Winter in Briar Creek - Olivia Miles - E-Book

Winter in Briar Creek E-Book

Olivia Miles

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Beschreibung

Small-Town-Romances für jede Jahreszeit: Willkommen in Briar Creek

Autorin Grace Madison kehrt nach fünf Jahren das erste Mal zurück nach Briar Creek und muss feststellen, dass sich in ihrem Heimatort nichts verändert hat. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, und die weihnachtliche Behaglichkeit des idyllischen Örtchens schreckt sie nach all den Jahren in der Großstadt regelrecht ab. Sie kann sich nicht vorstellen, jemals wieder in Vermont zu leben. Doch der plötzliche Tod ihres Vaters und sein kleiner Buchladen, um den sich sonst niemand kümmern kann, lassen ihr erst einmal keine Wahl. Und dann begegnet ihr auch noch Luke Hastings, der Mann, den sie nie wiedersehen wollte - und der ihr Herz immer noch höher schlagen lässt ...

»Ich habe dieses Buch geliebt!« LIVINGLIFEWITHJOY

Dieser Roman ist ein Remake des in einer früheren Ausgabe bei LYX.digital erschienenen Titels Winter in Briar Creek

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Seitenzahl: 530

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

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Dank

Die Autorin

Die Romane von Olivia Miles bei LYX

Impressum

OLIVIA MILES

Winter in Briar Creek

Roman

Ins Deutsche übertragen von Kerstin Fricke

Zu diesem Buch

Autorin Grace Madison kehrt nach fünf Jahren das erste Mal zurück nach Briar Creek und muss feststellen, dass sich in ihrem Heimatort nichts verändert hat. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, und die weihnachtliche Behaglichkeit des idyllischen Örtchens schreckt sie nach all den Jahren in der Großstadt regelrecht ab. Sie kann sich nicht vorstellen, jemals wieder in Vermont zu leben. Doch der plötzliche Tod ihres Vaters und sein kleiner Buchladen, um den sich sonst niemand kümmern kann, lassen ihr erst einmal keine Wahl. Und dann begegnet ihr auch noch Luke Hastings, der Mann, den sie nie wiedersehen wollte – und der ihr Herz immer noch höher schlagen lässt …

Für Avery Grace, in Liebe.

1

Idyllisch wie ein Postkartenmotiv.

Auch wenn sie es am liebsten abgestritten hätte, wusste Grace Madison ganz genau, dass es nichts Schöneres gab als Vermont zur Weihnachtszeit. Sie blieb an der Stelle stehen, an der die leicht zugeschneite Straße eine Biegung machte, und starrte zu der Brücke in einiger Entfernung hinüber, während sie vor Missfallen die Lippen schürzte. Schneeflocken fielen langsam vom Himmel und bedeckten das schräge Dach mit einem weißen Flaum. Jemand hatte einen Kranz mit einer roten Schleife in die bogenförmige Öffnung gehängt, und die Eiszapfen daran ließen das Ganze noch pittoresker wirken.

Seufzend trat Grace wieder auf das Gaspedal und fuhr über die Brücke und das gefrorene Wasser darunter in die Stadt Briar Creek hinein, in der sie aufgewachsen war. Das handgemalte Schild am Straßenrand hieß sie willkommen und verkündete, dass hier ebenso viele Menschen lebten wie in dem Häuserblock, in dem sie in Manhattan wohnte.

In dem Häuserblock, in dem sie in Manhattan gewohnt hatte, korrigierte sie sich.

Sie fuhr den vertrauten Weg entlang und bog auf die Mountain Road ein, als die Sonne gerade hinter den Green Mountains unterging. Während sie die Scheibenwischer anmachte und nach dem Schalter suchte, mit dem sie die Scheinwerfer einschalten konnte, fluchte sie leise, da sie sich vor dem Losfahren nicht mit dem Mietwagen vertraut gemacht hatte. Sie hantierte an allen Vorrichtungen herum und grinste schließlich voll grimmiger Zufriedenheit, als das warme gelbe Licht vor ihr auf die Straße fiel. In solchen Momenten wurde ihr immer umso deutlicher bewusst, warum sie das Leben in der Stadt bevorzugte. Sie hatte schon seit einer Ewigkeit kein Auto gesteuert … Es war länger her, als sie sich selbst eingestehen wollte. In der Stadt hatten Derek und sie keinen Wagen gehabt, da sie sich einfach ein Taxi riefen, wann immer sie irgendwohin wollten.

Derek. An ihn wollte sie jetzt nun wirklich nicht denken. Grace schaltete das Radio aus und mit ihm die deprimierenden Erinnerungen, die mit den Melodien verbunden waren. Doch als die Stille sie umgab und sie mit ihren melancholischen Gedanken allein ließ, machte sie es doch wieder an und suchte verzweifelt nach einem Sender, der nicht unablässig Weihnachtslieder spielte. Es musste doch irgendwo einen Sender geben, der eine Talkshow brachte. Irgendetwas, das sie nicht schmerzhaft daran erinnerte, wie einsam dieses Weihnachtsfest für sie werden würde.

Obwohl die Scheibenwischer inzwischen schon auf Höchstgeschwindigkeit arbeiteten, schafften sie es nicht, der Menge an Schneeflocken Herr zu werden. Der Wind wirbelte die Flocken durch die Luft und von der Straße auf, sodass Grace manchmal gar nicht mehr wusste, wohin sie eigentlich fuhr. Sie wurde langsamer, bis sie nur noch Schritttempo fuhr, umklammerte das Lenkrad fester und starrte mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe in das Schneetreiben hinaus.

Dann rutschten die Reifen über eine Eisfläche, und Grace blieb beinahe das Herz stehen. Sie ging noch weiter vom Gas und versuchte, nicht die Kontrolle über den Wagen zu verlieren. Da kam dieser plötzlich mit einem Ruck zum Stehen.

Sie schlug die Augen auf und sah sich um. Sie starrte auf eine Schneewand, die höher war als die Motorhaube ihres Wagens. Im Wald um sie herum war es so still, dass es schon unheimlich war, und sie hörte nichts als das schnelle Klopfen ihres Herzens.

Grace fluchte leise. Jetzt musste sie nicht nur einen Weg finden, den Wagen wieder auf die Straße zu bekommen, danach würde sie die Fahrt auch noch fortsetzen müssen. Als wäre diese Reise nicht schon schlimm genug gewesen.

Aber sie riss sich zusammen. Sie war nicht tot, nicht einmal verletzt, abgesehen von dem roten Fleck an ihrem Arm an der Stelle, an der sie sich gekniffen hatte, um sich davon zu überzeugen, dass sie wirklich hier war. Der Aufprall war seltsam sanft gewesen und hatte nichts anderes bewirkt, als ihre Wut über eine Reise, die ohnehin schon stressig genug war, noch weiter zu steigern. Der schrille Schrei, den sie ausgestoßen hatte, als der Wagen gegen den Schneehaufen geprallt war, ließ sich nur als Überreaktion bezeichnen, aber es war ja zum Glück niemand in der Nähe, der ihn hätte hören können. Was wiederum bedeutete, dass keiner da war, der ihr helfen würde.

Der Schnee war schwer und nass geworden, sodass die Flocken nicht länger vom Wind herumgewirbelt wurden, sondern eine dicke Schicht auf der Motorhaube bildeten. Grace biss die Zähne zusammen, legte den Rückwärtsgang ein und trat vorsichtig auf das Gaspedal. Da nichts passierte, drückte sie etwas fester und zuckte zusammen, als sie hörte, wie die Reifen durchdrehten. Sie umklammerte das Lenkrad und versuchte es erneut, während ihr die Panik den Brustkorb zuschnürte. Der Wagen bewegte sich nicht.

Ohne nachzudenken öffnete Grace den Sicherheitsgurt und stieß die Autotür auf. Sofort pfiff der Wind um sie herum und peitschte ihr das lange, kastanienbraune Haar ins Gesicht. Der Straßenabschnitt vor ihr war deprimierend verlassen, und in der Ferne ging die Sonne langsam hinter den Bergen unter. Schon bald würde es dunkel sein, und auf dieser alten Nebenstraße war den ganzen Tag noch kein Schneepflug entlanggefahren. Wenn es Nacht wurde, konnte ihr hier nicht einmal eine Straßenlaterne Trost spenden.

Grace stapfte mit schnellen Schritten vor den Wagen, stützte die Handflächen gegen die Motorhaube und stemmte sich mit aller Kraft dagegen. Nach vier weiteren Versuchen war sie völlig erschöpft und sehr beunruhigt. Es wurde Zeit, Hilfe zu rufen. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag wünschte sie sich, dass Derek da wäre. Wenn er am Steuer gesessen hätte, wäre so etwas nie passiert.

So ein Blödsinn! Sie stieg wieder in den Wagen, schaltete das Radio ein, um sich nicht so allein zu fühlen, und suchte nach ihrem Handy. Sie wollte Derek ja nicht bei sich haben – schließlich hatten sie sich getrennt. Ein für alle Mal. Sie hatte ihm den Ring zurückgegeben, und sie hatten ihre Beziehung zwar im Guten, aber auch recht eisig beendet. Nein, sie wollte Derek wirklich nicht hier haben. Vielmehr sehnte sie sich nach den Dingen, die Derek ihr bieten konnte oder vielmehr: die er ihr in der Vergangenheit geboten hatte: Sicherheit, Stabilität, Geborgenheit. Trost und Freude. Lasst uns froh und munter sein … Ach, dieses verdammte Weihnachtslied!

