine Dosis vergessen.« Nicht in den letzten sieben Monaten, hieß das. Nicht seit sie im Herbst mit dem Krankenwagen in die Notaufnahme kutschiert werden musste.

Diesen Fehler würde sie nicht noch einmal begehen.

»Gut. Sie überwachen sorgfältig Ihren Blutzucker?«

Ivy nickte und unterdrückte ein Seufzen, während die Fragerei weiterging. Sie hatte es nicht anders verdient. Irgendwann würde sie ihren Arzt hoffentlich davon überzeugen können, dass sie sich verantwortungsvoll verhielt. Und ihren Bruder auch, dachte sie, und erinnerte sich an die Standpauke, die Henry ihr gehalten hatte, nachdem er im letzten Jahr zurück in die Stadt gekommen war, um ihr aus der Patsche zu helfen.

»Ich nehme jetzt immer meine Medikamente«, sagte sie, und als der Arzt die Augenbrauen hob, beteuerte sie: »Alle Medikamente. Ich lasse nichts aus.« Es war riskant gewesen, das wusste sie, aber damals, als sie sich einigermaßen gut fühlte, war es manchmal leicht, einfach so zu tun, als wäre alles in Ordnung, als wäre sie gar nicht krank und müsste sich nicht um lästige Dinge wie Insulinspritzen und Blutzuckerwerte kümmern. Als könnte sie einfach ein stinknormales Leben führen.

Aber jetzt mal ehrlich: Wann war sie je normal gewesen? Nie, gestand sie sich ein und schauderte, als sie an die Geschichten zurückdachte, die früher im Ort über ihre Mutter kursiert waren.

»Ich schreibe Ihnen ein Rezept, dann sind Sie bis zu unserem nächsten Termin versorgt.«

»Ich komme ganz sicher«, sagte Ivy und nahm den Zettel entgegen. Als der Arzt sie scharf ansah, schluckte sie schwer. »Ich versprech’s.«

Und sie würde kommen, denn auf einen weiteren Ausflug in die Notaufnahme konnte sie sehr gut verzichten. Außerdem: Wenn ihr Zustand sie nicht umbrachte, würde Henry das garantiert übernehmen.

Nein, dieser ganze Mist lag hinter ihr. Mit der Zeit würde sie schon einen Weg finden, ihre Schulden bei ihrem Bruder zu begleichen, auch wenn der ihr Geld weder erwartete noch haben wollte.

»Die Apotheke im Erdgeschoss hat heute offen.« Der Hinweis des Arztes war eher ein Befehl und führte ihr erneut erbarmungslos vor Augen, wie unverantwortlich sie gewesen war.

Die Vorstellung, länger als unbedingt nötig in diesem Gebäude zu bleiben, in dem Brett noch irgendwo umhergeisterte, ließ Ivy augenblicklich in kalten Schweiß ausbrechen. Doch darüber musste sie irgendwie hinwegtäuschen, denn Reaktionen dieser Art würden bei ihrem Arzt nur wieder die Alarmglocken schrillen lassen und eine neuerliche Blutzuckermessung nach sich ziehen. Also hüpfte Ivy von der Liege, blendete all die widerstreitenden Gefühle aus und sagte, ganz vernünftig und erwachsen: »Da geh ich jetzt sofort vorbei.«

Sie biss die Zähne zusammen, während sie langsam zum Fahrstuhl ging, drückte den Knopf und bereitete sich auf den Anblick langer Beine, breiter Schultern und seidigen braunen Haars vor, durch das sie bereits ihre Finger hatte gleiten lassen. Was wollte Brett überhaupt hier? Wahrscheinlich genau das, was er behauptete: Er hatte einen Termin. Einen beruflichen Grund, mal wieder in der Gegend zu sein. Sicher keinen persönlichen, dachte sie bitter.

Sie hielt den Atem an, als die Türen Sekunden später vor ihr aufglitten, und als sie dem Blick eines älteren Herrn begegnete, der stolz einen Strauß rosaroter Rosen an die Brust drückte, seufzte sie tief. »Eine neue Urenkelin!«, platzte er heraus und Ivy lächelte ihn matt an. Sie brachte es nicht übers Herz, ihn darauf hinzuweisen, dass er in die falsche Richtung fuhr. Und wenn sie jetzt nicht einstieg, war nicht vorherzusehen, was – oder wer – im nächsten Aufzug auf sie warten würde.

»Glückwunsch.« Sie trat in die Kabine, drückte den Knopf fürs Erdgeschoss und wartete darauf, dass sich die Türen schlossen. Der Aufzug fuhr langsam, die Etagennummern wurden oberhalb der Tür in Leuchtziffern angezeigt. Sie sprach sich selbst Mut zu: Wenn sie Glück hatte, war Brett bereits weg. Er hatte einen Termin gehabt. Falls das nicht nur eine Ausrede gewesen war. Sie kannte all die leeren Versprechungen, nach dem Motto: »Das sollten wir unbedingt mal wiederholen«, oder vage Ankündigungen eines Anrufs, der nie kam. Ein einziges Mal hätte sie gern offen und ehrlich von einem Mann gehört, dass er kein Interesse an ihr hatte. Kein Gelaber. Kein Eiertanz um das Offensichtliche. Kein Bemühen, ihre Gefühle zu schonen, nur um das eigene Gesicht zu wahren.

Sie war ein großes Mädchen. Sie vertrug die Wahrheit.

Und dennoch, als der Aufzug anhielt und die Türen wieder aufglitten, einen immer besseren Blick auf das weitläufige, offene Foyer erlaubten, mit seinen Glaswänden und nicht mal einer Topfpflanze, hinter der man sich hätte verstecken können, begann Ivys Herz wie wild zu pochen. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen, hastete dann schnell zur Apotheke und griff sich auf dem Weg zur Verkaufstheke wahllos irgendein Magazin.

