Herbstzauber in Briar Creek - Olivia Miles - E-Book

Herbstzauber in Briar Creek E-Book

Olivia Miles

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Beschreibung

Small-Town-Romances für jede Jahreszeit: Willkommen in Briar Creek

Als Jane Madison erfährt, dass ihr Exmann zum zweiten Mal heiratet, gerät ihre Welt erneut ins Wanken. Sie ist sich sicher, nie wieder glücklich zu werden. Doch dann taucht Henry Birch in Briar Creek auf, der Mann, der Jane die Heirat bis zu ihrem Hochzeitstag ausreden wollte - und ihr Herz auch nach all den Jahren höher schlagen lässt. Aber eine alleinerziehende Mutter kann doch nicht den besten Freund ihres Exmanns lieben ... oder etwa doch?

»Große Empfehlung für alle Small-Town-Romance-Fans!« THEROMANCEDISH

Dieser Roman ist ein Remake des in einer früheren Ausgabe bei LYX.digital erschienenen Titels Herbstzauber in Briar Creek

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Seitenzahl: 480

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Inhalt

Titel

Zu diesem Buch

Widmung

1

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Epilog

Danksagung

Die Autorin

Die Romane von Olivia Miles bei LYX

Impressum

OLIVIA MILES

Herbstzauber in Briar Creek

Roman

Ins Deutsche übertragen von Kerstin Fricke

Zu diesem Buch

Als Jane Madison erfährt, dass ihr Exmann zum zweiten Mal heiratet, gerät ihre Welt erneut ins Wanken. Sie ist sich sicher, nie wieder glücklich zu werden. Doch dann taucht Henry Birch in Briar Creek auf, der Mann, der Jane die Heirat bis zu ihrem Hochzeitstag ausreden wollte – und ihr Herz auch nach all den Jahren höher schlagen lässt. Aber eine alleinerziehende Mutter kann doch nicht den besten Freund ihres Exmanns lieben … oder etwa doch?

Für meine wunderschöne Tochter.

Und für Dad, der Vermont liebt.

1

»Ich muss dir was sagen, Mommy.« Die Worte kamen flüsternd und fast schon schüchtern heraus. »Ich bin verliebt.«

Die Ampel vor ihnen wurde gelb, und Jane Madison trat etwas fester auf die Bremse als beabsichtigt. Sie blickte auf und musterte ihre fünfjährige Tochter im Rückspiegel, wobei sie versuchte, sich ihre Belustigung nicht anmerken zu lassen. »Ach, wirklich? Wie heißt er denn?«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Sophie ruhig. »Aber wir lieben uns.«

»Verstehe.« Fing das so früh schon an? Tauschte sie schon jetzt ihre Puppen gegen Jungs aus? Erneut sah Jane in den Spiegel und bemerkte die zahlreichen Prinzessinnenketten um den Hals ihrer Tochter und die Ohrclips aus Plastik, die sie letzten Monat zum Geburtstag bekommen hatte. Sie war noch immer ihr süßes kleines Mädchen, auch wenn sie ein bisschen zu verrückt nach Jungs war. Vielleicht sahen sie einfach zu viele Zeichentrickfilme an, in denen der Prinz das Bauernmädchen in sein Schloss entführte, wo sie glücklich bis an ihr Lebensende lebten …

Jane raubte ihrem Kind nur ungern diesen wunderschönen Wunschtraum, aber es wurde anscheinend Zeit, ihrer Tochter noch eine andere Vorstellung zu vermitteln: die eines Mädchens, das aufs College ging, einen Beruf ergriff und nicht ihr ganzes Leben auf einen Mann wartete – einen Mann, der sie von einem Tag auf den anderen verlassen konnte.

Das hatte durchaus seine guten Seiten, beispielsweise Eiscreme zum Abendessen, wenn Sophie nicht zu Hause war, niveaulose Sendungen im Fernsehen, wenn es abends zu ruhig wurde, und den irgendwie beruhigenden Gedanken, dass sie ihre Beine nur noch rasieren musste, wenn es unbedingt nötig war – was immer seltener der Fall war. Und natürlich hatte sie Sophie. Das war das Wichtigste.

Sie wartete darauf, dass die Ampel wieder umschaltete, und fuhr dann die gewundenen Straßen entlang, die nach den drei Regentagen ziemlich schlüpfrig waren. Die Blätter verfärbten sich langsam, und der starke Wind der vergangenen Woche hatte viel Laub auf die Straße geweht und überall orange- und goldfarbene Akzente gesetzt. Es war ein grauer Tag, ein trüber Tag, wie manche sagen würden, aber nicht für Jane. Ihrer Meinung nach war dies der perfekte Abend, um es sich mit einer Schüssel selbst gekochter Suppe bequem zu machen und sich mit ihrer Tochter zu unterhalten. Obwohl Sophie nur eine Nacht im Haus ihres Vaters verbracht hatte, war es Jane viel zu ruhig gewesen und ihr war die Decke auf den Kopf gefallen. In der Zeit, in der sie keine Realityshows ansah oder die letzten Reste aus der Eispackung kratzte, hatte sie die Stunden gezählt, bis die Zimmer wieder von endlosem Geplapper und Gelächter erfüllt sein würden.

»Dann erzähl mal, Sophie. Woher weißt du, dass du verliebt bist?«

»Er hat mich heute in der Pause von der Schaukel geschubst«, berichtete Sophie. »Das nennt man wahre Liebe.«

Wenn es doch nur so einfach wäre, dachte Jane und stellte fest, dass sie die unschuldige Behauptung ihrer Tochter irritierte. Sie bog in ihre Straße ein, winkte den Nachbarn zu, die sie in den sechs Jahren, die sie jetzt hier wohnte, kennengelernt hatte, und spürte wie immer eine unglaubliche Ruhe, als ihr Haus in Sicht kam. Der Kranz mit orangefarbenen und weißen Beeren, den sie zusammen mit Sophie am letzten Wochenende gekauft hatte, hing an einem Band an der grünen Haustür, und die prächtigen roten, lila- und orangefarbenen Chrysanthemen, die sie im Garten gepflanzt hatte, stimmten sie sofort fröhlich. Aber während sie die hübsche Herbstdekoration bewunderte, machte sich schon wieder diese vertraute dumpfe Enge in ihrer Brust breit, die auch neun Monate nach dem Auszug ihres Mannes nicht verschwunden war.

»Das klingt ja nach einem ganz besonderen jungen Mann«, meinte Jane grinsend und stockte, als ihr etwas einfiel. Der neue Musiklehrer an der Grundschule von Briar Creek sah ziemlich niedlich aus, und Sophie war während des Sommers auch ziemlich vernarrt in ihren siebzehnjährigen Betreuer im Sommerlager gewesen. Jane war vor Überraschung der Mund offen gestanden, als Sophie kichernd versucht hatte, den armen Andrew durchzukitzeln. Ja, ihre Tochter flirtete gern. Woher hatte sie das nur? Von ihrem Vater, dachte Jane reumütig. »Ist er … so groß wie du?«

Sophie nickte enthusiastisch, während Jane sie aus dem Kindersitz losschnallte und ihren glitzernden Einhornrucksack aus dem Wagen nahm. »Obwohl …« Sie erstarrte und legte einen Finger an ihre Lippen. »Ich glaube, er ist doch ein bisschen kleiner.«

Jane lachte. »Na, dann komm«, forderte sie ihre Tochter auf und holte die kleine Reisetasche aus dem Kofferraum. »Ich habe dir gestern Abend noch Schokoladenkekse gebacken. Die isst du doch so gerne.«

»Oh, lecker! Kristy hat mir auch welche gebacken.«

Jane zuckte zusammen, sagte aber nichts. Sie ließ sich beim Aufschließen der Tür Zeit und versuchte, nicht an die andere Frau zu denken, für die ihr Mann sie verlassen hatte. Die Suppe, die sie den ganzen Nachmittag im Schongarer hatte sieden lassen, sorgte dafür, dass das Haus einladend nach Essen und Gewürzen duftete, aber auch das konnte die Leere in ihrem Herzen nicht vertreiben.

Sophie stürmte sofort in die Küche und ignorierte Janes Aufforderung, zuerst die Gummistiefel auszuziehen. Seufzend hängte Jane ihren Mantel an die Garderobe. Sie konnte hören, dass Sophie bereits die Folie vom Keksteller abzog. Als Nächstes würde sie ihr vermutlich noch erzählen, dass Kristys Kekse viel besser schmeckten als ihre. Es reichte der Frau nicht, Jane den Ehemann zu stehlen, nein, sie versuchte auch noch, sich die Zuneigung ihrer Tochter zu erschleichen.

Als Jane die Küche betrat, blickte Sophie auf. »Die schmecken viel leckerer als Kristys Kekse. Ihre sind immer ganz braun am Rand und kleben im Mund fest. Und sie nimmt Apfelmus anstelle von Butter. Tante Anna hat das Gesicht verzogen, als ich ihr das erzählt habe.«

Jane sah ihre Tochter interessiert an und konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Was du nicht sagst«, murmelte sie und holte eine Packung Milch aus dem Kühlschrank, während sich ihre Laune schlagartig hob.