Grace schaltete das Radio aus und beschloss, es auf keinen Fall erneut einzuschalten. Sonst würde sie sich noch richtig aufregen, und das fehlte ihr gerade noch. Sie hatte ihrer Mutter versprochen, rechtzeitig zum Abendessen zu Hause zu sein, und wollte ihre Familie nicht mit missmutiger Miene begrüßen. Was hätte es dann für einen Sinn gehabt, überhaupt nach Hause zu fahren?

Sie seufzte erneut und kramte in ihrer völlig überladenen Handtasche herum, da sie ihr Handy noch immer nicht gefunden hatte. Schließlich entdeckte sie es zwischen dem Papier von zwei Schokoriegeln und dem Kassenzettel für die Weihnachtsgeschenke. Sie ging die Telefonnummern ihrer Familienmitglieder durch, bis sie die ihrer jüngsten Schwester gefunden hatte.

»Hallo?« Janes Stimme war über das laute Topfklappern kaum zu hören. Grace konnte im Hintergrund die Stimme ihrer Mutter ausmachen, ebenso wie die ihrer jüngeren Schwester Anna. Sie hatten sich zweifellos gerade alle in der warmen, gemütlichen Küche rings um die große Kücheninsel herum versammelt, die das Zentrum des Hauses war, und kabbelten sich darum, welche Beilagen sie zubereiten sollten oder wer sich um den Nachtisch kümmerte. Sie malte sich aus, wie ihre kleine Nichte Sophie sich gerade einen Weihnachtsklassiker im Fernsehen ansah oder ihren Wunschzettel schrieb.

Grace musste an ihr Weihnachtsgeschenk für Sophie denken. Sie hatte keine Erfahrung mit Vierjährigen, und Jane beschwerte sich ständig darüber, dass Kinder sich so schnell veränderten. Grace hatte Sophie zuletzt im Frühling gesehen und davor als Einjährige, als Jane und Adam ein langes Wochenende in New York verbracht hatten. Vor neun Monaten war Grace daher erschrocken gewesen, wie anders Sophie inzwischen aussah, und jetzt fiel ihr auch wieder ein, wie sehr sie es bedauert hatte, all die Jahre fortgeblieben zu sein.

Tja, noch ein Grund mehr, jetzt tapfer zu sein und dieses Weihnachtsfest zu genießen. Schließlich galt es, die verlorene Zeit wiedergutzumachen. Da durfte sie sich nicht in ihrem Selbstmitleid suhlen.

»Hey …«

»Wo steckst du?«, zischte Jane durch die knisternde Leitung.

Grace runzelte die Stirn. »Was ist das denn für eine Begrüßung?« Am liebsten wäre sie auf der Stelle wieder umgekehrt. Schon um Mitternacht konnte sie zurück in der Stadt sein, mit einer Schüssel ihres Leibgerichts vom Thai-Lieferservice im Bett liegen und sich einen dieser wunderbaren Weihnachtsfilme ansehen, die zu dieser Jahreszeit ständig im Fernsehen liefen. Aber dann fiel ihr wieder ein, dass es in diesem Jahr schlecht um ihre Weihnachtsstimmung bestellt war. Außerdem saß sie in einem Mietwagen auf einer der abgelegensten Straßen von Briar Creek in einer Schneewehe fest. Und zu allem Überfluss hatte sie auch keine eigene Wohnung mehr, in der sie sich verkriechen konnte. Ihr ganzes Hab und Gut war entweder in einem Lager in Brooklyn, New York, untergebracht oder steckte in den vier Taschen, die im Kofferraum ihres Wagens lagen. Verdammt!

»Entschuldige«, sagte Jane. »Das war nicht so gemeint. Ich bin nur ein bisschen … gestresst. Du weißt ja, wie das ist.«

Ja, das wusste Grace allerdings. Zu Weihnachten drehte ihre Mutter immer ein wenig durch und wurde hyperaktiv. Sie zerbrach sich Wochen im Voraus den Kopf über die Tischdekoration und das Menü und stellte sich zehn Meter von der Veranda entfernt auf, um die Tannengirlande am Haus zu begutachten. Ihre drei Töchter standen derweil frierend herum, nur um schließlich die Augen zu verdrehen und sich in die Wärme am Kaminfeuer zurückzuziehen und ihren Vater draußen zurückzulassen, der geduldig alle Änderungswünsche ausführte und die Girlande mit amüsierter Miene ausrichtete, bis die Herrin des Haues zufrieden war.

Kathleen Madison galt als die »Weihnachtskönigin« von Briar Creek. Ihr Haus hatte zwölf Jahre in Folge den Wettbewerb für das am schönsten dekorierte Haus gewonnen, bis Kathleen schließlich beschlossen hatte, dass es geschmacklos wäre, das noch länger fortzusetzen, und stattdessen in die Jury gewechselt war. »Eine andere Familie soll auch mal eine Chance haben«, hatte sie ihren Mädchen zugeflüstert und damit gemeint, dass niemand anderes gewinnen würde, solange die Madisons am Wettbewerb teilnahmen.

Als selbstständige Dekorateurin sah Kathleen das Weihnachtsfest als die beste Gelegenheit des Jahres an. Das Innere des Madison-Hauses wurde immer mit einem Weihnachtsdorf aus Porzellan geschmückt, das im Erkerfenster aufgebaut wurde, sowie mit einem antiken Zug, der um die spektakuläre Douglastanne herumfuhr, die die Familie jedes Jahr zusammen aussuchte. Der Weihnachtsbaum der Madisons hatte schon zwei Mal die Titelseite der Briar Creek Gazette geziert. Die Weihnachtskarten wurden von Kathleen stets eigenhändig mit Kalligrafie verschönert, und sie ging die Weihnachtsbäckerei mit einer Härte und Unerbittlichkeit an, die man sonst nur von militärischen Drills kannte. Jeder Nachbar, Freund und Lehrer freute sich lange im Voraus auf den Geschenkkorb voller Gaben, die Kathleen eigenhändig hergestellt hatte, und der jährliche Weihnachtsbasar hätte ohne ihre rege Beteiligung gar nicht stattfinden können.

»Du kommst doch noch, oder?«, fragte Jane mit zittriger Stimme.

»Natürlich komme ich noch!« Grace kniff die Augen zusammen, starrte in den fallenden Schnee hinaus und hoffte, irgendwo ein Scheinwerferlicht zu erkennen.

Aber als nirgendwo ein Licht zu sehen war, ließ sie den Kopf gegen die Kopfstütze sinken und dachte über Janes Andeutung nach. Sie konnte ihrer Schwester die Skepsis nicht verdenken. Mit Ausnahme jenes schmerzhaften Frühlingsmorgens vor neun Monaten war es Grace gelungen, ihrer Heimatstadt und den Erinnerungen, die dort jedes Mal auf sie einstürmten, fernzubleiben. Seitdem sie ihr Zuhause verlassen hatte – auch wenn sie damals noch nicht geahnt hatte, dass es auf Dauer sein würde –, waren fünf Jahre vergangen. Mit jedem Jahr war die Distanz zu ihrer Vergangenheit größer geworden, bis ihr Lebensmittelpunkt schließlich ganz in New York und nicht mehr in der verschlafenen Kleinstadt in New England war. Und bis sie mit den Menschen dort so gut wie nichts mehr zu tun hatte.

»Ich habe doch gesagt, dass ich zum Abendessen da bin«, fügte sie hinzu und starrte mit gerunzelter Stirn in die weiße Welt hinaus. Sie stellte die Scheibenwischer eine Stufe höher, aber auch das brachte nichts.

»Ich wollte nur auf Nummer sicher gehen …« Jane sprach nicht weiter, und die Verbindung wurde noch schlechter. »Du hättest deine Meinung ja in letzter Sekunde ändern können, weil … na ja, du weißt schon.«

»Wenn du damit den Menschen meinst, dessen Namen wir nicht aussprechen, dann musst du dir keine Sorgen machen. Ich bin ihm seit Jahren aus dem Weg gegangen und habe vor, das auch kommende Woche zu tun.« Grace schluckte schwer. Das war durchaus machbar. Sie würde im Haus bleiben, Bücher lesen, Kekse backen und versuchen, nicht darüber nachzudenken, wie nah sie ihrer ersten Liebe war. Dem ersten Mann, der ihr das Herz gebrochen hatte. Oder allem anderen, das sie erst vor Kurzem verloren hatte. »Außerdem frage ich mich, wieso du dir darüber überhaupt Gedanken machst«, fügte sie mit größerer Überzeugung in der Stimme hinzu, als sie wirklich empfand. »Die Sache ist doch schon ewig vorbei.«

Am anderen Ende gab es eine Pause. »Wenn du meinst«, gab Jane leise zurück.

