Frühstück mit Meerblick - Debbie Johnson - E-Book
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Frühstück mit Meerblick E-Book

Debbie Johnson

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Beschreibung

Wenn dir ein Café nicht nur Kaffee und Kuchen serviert – sondern eine zweite Chance

Zwei Jahre nach dem Tod ihres geliebten Mannes weiß Laura Walker, dass es nun an der Zeit für einen Neuanfang ist. Deshalb entschließt sie sich, mit ihren beiden Kindern für den Sommer von Manchester nach Dorset zu ziehen, um dort in einem Café auszuhelfen. Das malerisch gelegene Comfort Food Café und die warmherzigen Menschen, denen Laura dort tagtäglich begegnet, geben ihr die Chance, neue Freunde zu finden und zu lernen, wieder sie selbst zu sein. Und dann ist da auch noch Tierarzt Matt, der immer im passenden Moment zur Stelle zu sein scheint …

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Seitenzahl: 540

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Das Buch

Zwei Jahre nach dem Tod ihres geliebten Mannes weiß Laura Walker, dass es nun an der Zeit für einen Neuanfang ist. Deshalb entschließt sie sich, mit ihren beiden Kindern für den Sommer von Manchester nach Dorset zu ziehen, um dort in einem Café auszuhelfen. Das malerisch gelegene Comfort Food Café und die warmherzigen Menschen, denen Laura dort tagtäglich begegnet, geben ihr die Chance, neue Freunde zu finden und zu lernen, wieder sie selbst zu sein. Und dann ist da auch noch Tierarzt Matt, der immer im passenden Moment zur Stelle zu sein scheint …

Die Autorin

Debbie Johnson ist eine Bestsellerautorin, die in Liverpool lebt und arbeitet. Dort verbringt sie ihre Zeit zu gleichen Teilen mit dem Schreiben, dem Umsorgen einer ganzen Bande von Kindern und Tieren und dem Aufschieben jeglicher Hausarbeit. Sie schreibt Liebesromane, Fantasy und Krimis – was genauso verwirrend ist, wie es klingt.

Lieferbare Titel

Weihnachtspunsch und Rentierpulli

Aus dem Englischen von Hanne Hammer

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Summer at the Comfort Food Café bei HarperCollins Publishers Ltd.

Deutsche Erstausgabe 06/2017

Copyright © 2016 by Debbie Johnson

Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Redaktion: Evelyn Ziegler

Umschlaggestaltung: Eisele Grafik Design, München unter Verwendung von © Depositphotos, © Bigstock und © Nordal/Shopforliving

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-20929-2V004www.heyne.de

1

Köchin gesucht –

die es versteht, die Seele zu streicheln

Für die Sommersaison suchen wir für unser gut gehendes Café an der Küste eine Köchin. Zu Ihren Aufgaben gehören auch das Aufnehmen von Bestellungen und das Servieren an den Tischen. Die erfolgreiche Bewerberin ist selbstverständlich freundlich und in der Lage, ein Ei zu kochen, weiß ein nettes Gespräch zu genießen und kann sich gut in andere hineinversetzen. Humor ist absolut unerlässlich. Die einzig nötige Erfahrung ist Lebenserfahrung, gepaart mit ordentlichen Kochkenntnissen. Die Bezahlung ist erbärmlich, aber das sechswöchige kostenfreie Wohnen in einem luxuriösen Ferienhaus in einer familienfreundlichen Umgebung nahe der Jura-Küste, einschließlich der Benutzung von Swimmingpool, Spieleraum und Spielplatz ist inbegriffen. Kinder, Hunde, Katzen, Meerschweinchen und herrenlose jungfräuliche Tanten sind willkommen. Ein Bewerbungsformular ist nicht erforderlich – wenn Sie Interesse haben, breiten Sie in einem Brief Ihr Leben und Ihr Herz vor uns aus, erzählen Sie uns, warum Sie glauben, die Richtige für diesen Job zu sein. Schicken Sie Ihre Ergüsse an Cherie Moon, Comfort Food Café, Willington Hill, nahe Budbury, Dorset.

2

Liebe Cherie,

ich bewerbe mich um den von Ihnen ausgeschriebenen Job einer Köchin im Comfort Food Café in Dorset.