»Ich habe ihr gesagt, dass sie mir schmecken, aber als sie nicht hingesehen hat, habe ich der Katze meinen Keks gegeben. Du bist doch nicht böse, oder, Mommy?«

Amüsiert hätte es eher getroffen. Jane presste die Lippen aufeinander und reichte ihrer Tochter ein Glas Milch. »Du hast das sehr höflich gehandhabt, Sophie, aber was die Katze angeht, wäre es besser, wenn du den Keks nächstes Mal einfach in die Tasche steckst.« Oder ihn die Toilette hinunterspülst. »Schokolade ist nicht gut für Tiere. Du willst doch nicht, dass das arme Kätzchen krank wird. Warum gehst du jetzt nicht nach oben und packst deine Tasche aus, während ich mich um das Essen kümmere?«

»Machen wir heute Abend eine Pyjamaparty?«, fragte Sophie aufgeregt und hüpfte vom Küchenstuhl.

Jane sah auf die Uhr und stellte fest, dass es erst zehn nach fünf war. An den Tagen, an denen sie nicht arbeitete, begann die Party manchmal schon um vier. »Das ist eine tolle Idee.« Sie seufzte bei dem bloßen Gedanken daran, die Leggings auszuziehen, die sie unter ihrer Yogahose trug und die so eng saß, dass sie Abdrücke in der Haut bildeten. Die Herbstkurse hatten heute nach einer dreiwöchigen Pause nach dem Sommerlager angefangen, und in nicht einmal einem Monat hatte sie vergessen, wie unangenehm und kratzig so ein Gymnastikanzug sein konnte.

Sie dachte an die zwei leeren Eispackungen, die sie ganz tief unten im Mülleimer vergraben hatte. Vielleicht sollte sie ihre Kekse demnächst auch lieber mit Apfelmus backen.

Sie nahm ihre Tochter an die Hand und lief mit ihr die Treppe nach oben, wo sie sich ihre Kuschelsachen anzogen, wie Sophie immer so schön sagte. Während sich Sophie mit einem Malbuch am Tisch in ihrem Zimmer beschäftigte, stellte Jane leise vor sich hinsummend die Waschmaschine an. Da klingelte es auf einmal an der Tür und die Welt blieb stehen.

Ihr Herz klopfte schneller. Wer kam bloß um diese Uhrzeit vorbei? Ach ja, es war ja noch nicht einmal halb sechs. Und sie trug eine rosa- und lilafarben karierte Hose, ein langärmliges T-Shirt und – du liebe Güte! – keinen BH. Mit schamrotem Gesicht ging Jane die mentale Liste möglicher Personen durch, die da vor der Tür stehen mochten. Eine Pfadfinderin, die Kekse verkaufte? Oder ein Hausierer? Sie könnte behaupten, krank zu sein, das würde auch ihre Kleidung erklären, aber nicht Sophies Nachthemd … Sie knabberte an ihren Fingernägeln. Das schlimmste Szenario wäre ihr Exmann, der etwas vorbeibrachte, das Sophie vergessen hatte. Es klingelte erneut, und Jane kramte panisch im Wäschekorb herum auf der Suche nach einem Kleidungsstück, das nicht fleckig oder zerknittert war und nicht schlecht roch, irgendetwas, das vorzeigbarer war als das, was sie am Leib hatte. Es klingelte ein drittes Mal. Jane machte einen Schritt nach hinten. Sie trug zwar nur einen Schlafanzug, aber der war wenigstens sauber.

Nervös ging sie um die Ecke und schalt sich innerlich dafür, nicht eine weitere Stunde ausgehalten zu haben – 18 Uhr war eine weitaus akzeptablere Zeit, um im Schlafanzug herumzulaufen, oder … Sie schlich zur Tür, hielt den Atem an und seufzte erleichtert auf, als sie durch die Glasscheibe ihre älteste Schwester erblickte.

»Grace! Komm doch rein!« Sie lächelte ihre Schwester an und ignorierte deren irritierte Miene, als sie Janes Füße musterte, die in ihren bequemen Hasenhausschuhen steckten. Jane spürte, wie sie rot wurde. Daran hatte sie gar nicht mehr gedacht.

»Willst du schon zu Bett gehen?« Grace lachte, aber die Bemerkung saß, und Jane sagte sich, dass dieses Werktagsritual wirklich aufhören musste. Und das würde es auch. Bald. Gut, es war weitaus bequemer, im Schlafanzug herumzulaufen, aber der Tag war noch jung und es konnte jederzeit Besuch kommen – Menschen, die vollständig bekleidet waren und sich im Gegensatz zu ihr in der Öffentlichkeit zeigen konnten.

»Heute ist so ein trostloser Tag«, erklärte sie gut gelaunt und nahm Grace den Regenschirm ab. »Ich habe Minestrone gekocht, falls du zum Essen bleiben möchtest.«

Grace nickte und folgte ihr in die Küche. »Luke hat heute Abend Schulratssitzung«, erklärte sie, stellte ihre Tasche auf den Boden und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Aus dem ersten Stock waren ein Poltern und Getrappel zu hören. Grace lachte und deutete zur Decke. »Tanzt sie etwa?«

»Ich liebe meine Tochter sehr, aber ich glaube nicht, dass sie mal beim Moskauer Ballett tanzen wird«, meinte Jane mit kläglichem Grinsen.

»Wie war der Unterricht heute?«

»Gut«, antwortete Jane ausweichend. Im Vergleich zu ihren vorherigen Stunden war es relativ ruhig gewesen. Vermutlich sollte sie das als gutes Zeichen sehen, erst recht, wenn sie daran dachte, wie ungestüm die Mädchen in ihren Sommerklassen gewesen waren. Aufgrund des vielen Gekreisches und Gespringes hatte sie jetzt immer eine Packung Ibuprofen in ihrer Tanztasche.

Grace zog eine Augenbraue hoch. »Du klingst ja nicht sehr überzeugt. Hat Rosemary wieder versucht, dich zu einem Date zu überreden?«

»Glücklicherweise nicht.« Jane lachte laut auf. Sie hatte ihrer Chefin im letzten Frühling gestattet, einige Verabredungen für sie zu arrangieren, die ihr die Augen geöffnet und sie in ihrem Glauben bestätigt hatten, dass sie allein besser dran war. Einer der Männer hatte keine Kinder gemocht und so viel getrunken, dass sie irgendwann die Kellnerin gebeten hatte, ihm die Autoschlüssel abzunehmen. Und dann war da noch Brian gewesen. Sie hatte so große Hoffnungen auf den Mann gesetzt, der ihr als Arzt mit Brille angekündigt worden war. Er war durchaus süß, auch wenn er sich als Krankenpfleger und nicht als Chirurg herausgestellt hatte, aber er ließ ihr Herz nicht schneller klopfen, und außerdem hatte er etwa eine Woche nach ihrer Verabredung eine andere Frau kennengelernt, mit der er jetzt zusammen war. Sie hatte versucht, sich einzureden, dass es so besser war, aber sie konnte nicht leugnen, dass es ein bisschen wehtat. Die fehlende Anziehungskraft war offenbar gegenseitiger Natur gewesen.

Und so war sie immer noch allein. Nicht aus eigenem Entschluss, aber sie würde das Beste daraus machen. Was hatte sie schon für eine andere Wahl?

»Rosemary hat ihre Aktivitäten als Kupplerin an den Nagel gehängt, nachdem sie Anna und Mark wieder zusammengebracht hat«, erklärte Jane und musste bei dem Gedanken an ihre Schwester und Rosemarys Neffen lächeln, die jetzt miteinander glücklich waren, nachdem sie sich jahrelang stur angeschwiegen hatten. »Und wenn mir meine Dates eines bewiesen haben, dann, dass sie nicht den geringsten Spaß machen.«

»Du hast nur noch nicht den richtigen Mann gefunden«, versuchte Grace sie aufzumuntern.

»Zeig mir jemanden, der unkompliziert, bindungsfähig, offen und in mich und meine Tochter verliebt ist, dann denke ich noch mal darüber nach. Und bis dahin bin ich mit meinem jetzigen Zustand ganz glücklich.«

»Zu Hause und im Schlafanzug«, meinte Grace und sah ihr in die Augen.

»Ganz genau.« Jane nickte. »Ich habe genug Verabredungen für den Rest meines Lebens gehabt, vielen Dank auch.«

Grace bedachte sie mit einem ernsten Blick. »Du weißt, was ich darüber denke.«

Ja, das tat Jane, und aus diesem Grund hatte sie nicht vor, diese Unterhaltung fortzusetzen. Da Grace verlobt und Anna ebenfalls verliebt war, schienen sich die beiden Schwestern mehr als jemals zuvor darauf zu konzentrieren, auch die jüngste Schwester glücklich unter die Haube zu bringen.