Grace biss sich auf die Unterlippe und wusste, dass es sinnlos war, etwas zu ihrer Verteidigung vorzubringen. Jane kannte sie viel zu gut, und Grace konnte einfach nichts vor ihr verbergen. Die ganze Familie kannte den Grund, warum sie Briar Creek verlassen hatte und nie mehr zurückgekommen war. Das lag nur an dem Mann, dessen Namen sie in Grace’ Gegenwart nie wieder in den Mund nehmen würden, wie sie ihr versprochen hatten. Dem Mann, der bewirkte, dass ihr Magen sich noch immer zusammenzog, ihr das Blut in den Adern gefror und ihr Herz ein weiteres Mal brach, wenn sie nur an ihn dachte.

Sie hatte diese Reise in Gedanken wenigstens ein Dutzend Mal verworfen, aber letzten Endes hatte sie gewusst, dass es keinen anderen Weg gab. Niemand konnte voraussagen, was während ihres Aufenthalts in Briar Creek geschehen würde. Wunden würden aufgerissen werden und neue Narben entstehen. Ihr Leben brach ohnehin auseinander, da konnte sie nicht noch mehr Aufregung gebrauchen.

Es sah nicht gut aus für sie. Sie hatte es geschafft, immerhin – sie sah auf die Uhr – siebzehn Minuten lang nicht daran zu denken. Wow, das waren tatsächlich zwei Minuten mehr als beim letzten Mal, als sie wieder in ihren finsteren Gedanken versunken war. Ihre Beziehung war nicht das Einzige, das vorüber war. Auch um ihre Karriere stand es nicht gerade gut.

Sie presste die Lippen aufeinander. Daran durfte sie jetzt auf gar keinen Fall denken.

Als sie den Fuß auf das Gaspedal rammte, jaulte der Motor erneut auf und die Reifen gruben sich noch tiefer in den Schnee.

»Bevor du herkommst, ist da noch was, worüber ich mit dir sprechen wollte …«

Grace hätte beinahe laut aufgelacht. Das war wohl kaum der richtige Zeitpunkt, um länger miteinander zu plaudern. »Können wir das später besprechen, Jane? Ich stecke gewissermaßen in einer Schneewehe fest.«

»Was?« Janes Stimme klang jetzt ganz schrill, und Grace musste das Telefon weghalten. Als sie es wieder ans Ohr drückte, hörte sie ihre Schwester gerade noch fragen: »Soll ich die Polizei rufen?«

»Entspann dich«, erwiderte sie und trat so fest auf das Gaspedal, wie sie nur konnte. »Es geht mir gut. Ich bin nur von der Straße abgekommen und schaffe es nicht, diese Scheißkarre«, sie trat das Pedal noch einmal durch, auch wenn sie wusste, dass es sinnlos war, aber die Hoffnung starb bekanntlich als Letztes, »wieder in Gang zu setzen.«

»Aber es geht dir gut?«, erkundigte sich Jane besorgt, und Grace bereute es sofort, sie beunruhigt zu haben. Nach allem, was die Familie im vergangenen Jahr durchgemacht hatte, waren die Nerven bei allen dünn.

»Ja, es geht mir gut. Wir telefonieren schließlich schon ein paar Minuten, nicht wahr?« Grace zog die Handbremse und sah in den Rückspiegel. »Ich … ich möchte, dass du mich abholst. Vermutlich muss ich einen Abschleppwagen rufen.« Auf einmal glaubte Grace, in der Ferne die Scheinwerfer eines Wagens zu sehen, der sich den Weg durch die Dunkelheit bahnte. Sie setzte sich auf und starrte gebannt nach draußen, während die Lichtkegel immer größer wurden. Und wirklich, wenig später rollte ein SUV langsam auf ihren Wagen zu und blieb schließlich vor ihr stehen. Mit unterdrücktem Grinsen sammelte sie ihre Sachen zusammen, damit sie rasch aufbrechen konnte.

»Vergiss es, Jane«, sagte sie schnell. »Jetzt ist jemand gekommen.«

»Oh gut«, entgegnete Jane. »Dann bist du also bald hier?«

»Ich lasse mich mit in die Stadt nehmen, aber es kann sein, dass du mich dann abholen musst.« Sie konnte im Notfall im Buchladen ihres Vaters warten. Diese Vorstellung heiterte sie auf. Einen positiven Aspekt hatte ihre Rückkehr nach Briar Creek immerhin: Im Buchladen Main Street Books hatte sie ihre Sorgen schon immer vergessen können.

»Okay. Wenn ich nichts mehr von dir höre, gehe ich davon aus, dass du unterwegs bist.«

Grace legte auf und stellte fest, dass ihr der Gedanke, mit einem völlig Fremden in die Stadt fahren zu müssen, keine große Angst einjagte. An jedem anderen Ort hätte sie so etwas nie in Betracht gezogen, aber hier in dieser Gegend liefen die Dinge nun einmal anders. Wenn man in Briar Creek sah, dass jemand an den Straßenrand gefahren war, hielt man an und fragte, ob man helfen konnte. In New York wäre man in einer ähnlichen Situation einfach weitergefahren.

Sie schrak zusammen, als es an das Wagenfenster klopfte. Schnell räumte sie die leeren Kaffeebecher und weiteren Beweise dafür, dass sie sich in der Nähe der Grenze zu Vermont in einem Fast-Food-Restaurant mit Essen eingedeckt hatte, beiseite. Mit einem verlegenen Lächeln drehte sie sich dann zum Fenster um – und ihr stockte der Atem, als sie Luke Hastings ebenso erschrockenes Gesicht vor sich sah.

Sie starrte ihn an, ohne zu blinzeln, und drückte sich eine fettverschmierte Papiertüte gegen die wie zugeschnürte Brust. Dieser Tag wird ja immer besser. Kaum hatte sie die Stadtgrenze überquert, lief sie schon dem Mann in die Arme, dem sie aus dem Weg gehen und den sie nie mehr wiedersehen wollte.

Die Scheinwerfer seines Range Rovers strahlten hell, und Grace bemerkte mit schwerem Herzen, dass er seit ihrer letzten Begegnung nichts von seiner Attraktivität eingebüßt hatte. Wenn überhaupt, dann wirkten seine Gesichtszüge nur noch männlicher und stärker. Die Fältchen rings um seine dunkelblauen Augen verliehen ihm Charakter, und sein intensiver Blick hatte auf Grace dieselbe Wirkung wie eh und je. Dieser verdammte Mistkerl!

Grace hielt seinem Blick stand und wusste, dass sie in der Falle saß. Nun war sie seiner Gnade ausgeliefert. Er konnte einfach weggehen, sich weigern, ihr zu helfen, und sie an dieser dunklen Straße im Gebirge allein zurücklassen. Mitten in einem Schneesturm. Aber so etwas würde kein Mann tun, nicht einmal Luke – auch wenn sie sich in diesem Augenblick nichts mehr wünschte.

Nicht zum ersten Mal wurde ihr die seltsame Ironie der Tatsache bewusst, dass Luke ein Gentleman war und vermutlich immer sein würde.

Grace ließ das Fenster mit einem Knopfdruck herunter. »Was in aller Welt machst du denn hier?«

Ein neugieriges Grinsen umspielte Lukes Lippen. »Dasselbe könnte ich dich auch fragen.«

»Es ist Weihnachten«, erwiderte sie angespannt.

»Erst in einer Woche«, gab er verstimmt zurück.

»Schließlich ist hier noch immer meine Heimatstadt.«

Er sah sie fragend an. »Ist sie das?«

Grace wandte den Blick ab. »Du kannst weiterfahren, Luke. Ich habe gerade mit Jane telefoniert, sie kann mich abholen.« Sie errötete und kramte fieberhaft in ihrer Handtasche nach ihrem Handy.

Luke begutachtete die Situation stirnrunzelnd. »Anscheinend steckst du hier fest.« Er musterte sie. »Bist du verletzt?«

Grace presste die Lippen aufeinander und drehte den Kopf weg, um seiner Musterung zu entgehen, musste ihn dann aber doch wieder ansehen. Obwohl die winterliche Kälte ihrer Nase und ihren Fingern zusetzte, war ihr heiß, und sie begann zu schwitzen. »Es geht mir gut, danke der Nachfrage. Alles ist … bestens.« Und das war es auch, oder es würde zumindest wieder so sein, sobald er endlich verschwunden war. Wenn er ihr den Rücken zuwandte und ging, so, wie er es vor all diesen Jahren getan hatte.

Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Ach, wirklich?«

»Ja!« Mit diesen Worten ließ Grace die Fensterscheibe wieder hochfahren und war kurz erleichtert, dass das Glas sie von … von dem Mann trennte, dessen Namen nie wieder erwähnt werden sollte. Sie starrte das Lenkrad mit gerunzelter Stirn an, biss die Zähne zusammen, legte den Rückwärtsgang ein und trat das Gaspedal durch. Die Räder drehten lautstark durch, aber der Wagen bewegte sich nicht.

Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Niedergeschlagen fixierte sie das Armaturenbrett mehrere Sekunden lang, bevor sie schließlich erneut Luke ansah. Sein Mundwinkel zuckte, seine blauen Augen funkelten, und Grace krallte mit einem tiefen Seufzer die Fingernägel in ihre Handflächen.