Das ist mein sechster Versuch, einen Brief aufzusetzen, die anderen sind als feuchte, zerknüllte Bälle auf dem Boden um den Mülleimer gelandet – ich scheine den Mülleimer nicht besser zu treffen als die richtigen Worte. Ich habe mir geschworen, dass das mein letzter Versuch ist, gleichgültig wie lang er wird und wie viele Fehler ich möglicherweise mache. Ein Versuch, der von Herzen kommt, wie Sie das wollen, selbst wenn er mich den ganzen Tag kostet. Und wenn nichts anderes dabei herauskommt, ist er zumindest eine gute Therapie.

Vielleicht ist das nicht die professionellste und genialste Weise, einen ersten Eindruck von mir zu vermitteln, und wahrscheinlich werden Sie meinen Brief unter »V für Verrückte« – oder unter »P für Papierkorb« abheften. Ich kann mich nur entschuldigen – meine Hand ist inzwischen leicht verkrampft, und an meinem Ringfinger bildet sich eine Blase. Seit meinem Abitur habe ich nicht mehr so viel geschrieben, also verzeihen Sie mir, wenn es etwas chaotisch wird.

Um ehrlich zu sein, ist alles in meinem Leben etwas chaotisch. Das ist seit gut zwei Jahren so, seit mein Mann, David, gestorben ist. Er war so alt wie ich – ich bin jetzt fünfunddreißig –, und er war die Liebe meines Lebens. Ich kann mit keiner romantischen Story aufwarten, wie wir uns bei einer Hochzeit oder über ein von Freunden arrangiertes Blind Date kennengelernt haben oder wie sich unsere Blicke in der Menge eines überfüllten Nachtclubs begegnet sind –hauptsächlich weil unsere Blicke sich in Wirklichkeit auf einem überfüllten Spielplatz begegnet sind, als wir beide sieben waren.

David war nicht von Anfang an auf unserer Schule, er ist ein paar Jahre später plötzlich zum Beginn des neuen Schuljahrs wie ein Außerirdischer aufgetaucht. Er konnte gut Fußball spielen, war beim Fangen absolut nicht zu kriegen und hat gerne Cartoons von seinen Hunden Jimbo und Jambo gezeichnet. In Miss Hennesseys Stunden haben wir an dem türkisfarbenen Tisch nebeneinander gesessen – und das hat mein Schicksal besiegelt.

Diese Geschichte klingt heute total verrückt, das weiß ich. Ich sehe meine Kinder an und denke, dass unter ihren gleichaltrigen Freunden bestimmt niemand ist, der die Liebe ihres Lebens werden könnte. Genau das haben meine Eltern nämlich gedacht – und seine auch. Ich kann mich nicht erinnern, wie oft wir zu hören bekommen haben, dass wir zu jung sind. Ich denke, sie haben es süß gefunden, unschuldig und nett, als wir sieben waren und gesagt haben, dass wir miteinander gehen. Doch als wir sechzehn waren und die ganze Highschoolzeit über zusammengeblieben sind, fanden sie es nicht mehr so nett.

Ich habe das verstanden, wirklich. Sie wollten, dass wir etwas von der Welt sehen. Andere Leute kennenlernen. Obwohl sie zu höflich waren, es direkt zu sagen, wollten sie, dass wir uns trennen. Meine Eltern haben sich immer liebenswürdig ausgedrückt, haben Sachen gesagt wie »Wir haben nichts gegen David – er ist ein netter Junge –, aber willst du denn keine Reisen machen? Zur Uni gehen? Ein paar Abenteuer erleben, bevor du einen Hausstand gründest? Deine Träume leben? Und überhaupt, wenn es denn so sein soll, werdet ihr in ein paar Jahren zueinander zurückkommen.«

Er hat von seiner Familie das Gleiche zu hören bekommen. Wir haben darüber gelacht und verglichen, wie sie auf verschiedene Weise alle dasselbe gesagt haben: Du bist zu jung, und du machst einen Fehler. Wir sind nicht sauer gewesen – wir wussten, dass sie das getan haben, weil sie uns liebten, das Beste für uns wollten. Aber was sie nicht begriffen haben – was sie wirklich nicht verstanden haben –, war, dass wir bereits unsere Träume lebten. Wir steckten bereits im größten Abenteuer unseres Lebens. Wir liebten einander über alles seit wir sieben waren, und wir haben nie damit aufgehört. Was wir hatten, war außergewöhnlich und kostbar und so viel wertvoller als alles, was wir sonst hätten erleben können.