»Ja, also, meine Kurse liefen heute gut«, sagte Jane brüsk. Sie hielt inne und fragte sich, warum sie heute so gereizt war. Normalerweise hatte sie nie mehr als zehn Schüler pro Kurs, und ihr Anfängerkurs um 15:45 Uhr bestand sogar nur aus vier Schülerinnen. Außerdem war Rosemary ungewöhnlich ruhig gewesen, als sie Feierabend gemacht hatte.

Aber die Kurse fingen ja auch gerade erst an, und viele waren erkältet. Vielleicht waren auch einige der Schüler krank geworden oder stiegen erst später in den Kurs ein. Sie wollten doch gewiss alle wie jedes Jahr für den Nussknacker vortanzen.

»Es war sehr ruhig. Sehr … stressfrei.«

»Bei Rosemary?« Grace schien nicht überzeugt zu sein, und das brachte Jane zum Lachen. Ihre Chefin konnte anspruchsvoll sein, aber Jane war viel zu dankbar dafür, dort arbeiten zu können, um sich zu beschweren. Hätte Rosemary Jane im letzten Winter nicht das Angebot gemacht, als Lehrerin an ihrer Tanzschule zu arbeiten, dann hätte sie vielleicht nie den Mut aufgebracht, Adam wegen seiner Affäre zur Rede zu stellen. Dieser Job war der Hoffnungsschimmer, den sie gebraucht hatte, um sich zu beweisen, dass sie auch auf eigenen Beinen stehen konnte. Sie hatte jede Hoffnung auf eine Karriere als Balletttänzerin aufgegeben, als sie mit gerade mal neunzehn Jahren geheiratet hatte, von einer möglichen Collegeausbildung ganz zu schweigen. Ihr Mann war ihr Leben gewesen, und jetzt musste sie ohne ihn auskommen.

Jane nahm einen Laib Sauerteigbrot aus einer Tüte und heizte den Ofen vor. »Welchem Grund verdanke ich denn nun die Ehre deines Besuchs?«

Grace’ Augen funkelten, und sie strahlte Jane an. »Ich habe ein Blumenmädchenkleid für Sophie gefunden.«

»Und dieses Mal bleibt es auch dabei?« Grace hatte sich in Bezug auf ihr Hochzeitskleid bereits sechsmal umentschieden, und sie musste sich noch immer um die Blumenarrangements kümmern, obwohl die Hochzeit schon in wenigen Wochen stattfinden würde.

»Ich möchte eben, dass alles perfekt ist.«

»Ich weiß.« Jane bekam ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Schwester aufgezogen hatte. Sie war selbst einmal vor den Altar getreten und hatte sich mit all diesen kleinen Details beschäftigt, die ihr jetzt so trivial vorkamen. Dabei hätte sie sich weniger Gedanken um die Blumen und mehr um ihren zukünftigen Ehemann machen und auf die leise Stimme in ihrem Kopf hören sollen, die ihr geraten hatte, die Sache abzublasen. »Dann zeig mir mal, was du ausgesucht hast.«

Jane hastete zur Kücheninsel und beugte sich vor, während Grace in einem Hochglanz-Brautmagazin blätterte und ihr dann das Bild eines kleinen Mädchens in einem purpurfarbenen Ballkleid aus Rohseide mit einer großen elfenbeinfarbenen Schleife an der Taille zeigte. Nach der schokobraunen Variante, die Grace vergangene Woche vorgeschlagen hatte, war Jane klar, dass Sophie dieses Kleid mit Begeisterung anziehen würde.

»Sollen wir Sophie rufen?«, fragte sie strahlend.

»Hoffentlich gefällt es ihr«, meinte Grace. »Diese Kleider haben eine Lieferzeit von mindestens drei Wochen. Das könnte schon knapp werden.«

»Sophie!«, rief Jane. »Sophie! Komm mal runter. Tante Grace möchte dir was zeigen!«

Kurz darauf ertönte ein Poltern, das die Schwestern zusammenzucken ließ, gefolgt von dem Geräusch kleiner Füße, die die Treppe herunterkamen.

»Was ist es, was ist es?«, rief Sophie aufgeregt, als sie in die Küche gestürmt kam.

»Du hast ja auch schon dein Nachthemd an!«, bemerkte Grace und musterte das rosafarbene Nachthemd mit den vielen Rüschen. Sie warf Jane einen vielsagenden Blick zu, und Jane holte tief Luft und sagte sich, dass sie sich nicht aufregen musste. Gut, sie war in den Monaten, seitdem Adam zu seiner Freundin gezogen war, zu einer regelrechten Einsiedlerin geworden, aber konnte ihr das jemand verdenken? Ihr Mann hatte sie belogen und betrogen und war dann zu seiner Geliebten gezogen, die knappe fünf Kilometer entfernt lebte. Briar Creek war klein, und Neuigkeiten verbreiteten sich schnell – und auch wenn sie diejenige war, der man übel mitgespielt hatte, und von den meisten unterstützt wurde, brauchte sie das Mitgefühl nicht. Oder die Erinnerung an all das. Sie wollte nur … Sie legte das Brot in den Ofen und stellte den Timer. Sie wollte sich sicher fühlen. Und welchen besseren Weg gab es, sich sicher zu fühlen, als zu Hause im Kreise seiner Lieben zu bleiben?

»Sieh dir mal das Kleid an, Sophie«, sagte Jane. »Möchtest du das als Blumenmädchen tragen?«

Sophie deutete mit dem Kinn auf das Bild, das Grace hochhielt, und schüttelte den Kopf. »Ich werde ein blaues Blumenmädchenkleid tragen.«

Jane und Grace sahen sich alarmiert an. Dies musste das elfte Kleid sein, das Grace gefiel, und meist entdeckte sie bereits am nächsten Tag ein anderes, das sie noch schöner fand, oder musste, wie im Fall des schokoladenbraunen Kleids, mit dem Veto des Blumenmädchens leben. Langsam lief ihr die Zeit davon. Dieses Kleid musste es jetzt einfach sein.

»Aber, Schätzchen, Grace und Luke haben bei ihrer Hochzeit nur Herbstfarben. Erinnerst du dich, wie wir uns die schönen roten und orangefarbenen Blumen angesehen haben?« Und die grünen und die lilafarbenen …

»Aber mein Blumenmädchenkleid ist blau! Aus blauem Samt! Das hat Kristy gesagt.«

Jane sah zu Grace hinüber, die sie verwirrt anstarrte.

»Was meinst du damit, das hat Kristy gesagt?«, hakte Grace vorsichtig nach, als offensichtlich wurde, dass Jane keinen Ton herausbrachte.

»Kristy hat mir mein Kleid gezeigt. Es ist aus blauem Samt und hat Blumen am Hals.«

Jane bekam keine Luft mehr. Ihr Brustkorb schien sich zusammenzuziehen, und ihr Herz raste. Sie starrte Grace an und flehte ihre große Schwester wortlos an, die Sache wieder in Ordnung zu bringen, das Missverständnis aufzuklären. Grace biss sich auf die Unterlippe, sah ihre Nichte an und runzelte verwirrt die Stirn.

»Kristy hat gesagt, dass du zu meiner Hochzeit ein blaues Kleid anziehen sollst?«

»Nein! Zu ihrer Hochzeit!«, schrie Sophie, die vor lauter Frustration schon ganz rote Wangen hatte. »Wenn sie Daddy heiratet!«

Jane spürte, wie sie kreidebleich wurde, und einen kurzen Moment lang glaubte sie schon, sich übergeben zu müssen. Oder in Ohnmacht zu fallen. Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken und hörte zu, wie sich Grace fröhlich mit Sophie unterhielt, um die Situation irgendwie zu entspannen. In Janes Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander. Adam heiratete – und dann auch noch die Frau, wegen der er Jane verlassen hatte! Er hatte ihre Ehe ruiniert und ihre Familie zerbrochen und war trotzdem bereit, einen neuen Anfang mit einer anderen Frau zu machen, das Leben zu leben, das er mit Jane hätte führen können und sollen – wenn er sie denn geliebt hätte.

Ihr stiegen Tränen in die Augen, aber sie blinzelte sie schnell weg, da sie nicht vor Sophie weinen wollte. Heute Nacht würde noch genug Zeit dafür sein – denn an Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken, trotz der unglaublich weichen Schlafanzughose.

Für Adam war das alles so einfach. Er war die eine Frau leid und suchte sich schnell eine andere. Er musste nicht mit dieser Leere im Herzen weiterleben oder feststellen, dass niemand sonst im Schlafzimmer war, dem er eine witzige Begebenheit erzählen konnte – und dass es zu spät war, um noch jemanden anzurufen. Er musste nicht an den Samstagnachmittagen am Spielplatz stehen und den glücklichen Paaren zusehen, die ihr Kind auf der Schaukel anschubsten, während einem selbst das Herz bei jedem Atemzug zu zerbrechen drohte – denn Adam war ja selbst Teil eines dieser glücklichen Paare!