Sie reichte der Apothekerin ihr Rezept und spähte aus dem Augenwinkel rasch nach rechts und links, ohne dabei den Kopf zu bewegen. »Ich hab wenig Zeit«, erklärte sie. »Vielleicht sollte ich später noch mal –«

»Es dauert höchstens zehn Minuten.« Die Apothekerin lächelte sie freundlich an.

Ivy linste ins Foyer. Jede Sekunde länger, die sie sich hier aufhielt, erhöhte das Risiko, Brett erneut in die Arme zu laufen. Und das wollte sie nicht. Vor nicht allzu langer Zeit hätte sie alles dafür gegeben. Aber damals war sie eindeutig nicht ganz bei Trost gewesen.

Sie schritt die Reihe von Stühlen im Wartebereich ab, ließ sich auf einen Platz ganz hinten an der Wand sinken und hielt sich das Motorsportmagazin vors Gesicht.

Gut, vielleicht überreagierte sie ein wenig. Dass Brett in der Apotheke vorbeischaute, war eher unwahrscheinlich. Sie glaubte nicht, dass er ein Medikament abholen oder in den Zeitschriften blättern wollte. Und Automaten für Getränke und Snacks gab es im ganzen Gebäude, nicht nur hier. Während sie darauf wartete, dass die Apothekerin ihr das Medikament brachte, hatte sie sorgfältig ihr Make-up mit den paar Schminksachen aufgefrischt, die sie immer in ihrer Handtasche trug. Sie sah also definitiv besser aus als bei ihrem kleinen Zusammenstoß, aber dennoch wollte sie das Erlebnis nicht noch einmal wiederholen. Nie wieder. Tatsächlich wäre es ihr am liebsten, Brett ihr ganzes Leben lang nicht mehr wiederzusehen. Nie mehr an den Traum erinnert zu werden, den er zerstört hatte. Nie mehr an das Prickeln auf ihren Lippen zu denken, das noch lange anhielt, nachdem man sie beide zurück zu den anderen Hochzeitsgästen gerufen hatte, um Grace und Luke zum Abschied zu winken …

Wahrscheinlich war er betrunken gewesen. Aber wie auch immer, eines war sicher: Brett Hastings hatte der Kuss nicht so viel bedeutet wie ihr.

»Ivy?«

Als sie ihren Namen hörte, zuckte sie zusammen, ließ das Magazin zu Boden fallen und sah mit bleichem Gesicht zu der Frau auf, die vor ihr stand. »Dr. Kessler!«

»Sie klingen ja so erleichtert«, bemerkte Suzanne Kessler mit amüsiertem Lächeln. »Haben Sie jemand anderen erwartet?«

»Sie haben mich nur überrascht«, erwiderte Ivy und wartete, bis ihr Puls sich wieder einigermaßen beruhigt hatte. »Wie geht es Ihrer Tochter?« Es war beinahe ein Jahr her, dass sie den Blumenschmuck für die Hochzeit der jüngsten Kessler-Tochter zusammengestellt hatte: weiße französische Tulpen, kombiniert mit feinen, hellen Dolden der Wilden Möhre. Schlicht, ein wenig altmodisch, aber sehr elegant.

»Bestens«, antwortete Suzanne. »Ich will schon ewig mal in Ihrem Laden vorbeischauen und Ihnen ein paar Fotos von der Hochzeit zeigen. Die Leute sprechen mich immer noch auf die Tischgestecke an.«

Ivy musste zugeben, dass sie dieses Lob mit Stolz erfüllte.

»Schön, dass ich Sie hier treffe. Ich weiß nicht, ob Sie es schon gehört haben, aber das Forest Ridge Hospital richtet jedes Jahr eine Wohltätigkeitsveranstaltung aus. Das ist immer ein ziemliches Trara, alle Großspender werden eingeladen, es gibt eine Tombola, und alle Erlöse kommen dem Krankenhaus zugute.«

»Ich spende gern etwas für die Tombola«, bot Ivy an und dachte auch an die positive Außenwirkung, die das mit sich brächte. Die Geschäfte liefen gut in Briar Creek, aber ein paar zusätzliche große Hochzeitsfeiern und Feste im Jahr wären trotzdem nicht verkehrt.

»Eigentlich hatte ich etwas anderes im Sinn: Wir beauftragen keinen professionellen Eventmanager, weil wir das Geld lieber direkt ins Krankenhaus investieren. Deshalb habe ich in den letzten Jahren ein wenig bei der Organisation geholfen. Und ich wollte Sie fragen, ob wir Sie für den Blumenschmuck engagieren könnten. Es ist eine große Veranstaltung, und falls Ihre Zeit dafür nicht ausreicht, verstehe ich das völlig.«

Falls ihre Zeit dafür nicht ausreichte? Sie würde schon dafür sorgen, dass sie reichte! »Wann soll das Ganze denn stattfinden?«

»Erst im August«, sagte Suzanne. »Kann ich also auf Sie zählen?«

Ivy dachte an Brett, wie er durch die Gänge streifte und aus dem Aufzug trat, als gehöre ihm das ganze Krankenhaus. Doch dann schüttelte sie diese albernen Bedenken ab. »Natürlich!« Sie stand auf, um Dr. Kessler die Hand zu schütteln. »Sehr gern. Ich danke Ihnen.«

»Sie haben wirklich ein gutes Auge«, meinte Suzanne herzlich. »Die Freude ist also ganz auf meiner Seite.« In diesem Moment piepste ihr Pager. Mit einem müden Seufzen warf sie einen Blick darauf und sah dann wieder Ivy an. »Ich melde mich bald bei Ihnen.«

Ivy nickte und ging hinüber zur Apothekerin, um nach ihren Medikamenten zu fragen. Sie hatte schon länger keine große Veranstaltung mehr beliefert, und ein solches Projekt wäre jetzt genau das Richtige, um sie auf andere Gedanken zu bringen und endlich von diesem Kuss abzulenken … und von der Enttäuschung des heutigen Tages.