Mit zwanzig haben wir geheiratet, und egal, wie glücklich ich war, die Leute haben weiter ihre Kommentare abgegeben. Auf der Hochzeitsfeier habe ich meine Mum sogar weinend auf dem Klo gefunden – sie hat geglaubt, dass ich mein Leben wegwerfe. Meine Abschlussnoten waren okay – einschließlich einer Eins in Hauswirtschaftslehre sollte ich vielleicht anfügen, weil es das erste Wichtige ist, das ich zu sagen habe. Und Davids auch. Er hat eine Lehre bei der Bank vor Ort angefangen, und ich habe in einem schicken Fünf-Sterne-Restaurant gearbeitet, wie ich jetzt gerne anführen würde, doch in Wirklichkeit war es ein McDonald’s in einem Einkaufszentrum am Stadtrand von Manchester.

Ich weiß, dass das langweilig klingt, doch das war es nicht. Es war großartig. Wir haben ein kleines Reihenhaus in einem guten Stadtteil gekauft und uns selbst zu diesem Zeitpunkt schon Gedanken über Schulen gemacht – denn wir wollten Kinder, und zwar bald. Nicht lange danach ist Lizzie geboren worden, sie ist jetzt vierzehn. Sie hat sein blondes Haar und meine grünen Augen geerbt und ist im Moment abwechselnd gut gelaunt oder angefressen. Ich kann ihr keinen Vorwurf machen. Es ist hart, seinen Dad zu verlieren. Ich habe mein Bestes getan, um für sie stark zu sein, doch ich vermute, mein Bestes war nicht genug. Sie ist vierzehn. Erinnern Sie sich, wie es war, vierzehn zu sein? Es war nie leicht, nicht? Auch ohne tote Väter und zombieähnliche Mütter.

Nate ist zwölf und ein Herzensbrecher. Im wahrsten Sinne des Wortes, wenn ich ihn ansehe, habe ich das Gefühl, dass mir das Herz bricht. Auch er hat Davids blondes Haar geerbt, aber auch seine funkelnden, blauen Augen. Sie wissen schon, diese Paul-Newman-Augen. Und Davids Lächeln. Und dieses Grübchen im linken Mundwinkel.

Er sieht seinem Vater so ähnlich, dass die Leute ihn Davids Miniausgabe genannt haben. Manchmal umarme ich ihn so fest, dass er sich beschwert, dass ich ihm die Rippen breche. Dann lache ich und lasse ihn los, obwohl ich ihn gern weiterdrücken und dieses kleine perfekte menschliche Wesen für den Rest seines Lebens beschützen würde. Wir alle wissen jetzt, dass das nicht möglich ist, und manchmal denke ich, dass das Schlimmste an Davids Tod ist, dass keiner von uns sich mehr sicher fühlt – und das ist wirklich nicht fair, wenn man erst zwölf ist, nicht wahr?

Aber ich muss mich daran erinnern, dass wir so viel hatten. Wir haben so viel geliebt und so viel gelacht und so viel geteilt. Alles war perfekt, selbst unsere Streitereien. Vor allem die Streitereien – oder zumindest das, was danach kam. Manchmal frage ich mich, ob das das Problem war – wir hatten zu viel, zu Gutes, zu früh. Selbst nach dreizehn Jahren Ehe konnte sein freches kleines Lachen mein Herz noch schneller schlagen lassen, und ich konnte ihm nie lange böse sein. Es war dieses Grübchen, das es mir einfach unmöglich machte.

Eins von den Dingen, die David geliebt hat, waren Ferien. Er hat in der Bank hart gearbeitet, ist befördert worden und hat seinen Job geliebt – aber es war seine Familie, die ihm alles bedeutet hat. Wir haben gespart und jedes Jahr großartige Ferien zusammen gemacht. Er hat das Recherchieren und die Planung fast genauso geliebt wie die Ferien selbst.

Am Anfang waren es »Baby«-Ferien – am wichtigsten war es, einen Ort zu finden, wo wir mit den Kindern sicher und gut aufgehoben waren. Deshalb sind wir in Großbritannien geblieben oder haben nur Kurztrips gebucht, wie nach Mallorca.