Er lebte sein Leben weiter. Er hatte jemand anderes gefunden. Er musste nicht ausgehen, versuchen, neue Menschen kennenzulernen, und herausfinden, ob man zueinanderpasste. Während sie … noch immer – vergeblich, wie es den Anschein machte – versuchte, einen Sinn in ihr neues Leben zu bringen, das Leben, das sie sich nicht ausgesucht hatte, und zu vergessen, was ihr genommen worden war.

»Jane?« Grace’ Stimme klang übermäßig fröhlich, ihr Lächeln wirkte gequält, und ihre grünen Augen funkelten. »Wollen wir jetzt die leckere Suppe essen?«

»Ich decke den Tisch!«, meldete sich Sophie freiwillig. Sie nahm drei Platzdecken aus dem Korb auf der Arbeitsplatte und legte sie auf den Küchentisch. »Daddy sagt, es ist wichtig, dass ich mithelfe, damit ich ein gutes Beispiel abgebe.«

Was redete sie denn da? Jane ging langsam zum Schongarer, nahm den Deckel ab und merkte, wie sich ihr bei dem Geruch der Magen umdrehte. Sie konnte jetzt nichts essen, selbst wenn sie es versuchte. Adam lebte ein bequemes Leben, nicht wahr? Für ihn war nichts Schlimmes passiert, er konnte einfach nach vorn blicken. Ohne einen Gedanken an Jane zu vergeuden oder den Schaden, den er angerichtet hatte. Ohne sich noch einmal umzudrehen. Das musste schön sein. Das musste wirklich sehr schön sein.

»Daddy hat gesagt, dass ich eine große Verantwortung habe, wenn das neue Baby da ist.«

Der Glasdeckel fiel Jane aus der Hand und zerbrach im Keramikspülbecken. Im nächsten Augenblick war Grace schon bei ihr, aber sie hatte sich nicht geschnitten. Körperlich war sie unverletzt.

»Was hast du gerade gesagt, Sophie?«, presste sie hervor, auch wenn sie es eigentlich gar nicht wissen wollte.

»Sie kriegen ein Baby, Mommy!« Sophie war ganz aufgeregt. »Ich werde Blumenmädchen sein! Und eine große Schwester!«

Jane schluckte den Kloß in ihrer Kehle herunter, versuchte, alles zu verdauen, und wartete darauf, dass sich die Wunden wieder schlossen. Sie hatte sich die ganze Zeit eingeredet, dass sie allein besser dran wäre und dass es ihr so lieber war. Wenn sie niemandem ihr Herz schenkte, dann konnte es auch nicht gebrochen werden. Dies war eine weitere Erinnerung daran, dass dem so war.

Grace hielt ihre Hand noch immer fest. »Willst du es wirklich nicht noch einmal mit einem Date versuchen?«, fragte sie halbherzig und sah ihre Schwester besorgt an.

Jane schüttelte entschlossen den Kopf, aber das Ziehen in ihrem Herzen sagte etwas ganz anderes.

2

Henry Birch stand mitten auf dem kunstvoll gestalteten Stadtplatz und hatte seinen Reiseschirm nicht geöffnet, obwohl feiner Nieselregen durch die goldenen Eichenblätter fiel. Er ließ den Blick über die Main Street wandern, die Cedar Lane entlang und zur Chestnut Street, über die dicken Kürbisse, die vor den Türen aller Geschäfte gestapelt waren, und die Getreidebündel, die man um jeden gusseisernen Laternenmast gewickelt hatte, und überlegte, wie er seine Heimatstadt Briar Creek in wenigen Worten beschreiben konnte.

Aufgrund der malerischen Geschäfte und des Kopfsteinpflasters ist es leicht, dem Zauber dieser kleinen Stadt in Vermont zu verfallen, aber beschränken Sie Ihren Besuch am besten auf ein langes Wochenende, sonst freunden Sie sich zu sehr mit den Einheimischen an …

Er verlagerte das Gewicht auf die Fersen, presste die Lippen zusammen und spannte seinen Regenschirm auf. Direkt vor ihm, genau in der Mitte des Platzes, stand der weiße Pavillon, der, wie jedes Jahr, im Frühling frisch gestrichen worden war. Feuchte Blätter klebten an den breiten Stufen, auf denen er schon so oft während eines Festes gesessen und mit seinen Freunden geplaudert hatte. Damals war sein Blick immer abgeschweift, seine Aufmerksamkeit war abgelenkt gewesen, während sich ihm vor Unruhe der Magen zusammenzog. Er hatte nach Hinweisen auf Schwierigkeiten gesucht, die er lösen oder vor denen er sich verstecken musste, bis das Unausweichliche geschah und er gehen musste. Es endete immer auf dieselbe Weise: Er trat mit schamrotem Gesicht den Rückzug an und die neugierigen Blicke folgten ihm, bis er in Sicherheit und außer Sichtweite war.

Während seine Finger den Plastikgriff des Regenschirms fester umklammerten, drehte er sich wieder zur Main Street um und versuchte, das schmerzhafte Ziehen in seiner Magengrube zu ignorieren. Es war sinnlos, Zeit mit Erinnerungen zu vergeuden.

Er überquerte die Straße, ging weiter in die Stadt hinein und suchte nach einem ruhigen Ort, wo er an seinem neuesten Auftrag arbeiten konnte. Die meisten Geschäfte hatten sich verändert, seitdem er vor über sechs Jahren weggezogen war, was ihm in Erinnerung rief, dass selbst in Briar Creek die Zeit nicht stehen blieb. Er runzelte die Stirn, als er sein Spiegelbild im Fenster eines neuen Restaurants erblickte, das Rosemary and Thyme hieß. Der Reiseschriftsteller in ihm musste zugeben, dass es mit den hohen Sprossenfenstern, hinter denen sich dicke Samtvorhänge und dunkles Holz abzeichneten, zumindest von außen, recht einladend aussah. Er überflog die Speisekarte, die in einem kleinen Glaskasten hing, war wider Erwarten beeindruckt und wandte dann schnell den Blick ab, bevor es Ärger geben konnte. Denn genau das war das Problem mit Briar Creek: Wenn man lange genug stehen blieb, traf man unweigerlich jemanden, den man von damals kannte, jemanden, der wissen wollte, wie es einem ergangen war und was man so getrieben hatte – Bist du nicht verheiratet? –, jemanden, der einen bemitleidete und die Stimme senkte, wenn er den Grund dafür erfuhr …

Aber er brauchte ihr verdammtes Mitleid ebenso wenig wie ihre Nachfragen. Daher huschte er durch den Regen, duckte sich unter Vordächern und ging in Gedanken die Orte durch, die er kannte. Seine Optionen waren das Hastings, der hiesige Diner, oder ein Ohrensessel bei Main Street Books. Er entschied sich für Letzteres. Im Hastings würde er zweifellos auf jede Menge Einheimische treffen, die mit ihm plaudern wollten, aber das war nicht der Grund, warum er hier war.

Das Glöckchen über der Tür des Buchladens klingelte, als er hineinging, und er stellte seinen Regenschirm in den bereits überquellenden Ständer, trat sich die Füße auf der Kokosfußmatte ab und ging zu einem Tisch, um sich die Neuerscheinungen anzusehen. Der Duft von Kaffee und süßem Zimt erregte seine Aufmerksamkeit, und er drehte den Kopf nach rechts und betrat lächelnd das angrenzende Café. Seine Schwester hatte erwähnt, dass die Madison-Mädchen die Buchhandlung vor Kurzem auf Vordermann gebracht hatten, aber mit dieser völligen Umgestaltung hatte er nicht gerechnet. An der hinteren Wand befand sich ein Bäckereitresen mit allerlei Törtchen und Muffins, und vor dem großen Fenster waren mehrere Tische aufgestellt worden. Der Anbau, den sie »Anhang« nannten, hatte dieselben Dielenbretter aus dunklem Mahagoniholz wie die Buchhandlung und wurde mit gusseisernen Kerzen- und Wandleuchtern erhellt.

Dies war eins dieser lokalen Schmuckstücke, die er normalerweise in seinen Artikeln hervorhob. Falls er denn überhaupt einen Artikel über Briar Creek schreiben würde. Denn das wollte er eigentlich nicht. Definitiv nicht.

Grinsend ließ Henry seine Schultertasche mit dumpfem Poltern auf den Boden fallen. Hier würde er während der nächsten Wochen, die er in dieser verdammten Stadt festsaß, sein Lager aufschlagen.

Einige Menschen, die er glücklicherweise nicht zu kennen schien, saßen hier, tranken Cappuccino, lasen Bücher oder unterhielten sich leise. Henry ging zum Tresen, sah sich nach jemandem um, der hier arbeitete, und wurde immer ungeduldiger, während er wartete. Hoffentlich kam jetzt niemand herein, der ihn erkannte, während er hier herumstand. Dann wäre er wieder einmal gezwungen, die übliche Litanei zu überstehen, vor der er sich jedes Mal fürchtete, wenn er seine Pension verließ. Er wollte einfach in Ruhe gelassen werden.