Kurz darauf zahlte sie eine horrende Summe für ihre Medikamente, die die nächsten drei Monate reichen würden, und eilte durch das Foyer nach draußen. Ihr Blick huschte unentwegt hin und her, aber sie gab sich so lässig wie möglich.

Ausnahmsweise tat der Wagen ihr den Gefallen, schon nach wenigen beherzten Schlägen auf die Motorhaube anzuspringen, doch sie war trotzdem deprimiert, als sie aus der Garage fuhr und auf die Hauptstraße nach Briar Creek einbog.

Sie hatte genügend Zeit damit verplempert, von Brett Hastings zu träumen, in einer Fantasiewelt zu leben und die Wirklichkeit aus dem Blick zu verlieren. Jetzt musste sie wieder an sich selbst denken. An ihr Geschäft. Ihre Gesundheit. Und an den großen Auftrag, der sie vielleicht endlich aus den roten Zahlen bringen würde und ihr die Chance verschaffte, ihren Bruder ein für alle Mal auszubezahlen. Sie würde in ihren Laden zurückfahren und ein paar Skizzen anfertigen, ein Farbkonzept ausarbeiten, das sie Suzanne präsentieren konnte, wenn sie anrief. Sie würde sich voll und ganz auf diese Aufgabe konzentrieren, sich mit dem beschäftigen, was sie liebte, und den Kuss am Ende vielleicht so komplett aus ihrem Gedächtnis streichen, wie Brett es offenbar längst getan hatte. Und ihn würde sie auch vergessen.

Brett Hastings blieb nie lange in Briar Creek. Mit etwas Glück wäre er schon morgen wieder verschwunden und käme sehr, sehr lange nicht mehr zurück.

Brett rutschte auf dem unbequemen Besucherstuhl hin und her und beschwor sich, nicht einzunicken. Das Einzige, was ihn vom Wegdämmern abhielt, war die harte, niedrige Rückenlehne aus Holz, die sich mittig in seine Wirbelsäule bohrte. Ihm war im Voraus klar gewesen, dass die Zweiundzwanzig-Stunden-Schicht, die er abgeleistet hatte, bevor er sich gestern für neun Stunden hinters Steuer klemmte, ein Fehler gewesen war. Doch er hatte angenommen, dass er gleich nach der Ankunft bei seiner Mutter in sein altes Kinderbett fallen und schlafen könnte wie ein Baby. Wie schnell man doch vergaß, dass dieses durchgelegene Bett fast so ungemütlich war wie der Pausenraum der Notaufnahme. Seine Unterschenkel ragten über die Matratze hinaus, die Wirklichkeit holte ihn eiskalt wieder ein, und in diesem Zustand fand er nur wenige, unruhige Stunden Schlaf, bevor der Duft von Filterkaffee ihn weckte und die schreckliche Gewissheit langsam in sein Bewusstsein drang, dass er nicht in seinem schicken Apartment in Baltimore lag.

Der Oberarzt der Notfallstation starrte ihn über seine lange Nase hinweg an, und Brett beschlich der unangenehme Verdacht, dass er soeben eine Frage überhört hatte.

Er ignorierte das Zucken in seinem linken Augenlid und verlagerte erneut das Gewicht auf dem Stuhl. »Tut mir leid, könnten Sie das bitte ein wenig ausführen?«

Dr. Gardner runzelte kurz die Stirn, doch dann sagte er: »Das Forest Ridge ist ein recht kleines Krankenhaus. Die nächste Unfallklinik ist in Burlington. Hier ist das Tempo wesentlich gemächlicher, als Sie es aus einer Metropole wie Baltimore gewohnt sind. Also verraten Sie mir doch bitte: Warum wollen Sie zu uns?«

Weil ihm keine andere Wahl blieb. Weil er nicht wusste, wo er sonst so schnell eine Stelle finden sollte. Weil er keine Lücke in seinem Lebenslauf gebrauchen konnte, während er nach etwas Langfristigem suchte.

Weil er, auch wenn er es sich nur ungern eingestand, vielleicht einmal eine Pause von der Hektik eines Großstadtkrankenhauses gebrauchen konnte. Und weil er, indem er nach Briar Creek zurückzog – wenn auch nur für kurze Zeit –, vielleicht endlich seine Schuldgefühle loswurde und sich etwas mehr um seine Familie kümmern konnte, selbst wenn er tief in seinem Herzen wusste, dass er die verlorene Zeit niemals würde wiedergutmachen können.

»Ich bin dem Forest Ridge Hospital sehr verbunden«, antwortete er stattdessen und spürte, wie sich sein Magen bei diesen Worten zusammenkrampfte. Er hatte den Ort gehasst, seit er zum ersten Mal den Fuß in die Klinik gesetzt hatte, vor über zwölf Jahren, als er noch fast ein Kind gewesen war und seine Mutter ihre Krebsdiagnose erhalten hatte. Damals hasste er die kahlen, weißen Wände, den sterilen Geruch nach Desinfektionsmittel, die mysteriösen piepsenden und blinkenden Metallapparaturen. Aber am meisten hasste er das Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Die Angst, die sich in seiner Brust einnistete und ihn stets begleitete, ob er nun durch die langen, kalten Gänge der Krebsstation schlich oder ob ein Arzt mit versteinerter Miene das Krankenzimmer seiner Mutter betrat. Er hasste die Tatsache, dass ihm jegliches Wissen fehlte, dass alles außerhalb seiner Kontrolle lag.