Als die Kinder größer wurden, sind wir abenteuerlustiger geworden – oder zumindest er. Wir haben begonnen, unseren Horizont zu erweitern und Campingferien auf dem Kontinent gemacht. Haben in der Toskana gezeltet, sind mit vollgepacktem Auto nach Südfrankreich gefahren und mit einem Wohnmobil durch Holland. Die letzten beiden Ferien vor seinem Tod waren die aufregendsten – ein Segeltörn in der Türkei, bei dem die Kinder das Segeln gelernt haben und ich, mich zu sonnen, und drei Wochen in Florida, wo wir die Freizeitparks besucht haben und den ganzen Weg bis zu den Keys heruntergefahren sind und dort eine Woche wie die Einheimischen gelebt haben.

Für jede Ferien und jedes Jahr haben wir ein eigenes Fotoalbum angelegt, wenn wir wieder zu Hause waren.

Es hat ihm nicht gereicht, die Bilder online zu haben, er hat sie alle ausgedruckt und jedes Album mit einem Aufkleber auf dem Rücken versehen, auf dem das Urlaubsziel und das Jahr stehen.

Sie sind alle noch da, in dem Regal im Wohnzimmer. Ordentlich aufgereiht – eine fotografische Reise durch Zeit und Raum. Lizzie als Baby; Lizzie als Kleinkind und ich schwanger; Nate, der sich zu uns gesellt. In diesen Fotoalben kann man sie aufwachsen sehen, direkt vor unseren Augen – wie sie ihre Milchzähne verlieren, ihr Geschmack sich ändert und ihre Frisuren, wie sie jedes Jahr größer werden.

Ich nehme an, dass auch wir älter geworden sind – ich habe definitiv mit den Jahren etwas zugenommen, David sind ein paar Haare ausgefallen, er hat mehr Lachfalten bekommen. Doch unser Lächeln ist uns nie vergangen – das ist eins der Dinge, die sich nie geändert haben.

Das einzige Jahr, in dem wir nicht in Urlaub gefahren sind, war das Jahr, in dem die Kinder zu groß geworden waren, um sich ein Zimmer zu teilen und wir ein größeres Haus kaufen mussten. Wir waren pleite, deshalb sind wir zu Hause geblieben – doch selbst da hat David ein riesiges Zelt in unserem neuen Garten aufgeschlagen und in einem Baumarkt eine Ladung Sand gekauft, um uns unseren eigenen Strand zu schaffen! Selbst dieser Sommer hat sein eigenes Album, auch wenn wir auf ziemlich vielen Fotos unsere Badeanzüge im Regen tragen.

Wenn ich ganz ehrlich bin, bewerbe ich mich vor allem um diesen Job – und das sehr schlecht, ich weiß – wegen all dieser Ferien und der Erinnerungen, die David für die Kinder geschaffen hat. Und für mich. Der Erinnerungen, die alles sind, was uns von ihm geblieben ist.

Inzwischen ist es über zwei Jahre her, dass David das letzte Mal Ferien geplant hat. Wir wollten nach Australien, wollten nach Sydney fliegen und weiter nach Queensland fahren. Die Kinder waren total aufgeregt, Koalas und Kängurus zu sehen, und ich habe mir etwas Sorgen gemacht, dass sie von einem Hai gefressen oder von einer Killerspinne gebissen werden könnten. David war ganz in seinem Element.

Er hat diesen Urlaub nie gemacht. Es war der erste wirklich sonnige Tag nach dem Winter – der zwölfte Februar, um genau zu sein –, und er hatte beschlossen, etwas am Haus zu tun, so wie man das macht, wenn die Sonne wieder herauskommt.

Als er ein paar Blätter aus der Regenrinne entfernt hat, ist er von der Leiter gefallen und mit dem Kopf auf die Betonterrasse geknallt. Zuerst schien er in Ordnung zu sein – wir haben darüber gelacht, Witze über seinen Dickschädel gemacht. Wir haben gedacht, dass er Glück gehabt hat.

Wir haben uns geirrt. Wir wussten noch nicht, dass er eine Gehirnblutung hatte – sein Hirn ist angeschwollen, und ganz langsam hat sich in seinem Schädel eine Katastrophe aufgebaut.