Zähneknirschend sah er sich in dem Café um. Als er gerade nach nebenan in den Buchladen gehen wollte, kam eine erschöpft wirkende Frau mit gerötetem Gesicht durch eine Hintertür, die sich gerade eine Schürze umband. Sie errötete noch mehr, als sie seinen Blick bemerkte, schenkte ihm dann jedoch ein aufrichtiges Lächeln, das ihren verzagten Blick trotzdem nicht verbergen konnte.

»Henry! Das ist ja eine Überraschung!«

Er spürte, wie sein Grinsen noch breiter wurde, während er ihr schockiertes Gesicht musterte. Mit den geröteten Wangen und dem strahlenden Lächeln sah Jane Madison noch genauso wunderschön aus wie an ihrem Hochzeitstag. Er konnte sich noch sehr gut an diesen Tag erinnern, der sich in sein Gedächtnis eingebrannt hatte, obwohl er wieder und wieder versucht hatte, ihn zu vergessen.

»Jane! Wow … Jane!« Er zwang sich, wieder in die Realität zurückzukehren, sein wild klopfendes Herz zu beruhigen und sie anzusehen. Dann breitete er unbeholfen die Arme aus, um sie zu umarmen, aber der Tresen war so hoch und breit, dass es einfach nicht möglich war. Nachdem sie beide herzlich darüber gelacht hatten, reichte er ihr die Hand und umfasste ihre fest. »Es ist so schön, dich zu sehen! Arbeitest du jetzt etwa hier?«

Sie nickte und blickte dann auf ihre Hand hinab – er hatte sie noch nicht losgelassen und wollte es eigentlich auch gar nicht tun. Sein Lächeln wurde reumütig, als er ihre Hand freigab und die Hände in die Hosentaschen steckte. Jane blinzelte, biss sich auf die Unterlippe und sah ihn erwartungsvoll an. Von allen Menschen in Briar Creek war sie diejenige, die er am wenigsten hatte sehen wollen. Schließlich hatte sie seinen besten Freund geheiratet.

»Ich arbeite hier in Teilzeit und gebe auch Stunden im Ballettstudio«, fügte sie schnell hinzu.

Wie hätte er ihre langen Beine vergessen können und die Tasche mit den Tanzsachen, die sie immer bei sich gehabt hatte, wenn sie mit Adam ausgegangen war … und das Stipendium an der Akademie, das sie ausgeschlagen hatte, nachdem Adam ihr einen Antrag gemacht hatte? Henry ließ den Blick über ihr Gesicht wandern und fragte sich, ob es Bedauern war, was er in ihrer Miene sah. Mit ihren großen haselnussbraunen Augen sah sie ihn unter langen schwarzen Wimpern hinweg an. Seit ihrer letzten Begegnung hatte sie auch ein wenig zugenommen und sah nicht mehr so schlaksig aus. Die sanften Kurven standen ihr, stellte er sofort fest, während sein Blick auf ihren Hüften verharrte. Er schluckte schwer.

»Du hast viel um die Ohren«, stellte er fest.

»Ja, das stimmt. Und … was führt dich in die Stadt?« Ihre Augen schienen dunkler zu werden, während sie seinem Blick standhielt.

»Ivy«, antwortete er und bezog sich damit auf seine Schwester.

Jane schien sich ein wenig zu entspannen. »Ach so. Also, was kann ich dir bringen? Einen Kaffee?«

»Mit Milch«, erwiderte er und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. »Den größten, den ihr habt. Ich habe jede Menge Arbeit mitgebracht.«

»Du bist Reiseschriftsteller, nicht wahr?« Sie stellte die Tasse vor ihm ab und hob abwehrend eine Hand, als er ihr einen Fünfdollarschein reichen wollte. Ihr Lächeln wirkte schüchtern, fast schon zögerlich, und sie wandte jedes Mal den Blick ab, wenn er ihr in die Augen sehen wollte.

Die Schuldgefühle lasteten schwer auf ihm. Er war viel zu lange weg gewesen. Aber wann fühlte sich eine Rückkehr jemals leicht an?

»Ich bestehe darauf.« Grinsend stopfte er den Geldschein in den Becher für das Trinkgeld.

Sie seufzte. »Na, dann nimm dir wenigstens einen Muffin. Mit wilden Blaubeeren, heute Morgen frisch gebacken.« Sie nahm einen riesigen, mit Streuseln bedeckten Muffin aus einem Korb. Darin waren gigantische Blaubeeren zu erkennen, und bei dem süßen Duft fing Henrys Magen an zu knurren. »Die gehen weg wie warme Semmeln«, drängte sie ihn grinsend.

»Hast du die gebacken?«, fragte er und nahm den Teller mit dem Muffin entgegen.

»Großer Gott, nein.« Jane lachte und errötete noch mehr. »Meine Schwester Anna backt sie. Sie hat ein Restaurant mit angeschlossenem Café in der Stadt, das Rosemary and Thyme. Du bist vielleicht schon daran vorbeigekommen.«

»Ja, an der Ecke Second Avenue. Es sieht nett aus.« Henry nickte. Er war beeindruckt.

»Mark Hastings und sie haben es diesen Sommer eröffnet. Davor war es ein Café namens Fireside, aber nachdem die beiden sich zusammengetan hatten, haben sie sich auch gleich vergrößert.«

»Mark Hastings!« Henry grinste. An den hatte er seit Jahren nicht mehr gedacht. »Meine Schwester und ich telefonieren nicht so oft, wie ich es gern hätte, aber mir ist, als hätte Ivy erwähnt, dass Luke und Grace wieder zusammen sind.« Er schüttelte den Kopf. »Da ist mir anscheinend weitaus mehr entgangen, als ich dachte. Ich wusste nicht einmal, dass sie sich getrennt hatten.«

Bei seinen Worten riss Jane die Augen auf. »Oh, da gibt es bestimmt noch mehr, was du nicht weißt. Du bist ziemlich lange weg gewesen.«

Er sah ihr in die Augen und ignorierte ihre Worte. »Warum erzählst du mir nicht alles? Wir könnten zusammen einen Kaffee trinken und uns auf den neuesten Stand bringen.« Er deutete auf den leeren Tisch in der Nähe des Fensters. Die Arbeit konnte warten. »Was hältst du davon?«

Sie schien sich zu verkrampfen. »Oh, aber ich muss hier bedienen.«

Er schaute sich um. Alle Anwesenden waren entweder in ein Buch oder eine Unterhaltung vertieft oder beugten sich hoch konzentriert über einen Laptop. Ein schneller Blick an den Bücherregalen weiter vorne vorbei verriet ihm, dass auch im Buchladen nichts los war.

»Wenn ein Kunde reinkommt, kannst du ja weitermachen. Ich muss auch noch einen Artikel fertigschreiben und werde eine Weile hier sein.«

Sie musterte ihn einige Sekunden lang, und er genoss das Vergnügen, ihr hübsches Gesicht zu betrachten, ohne sich dafür eine Ausrede einfallen lassen zu müssen. »Du wirst nicht locker lassen, nicht wahr?«

Er zog fragend eine Augenbraue hoch. »Sollte ich das denn?« Doch noch während er das sagte, wusste er, dass er genau das tun sollte. Er sollte sich an den Ecktisch setzen, seinen Laptop aufklappen und sein Leben fortsetzen. Seine Arbeit beschäftigte ihn und verhinderte, dass seine Gedanken Wege einschlugen, von denen sie sich besser fernhalten sollten. Dass sie sich beispielsweise um Menschen wie Jane Madison drehten und alles, wofür sie stand, alles, was sie ihm einst bedeutet hatte.

Sie zögerte. »Gut, dann trinken wir einen Kaffee. Ich könnte sowieso noch eine Tasse vertragen.«

Das Lächeln schien ihr jetzt leichter zu fallen und sie griff nach einer Tasse. Da sah er es. Der Verlobungsring, den er zusammen mit Adam bei einem Juwelier in der Nachbarstadt Forest Ridge noch ausgewählt hatte, war nicht mehr da, ebenso wenig wie der schlichte silberne Ehering, den er bei ihrer Hochzeit in seiner Brusttasche gehabt hatte, um ihn zum richtigen Zeitpunkt herauszuholen und mit anzusehen, wie sein bester Freund ihn Jane an den schlanken Finger steckte. Damals hatte sie gelächelt, hinter ihrem Schleier hatten Tränen in ihren Augen geglitzert, und er erinnerte sich noch ganz genau daran, wie er gedacht hatte, dass Adam der glücklichste Mann der Welt wäre.

Doch jetzt trug sie keinen Ring am Finger, und auf einmal machte es Klick. Dieser dämliche Mistkerl hatte das Beste verloren, was je in sein Leben getreten war. Und jetzt stand er hier und erinnerte Jane an eine Zeit in ihrem Leben, die sie wahrscheinlich lieber vergessen wollte.

Das konnte er verdammt gut verstehen.