Er hatte sich geschworen, sich nie mehr im Leben so hilflos zu fühlen. Das war ihm bisher auch gelungen. Bis vor Kurzem.

»Das stimmt.« Die Gemeinde war klein, und wenn man in diesem Krankenhaus so oft ein und aus gegangen war wie Brett in all den Jahren, kannten die Leute den Grund dafür. »Also ist es eine persönliche Entscheidung, aus Baltimore wegzugehen?«

Brett strich sich mit der Hand übers Kinn und hoffte, dass sein Gesichtsausdruck neutral blieb. »Ja, rein persönlich.«

Er erinnerte sich nur zu gut daran, was sein ehemaliger Chef ihm gesagt hatte. Die Worte waren ihm auf der gesamten Fahrt nach Vermont nicht aus dem Kopf gegangen. Ein anderes Tempo wird Ihnen guttun. Doch vermutlich würde es ihn eher ausbooten, ihm zu viel Zeit zum Nachdenken geben, über all das, was ihn letztlich in diese Situation gebracht hatte. Es würde all die Opfer unterwandern, die er bereits für seine Karriere erbracht hatte.

Irgendwann traf es jeden, das wusste er. Einen Patienten zu verlieren, gehörte zum Job. Manchmal, egal, wie sehr man sich anstrengte, war der Krankenwagen einfach nicht schnell genug oder der Schaden war bereits zu groß. Oder jemand machte einen Fehler.

Brett schluckte den bitteren Geschmack hinunter, der ihm in die Kehle stieg, griff nach der Papptasse mit seinem Kaffee und trank sie aus, obwohl die Brühe schon kalt geworden war. Er musste sich jetzt konzentrieren. Er hatte keine andere Wahl. Er hatte sich keine gelassen.

Trotz des Koffeins waren seine Augenlider schwer, als er seinen Lebenslauf herunterratterte. Wie immer verkrampfte er sich und Unbehagen breitete sich in ihm aus, wenn er an sein bisheriges Leben zurückdachte. Er wusste, dass er eigentlich stolz sein sollte, dass die Schuldgefühle seine Entscheidung entwerteten, aber er konnte nichts daran ändern. Egal, wie oft er auf seinen Lebensweg zurückblickte, er sah immer nur eines: Egoismus.

Was wäre die Alternative gewesen?, fragte er sich. Niemand schlug ein Vollstipendium für das Grundstudium in Yale aus. Oder einen Freifahrtschein an die medizinische Fakultät der Johns Hopkins University. Er war viermal in Folge der Beste seines Jahrgangs gewesen. Eindrucksvoll, ja, aber in seinen Augen hatte er schlicht keine andere Wahl gehabt.

Er hatte seine Chancen nutzen müssen. Denn wie sonst sollte man es vor sich rechtfertigen, seine todkranke Mutter zurückzulassen und nicht einmal wiederzukommen, als sie Jahre später einen Rückfall erlitt?

»Nun, ich sehe keinen Grund, das Offensichtliche hinauszuzögern.« Dr. Gardner setzte seine Lesebrille ab und lächelte. »Wann können Sie anfangen?«

Die Erkenntnis, dass er wieder zurück in Briar Creek war, wo für ihn einst alles begonnen hatte, und wohin er eigentlich nie hatte zurückkehren wollen, traf Brett von Neuem. Briar Creek, mit seinen gewundenen Straßen und den Stadtfesten auf dem Marktplatz. Mit all den Menschen, die er schon von Kindesbeinen an kannte, und die ihn bereits gekannt hatten, als er noch nicht mal sprechen konnte. Es würde Fragen geben. Gerüchte. Er könnte sich nirgends verstecken. Vor den Vorkommnissen in Baltimore. Vor den bösen Erinnerungen, die ihn schon jetzt zu quälen begannen.

Seine Kiefermuskeln spannten sich an, wenn er an die Begegnung mit Ivy dachte, so hübsch wie immer, mit ihren blaugrünen Augen und dem glänzenden kastanienbraunen Haar, das ihre rosigen Wangen betonte. Ivy war süß, und er wusste, dass sie auf eine Verabredung mit ihm spekuliert hatte –, die er jedoch tunlichst umschiffte, denn er wollte ihr auf keinen Fall falsche Hoffnungen machen. Frauen wie Ivy küssten nicht einfach so zum Spaß. Das hatte er bereits geahnt, als er sich auf dem Hochzeitsfest zu ihr hinabbeugte, den Anflug eines Lächelns auf ihrem Gesicht entdeckte und ihren beschleunigten Herzschlag spürte, während er sie an sich zog. Er wusste, dass er ihr hätte widerstehen müssen, aber sie war schon immer bildschön gewesen, und außerdem hatte er nur diese eine Nacht in der Stadt verbracht.

Leider würde er ab heute deutlich länger in Briar Creek bleiben als eine Nacht. Und die Art, wie Ivy das Lächeln entglitten war, als er ihren Andeutungen auf ein Date so offensichtlich auswich und sich aus dem Staub machte, bewies ihm, dass der Kuss im vergangenen November für sie eine viel größere Sache gewesen war, als er beabsichtigt hatte.