Er deutete auf die Wagentür und gab ihr ein Zeichen, sie zu öffnen. Sein intensiver Blick bohrte sich in ihre Augen, und er presste die Lippen aufeinander, um seinem Unmut Ausdruck zu verleihen.

Tja, das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit, dachte Grace und schnaufte. Sie riss den Blick von ihm los und entriegelte die Tür. In dem Augenblick, in dem sie die Tür öffnete, schlug ihr auch schon der eiskalte Wind ins Gesicht.

»Was hast du bei diesem Wetter überhaupt auf dieser Straße zu suchen?«, wollte Luke wissen, als sie aus dem Auto stieg. Sein dunkles Haar, von Schneeflocken bedeckt, fiel ihm in die Stirn. »Du hättest die Oak oder die South Main nehmen sollen.«

Grace ignorierte seine halbherzige Geste, ihr zu helfen, und er ließ die Hand wieder sinken. Dann kniff sie die Augen zusammen, als sie das Grinsen auf seinen Lippen sah. Den Lippen, die sie fast ebenso gut kannte wie ihre eigenen. Sie wusste, wie sie sich anfühlten und wie sie schmeckten. Jetzt richtete sie sich zu voller Größe auf und sah ihn trotzig an. »Tja, ich hab aber nun mal die Mountain Road genommen, okay? Außerdem könnte ich dich dasselbe fragen!«

Luke legte den Kopf ein wenig schief. »Eigentlich nicht. Ich wohne an der Mountain Road. Außerdem hat mein Wagen Vierradantrieb.«

Grace wurde immer gereizter. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, die South Main zu nehmen, auch wenn das der direkteste Weg in die Stadt gewesen wäre. Irgendwie war sie unbewusst in die Richtung des einen Menschen gefahren, dem sie unbedingt aus dem Weg gehen wollte. Der kleine Teil von ihr, der sich nach etwas sehnte, das unmöglich war, hatte alle rationalen Gedankengänge ausgeschaltet. Und jetzt hatte sie offenbar bekommen, was sie gewollt hatte. Jetzt stand sie hier und starrte dem Mann ins Gesicht, den sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen hatte, mit Ausnahme dieser einen, kurzen Begegnung, die sie am liebsten vergessen würde.

»Ich meinte, warum du in der Gegend herumfährst, wenn es so schneit. Und … zu dieser Uhrzeit.« Sie deutete auf die Dunkelheit, die sie umgab.

Es war offensichtlich, dass sich Luke ein Grinsen verkneifen musste. Er musterte sie amüsiert und sah dann übertrieben auffällig auf die Uhr. »Es ist siebzehn Uhr«, erklärte er. »Und ich wohne gleich da vorne, wie du dich bestimmt erinnerst.« Jetzt musste er doch grinsen.

»Tja.« Grace holte tief Luft, und die Kälte schmerzte ihr in der Lunge. Sie wandte den Blick ab. Inzwischen schneite es heftig, und dicke Flocken fielen vom Himmel. Die Motorhaube ihres Wagens war bereits mit mindestens drei Zentimetern Schnee bedeckt, und ihr Haar fühlte sich auf ihrem grauen Wollmantel nass und schwer an. Perfektes Schneemannwetter, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf. So sie denn in Weihnachtsstimmung gewesen wäre, was sie nicht war. Definitiv nicht.

»Was machst du hier draußen?«, fragte er.

»Ich hab’s dir doch erzählt. Ich fahre nach Hause.«

Er musterte sie grimmig. »Ich dachte, du hättest gesagt, dass du nie mehr nach Briar Creek zurückkommen würdest.«

Sie starrte ihn wütend an. Das war nicht die ganze Geschichte, das wusste er genau. »Jane hat mich gebeten, nach Hause zu kommen«, erklärte sie. »Und nach allem, was passiert ist, konnte ich mich kaum weigern.«

Luke nickte langsam. »Das kann ich nachvollziehen.« Er sah zu Boden und steckte die Hände in die Hosentaschen. »Ich wusste nicht, dass du kommen würdest.«

»Das wundert mich aber. Normalerweise spricht sich so was hier doch immer schnell rum.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und beäugte ihn durch den herabfallenden Schnee.

Er kniff die Augen zusammen. »Ja«, murmelte er nach einem Augenblick. »Normalerweise schon.«

Dann seufzte er, wandte den Blick ab und ging nach vorn, um sich den Schaden an ihrem Wagen anzusehen. Grace wartete darauf, dass er sich über ihre missliche Lage lustig machen würde, aber er schien nicht in der Stimmung dazu zu sein. Diese Erkenntnis enttäuschte sie und erinnerte sie gleichzeitig daran, was früher einmal zwischen ihnen gewesen war und jetzt nicht mehr da war. In diesem Moment, in dem sie hier mit dem Menschen, der sie am besten kannte, allein in der Dunkelheit auf dem verschneiten Berg stand, fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor in ihrem Leben.

»Tja«, murmelte Luke und beugte sich vor, um sich die Lage genauer anzusehen. »Es sieht nicht so aus, als ob du ohne Hilfe aus dieser Schneewehe rauskommst.«

»Dann rufe ich einen Abschleppwagen«, sagte sie, kramte in ihrer Handtasche herum und zog dabei versehentlich die Verpackung eines Schokoriegels heraus. Sie sah zu, wie das Papier vom Wind in Richtung Wald davongetragen wurde, und bemerkte aus den Augenwinkeln, wie Luke das grinsend zur Kenntnis nahm. Als sie ihr Handy endlich gefunden hatte, wählte sie wütend die Nummer der Auskunft und wartete. Aber die Leitung war tot. Ihr stockte der Atem, als sie auf das Display sah und feststellte, dass sie keinen Empfang mehr hatte. War ja klar.

Sie warf Luke einen verstohlenen Blick zu und spürte den Zorn in sich auflodern, als seine blauen Augen amüsiert funkelten. War das für ihn wirklich so einfach? Empfand er denn gar nichts?

»Kein Netz?«

»Vor einer Minute ging es noch …« Sie stieß den Atem aus, lockerte ihre Schultern und sah Luke an. Während sie seine Gesichtszüge musterte, wallte in ihrer Magengrube etwas sehr Gefährliches auf. Wie konnte er noch immer diese Wirkung auf sie ausüben? »Wenn es dir nichts ausmacht, in die Stadt zu fahren und den Abschleppwagen zu rufen, warte ich so lange im Wagen.« Sie hielt inne und knirschte mit den Zähnen. »Das wäre sehr nett von dir.«

Er sah sie an, als wäre sie jetzt völlig verrückt geworden. »Glaubst du wirklich, ich würde Hilfe holen und dich einfach hierlassen?«

Sie zuckte mit den Achseln. »Wieso nicht? Du hast mir schon schlimmere Dinge angetan.«

Auf einmal wirkte er frustriert. Er rieb sich mit einer Hand über das Kinn, und seine Augen waren hart wie Stahl. Grace kannte diesen Blick, sie kannte ihn sogar viel zu gut. Sie hatte ihn wütend gemacht. Sehr schön.

»Steig in meinen Wagen«, befahl er ihr und deutete mit dem Kinn auf seinen großen schwarzen SUV. »Es ist eiskalt hier draußen.«

Grace versuchte, das Frösteln zu unterdrücken, das sie erfassen wollte. Luke durfte auf gar keinen Fall merken, wie sehr sie in ihrem dünnen Wollmantel fror. Doch obwohl sie sich konzentrierte, es half nichts. Sie zitterte und fluchte innerlich, als Lukes Miene sanfter wurde.

»Hier, nimm meinen Schal.« Er kam auf sie zu, aber sie machte reflexartig einen Schritt nach hinten. Sofort blieb er stehen und sackte in sich zusammen. »Nimm den Schal, Grace.«

Grace reckte das Kinn in die Luft und presste die Lippen aufeinander. Sie starrte ihn aus den Augenwinkeln an, und ihr Herz klopfte schneller. Da stand er. Luke Hastings. Die Liebe ihres Lebens. Der Mann, der sie in der Sommerhitze durch das eisige Wasser des Baches gejagt hatte. Der Mann, der sie in sein Bett gebracht hatte, zwischen kühle Baumwolllaken. Der Mann, der sie geküsst hatte, bis sie weinen musste, und in den Armen gehalten hatte, bis sie keine Luft mehr bekam. Der Mann, dessen Lächeln ihr das Herz erwärmte und dessen Stirnrunzeln es zum Stillstand bringen konnte. Der Mann, der so prägend für ihre Vergangenheit gewesen war und der eigentlich auch ihre Zukunft hätte verkörpern sollen. Der Mann, mit dem es seitdem kein anderer hatte aufnehmen können.

»Na gut«, murmelte sie und nahm den marineblauen Schal. Als sie ihn sich um den Hals wickelte, atmete sie unwillkürlich den moschusartigen Duft ein, der von dem Stoff ausging, und schloss die Augen. Sie befühlte die Fransen und wusste, dass sie Luke in all den Jahren, die sie zusammen gewesen waren, nie mit diesem Schal gesehen hatte.

Sie überlegte, woher er den Schal wohl hatte. Vielleicht hatte er ihn von seiner Frau geschenkt bekommen.