3

Warum war sie denn so abweisend? Es gab doch keinen Grund dafür. Henry Birch war ein netter Kerl. Ivys Bruder. Ein anständiger Mann. Ein ehrlicher Mann. Manchmal etwas zu ehrlich, wenn sie das so sagen durfte, aber im Großen und Ganzen ein guter Kerl. Was war denn schon dabei, dass er Adams bester Freund und Trauzeuge gewesen war? Das war doch schon Jahre her. Er hatte sich nicht wirklich bemüht, den Kontakt zu halten …

Aber irgendetwas sagte ihr, dass ihre Zurückhaltung nicht nur mit der Tatsache zu tun hatte, dass Henry und Adam sich als Kinder und Jugendliche so nah wie Brüder gestanden hatten, sondern vielmehr damit, dass Henry … anders aussah. Besser. Geradezu … attraktiv.

»Das mit dir und Adam tut mir sehr leid«, sagte Henry, sobald sie am Tisch saßen. Er strich sich mit einer Hand durch das dunkelbraune Haar und sah sie mit seinen himmelblauen Augen an. Warum waren ihr diese Augen früher nie aufgefallen?

Sie hielt seinem Blick einen Augenblick stand, versuchte, das flaue Gefühl in ihrem Magen zu ignorieren, und tat seine Besorgnis mit einem Achselzucken ab. »Das ist schon fast ein Jahr her.«

Bei dieser Erkenntnis durchfuhr sie ein Stich. Ein Jahr … So lange schon? Das war ein erschreckender Gedanke. Seit dieser furchtbaren Weihnachtswoche, als sie endlich ihren Verdacht, er könnte eine Affäre haben, ausgesprochen hatte, waren irgendwie neun Monate vergangen. Doch diese neun Monate hatten Adam ausgereicht, um noch einmal von vorn anzufangen und alles, was sie miteinander verbunden hatte, als Vergangenheit abzutun, während sie noch in dem Haus lebte, das sie zusammen ausgesucht hatten, ihre einzige Tochter aufzog und in den Überresten ihres gemeinsamen Lebens festsaß. Das war so unfair. Sie hätte es doch sein sollen, die ein neues Leben begann, nach seinem Verrat triumphierte und erneut ihr Glück fand …

Von der anderen Tischseite aus beobachtete Henry sie genau, zog fragend eine Augenbraue hoch und die Mundwinkel nach unten. Oh, da war wieder dieses Herzklopfen! Jane trank schnell einen Schluck Kaffee, um sich nichts anmerken zu lassen. Was war denn nur los mit ihr? Henry war nun einmal ein gut aussehender Mann. Das war er schon immer gewesen. Ebenso, wie er immer nett, ruhig und mitfühlend gewesen war. Aber er war auch Adams bester Freund. Und außerdem besuchte er nur Ivy, daher war das alles doch wirklich sinnlos. Er war ziemlich attraktiv, aber das war auch schon alles. Doch offensichtlich hatten ihre Schwestern recht, sie musste mehr ausgehen. Aber allein der Gedanke daran …

»Es geht mir gut«, versicherte sie Henry und zwang sich zu lächeln. Und das stimmte auch. Es ging ihr großartig, sie stieg jede Nacht in ein leeres Bett in dem Wissen, dass die einzigen Männer, von denen sie momentan umarmt wurde, die Partner ihrer Schwestern waren, und das war wirklich erbärmlich, wie sie sich selbst eingestehen musste. Und sie war rundum zufrieden, wenn sie mitten in der Nacht allein in der Küche stand und sich ein Stück Käse abschnitt, wenn ihre Tochter nicht da war. Warum sollte sie dafür auch einen Teller schmutzig machen? Es gab nichts Deprimierenderes, als für sich allein etwas zu essen zu kochen, und war es nicht aufregend, ein Snickers aus dem Kühlschrank zu nehmen und zu wissen, dass niemand sie davon abhalten konnte, es zu essen? Also gab es doch wirklich keinen Grund, dass sich jemand Sorgen um sie machen musste. Gut, sie war eine sechsundzwanzigjährige Mutter und Single und von ihrem Ehemann betrogen worden, der seine Geliebte geschwängert hatte. Da gab es doch sicherlich Schlimmeres. »Es geht mir wirklich gut«, wiederholte sie noch einmal.

Sie trank einen weiteren Schluck Kaffee und sah ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg an. Seine gerunzelte Stirn verriet ihr, dass er nicht überzeugt war. Beinahe hätte sie ihm die Frage gestellt, die ihr schon auf der Zungenspitze lag und ihr Herz schneller schlagen und ihre Handflächen feucht werden ließ: Hast du mit ihm geredet? Aber sie zwang sich, es nicht zu tun. Sie wollte die Einzelheiten gar nicht wissen, nichts über die Hochzeit oder das Baby erfahren, ob sie das Geschlecht schon wussten, nichts davon. Dadurch würde das alles viel zu real, und das Leben, das sie geschätzt hatte, käme ihr austauschbar vor, wertlos gar.

Blinzelnd starrte sie in ihre Tasse. Du darfst jetzt nicht weinen!

»Tja, falls du je darüber reden möchtest, ich habe selbst mehr als genug Erfahrung mit gescheiterten Ehen.« Henry nahm ebenfalls einen Schluck Kaffee, stellte die Tasse ab und verzog grimmig die Lippen.

Jane runzelte die Stirn. »Das tut mir leid. Ich hätte eine Karte schicken sollen.«

Henry zog eine Augenbraue hoch, aber seine Mundwinkel zuckten. »Eine Karte?«

Unruhig rutschte Jane auf ihrem Stuhl herum und wurde unter seinem Blick immer nervöser. »Ganz genau.«

Er stützte die Ellbogen auf den Tisch und runzelte die Stirn, aber da lag ein Glanz in seinen klaren blauen Augen, den nur ein Mensch, der dieselbe schreckliche Erfahrung gemacht hatte, erkennen konnte. »Hast du denn Karten bekommen, als du und Adam euch habt scheiden lassen?«

»Ähm, nein …« Stattdessen hatte man ihr Eintöpfe vorbeigebracht. Desserts. Brownies und Obstauflauf. Dabei konnte sie Obstauflauf nicht ausstehen. Anscheinend hatte jede Frau, die älter als fünfzig war, das Bedürfnis, sie aufzupäppeln oder mit einem Neffen zu verkuppeln, und jede Frau unter fünfunddreißig starrte sie nur ungläubig an, zweifellos besorgt, dass die Untreue ihres Mannes ansteckend sein könnte. Keine Sorge, hätte sie ihnen am liebsten gesagt, nur, weil es mir passiert ist, heißt das nicht automatisch auch, dass ihr dasselbe erlebt! Und so war es doch. Sie waren die Glücklichen. Aber sie waren auch nicht so dumm gewesen, mit gerade mal neunzehn Jahren ihren Freund aus der Highschool zu heiraten.

»Ich weiß dein Mitgefühl zu schätzen, aber eigentlich ist es besser so. Ich bin nicht geeignet für die Ehe.« Henry lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und hob eine Hand. Als er damit den Griff seiner Tasse umfasste, musterte Jane sie unauffällig. Und tatsächlich, er trug keinen Ring. Seine Finger waren kräftig und männlich, und sie fragte sich unwillkürlich, wie es sich anfühlen mochte, sie auf der nackten Haut zu spüren … Rasch trank sie noch einen Schluck Kaffee. Das wurde ja langsam lächerlich!

»Das mit Caroline und mir war eigentlich schon zu Ende, bevor es überhaupt begann«, berichtete Henry. »Wir haben es nicht einmal bis zu unserem zweiten Hochzeitstag geschafft.«

»Gut, dass ihr keine Kinder hattet«, merkte Jane an. »So ist es auf jeden Fall einfacher.«

Henrys Miene verfinsterte sich weiter, und Jane fragte sich, ob sie einen wunden Punkt getroffen hatte. »Ja, das ist wirklich besser so.«

Er teilte den Muffin und bot ihr eine Hälfte an. Jane schüttelte den Kopf, aber ihr Herz raste, als sie ihm in die Augen sah und darin eine Spur Belustigung entdeckte. »Wenigstens einen Happen«, drängte er sie und hielt ihr ein kleines Stück direkt vor den Mund. Als seine Finger ihre Lippen berührten, zuckte sie reflexartig zurück. Voller Panik hob sie die Tasse an ihren Mund und stürzte den restlichen Kaffee herunter. Ihr Magen war in Aufruhr, und von einem gut aussehenden Mann hier direkt am Fenster gefüttert zu werden, wo ganz Briar Creek sie sehen konnte … Das kam überhaupt nicht infrage, auch wenn es noch so verlockend war. Die Leute würden reden, und irgendwann würde es auch Adam erfahren, und wenn er hörte, dass es Henry gewesen war, würde das kein gutes Ende nehmen. Sie wollte schließlich auf gar keinen Fall den Anschein machen, als würde sie versuchen, ihren Exmann eifersüchtig zu machen.