Trotzdem musste er unweigerlich lächeln, wenn er an ihren sexy Hintern in dieser engen Jeans dachte, die jede Kurve ihrer wahnsinnig langen Beine perfekt betonte. Viel besser als dieses alberne Brautjungfernkleid, von dem er ihren Körper im November so gern befreit hätte.

Es ist besser so, redete er sich ein. Er konnte im Moment wirklich keine Ablenkung von seiner Arbeit gebrauchen. Und Ivy konnte auf einen Kerl wie ihn gut verzichten. Sie gehörte zu den Mädchen, die sich ein Häuschen und ein ruhiges Leben in Briar Creek wünschten. Einen Mann, der ein Versprechen gab und es dann auch hielt. Und so einer war er nicht.

»Wann soll ich anfangen?«

»Tja, also, Dr. Leerys Elternzeit beginnt am Freitag, deshalb würde ich Sie am liebsten schon für kommendes Wochenende in den Bereitschaftsplan aufnehmen. Die Samstagabende können hier manchmal etwas turbulent werden.«

Brett zwang sich zu einem höflichen Nicken. Wenn er an die Stichverletzung zurückdachte, die er vor weniger als vierzig Stunden versorgt hatte, konnte er sich kaum vorstellen, dass ein paar angeschickerte Kleinstadtrowdys, die lediglich eine Infusion und ein schönes, langes Ausnüchterungsschläfchen brauchten, wirklich den Ausdruck turbulent rechtfertigten, aber man wusste ja nie. Vielleicht hatte sein früherer Chef recht, vielleicht täte es ihm gut, mal einen Gang runterzuschalten. Er würde den Kopf freibekommen und könnte das Vertrauen in sich selbst zurückgewinnen.

»Bis Freitag sollte ich in Baltimore alles geregelt haben«, versicherte er und stand auf, um Dr. Gardner die Hand zu schütteln.

»Wunderbar. Und, Dr. Hastings, das hier ist zwar nur eine Vertretungsstelle, aber wenn alles gut läuft, könnten wir möglicherweise etwas Dauerhaftes für Sie finden.«

Darauf würde ich nicht wetten, dachte Brett bei sich.

Morgen würde er zurück nach Baltimore fahren und ein paar Sachen zusammenpacken, aber er würde sicher nicht seine Wohnung kündigen. Das Forest Ridge Hospital war vielleicht seine nächste Anlaufstelle, aber wenn es nach ihm ging, würde er hier nicht allzu lange bleiben.

3

Am Mittwoch hörte Ivy endlich damit auf, sich wie eine Besessene die Haare zu bürsten, wenn gerade kein Kunde im Geschäft war. Sie sah nicht länger alle paar Minuten in ihren Taschenspiegel, um sicherzustellen, dass kein Lipgloss auf ihren Zähnen klebte. Und sie war auch fast darüber hinweg, bei jedem Bimmeln der Ladenglocke zusammenzuzucken. Doch die Enttäuschung, die sich jedes Mal einstellte, wenn sie aufblickte und der Mensch vor ihr nicht Brett war, wurde sie nicht ganz los.

Wann würde sie endlich das letzte Fünkchen Hoffnung aufgeben und einsehen, dass er nicht süß und besonders war, sondern, leider, ganz genau wie alle anderen Männer? Männern konnte man eben einfach nicht trauen – hatte ihre Mutter ihr das früher nicht tausendundeinmal eingetrichtert?

»Du scheinst ja nicht gerade glücklich, mich zu sehen«, bemerkte Kara Hastings, als sie auf den abgenutzten Farmhaustisch zutrat, den Ivy als Werkbank und Ladentheke verwendete. »Erwartest du jemand Besonderen?«

Ach, nur deinen zum Sterben schönen Cousin, hätte Ivy am liebsten geantwortet. Stattdessen straffte sie die Schultern und meinte strahlend: »Eigentlich bist du jemand ziemlich Besonderes.«

Kara ließ ihre Handtasche in den alten Schaukelstuhl fallen, der neben dem Regal mit in der Region hergestellten Kerzen und Seifen stand, und seufzte. »Schön, dass zumindest ein Mensch auf der Welt so denkt.«

Ivy ließ ein Bündel violetter Schwertlilien in die Vase vor sich gleiten und runzelte die Stirn. »Stress im Restaurant?« Sie hatte immer den Eindruck gehabt, dass Kara ihre Arbeit in Briar Creeks neuestem Restaurant, dem Rosemary and Thyme, gut gefiel, doch der zögerliche Ausdruck auf dem Gesicht ihrer Freundin deutete auf das Gegenteil hin.

Kara machte eine wegwerfende Handbewegung und schüttelte den Kopf. »Vergiss, was ich gesagt habe. Die letzten Wochen waren einfach total anstrengend, ich bin ziemlich fertig. Den ganzen Tag auf den Beinen zu sein, kann einen ganz schön plätten.«

»Wem sagst du das?«, stimmte Ivy zu. Sie hatte sich für heute eigentlich eine anständige Mittagspause vorgenommen, sich sogar einen Salat mit Hühnchen vorbereitet und ihn in den kleinen Kühlschrank hinten im Geschäft gestellt, sodass sie nicht hoch in ihre Wohnung gehen musste, um ihn zu essen. Doch statt sich für zehn Minuten hinzusetzen und die Mahlzeit zu genießen, hatte sie zwischen all den Kunden nur ein paar Bissen in sich hineingeschlungen.

Kara nahm eine Rose der Sorte Burgundy Iceberg in die Hand und bewunderte die satte purpurne Farbe. »Fühlst du dich manchmal einsam, wenn du hier den ganzen Tag so vor dich hin arbeitest?«

»Nein, aber ich hätte nichts dagegen, wenn mir mal jemand einen Strauß Blumen schenken würde«, scherzte Ivy.