»Ist dein Gepäck im Kofferraum?«, wollte Luke wissen, und Grace nickte. Ohne ein weiteres Wort öffnete er die Klappe und zog zwei große Taschen heraus. Er trug eine davon zu seinem Wagen und kam zurück, um die andere zu holen. »Du bist nicht gerade mit leichtem Gepäck unterwegs«, knurrte er im Vorbeigehen.

Grace beobachtete, wie er ihr Gepäck verstaute, und starrte verzweifelt ihren Mietwagen an, der sie jetzt nirgendwo mehr hinbringen würde. »Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen«, flüsterte sie zu sich selbst. Ich hätte überhaupt nicht herkommen sollen.

»Kommst du jetzt oder nicht?«, rief Luke ungeduldig.

Grace schloss die Augen und schüttelte den Kopf, ging aber dennoch auf seinen Wagen zu. Während der Schnee unter ihren Stiefeln knirschte, kam sie mit jedem Schritt dem Teil von sich näher, den sie seit dem Tag, an dem sie diese Stadt verlassen hatte, zu verleugnen versuchte. Jeder Zentimeter, den sie sich Lukes Welt näherte, führte sie weg von der, die sie sich selbst aufgebaut hatte.

Schließlich stand sie vor der Beifahrertür und zog sie auf. Wenn sie sich in diesen Wagen setzte – in Lukes Wagen –, dann gab es kein Zurück mehr. Sie hielt inne, und ihr Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft. Sie wischte sich eine kalte, feuchte Haarsträhne aus der Stirn. Luke warf ihr einen erwartungsvollen Blick aus dem Wageninneren entgegen. Die warme Luft, die aus den Lüftungsschlitzen drang, fühlte sich im Gegensatz zu der kalten Abendluft fast schon erstickend an.

Nachdem sie noch ein letztes Mal tief Luft geholt hatte, um sich Mut zu machen, stieg sie ein und ließ die Sicherheit ihrer Welt hinter sich, indem sie die Wagentür schloss. Ob es ihr nun gefiel oder nicht, sie war zurück in Briar Creek. Und bisher lief alles sogar noch schlechter, als sie erwartet hatte.

2

Im Wagen war es für seinen Geschmack viel zu ruhig. Luke warf Grace einen Seitenblick zu. Sie drückte sich an die Beifahrertür und sah mit traurigem Gesicht aus dem Fenster. Beim vertrauten Anblick ihres Profils und der Art, wie sie den Kopf hielt, zog sich in seiner Brust alles zusammen, und er unterdrückte ein Grinsen. Sie war noch immer dasselbe ebenso sture wie stolze Mädchen, in das er sich vor fast fünfzehn Jahren verliebt hatte.

Unwillkürlich presste er die Lippen aufeinander. Viel zu stolz war sie, das stand leider fest. Wenn sie derart launisch war, kam er einfach nicht gut mit ihr klar. Dann war sie dickköpfig. Bockig. Einfach unmöglich. Früher einmal hatte er das verlockend gefunden, aber das war schon lange her.

Grace’ kastanienbraunes Haar hing ihr in dicken, nassen Strähnen auf die Schultern, und sie fuhr mit den Fingern hindurch. Luke erinnerte sich an all die Sommer, in denen sie im Cedar Lake schwimmen gewesen waren und wie sie in ihrem kleinen roten Bikini aus dem Wasser gekommen war und sich mit tropfendem Haar über ihn gebeugt hatte, um ihn mit dem Rücken auf den warmen Sand zu drücken und zu küssen.

Jetzt sah sie ihn mit ihren hellgrünen Augen an, und er musste den Blick abwenden.

»Musik?«, fragte er unvermittelt.

Sie zuckte mit den Achseln. »Klar.« Dann beugte sie sich vor, um das Armaturenbrett zu inspizieren und schließlich das Radio einzuschalten. Ein bekanntes Weihnachtslied tönte in voller Lautstärke aus den Lautsprechern, und sie zuckte vor Schreck zusammen. Sie lachte, um ihre Überraschung zu verbergen, und er grinste. Er hatte ganz vergessen, wie ihr Lachen klang und wie sehr er es mochte.

»Entschuldige«, murmelte er und stellte den Ton leiser. »Ich hatte Rockmusik gehört, bevor ich dich allein und verlassen am Straßenrand aufgelesen habe.«

»Na klar«, gab Grace zurück und runzelte die Stirn. »Allein und verlassen war ich aber …« Sie hielt inne und lachte leise. »Egal. Danke fürs Mitnehmen.«

»Jederzeit.« Luke zwang sich zu einem Lächeln. Das fühlte sich gut an. Zu gut. Fast so wie in alten Zeiten.

Er versteifte sich. Die alten Zeiten sollte er lieber schnell wieder vergessen. Das müsste ihm längst klar sein.

Schnell richtete er den Blick wieder auf die Straße vor sich und legte die Finger fester um das Lenkrad. Er hatte sich gut an das Leben ohne Grace gewöhnt. Nachdem der anfängliche Schmerz nachgelassen hatte, war sein Leben weitergegangen, und er hatte es beinahe genossen, dass sie die Stadt verlassen hatte. Die Stadt, die er noch immer als seine Heimat ansah. Da Grace nicht mehr da war, wurde er auch nicht ständig an sie erinnert. Auf diese Weise konnte er seine Schuldgefühle ganz gut in Schach halten, und sie beschränkten sich auf ein Kribbeln im Hinterkopf.

Es bedeutete auch, dass er sich nicht so sehr anstrengen musste, um nicht an sie zu denken. Er konnte sie vergessen. Theoretisch zumindest.

Wortlos drehte Grace am Knopf des Radios und stellte einen Klassik-Sender ein. Die Musik umrieselte sie als angenehmes Hintergrundgeräusch. Grace lehnte sich auf ihrem Sitz zurück, hielt die Hände vor den Lüftungsschlitz und spreizte die Finger.

Also hatte sie wirklich gefroren – er hatte es sich ja gedacht. Aber er wusste auch, dass sie es nie zugeben würde. Sie würde sich lieber Frostbeulen holen, als sich von ihm helfen zu lassen.

Diese Erkenntnis machte ihn traurig. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der sie sich gern von ihm hatte helfen lassen. In der sie sich immer an ihn gewandt und er ihr jeden Wunsch erfüllt hatte, weil er ihr einfach nichts abschlagen konnte. Aber irgendwann war alles den Bach runtergegangen.

»Wie lange bleibst du?«, fragte Luke, auch wenn er sich nicht sicher war, ob er die Antwort überhaupt hören wollte oder ob sie nicht alles noch schlimmer machen würde. Es schneite inzwischen immer heftiger, aber der Vierradantrieb seines SUV hatte auch auf diesen Nebenstraßen keine Probleme. Sie würden schon bald in der Stadt sein, und dann würde ihm Grace erneut durch die Finger schlüpfen. Er schluckte schwer.

Es war besser so.

»Nur für die Feiertage«, antwortete Grace.

Er nickte nachdenklich und war wütend auf sich selbst, weil sich Enttäuschung in ihm ausbreitete. »Bis Neujahr?«

»Großer Gott, nein!« Sie schnaufte.

»Das dachte ich mir fast«, murmelte er. Sie hatte sich nicht geändert, kein bisschen. Es war ihm fast schon peinlich, dass er sich das gewünscht hatte.

»Ich muss bald nach New York zurück. Daher bleibe ich nur über die Weihnachtstage.«

»Es wundert mich, dass es niemand erwähnt hat«, meinte er, während er langsam Verdacht schöpfte. In Briar Creek machten Gerüchte schnell die Runde, manchmal sogar zu schnell. Die Leute in der Stadt mussten gewusst haben, dass Grace zu Besuch kommen würde, und sie hatten es ihm gegenüber absichtlich nicht erwähnt.

Luke runzelte die Stirn. Er würde sich mit seinen Schwestern unterhalten müssen, um herauszufinden, wie groß dieses Geheimnis wirklich war. Jetzt zwang er sich jedoch zu einem Lächeln, um die Stimmung aufzuhellen. »Es kommt nicht sehr oft vor, dass uns die Bestsellerautorin Grace Madison mit ihrer Anwesenheit beehrt.«

»Ha!« Sie spie die eine Silbe so verbittert aus, und in ihr schwang so viel Verletzlichkeit mit, dass Luke zusammenzuckte und sogar kurz den Blick von der Straße abwandte.

Grace starrte durch die Windschutzscheibe, und ihre Lippen bildeten eine schmale Linie. Luke wurde noch nachdenklicher. Die alte Grace hätte die Augen verdreht und über seinen Versuch, eine witzige Bemerkung zu machen, gekichert, aber er hatte offensichtlich einen Nerv getroffen.

Natürlich hatte er die Rezensionen ihres letzten Buches gelesen – er verfolgte ihre Karriere genauer, als es gut für ihn war – und die Kritik durchaus zur Kenntnis genommen, aber das konnte sie doch nicht derart verärgert haben, oder? Die Grace, die er kannte, hätte die Nörgler mit zusammengekniffenen Augen angesehen und sie nur zu gern eines Besseren belehrt. Die Frau hingegen, die in diesem Augenblick neben ihm saß, wirkte deprimiert und verloren.

»Ich war im Frühling erst hier«, erklärte sie, und Luke nickte. Sie wussten beide, warum sie zurückgekehrt war.