»Hast du jemand Neues kennengelernt?« Jane legte den Kopf schief und fragte sich, warum sich ihr Magen gerade schmerzhaft zusammenzog. Das war doch eine völlig natürliche Nachfrage, und außerdem war sie wirklich gespannt darauf zu erfahren, wie lange man im Allgemeinen nach einer Scheidung wartete, bis man eine neue Beziehung einging. Das war wirklich der einzige Grund für ihre Frage, redete sie sich ein.

Henry schüttelte den Kopf. »Nein. Keine Zeit. Aufgrund meiner Arbeit bin ich ständig unterwegs.«

»Das klingt spannend.« Jane lächelte ihn an. Sie hatte Vermont erst zweimal in ihrem Leben verlassen, einmal, um Flitterwochen in Florida zu machen, und das andere Mal hatte sie Grace in New York besucht. Zwar hatte sie schon vor langer Zeit die Möglichkeit gehabt, von hier wegzuziehen, aber das wusste Henry natürlich.

Er zuckte wieder mit den Achseln. »Mir gefällt’s. Aber Caroline sah das anders.«

Dann starrte er seine Tasse an und schwieg, und Jane bedauerte sofort, dieses Thema angeschnitten zu haben. Sie selbst konnte es nicht leiden, wenn man sie nach ihrer Scheidung fragte oder auch nur danach, wie es ihr jetzt ging. Gab es etwas Schlimmeres, als im Supermarkt durch eine Hand, die sich sanft auf ihren Arm legte, mitfühlende Blicke und die Frage »Wie geht es dir, Liebes?« aufgehalten zu werden, wenn man doch nur Milch kaufen wollte?

»Du hast bestimmt schon gehört, dass Adam wieder heiraten wird?« So, jetzt war es raus. Sie konnte genauso gut diejenige sein, die das Thema anschnitt. An Henrys erschrockenem Gesichtsausdruck war deutlich zu erkennen, dass er gerade zum ersten Mal davon erfuhr, und sie spürte, wie ihre anfängliche Skepsis nachließ.

»Jetzt schon?« Henry sah richtiggehend fassungslos aus, und irgendwie brachte Jane das zum Lachen.

»Ganz schön früh, nicht wahr?« Sie beugte sich über den Tisch und war froh darüber, sich mit jemandem über die Gedanken austauschen zu können, die ihr den Schlaf raubten. Sie genoss diesen Moment, griff über den Tisch und brach sich ein Stück von dem Muffin ab, den ihr Henry so bereitwillig angeboten hatte. Oh, schmeckte der gut. Anna hatte mal wieder nicht enttäuscht, aber das taten ihre Schwestern ja nie.

»Auf jeden Fall!« Henry erschauderte und schenkt ihr dann ein freches Grinsen, bei dem sie Schmetterlinge im Bauch bekam. »Aber ich habe nicht vor, ihm das nachzumachen.«

Sie ignorierte die Enttäuschung, die sie bei seinen Worten empfand, und konzentrierte sich stattdessen auf sein Lächeln. Wie hatte sie nur sein Grübchen auf der linken Wange vergessen können? Caroline, wer immer sie auch war, musste mächtig enttäuscht gewesen sein, dass die Ehe mit Henry gescheitert war. Es war schon schwer genug, einen Ehemann zu verlieren, aber einen ruhigen, mitfühlenden und witzigen Mann wie ihn? Jane konnte sich das nicht vorstellen und musste es zum Glück auch nicht. Henry hatte nicht vor, noch einmal zu heiraten, und wann hatte sie eigentlich angefangen, Henry mit diesen Augen zu sehen?

Jane rutschte auf ihrem Stuhl herum und wandte sich wieder der Realität zu.

»Und das ist noch nicht alles«, gestand sie und wurde dadurch belohnt, dass sich Henry begierig vorbeugte, wobei ihr sein männlicher Duft in die Nase stieg. »Sie bekommen auch noch ein Baby.«

Als sie das sagte, runzelte Henry die Stirn und lehnte sich wieder zurück. »Ach, Jane. Das ist bestimmt nicht leicht für dich.«

»Nein.« Jane blinzelte mehrmals schnell und spürte das vertraute Brennen in ihren Augen. Innerlich verfluchte sie sich und fragte sich, warum sie dieses Thema überhaupt angeschnitten hatte. Aber Henry war schon immer ein so guter Zuhörer gewesen …

Er ist Schriftsteller, rief sie sich ins Gedächtnis und musste an ihre Schwester Grace denken. Schriftsteller konnten immer gut zuhören. Sie beobachteten alles um sich herum, merkten es sich und verarbeiteten es. Mehr steckte nicht dahinter.

Und sie war nur eine einsame, frisch geschiedene Frau, und davor war sie eine einsame Ehefrau gewesen mit einem Ehemann, der sich nicht dafür interessierte, was sie während seiner Abwesenheit getan hatte oder wie sie sich fühlte.

Henry sah sie noch immer mit finsterer Miene an, und sie konnte die Sorge kaum ertragen, die seine blauen Augen überschattete, aber noch schlimmer war die Tatsache, dass er nicht überrascht wirkte.

»Es tut mir leid, Jane. Adam und ich hatten in den letzten Jahren nur wenig Kontakt. Aber ich habe mich immer sehr über eure Weihnachtskarten gefreut.«

Sie grinste ihn schief an. »Dann hast du die im letzten Jahr bestimmt auch erhalten?«

»Im März, nachdem ich aus Asien zurück war. Warum?«

»Die meisten Leute haben sie an dem Tag bekommen, an dem sie erfuhren, dass er bei seiner Geliebten eingezogen war. Einige haben mich sogar gefragt, ob sie die Karte zurückgeben sollen!«

Henry starrte sie grimmig an. »Die Menschen in dieser Stadt reden einfach zu viel.«

Jane musterte ihn, als er sich den Nacken rieb und sich dann zum Fenster umdrehte. Er spannte die Kiefermuskeln an, und als er sich über die Bartstoppeln an seinem Kinn strich, war ein leichtes Schaben zu hören.

»Tja, das Leben in einer Kleinstadt hat auch einige Nachteile«, stimmte Jane ihm zu und beschloss, ihn lieber nicht nach seiner Mutter zu fragen. Ivy sprach nur selten von Mrs#0#Birch, die letzten Sommer gestorben war, und auch Henry hatte nie über sie reden wollen. Natürlich hatte es Gerede und Klatsch gegeben, als Jane jünger gewesen war, Spekulationen über Mrs#0#Birchs Ruf, aber Jane hatte nie wirklich darauf geachtet. Sie hatte gespürt, wie Henry darunter litt, der manchmal schweigsam wirkte und es sehr zu genießen schien, aus dem Haus zu kommen und mit ihr und Adam Pizza essen zu gehen, selbst wenn er nicht viel redete, sondern eher zuhörte.

Jetzt wusste sie, wie es war, nicht über Dinge sprechen zu wollen, die einem wehtaten. Sie wusste es besser als viele andere.

Erneut griff er nach seiner Kaffeetasse. »Das kannst du laut sagen.«

»Tja.« Jane seufzte. »Ich sollte lieber wieder an die Arbeit gehen.« Sie lächelte ihn schüchtern an, stand auf und war ein bisschen traurig darüber, dass ihre Unterhaltung so kurz gewesen war.

»Dann bis bald«, erwiderte Henry mit klarer und entschlossener Stimme, als wäre es selbstverständlich, dass sie einander wiedersehen würden.

Jane geriet ins Wanken und musste an Adam denken, der sich bestimmt freuen würde, Henry wiederzusehen. Wenn die beiden dann in ihre alten Gewohnheiten zurückfielen, wäre es sehr unwahrscheinlich, dass sich Henry noch einmal derart unbefangen mit ihr unterhielt.

»Du weißt ja, wo du mich findest«, sagte sie daher nur.

Sie ging zurück zum Tresen, setzte Kaffee auf und sah auf die Uhr. In zwei Stunden war die Vorschule aus und ihr Leben würde wieder ganz normal weitergehen. Sophie würde müde sein, bestimmt Hunger haben, und danach würde sie in die Ballettklasse für die Jüngsten gehen, während Jane einer Gruppe von Zehnjährigen das Tanzen beibrachte. Schließlich würden sie nach Hause fahren, wo Jane Essen kochte, ihre Tochter ins Bett brachte und sich auf den nächsten Tag vorbereitete. Das war ihr Leben. Sie hatte genug zu tun, und das musste ausreichen.

Aber was war mit dem Mann, der drüben am Fenster saß und in den Regen hinausstarrte und nicht etwa auf den Laptop, den er gerade vor sich aufgebaut hatte? Er war Teil ihres Lebens mit Adam, und dieses Leben war schon lange vorbei.

***

»Hast du einen Augenblick Zeit, Jane?«

Jane hob den Kopf und sah, dass Rosemary Hastings, oder Madame Hastings, wie sie im Studio genannt werden wollte, in der Tür stand. Sie hatte ihr ergrauendes Haar zu einem Dutt hochgesteckt und trug einen langen weißen Chiffonrock, den sie an der Hüfte über ihrem langärmeligen schwarzen Gymnastikanzug zusammengebunden hatte.