»Da wären wir schon zu zweit. Sind die Gentlemen auf dieser Erde denn wirklich alle ausgestorben?«

»Wenn ich mir meine Bestellungen ansehe, muss ich ehrlicherweise mit Nein antworten. Vermutlich ist einfach noch nicht der Richtige hier vorbeigekommen. Immerhin liebe ich meine Arbeit. Das ist ja auch schon mal was.«

Ivy befreite die letzten Rosen, die sie für das Bouquet im Foyer der Tanzschule ausgesucht hatte, von ihren Blättern und band sie zusammen. Sie wusste, dass Rosemary Hastings ihre Blumen am liebsten »pink, pink und nochmals pink« mochte, aber gerade heute waren ihr die pinken Rosen und Pfingstrosen ausgegangen. Wenn sie jemals selbst einen Strauß geschenkt bekäme, sollten es am liebsten Pfingstrosen sein. Sie hatte weiß Gott lang genug darauf gewartet –, aber schließlich fand sie, dass sich die ganze Warterei auf die Blumen, und auf den Mann, der sie ihr schenken würde, auch lohnen sollte, da musste man sich wohl in Geduld üben.

»Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Einsam werde ich hier sicher nicht. Ich bin die ganze Zeit so beschäftigt, und ich kann mich ja mit meinen Kunden unterhalten.« Ivy neigte den Kopf. »Warum fragst du?«

Kara wurde rot. »Nur so«, meinte sie mit einem Achselzucken und sah zum Fenster hinaus.

Ivy stellte die Vase in eine stabile, offene Kiste und hob sie hoch. »Ich muss die noch in der Tanzschule vorbeibringen. Kommst du mit?«

»Okay, aber ich warte draußen. Meine Mom stresst im Moment wieder total rum und fragt mich dauernd, wann ich endlich mein Leben auf die Kette kriege und was ich eigentlich mit meinem Leben anfangen will. Wenn ich noch einmal die Namen Sam Logan oder Jackson Jones höre …«

Ivy machte ein mitfühlendes Gesicht. Der Polizeichef und der Bürgermeister der Gemeinde waren die besten Partien im ganzen Ort, und es wunderte sie nicht, dass Rosemary einen von beiden für ihre älteste Tochter vorgesehen hatte. Zweifellos war der andere bereits für Karas jüngere Schwester Molly reserviert, sofern die je wieder zurück nach Briar Creek zöge.

»Ich hab versucht, ihr zu erklären, dass ich diese Typen kenne, seit sie ihre Milchzähne verloren haben und mit aufgeschrammten Knien durch die Gegend gelaufen sind. Das nimmt dem Ganzen echt jegliche Spannung.« Kara schnappte sich ihre Tasche und folgte Ivy zur Tür. »Außer man hat es gern sicher und langweilig.«

Genau das wünschte sich Ivy insgeheim. Na ja, ohne die Langeweile vielleicht. Aber an Brett war nun wirklich nichts Langweiliges. Brett, mit seinen ruhigen, dunklen Augen und dem tiefen, warmen Lachen. Und dann war da noch dieses elektrisierende Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut. Bei ihm kam sie sich … besonders vor, wie Kara es ausgedrückt hätte.

Tja, am Montagnachmittag hatte er ihr nun wirklich nicht den Eindruck vermittelt, etwas Besonderes zu sein.

»Alles okay mit dir?« In Karas Stimme klang Belustigung mit, und erst da bemerkte Ivy, dass sie den Schlüssel mit etwas mehr Vehemenz ins Schloss gerammt hatte als nötig. Es war ihr etwas peinlich, und sie drehte ihn schnell um und steckte ihn in die Tasche.

»Das Schloss ist alt und ein bisschen widerspenstig.« Sie lächelte. »Will ich schon ewig reparieren lassen.« Ein weiterer Punkt auf ihrer unendlichen To-do-Liste. Sie wollte noch so vieles für den Laden anschaffen. Unentwegt dachte sie darüber nach, wie sie ihn weiter verbessern könnte. Zusätzlich zu den handgemachten Kerzen und Seifen wollte sie noch andere Produkte anbieten, um ihr Blumensortiment zu ergänzen. Und schon seit einer Weile dachte sie darüber nach, einen Floristikkurs anzubieten, aber als sie die Idee beiläufig ihrem Bruder gegenüber erwähnt hatte, war der ziemlich aufgebracht gewesen.

Sie hatte das Thema sofort fallen gelassen und sich an ihr Versprechen erinnert, es ruhiger anzugehen und Janes Hilfe in Anspruch zu nehmen, um ihre eigenen Stunden zu reduzieren. Aber jetzt, wo sie ihr Diabetes wieder einigermaßen im Griff hatte, konnte sie vielleicht doch noch mal darüber nachdenken. Wenn die Nachfrage hoch genug wäre, könnte sie mit den Teilnehmergebühren das neue Ladenschild bezahlen, das schon seit über einem Jahr auf ihrer Wunschliste stand – aber natürlich erst, nachdem sie ihrem Bruder jeden einzelnen Cent seines Darlehens zurückgezahlt hatte.

Sie blickte die Main Street hinunter, während sie mit Kara Richtung Marktplatz ging. An der Ampel blieben sie stehen, und Ivy beobachtete die vorbeifahrenden Autos, versuchte, die Gesichter hinter den Scheiben zu erkennen, und wandte ihre Aufmerksamkeit dann den großen Fenstern des Rosemary and Thyme an der Ecke zur Second Avenue zu. Es war gut möglich, dass Brett gerade dort vorbeischaute, um seinem Bruder hallo zu sagen. Vielleicht war er auch im Hastings, dem Diner etwas weiter die Straße hinauf, der seiner Mutter Sharon gehörte. Ivy kaute auf der Unterlippe, während sie die Straße überquerten, und fragte sich, ob sie Kara direkt auf Brett ansprechen sollte.