»Das mit deinem Vater tut mir sehr leid«, sagte er leise. »Mein Beileid.«

Er mustere sie. Sie nickte und sah ihm kurz in die Augen, bevor sie den Blick senkte. Ihre vollen, rosafarbenen Lippen waren zu einem höflichen Lächeln verzogen, wie man es bei Beileidsbekundungen häufig sieht.

»Ich habe auch deiner Familie kondoliert«, fuhr er fort und sah erneut auf die Straße. »Ich hoffe, es war richtig, dass ich nicht zur Beerdigung gekommen bin.«

Er hielt den Atem an, während er auf ihre Antwort wartete. Laut der Gerüchteküche von Briar Creek hatte sich Grace nicht einmal sechsunddreißig Stunden in der Stadt aufgehalten. Sie war bei ihrer jüngeren Schwester Jane untergekommen, während Anna vorübergehend zu ihrer Mutter gezogen war. Damals hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet, und er hatte sie auch nicht aufgesucht. Nach stundenlangen Überlegungen hatte er beschlossen, sich zurückzuhalten und sich um sein eigenes Leben in Briar Creek zu kümmern. Sie wusste, wo sie ihn finden konnte, und sie würde ihn schon aufsuchen, wenn sie ihn sehen wollte.

Was sie offensichtlich nicht wollte.

Irgendwie hatte er sich davor gefürchtet, wie es wirken würde, dass er nicht an der Beerdigung teilnahm. Auf diese Weise würde er sich erneut wie der Kerl verhalten, für den sie ihn ohnehin schon hielt – auch wenn er wusste, dass er überhaupt nicht so war. Sie glaubte, er hätte sein Leben nach dem Ende ihrer Beziehung einfach fortgesetzt, ihre gemeinsamen Erinnerungen vergessen und alle Bande durchtrennt.

Doch da irrte sie sich gewaltig.

Er hatte eine Karte geschickt, aber es war ihm gefühllos und sogar feige vorgekommen, seine Unterstützung nur aus der Ferne anzubieten. Er wollte für Grace da sein, für die ganze Familie Madison, und ihnen eine Schulter zum Anlehnen bieten. Mit derartigen Verlusten war er viel zu gut vertraut. Er wusste, wie es sich anfühlte, zu trauern und zu leiden. Doch wenn Grace ihn derart hasste, wie sie immer behauptete, war es da nicht besser, wegzubleiben? Hatte er das Richtige getan? Er war sich nicht sicher.

Nach einer Pause sagte sie: »Ja, das war es.«

Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn ihre Worte schmerzten. Dabei wusste er nicht einmal, was er von ihr erwartet hatte oder was er hören wollte, aber er wusste, was sie hätte sagen sollen. Sie hätte sagen sollen, dass er das Recht gehabt hatte, dort zu sein, sogar mehr als die meisten anderen in der Stadt.

Wie konnte sie es wagen, es für richtig zu halten, ihn um diesen Abschied zu bringen?

Es hatte ihn fast umgebracht, nicht an der Trauerfeier für Ray Madison teilnehmen zu können. Dieser Mann war für ihn wie ein Vater gewesen, nachdem sein eigener Vater gestorben war, als er selbst gerade mal zehn Jahre alt gewesen war. Luke war noch nicht lange mit Grace zusammen gewesen, als ihn Ray unter seine Fittiche genommen und ihm beiläufig die Art von Hobbys nähergebracht hatte, die sein Vater ihm nicht mehr hatte zeigen können. In der Garage der Madisons hatte sich Ray eine große Werkbank gebaut, auf der er alle möglichen Dinge zusammenbastelte: von Puppenhäusern, als die Mädchen noch klein gewesen waren, bis hin zu Vogelhäuschen und sogar einigen Möbelstücken. Dort hatte er sich stundenlang aufgehalten, und Luke hatte ihn oft dort besucht. Ray hatte gegrinst, ihm ein Stück Sandpapier gegeben, manchmal auch einen Bohrer, und ihm die nächsten Schritte des aktuellen Projekts erklärt. Sobald Luke begriffen hatte, worum es ging, hatte er sich an die Arbeit gemacht und diese konzentriert verrichtet. Manchmal hatte ihm Ray nebenher von seinem Leben erzählt, Geschichten aus der Zeit, als er noch als Lehrer gearbeitet hatte, oder aus dem Buchladen, den er bereits führte, als Luke ihn kennenlernte. Hin und wieder schwiegen sie auch einfach, aber die Stille war irgendwie kameradschaftlich, und die Stunden vergingen immer wie im Flug.

Als er an die alten Zeiten zurückdachte, wurde Lukes Herz schwer. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass Ray wirklich tot war. Der Mann war viel zu früh gestorben. Das schien häufiger zu passieren, dachte er und hatte auf einmal einen bitteren Geschmack im Mund.

»Er war ein guter Mann.«

»Er war der Beste«, erwiderte Grace leise, und Luke bereute sofort, überhaupt etwas gesagt zu haben. Es war zu früh. Die Wunde war noch viel zu frisch. Er wusste besser als jeder andere, wie lange so eine Trauerphase andauern konnte. »Du hast ihm sehr viel bedeutet«, fuhr sie zu seiner Überraschung fort.

Luke lächelte traurig und war gerührt, weil ihre Worte so aufrichtig klangen. »Tja, dieses Gefühl beruhte auf Gegenseitigkeit.«

»Manchmal war ich fast eifersüchtig auf dich«, gab Grace zu.

»Wieso denn das?« Luke warf ihr einen kurzen Blick zu, aber sie starrte aus dem Fenster und schien ihn gar nicht wahrzunehmen.

»Ach, du weißt schon. Drei Töchter.« Sie seufzte. »Er hätte es nie zugegeben, aber ich bin mir sicher, dass er sich immer einen Sohn gewünscht hat. Du warst für ihn der Sohn, den er nie hatte.«

»Ach, das stimmt doch gar nicht. Er hat euch Mädels vergöttert.«

Grace lächelte und schien sich über seine Worte zu freuen. »Da hast du recht.«

Sie verfielen wieder in Schweigen, als sie in die Stadt hineinfuhren. Die Weihnachtsdekoration stellte eine willkommene Ablenkung dar. Luke runzelte die Stirn, als sie durch die gewundenen Straßen fuhren. Es schneite nicht mehr so stark, und das weihnachtliche Wunderland breitete sich in voller Pracht vor ihnen aus und wirkte durch den frischen Schnee, der die ruhige Szenerie fast schon gespenstisch wirken ließ, noch spektakulärer. Jeder Baum war mit einer Lichterkette umwickelt, und um jede Straßenlaterne rankte sich eine Tannengirlande mit roten Schleifen. Eine lebensgroße Weihnachtsmannfigur flog mit Rentieren über den Stadtplatz. Jedes Schaufenster war für den alljährlichen Wettbewerb dekoriert worden. Mit einem schlichten Kranz, Stechpalmenzweigen oder einer einsamen Kerze im Fenster war es natürlich nicht getan.

Sie haben erst Ruhe gegeben, als beinahe der Strom ausgefallen wäre, dachte er und schnitt eine Grimasse.

»Sieh dir das an«, murmelte Grace, der man ihren Abscheu deutlich anhören konnte.

Luke sah sie fragend an. »Ich dachte, du stehst auf so was.«

»Da verwechselst du mich mit meiner Mutter«, korrigierte sie ihn.

»Ich weiß noch genau, wie du in einem Jahr unbedingt den Igluwettbewerb gewinnen wolltest. Du hast sogar Baupläne gezeichnet.« Er grinste, als er sich daran erinnerte, wie Grace am Küchentisch seiner Mutter gesessen und ihm sehr ernst und entschlossen mitgeteilt hatte, wie sie diesen Wettbewerb gewinnen würden. Diese Entschlossenheit hatte er immer an ihr geliebt. Sie setzte sich etwas in den Kopf und gab erst dann Ruhe, wenn es realisiert worden war. Dabei blieb sie stets konzentriert und ließ sich von niemandem von ihrem Ziel abbringen.

Aus diesem Grund hatte sie es vermutlich in so jungen Jahren auch schon so weit gebracht, vermutete er. Und darum war Briar Creek auch nie genug für sie gewesen.

»Tja.« Grace schnaufte. »Das ist verdammt lange her.«

»Ich dachte, du wärst vielleicht genau deswegen an Weihnachten zurückgekommen. Wegen dieses … Gefühls.«

»In diesem Jahr hält sich meine Weihnachtsstimmung in Grenzen«, entgegnete sie angespannt.

»Wer hätte das gedacht«, murmelte er und lachte leise auf. »Dann haben wir ja was gemeinsam.«

Grace sah ihn jetzt doch an. »Du hast dieses Jahr auch keine Lust auf Weihnachten?«

Dieses Jahr nicht, und letztes Jahr war es ihm auch schon so gegangen. Luke starrte angespannt auf die Straße und blieb an der Kreuzung stehen. »Nein«, antwortete er schlicht. Dies war weder die richtige Zeit noch der richtige Ort, um das genauer auszuführen.

Nach einer langen Pause sagte Grace leise: »Wir haben mehr gemeinsam als die fehlende Weihnachtsstimmung …« Sehr viel mehr, fügte sie innerlich hinzu.