Als er angefangen hat, über Kopfschmerzen zu klagen, ging es ihm wahrscheinlich schon seit Stunden schlecht. Er hat Paracetamol gegen die Kopfschmerzen genommen und dem keine weitere Bedeutung geschenkt. Schließlich ist er vor uns dreien zusammengebrochen – ist am Esstisch direkt von seinem Stuhl gefallen. Zuerst haben die Kinder gelacht – David hatte etwas von einem Clown. Er hat immer verrückte Sachen gemacht, um sie zum Lachen zu bringen – manchmal hatten wir das Gefühl, wir würden mit Norman Wisdom, dem großen Komödianten, zusammenleben, so viel Situationskomik gab es bei uns zu Hause.

Aber er hat keinen Spaß gemacht. Und obwohl der Krankenwagen so schnell kam und das Krankenhaus so gut war, war es zu spät. Er ist gestorben. Er ist an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen worden, und seine Eltern und meine Eltern und sein Bruder sind gekommen, um sich von ihm zu verabschieden. Und die Kinder? Das war eine schwere Entscheidung. Nate war erst zehn und Lizzie erst zwölf – doch ich fand, dass sie die Möglichkeit haben sollten, ihm Auf Wiedersehen zu sagen. Ich weiß noch immer nicht, ob es die richtige Entscheidung war oder nicht – es war unmöglich abzuwägen, ob das Trauma, ihn an all die Maschinen angeschlossen zu sehen, größer sein würde, als mit dem Wissen zu leben, sich nicht von ihm verabschiedet zu haben. Ist es die richtige Entscheidung gewesen? Ich vermute, in den nächsten Jahren wird sich zeigen, wie verkorkst sie sind, und das wird meine Antwort sein.

Ich kann nicht näher ausführen, wie ich mich dabei gefühlt habe, solche Entscheidungen zu treffen, Cherie. Ich kann es einfach nicht. Ich werde diesen Brief nie fertig bekommen, wenn ich das tue – es ist zu allumfassend und zu brutal und selbst jetzt, nach all der Zeit, gibt es noch Momente, in denen der Schmerz mich paralysiert, in denen ich darum kämpfen muss, aus dem Bett aufzustehen und einen Fuß vor den anderen zu setzen. Doch das sind nur Momente, und die Abstände dazwischen werden immer länger – ich vermute, das bedeutet, dass meine eigene Hirnverletzung heilt, wodurch ich mich seltsam schuldig fühle.

Ich hasse die Tatsache, dass er bei einer so banalen Tätigkeit ums Leben gekommen ist. Beim Säubern der Regenrinne. Er war witzig und gut und ziemlich tapfer – er war der Typ Mann, der sich vor einen Bus geworfen hätte, um ein Kind zu retten, oder in die tobende See gesprungen wäre, um einen Labrador herauszuholen. Ihn zu verlieren, weil er die Regenrinne gesäubert hat, kommt mir so … sinnlos vor. Er war allerdings Organspender, was ein kleiner Trost ist – der Gedanke an all die Leben, die er gerettet oder verbessert hat, hilft. Es tröstet mich, dass sein großes wundervolles Herz jetzt in der Brust von jemand anderem schlägt.

So … inzwischen brennen Sie entweder darauf zu erfahren, wie diese Geschichte endet, oder Sie überlegen, ob Sie die Polizei anrufen sollen, um eine gerichtliche Verfügung zu erwirken, falls diese verrückte Frau in Ihrem Café auftauchen und versuchen sollte, sich in das Leben irgendwelcher Gäste einzumischen.

Die Antwort ist natürlich die, dass die Geschichte noch kein Ende hat – die Story geht weiter, wenn auch sehr langsam. Wir sind in dem Jahr nach seinem Tod in den Urlaub gefahren, und es war eine Katastrophe – eine Reise nach Kreta in ein Hotel, das voller Achtzehn- bis Dreißigjähriger war, wie sich herausstellte, die alle nur das eine Ziel hatten, an einem Leberschaden zu arbeiten und ihr Kabinett aus Geschlechtskrankheiten zu vervollständigen. Es war laut, es war schmutzig, und wir haben es alle gehasst – vor allem natürlich, weil er nicht bei uns war. Es war grauenhaft.