»Ich bin vorgestern deinem Cousin begegnet.« Mist. Ihre Stimme klang gepresst und unnatürlich fröhlich. Sie versuchte es erneut: »Er war drüben im Forest Ridge Hospital, als ich gerade zufällig einen Termin hatte.«

»Ja, Mark hatte den Sonntagabend im Restaurant freigenommen, um mit ihm und Sharon zu Abend zu essen.«

»Wie geht’s ihm denn so?«, bohrte Ivy weiter, unschlüssig, ob sie es überhaupt genauer wissen wollte. Musste sie wirklich hören, dass sein Leben weiterging, dass er womöglich eine neue Freundin hatte? Dass nun eine andere Frau in den Genuss seiner erregenden Hände kam, wann immer er die Arme um sie schlang? Vielleicht hatte er sich inzwischen verlobt. Ihr Kuss war schließlich schon über ein halbes Jahr her. Und so, wie es aussah, hatte er dieses Intermezzo längst vergessen.

»Ich hab ihn gar nicht gesehen«, erwiderte Kara. »Er ist schon gestern früh wieder zurück nach Baltimore gefahren.«

Tja, das erhärtete Ivys Verdacht. Sie bemühte sich, die Enttäuschung zu überspielen, die sich schwer auf ihre Brust legte, und beschleunigte die Schritte den Hügel hinauf zur Tanzschule, wo gerade kleine Mädchen in rosa Tutus aus den Türen strömten. Er war also weg. Kaum hier und auch schon wieder verschwunden, ohne ein Wort des Abschieds. Ivy schluckte und versuchte, den Klumpen loszuwerden, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte. Sie wusste, dass sie sich albern aufführte, all ihre Hoffnungen auf diesen Kuss gesetzt hatte, einen nichtssagenden Kuss.

Aber es war ein wirklich guter Kuss gewesen. Ein langer, tiefer, leidenschaftlicher Kuss. So voller … Verheißung.

Irgendwo in ihrem Innern, in einem kleinen Winkel, den sie lieber verleugnete, saß noch ein winziger Rest Hoffnung, dass trotz allem etwas Wundervolles geschehen könnte, dass ihre Ladentür sich öffnen würde, sie aufsähe, und er vor ihr stünde, mit seinem umwerfenden, breiten Lächeln und den funkelnden Augen. Wie im Film …

Nur dass das wahre Leben selten wie ein Liebesfilm ablief. Sie hatte Brett ja bereits wiedergesehen. Und ihr Zusammentreffen war alles andere als magisch gewesen. Mit dieser kalten, harten Wahrheit musste sie sich endlich abfinden.

Kara hielt sich hinter einem großen Ahorn versteckt, wo sie vor Blicken aus der Tanzschule geschützt war, als Ivy einige Minuten später wieder ins Freie trat. Rosemary war nicht gerade begeistert gewesen, als sie hörte, dass ihre pinken Lieblingsrosen erst nächste Woche geliefert wurden, doch nachdem sie ihren dick geschminkten Mund ein paarmal kritisch zusammengekniffen hatte, gab sie schließlich zu, dass Ivys Alternativstrauß eine nette und erfrischende Abwechslung war und der Farbtupfer gut in den ansonsten recht pastelligen Raum passte.

»Hat sie mich gesehen?«, fragte Kara und warf schnell einen Blick über die Schulter, den Rücken gegen den Baumstamm gepresst.

»Nein«, entgegnete Ivy und blickte zurück auf die renovierte rote Scheune, die Rosemary schon vor langer Zeit in ein Tanzstudio verwandelt hatte. »Aber du kannst dich nicht ewig vor ihr verstecken. Sie ist deine Mutter.«

»Meine sehr übergriffige Mutter«, nörgelte Kara. »Glaub mir, wenn sie wüsste, dass ich hier draußen bin, käme sie sofort angerannt, würde mit ihrem Lippenstift wedeln und mir erzählen, dass ich das Haus niemals ohne verlassen soll, denn … man weiß ja nie, wem man in die Arme läuft!« Das Ende des Satzes sprach sie mit Rosemarys berüchtigter Trällerstimme, und Ivy musste lachen, bis ihr die bittere Wahrheit der Aussage bewusst wurde.

Hätte sie im Krankenhaus statt ihrer alten Jeans dieses süße Kleid getragen, das sie kürzlich beim Einkaufen entdeckt hatte, und etwas frischer und ruhiger ausgesehen, anstatt ein Perlendiadem aus Schweiß auf ihrer Stirn zu haben, hätte Brett dann vielleicht anders auf sie reagiert?

Das würde sie wohl niemals herausfinden. Am besten grübelte sie gar nicht weiter darüber nach.

»Lust auf einen Kaffee?«, fragte sie Kara. Der Gedanke, allein in ihrer leeren Wohnung zu sitzen, reizte sie gerade überhaupt nicht.

Main Street Books lag gleich um die Ecke, und Ivy freute sich, als sie ihre Freundin Grace durch die großen, bleiverglasten Fenster ausmachte, während sie mit Kara darauf zuging.