Luke sah ihr lange und tief in ihre großen, grünen Augen und erschrak, als er den Schmerz darin erblickte. »Ich weiß«, erwiderte er und hielt ihrem Blick stand, bis er etwas zu fühlen begann, das nicht sein durfte. Es fühlte sich viel zu vertraut an, hier mit ihr im Wagen zu sitzen. Nach all den Jahren hatte er geglaubt, davor gefeit zu sein, hatte gedacht, dass sie sich bei einem Wiedersehen wie Fremde vorkommen würden. Doch stattdessen war es wie in alten Zeiten, und die Leichtigkeit, mit der sie diese Unterhaltung führten, schien diese Verbindung nur noch zu vertiefen. Es kam ihm fast so vor, als hätte es die letzten fünf Jahre gar nicht gegeben …

Er umklammerte das Lenkrad so fest, dass sich seine Fingerknöchel weiß färbten. So etwas durfte er nicht einmal denken. Das war nicht fair. Und erst recht nicht richtig.

»Das mit Helen tut mir sehr leid«, sagte Grace, als hätte sie seine Gedanken gelesen.

Er knirschte mit den Zähnen. Die Art, wie Grace den Namen seiner Frau aussprach, kam ihm irgendwie falsch vor … und merkwürdig. Selbst jetzt, nach all dieser Zeit, schien es noch irgendwie ein Verrat zu sein.

»Mir ist klar, dass du mir das vermutlich nicht glauben wirst«, fuhr Grace fort, »aber es tut mir wirklich leid. Niemand hat es verdient, so jung zu sterben.«

Nein, da hatte sie recht. Luke bog nach rechts ab. Am Ende des Blocks kam Chucks Werkstatt in Sicht. Ihre gemeinsame Zeit ging zu Ende. Allerdings war ihre gemeinsame Zeit eigentlich schon vor diesem Tag lange vorbei gewesen, dachte er grimmig. »Wohnst du bei deiner Mom?«, erkundigte er sich.

»Ja.«

»Ich sage Chuck Bescheid, dass dein Wagen abgeschleppt werden muss, und setze dich dann dort ab.«

»Lass mich einfach am Buchladen raus«, bat sie ihn.

Luke erstarrte. »Am Buchladen?«

Grace deutete zur nächsten Kreuzung. »Wenn du mich rüber zu Main Street Books bringst, kann ich Jane von dort aus anrufen. Es wird nicht lange dauern, bis sie mich abholen kommt, und in der Zwischenzeit sage ich Chuck Bescheid.«

Er nickte langsam und konzentrierte sich auf die Straße, während sich seine Gedanken überschlugen. Wusste sie es denn nicht? Hatte es ihr niemand gesagt? Anscheinend nicht.

»Da ist jetzt bestimmt niemand mehr«, log er.

»Es ist einen Versuch wert. Außerdem ist es noch nicht mal halb sechs, wie du vorhin ganz richtig festgestellt hast.«

»Die meisten Geschäfte in der Stadt schließen so kurz vor den Feiertagen früher. Vielleicht hast du es ja vergessen …«

»Du musst hier abbiegen!«, rief sie, und er riss widerstrebend das Lenkrad herum und ging vom Gas, bis sie langsam vor Main Street Books zum Stillstand kamen. Das Schaufenster war dunkel und bildete einen starken Kontrast zu all den funkelnden Ladenfronten an der Main Street. Auch die Lampe, die früher einmal die Treppe vor dem Eingang erhellt hatte, war aus. Er konnte die Messingbuchstaben des Ladenschilds kaum erkennen, und nur ein paar wenige Bücher, die irgendwie willkürlich in der Auslage platziert worden waren, gaben Aufschluss über den eigentlichen Zweck dieses Geschäfts.

»Geschlossen. Hab ich doch gesagt.« Mehr bekam er zu diesem Thema nicht heraus.

Grace hatte bereits den Sicherheitsgurt gelöst, und als sie die Tür öffnete und ausstieg, eilte Luke ihr hinterher. Früher oder später würde sie sowieso die Wahrheit über den Buchladen ihres Vaters herausfinden, aber er hatte eigentlich nicht dabei sein wollen, wenn das geschah. Sie gab ihm schon an so vielen anderen Dingen die Schuld.

»Vielleicht haben sie heute früher geschlossen. Aber ich weiß, wo sie den Schlüssel verstecken«, sagte sie und beugte sich nach unten, um einen Blumentopf anzuheben, der im Frühling vermutlich bepflanzt war, jetzt jedoch unter einer Schneehaube versteckt war.

Luke hielt den Atem an und wartete, während er sich fragte, was sie denken würde, wenn sie den Laden betrat und den jetzigen Zustand sah.

»Kein Schlüssel!«, rief sie zu seiner Erleichterung aus. Dann stand sie auf und starrte den Blumentopf mit gerunzelter Stirn an. »Der war doch immer da versteckt. Da bin ich mir ganz sicher!«

Er warf einen nervösen Blick durch die Glasscheibe in der Tür und musterte die Bücher, die dahinter gestapelt waren. Irgendwie musste er sie von hier wegbringen. Auf diese Weise sollte sie die Wahrheit nicht herausfinden.

»Dann fahre ich dich eben doch nach Hause«, schlug er vor, zwang sich zu einem lockeren Grinsen und hoffte, dass sie seinen ernsten Tonfall nicht bemerkte. Er steckte die Hände in die Hosentaschen und drehte sich um, da der schneidende Wind sogar durch seine Jacke drang.

»Du willst mich wohl unbedingt loswerden, was?« Sie warf ihm einen entrüsteten Blick zu und eilte an ihm vorbei zu einem der großen Fenster. Sie drückte die Nase an die Scheibe und schirmte ihr Gesicht auf beiden Seiten mit den Händen ab. Es war dunkel im Ladeninneren, und die eiserne Straßenlaterne spendete nur wenig Licht, daher bezweifelte Luke, dass sie mehr als ein paar Schatten erkennen konnte. Zumindest hoffte er das.

Er verlagerte nervös das Gewicht von einem Bein aufs andere, während sie unter einem anderen Blumentopf nachsah, mit den Fingern über den alten Türrahmen fuhr, von dem schon die Farbe abblätterte, und ein weiteres Mal an der Türklinke rüttelte. Während seine Unruhe immer größer wurde, wanderte sein Blick von Main Street Books zum ebenso dunklen Schaufenster daneben.

Schnell schloss er die Augen und stählte sich ebenso gegen den eisigen Wind wie gegen den Schmerz, der sich tief in seinem Inneren an einer Stelle festgesetzt hatte, die er lieber unangetastet lassen wollte. Dies war eine Straße voller Erinnerungen. Voller Möglichkeiten, die es jetzt nicht mehr gab. Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein.

»Lass uns gehen. Chuck macht bestimmt auch bald Feierabend, und du willst doch nicht, dass dein Wagen die ganze Nacht da oben rumsteht. Wer weiß schon, wie viel Schnee wir noch kriegen werden.«

Grace drehte sich langsam zu ihm um, und die Enttäuschung in ihren Augen traf ihn direkt ins Herz. Auf einmal wirkte sie müde und erschöpft, und er vergaß einen Moment lang, wo sie waren. Genau so hatte sie schon einmal ausgesehen, und zwar bei ihrer letzten Begegnung. Sie hatte da gestanden, während sich das Licht der Sonne auf ihrem Haar spiegelte, hatte ihn mit hoffnungsvollem Blick angesehen, die Lippen nach ihrem Kuss noch leicht geöffnet, und dann hatte er mit ansehen müssen, wie das Licht so langsam, dass es fast schon qualvoll war, aus ihrem Gesicht wich und ihr Lächeln verblasste, bis das Mädchen, das er gekannt und geliebt hatte, verschwunden war.

Mit einem letzten Blick auf das leere Schaufenster versteifte er sich und drehte sich wieder zum Wagen um. »Es ist spät. Wir sollten gehen.«

Grace schaute wehmütig zum Laden zurück und zuckte dann resigniert mit den Achseln. »Tja, dann muss ich wohl bis morgen warten.«

Luke beobachtete sie, als sie über die Schneewehen, die sich am Bordstein gebildet hatten, zurück zum Wagen ging und hin und wieder stehen blieb, um einen Blick über die Schulter zu werfen. Der Buchladen ihres Vaters hatte ihr alles bedeutet. Er erinnerte sich noch genau daran, wie er sie dort immer nach der Schule gefunden hatte, so vertieft in das Buch, das sie gerade las, dass sie sein Reinkommen nicht einmal bemerkte. Ray wanderte häufig durch die Regalreihen, sortierte Bücher ein oder ging die Bestandslisten durch, wobei er gern ein Liedchen summte. Grace behauptete damals immer, ihr wäre seine Singerei peinlich, aber Luke wusste es besser. Sie liebte ihren Daddy, und in ihren Augen konnte Ray einfach nichts falsch machen. Dass sie hier so viel Zeit verbrachte, lag nicht nur an ihrer Liebe zu den Büchern, sondern auch daran, dass dies der einzige Ort war, an dem sie ungestört Zeit mit ihrem Vater verbringen konnte, ohne dass andere Familienmitglieder dabei waren. Dieser Ort gehörte nur ihnen beiden. Es war ein Ort, an den sie nur gute Erinnerungen hatte. Und jetzt war er fort, ebenso wie Ray.