»Aber natürlich.« Jane lächelte, während die letzten fünfjährigen Mädchen den Trainingsraum verließen und nur noch Sophie zurückblieb. »Zieh deine Steppschuhe an, Liebling. Der Kurs beginnt in einer Viertelstunde. Danach fahren wir nach Hause und kochen uns etwas Leckeres.«

»Darüber wollte ich mit dir reden, Jane.« Rosemary betrat den Raum und schloss die Glastür hinter sich. »Der Steppkurs fällt heute aus.«

Jane, die Sophie gerade mit ihren Schuhen half, blickte auf. »Oh nein. Geht es dir nicht gut?«

»Es wird dieses Semester keinen Steppkurs für die ganz Kleinen geben, Jane. Ich musste ihn absagen.«

»Aber warum denn?« Jane hatte sich darauf verlassen, dass Sophie in diesen Kurs ging, während sie Ballett für Fortgeschrittene unterrichtete. Das musste Rosemary doch wissen.

»Es gab zu wenig Anmeldungen.« Rosemary hob abwehrend die Hände. »Gerade mal vier Kinder wollten teilnehmen.«

»Ich hatte heute auch nur drei Mädchen im Nachmittagskurs.« Jane runzelte die Stirn und ahnte, worauf diese Unterhaltung hinauslaufen würde.

»Den Kurs werden wir in diesem Semester leider auch nicht mehr anbieten können, Jane. Ich lege ihn mit dem anderen Nachmittagskurs zusammen. Es tut mir sehr leid, aber ich weiß nicht, was ich sonst tun soll. Die Kunstschule um die Ecke braucht mehr Platz, und ich hatte überlegt, ob ich ihnen für ein paar Tage pro Woche hier ein paar Räume anbiete.«

Jane sah sich in dem Studio um und musterte die glänzenden Eichenfußböden, die Spiegelwände und die Dachfenster, die das Tageslicht hereinließen. »Aber … Aber man darf hier doch nicht mal mit Straßenschuhen herumlaufen!«

Rosemary schloss die Augen und erschauderte. »Ich weiß. Glaube mir, ich weiß, wie schrecklich das ist. Aber ich werde älter und brauche ein festes Einkommen. Versteh mich nicht falsch, ich habe von dem, was mir mein verstorbener Mann hinterlassen hat, gut leben können, aber ich musste davon drei Kinder durchs College bringen, mein Haus abbezahlen, und ich habe das meiste für Investitionen in der ganzen Stadt ausgegeben, unter anderem für dieses Ballettstudio. Von dem Geld, das ich hier einnehme, lebe ich, es ist nicht nur ein Hobby.«

Jane nickte, da sie genau wusste, wie viel Geld Rosemary nicht nur ihren eigenen Kindern, sondern auch ihrer Schwägerin Sharon Hastings und ihren Neffen Mark und Brett gegeben hatte. Rosemary war vor zwanzig Jahren Witwe geworden, und sie hatte zwar gut gelebt, aber auch viel ausgegeben. Zu viel, wie es jetzt den Anschein machte.

»Bitte sag jetzt nichts. Ich bin mir sicher, dass es nur ein vorübergehendes Problem ist, und ich möchte nicht, dass sich mein Sohn Sorgen macht. Luke hat sein Erbe erhalten, wie alle meine Kinder, aber es ist ihr Geld und nicht meins. Ich möchte, dass sich Luke mit seinem Anteil ein neues Leben mit Grace aufbaut und es für seine Kinder aufhebt.« Bei den letzten Worten wackelte sie mit den Augenbrauen, und Jane lächelte dünn.

»Vielleicht wird es ja bald wieder besser. Zu Schulanfang haben die Kinder immer sehr viel zu tun«, meinte sie, doch diese Erklärung klang selbst in ihren eigenen Ohren jämmerlich.

»Gut möglich.« Rosemary schien auch nicht daran zu glauben. »Aber momentan habe ich keine andere Wahl. Ich wünschte nur, ich hätte dir schon eher Bescheid sagen können.«

Jane kaute auf ihrer Unterlippe herum. Sie wusste, in welche Lage sie dieses Dilemma bringen würde, aber sie hatte auch kein Recht, sich zu beschweren. Dieses Studio bedeutete Rosemary eine Menge – es hatte ihr dabei geholfen, den Tod ihres Mannes zu verarbeiten –, und Jane wusste viel zu gut, wie wichtig es gerade in schwierigen Zeiten war, ein Ziel im Leben zu haben. Lächelnd blickte sie zu Sophie hinüber, die sich gerade mit dem Zubinden ihrer Steppschuhe abmühte.

»Für wie viele Kurse brauchst du mich denn noch?«, erkundigte sich Jane.

Rosemary zuckte zusammen. »Für vier.«

Es gelang Jane nur mit Mühe und Not, ihren Schreck zu verbergen. Dadurch wurde ihr Einkommen praktisch halbiert, und obwohl Adam Alimente zahlte und sie sehr sparsam lebte, blieb kaum noch etwas übrig, wenn die Rate für die Hypothek, die sie auf das Haus aufgenommen hatten, sowie die anderen monatlichen Rechnungen bezahlt waren. Es war sowieso kaum Geld vorhanden, um sich hin und wieder einen kleinen Luxus zu gönnen, und in wenigen Monaten war Weihnachten …

»Vielleicht könntest du ja Grace fragen, ob du ihr öfter im Buchladen helfen kannst«, schlug Rosemary eifrig vor. »Möglicherweise braucht Anna ja auch noch jemanden im Restaurant?«

Jane setzte ein tapferes Lächeln auf, auch wenn ihr das Herz schwer wurde. Die Arbeit im Ballettstudio war perfekt für eine allein erziehende Mutter mit einem Kleinkind, da Sophie Stunden nehmen konnte, während Jane Kurse gab. Grace und Anna mochten ihre Schwestern sein, aber sie konnte Sophie unmöglich zur Arbeit in den Buchladen oder ins Restaurant mitnehmen. Und die Kosten für einen Babysitter wären einfach zu hoch … Zwar konnte ihre Mutter manchmal aushelfen, doch meist hatte Kathleen als Innendesignerin mehr als genug zu tun.

Es bestand immer noch die Möglichkeit, das Haus zu verkaufen und aus Kostengründen zu ihrer Mutter zu ziehen. In dem alten viktorianischen Haus, in dem sie aufgewachsen war, gab es auf jeden Fall genug Platz, aber es war nicht mehr ihr Zuhause, und Sophie hatte im vergangenen Jahr schon genug Veränderungen mitmachen müssen. Jane hatte sich bereits vor der Geburt ihrer Tochter große Mühe mit der Einrichtung von Sophies Zimmer gegeben. Dies war der Raum, in dem sie ihr Baby im Arm gehalten, es in den Schlaf gewiegt und ihr später Geschichten vorgelesen und sie zu Bett gebracht hatte. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, das Haus aufzugeben. Sie hatte schon so vieles verloren.

Doch jetzt richtete sie sich auf. »Na, dann sehen wir uns morgen, nicht wahr?« Jane versuchte zu lächeln, aber ihre Stimme klang gequält.

»Nein, am Montag«, korrigierte Rosemary sie und sah sie mit gütigen Augen an, während sie Jane eine Hand auf den Arm legte. »Ich habe die Kurse am Freitag und Samstag gestrichen.«

Es fiel Jane schwer, sich von ihrem Fehler zu erholen. »Oh. Sicher. Dann am Montag.« Normalerweise arbeitete sie an den Wochenenden im Anhang, da Sophie dann bei Adam war. Vielleicht konnte sie eine Extraschicht bekommen, um die ausgefallenen Kurse irgendwie auszugleichen.

Da fiel ihr wieder ein, dass Rosemary sie gebeten hatte, Luke nichts davon zu erzählen, und sie vergaß diese Idee gleich wieder. Grace würde in wenigen Wochen heiraten, und Jane wusste aus Erfahrung, dass dies die glücklichste Zeit ihres Lebens war. Daher durfte sich Grace jetzt keine Sorgen um sie machen müssen. Sie hatte ihrer Schwester im letzten Jahr schon genug zugemutet, als sie sie aus New York zurückgeholt und ihr die Geschichte mit Adam und seiner kleinen Affäre im Büro anvertraut hatte.

Jane presste sich eine Hand gegen die Stirn und schloss die Augen. Sie bekam Kopfschmerzen und konnte nicht mehr klar denken.

Als sie die Augen aufschlug, sah Sophie sie besorgt an. Jane hatte sich immer große Mühe gegeben, sich vor ihrer Tochter nichts anmerken zu lassen. Keine Fünfjährige sollte mit ansehen müssen, wie ihre Mutter die Fassung verlor.

»Eine kleine Planänderung, Soph.« Jane beugte sich lächelnd zu ihrer Tochter hinunter und löste die Knoten wieder, die Sophie in ihre schwarzen Schnürsenkel gebunden hatte. »Wir fahren heute früher nach Hause.«

»Hurra!«, rief Sophie und hielt dann inne. »Aber ich wollte doch so gern steppen.«