Grace strahlte, als sie die zwei Frauen draußen entdeckte. Sie schob die Kasse zu und reichte einem Kunden eine braune Papiertüte mit frischem Lesefutter über den Verkaufstisch. »Braucht ihr was zum Schmökern?«

»Wir brauchen Kaffee«, meinte Kara. »Hast du Zeit?«

Grace sah sich im leeren Geschäft um und nickte. »Ich glaube nicht, dass vor Ladenschluss noch jemand vorbeikommt, warum also nicht?«

Die drei Frauen betraten das gleichfalls verwaiste Café nebenan, das Anhang genannt wurde und sich zur Abendessenszeit gewöhnlich leerte. »Jane unterrichtet heute Abend, deshalb bin ich sowohl für den Laden als auch das Café zuständig. Ich kann echt ne Pause gebrauchen.« Grace seufzte, als sie sich an einem der Tische beim Fenster auf einen Holzstuhl sinken ließ. »Nehmt euch, was ihr mögt, geht heute aufs Haus.«

Ivy trat an die Gebäcktheke und betrachtete die zuckrigen Teilchen, die riesigen Cookies und klebrigen Kaffeeküchlein. Sehnsüchtig stellte sie sich vor, wie tröstlich die Süße nach dieser lausigen Woche wäre. Doch bevor sie etwas tat, was sie bald bereuen würde, griff sie sich lieber einen Becher vom Regal und füllte ihn bis zum Rand mit Kaffee aus der halbvollen Kanne, die auf einer Platte warmgehalten wurde.

»Eigentlich würde ich ja widerstehen, aber ich hab diese Cookies heute Morgen selbst gebacken und musste noch den ganzen Tag an sie denken, nachdem du sie im Restaurant abgeholt hast.« Kara legte glücklich einen Keks mit Schokostückchen auf ihren Teller und goss sich ebenfalls Kaffee ein.

»Ich wusste gar nicht, dass die von dir sind«, meinte Grace, als Kara sich einen Stuhl heranzog. »Drei verschiedene Kunden haben sie gelobt.«

»Echt?« Kara wurde ein wenig rot und ein Lächeln stahl sich auf ihr Gesicht.

»Echt.« Als Kara und Ivy sich gesetzt hatten, deutete Grace auf den Cookie. »Darf ich mal testen, ob der ganze Aufstand auch gerechtfertigt war?« Sie brach sich eine Ecke ab und kaute bedächtig. »Wow.«

Kara zuckte bescheiden mit den Schultern. »Es ist nur ein Cookie.«

Grace brach sich noch ein Stück ab. »Nein, das ist ungefähr der beste Cookie, den ich seit Jahren gegessen hab. Aber verratet Anna nicht, dass ich das gesagt habe«, fügte sie schnell hinzu. »Ivy, den musst du probieren.«

Ivy spürte, wie ihre Wangen heiß wurden. »Oh, ich glaub’s euch auch so.«

Aber Grace ließ nicht locker. Sie hatte ja keine Ahnung, womit sich Ivy seit der ersten Klasse herumschlug, auch wenn sie schon immer ihre beste Freundin gewesen war. Sie hätte sie selbstverständlich unterstützt – wahrscheinlich ein bisschen zu sehr. In Ivys Leben gab es bereits einen Menschen, der alles, was sie sich in den Mund steckte, peinlich genau beobachtete, beim kleinsten Anzeichen von Kummer oder Anstrengung besorgt die Stirn runzelte, ihr endlose Vorträge über Nierenschäden hielt und sie nach Symptomen eines zu hohen oder zu niedrigen Blutzuckerspiegels belauerte, egal, was sie gerade tat. Sie brauchte nicht auch noch Grace dazu.

Ihre Freundin brach ein weiteres Stückchen ab und reichte es Ivy. Die starrte den feuchten, klebrigen Cookie mit den großen Schokostückchen an und schluckte. Es war nur ein Bissen.

Ein ziemlich großer Bissen, hörte sie Henrys strenge Stimme in ihrem Kopf.

Mit einem Grinsen nahm sie das Keksstückchen entgegen und schob es sich in den Mund, schloss die Augen, als sie den braunen Zucker schmeckte, die Vanille und die zarte, cremige Milchschokolade. »Definitiv ein Wow, Kara. Du hast wirklich Talent!«

»Oh, ich bin froh, dass ich im Restaurant von Nutzen sein kann«, meinte Kara und nippte an ihrem Kaffee. »Deine Schwester hat mir schon so viel beigebracht, Grace.«

»Tja, bis eben hätte ich darauf gewettet, dass niemand ihr beim Backen das Wasser reichen kann. Wenn sie wüsste, dass sie für dieses Meisterwerk verantwortlich ist, wäre sie sicher erfreut. Hat sie die Cookies probiert?« Grace brach sich noch ein Stück ab.

Kara zuckte die Schultern. »Weiß nicht genau. Wir haben so viel zu tun. Jeder macht halt seine Arbeit …«

Das Lächeln entglitt ihr nur ein kleines bisschen, und Grace merkte nichts davon, doch Ivy runzelte die Stirn. »Also, dann hast du deine Arbeit wirklich klasse gemacht. Du solltest diese Dinger im Restaurant auf die Dessertkarte setzen. Vielleicht mit einer Kugel von Marks hausgemachtem Vanilleeis.« Nicht dass Ivy das je probiert hätte.

»Vielleicht.« Kara zuckte schon wieder die Schultern.

»Also so was!« Grace lachte und schob den Teller von sich. »Am Ende esse ich ihn noch ganz allein auf. Hier, nehmt ihr ihn besser.«

Ivy blieb still sitzen. Sie griff mit beiden Händen nach ihrem Kaffeebecher und trank einen großen Schluck.

»Ach, als ob du auf deine Figur achten müsstest«, meinte Kara.

»Nur weil ich jetzt verheiratet bin?« Grace schüttelte den Kopf.