Luke fluchte leise. Es wäre ein schwerer Schlag für sie, zu erfahren, dass der Laden geschlossen worden war und nie wieder aufmachen würde. Der Buchladen bedeutete ihr viel mehr als jedes andere Haus. Er bedeutete ihr mehr, als irgendein Mensch, ihn eingeschlossen, je begreifen würde.

Er zwang sich zu einem Grinsen. »Die Geschäfte schließen hier in der Vorweihnachtszeit früh. Das ist nicht wie in der Großstadt, Honigbienchen.«

Sein Herz schlug schneller, weil ihm diese Worte derart locker über die Lippen gekommen waren, dass er das Kosewort unwillkürlich ausgesprochen hatte. Während sich die Stille zwischen ihnen ausbreitete, schalt er sich innerlich. Es stand ihm nicht zu, sie so zu nennen, und er hätte sich besser unter Kontrolle haben sollen.

»Ich bin schon sehr lange Zeit nicht mehr dein Honigbienchen«, erwiderte sie mit eisiger Stimme und stieg wieder in den Wagen. Die Wut, die in ihrem Tonfall mitschwang, erschreckte ihn. Jegliche Herzlichkeit, die ihr unerwartetes Wiedersehen hervorgerufen hatte, war mit einem Schlag verschwunden, und er wusste wieder, welche gemeinsame Vorgeschichte sie hatten. Das ließ sich nicht ungeschehen machen, aber das Band zwischen ihnen war schon vor langer Zeit zertrennt worden.

Er biss die Zähne aufeinander. »Die Macht der Gewohnheit.«

»Mach das nicht noch mal«, wies sie ihn zurecht.

Das habe ich nicht vor. Luke setzte sich hinter das Lenkrad und knallte die Wagentür zu. Er war sich nicht sicher, was schlimmer war: das Gefühl, dass sie noch immer das Mädchen war, das ihn in- und auswendig kannte, oder in ihr eine völlig Fremde zu sehen, der er nicht das Geringste bedeutete.

Aber Grace Madison würde ihm immer am Herzen liegen, und genau das war sein Problem.

3

Honigbienchen!

Grace starrte aus dem Fenster, verbarg ihr Gesicht hinter ihren feuchten Haarsträhnen und starrte in die Stadt hinaus, die erleuchtet und funkelnd an ihr vorbeiglitt.

Sie blinzelte schnell und hoffte, dass Luke nicht mitbekommen hatte, wie sehr sie der Kosename getroffen hatte. Diesen Spitznamen hatte er sich ausgedacht, als sie Kinder waren und sie beim Sommertanzfestival die Rolle einer dicken, gestreiften Biene bekommen hatte. Damals war sie zwölf gewesen, und alle anderen Mädchen spielten wunderschöne Blumen oder Schmetterlinge, ganz im Gegensatz zu ihr. Während die anderen in ihren dünnen, pastellfarbenen Chiffonkleidchen anmutig herumschwebten, steckte sie in einem wattierten schwarz-gelben Gymnastikanzug und hatte vor Scham knallrote Wangen. Bevor sie auf die Bühne musste, versteckte sie sich am anderen Ende des Parks hinter einem Hortensienbusch und weinte so sehr, dass die ganze Schminke, die ihre Mutter ihr so sorgfältig aufgetragen hatte, verlief.

Luke hatte damals hinter der Bühne geholfen, da seine Mutter das Tanzstudio leitete, und als er Grace weinend gefunden hatte, wischte er ihr die Tränen ab und schwor sich, seiner Mutter zu verbieten, das schönste Mädchen von Briar Creek weiterhin als hässliches Entlein zu besetzen. Damals war Grace klar geworden, dass sie mit ihm den Richtigen gefunden hatte.

Es dauerte zwei Jahre, bis für ihn mehr als nur Freundschaft daraus wurde, aber seinen ersten Eindruck von ihr hatte er nie vergessen, und inzwischen hatte sie sich an seinen Kosenamen gewöhnt.

Honigbienchen. Sie hatte seit Jahren nicht mehr an diesen Namen gedacht und ganz bestimmt nicht erwartet, ihn jemals wieder zu hören. Aber jetzt hatte er ihn ausgesprochen, und sie konnte nicht leugnen, dass ihr das viel zu gut gefiel.

Das war genau der Grund, warum sie nie hätte nach Hause kommen dürfen.

Luke trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und blickte konzentriert auf die Straße. Wie oft hatte sie schon so neben ihm gesessen, während sie in angenehmer Ruhe durch die Stadt fuhren oder lauthals lachend ein Lied aus dem Radio mitsangen? Aber jetzt kam ihr seine Nähe seltsam ungewohnt vor, sein Körper wirkte größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, und obwohl er nicht weit von ihr entfernt saß, so nah, dass sie nur den Arm ausstrecken müsste, um ihn zu berühren, wie sie es früher so häufig beiläufig getan hatte, schien er weiter von ihr entfernt zu sein als jemals zuvor.

Sie sah kopfschüttelnd aus dem Fenster, während die Lichter der Stadt hinter ihr verblassten und sie im Dunkeln dahinfuhren. Wieso war sie nicht in der Stadt geblieben und hatte im Diner oder in Annas Café gewartet, bis Jane sie abholte? Das wäre das Vernünftigste gewesen.

Aber wann war sie jemals vernünftig gewesen, wenn es um Luke Hastings ging? Der Mann ging ihr seit jeher unter die Haut, und so sehr sie sich auch anstrengte, sie konnte ihn doch nicht aus dem Teil ihres Herzens vertreiben, der sich noch immer nach ihm sehnte, ebenso wie nach all dem, was hätte sein können.

»Du kannst mich am Straßenrand absetzen«, sagte sie entschieden. Wenn er bemerkte, wie stark sie auf ihn reagierte, würde sie diese Fahrt auf keinen Fall überleben. Luke war der Meinung, sie hätte die Trennung bereits an dem Tag, an dem er ihr das Herz gebrochen hatte, überwunden und seitdem nie mehr zurückgeblickt. Und sie hielt es für das Beste, ihn weiterhin in diesem Glauben zu lassen. Wenn er auch nur ahnen würde, wie lange der Schmerz angehalten hatte …

Sie drückte die Schultern gegen die Rückenlehne. Das Letzte, was sie wollte, war sein Mitleid. Er hatte ihre Liebe nicht verdient, ebenso wenig wie alles andere, was sie ihm geben konnte.

»Hast du Angst, wir könnten zusammen gesehen werden?«

Sein dummer Spruch nahm ihr den Wind aus den Segeln, und sie lächelte. »Du weißt doch, was bei uns zu Hause los ist. Zwei Schwestern und eine Mutter. Wenn sie mitbekommen, dass du mich nach Hause bringst, muss ich mir wieder ewig ihre Sprüche anhören.«

»Wäre das denn so schlimm?« Er warf ihr einen Blick zu, und sie sah zu Boden.

»Ja«, antwortete sie bestimmt.

Dann schwieg sie und starrte wieder aus dem Fenster. Luke wusste, wie es in ihrer Familie zuging, da er sie ebenso gut kannte wie seine eigene – was die Trennung, zumindest für sie, umso schwerer gestaltet hatte. Sie wusste, dass ihre Eltern damit gerechnet hatten, sie würde mit Luke zusammenziehen, irgendwo in der Nähe wohnen und sonntags immer zum Essen vorbeikommen. Stattdessen hatte sie sich die letzten fünf Jahre in New York versteckt, ihre Wunden geleckt und versucht, den Mann zu vergessen, der so sehr ein Teil von ihr war. Der sich in jedem Aspekt ihres Lebens so tief verwurzelt hatte, dass sie einfach keinen anderen Weg gesehen hatte, als ihr altes Leben, das sie mit ihm geteilt hatte, zu beenden und ein neues zu beginnen.

Sie war derart damit beschäftigt gewesen, sich vor dem Mann zu verstecken, den sie geliebt und verloren hatte, dass letzten Endes auch ein anderer aus ihrem Leben verschwunden war, den sie sogar noch mehr geliebt hatte: ihr Vater.

Sie starrte Luke aus dem Augenwinkel wütend an. Ihr war so vieles entgangen.

Nach einigen Minuten bogen sie in die gewundene Straße ein, die zum Haus ihrer Familie führte. Die Kiefern bogen sich unter der Schneelast, und in vielen Gärten war an diesem Tag ein Schneemann gebaut worden. Durch die Fenster waren die schön geschmückten Weihnachtsbäume zu sehen, deren Lämpchen einladend funkelten.

Grace biss sich auf die Unterlippe. Sie konnte fast schon die Worte ihrer Mutter hören, die sich über die armseligen Versuche der Nachbarn lustig machte. Sie würde die nicht zueinanderpassenden Lichterketten monieren sowie die ungleichmäßige Verteilung der Weihnachtskugeln. Die Bäume sahen zwar festlich, aber bei Weitem nicht perfekt aus. Sie waren nichts im Vergleich zu Kathleens perfekter Präsentation.