Jetzt blicke ich nach vorn und sehe, dass sich etwas ändern muss. Davids Lebensversicherung hat gereicht, um die Hypothek auf das Haus und die Autoraten abzubezahlen und um eine Weile davon zu leben. Wir haben keine Schulden, was uns besser dastehen lässt als viele andere Familien, die um ihre Existenz kämpfen müssen, das weiß ich.

Aber es kommt auch nichts herein – wir haben kein Einkommen. Und das bedeutet keine Ferien – nicht weil es mir an den nötigen Planungsfähigkeiten fehlt, sondern weil wir sie uns nicht leisten können. Nicht wenn wir auch etwas zu essen haben wollen. Verstehen Sie mich nicht falsch, wir haben den Kopf über Wasser, aber es bleibt nicht viel übrig, wenn wir die Rechnungen bezahlt und die Einkäufe gemacht und die exorbitanten Ausgaben bewältigt haben, die das Leben mit einem Mädchen im Teenageralter mit sich bringt.

Wenn wir vorsichtig sind, kommen wir noch gut ein Jahr hin. Vorsichtig sein bedeutet aber, keine Ferien – und damit kann ich mich einfach nicht abfinden. Ich denke, wir brauchen Ferien – Ferien, die wir diesmal wirklich genießen. Uns allen geht es langsam ein ganz klein wenig besser. Fast gegen unseren Willen lachen wir mehr, unterhalten uns zwangloser und lächeln öfter.

Die Kinder kommen inzwischen ganz gut damit klar, zumindest besser als ich. Sie sind jetzt beide auf der Highschool, werden beide langsam zu jungen Erwachsenen, verändern sich beide. Ich möchte gerne ein weiteres Fotoalbum in das Regal stellen, bevor sie zu cool geworden sind, um irgendwas mit ihrer armen, alten Mum unternehmen zu wollen.

Ich weiß auch, dass ich selbst die Kurve kriegen muss. Ich brauche einen Job – nicht nur wegen des Geldes. Ich muss hier heraus, zurück ins Leben. Weil die Kinder jetzt älter und unabhängiger sind. Sie brauchen mich nicht mehr so sehr. Sie sind viel außer Haus – Lizzie zumindest, und Nate zeigt die ersten Anzeichen, es ihr gleichzutun. Das ist richtig so – das ist gut. Es ist das, was ich für sie will, dass sie ein normales Leben führen. Doch dass ich zu Hause in einem Schaukelstuhl sitze, Spinnweben zähle und mir immer wieder The Good Wife ansehe, ist für keinen von uns gut.

Ein Job wird mir helfen, neue Leute kennenzulernen. Mich von meinen Problemen ablenken. Meine Welt erweitern. Ich habe meine Schwester, meine Eltern und auch Davids Familie – aber wenn ich ganz ehrlich bin, kommt mir das manchmal eher wie eine Verpflichtung als wie eine Hilfe vor. Sie machen sich die ganze Zeit solche Sorgen um mich, dass ich das Gefühl habe, unter einem Mikroskop zu leben. Ich denke, sie warten darauf, dass ich zusammenbreche.

Ich denke, sie haben Angst, dass ich auf lange Sicht nicht ohne ihn leben kann. Vielleicht haben sie recht, ich weiß es nicht – aber ich muss es versuchen. Ich will David nicht vergessen – das wäre auch unmöglich, selbst wenn ich es wollte –, aber ich muss anfangen, mein Leben nach David zu leben.

Vor ein paar Monaten habe ich damit begonnen, mich nach einem Job umzusehen, und bin zu der deprimierenden Schlussfolgerung gekommen, dass ich, offiziell betrachtet, nutzlos bin. Ich habe die bereits erwähnte Eins in Hauswirtschaftslehre, die den Höhepunkt meiner schulischen Leistungen ausmacht (ich habe auch eine Drei in Gesundheits- und Sozialwissenschaft und eine Zwei in Sachkunde, die wirklich niemandem etwas nutzen). Ich habe, bevor die Kinder gekommen sind, ein Jahr bei McDonald’s gearbeitet und ein Lebensmittelhygiene-Zertifikat aus der Zeit, als ich in der Schulküche ausgeholfen habe. Nicht sehr eindrucksvoll, ich weiß – nicht so, als würde der Starkoch Marco Pierre White an die Tür klopfen und einen Job suchen.

Aber ich koche – ich koche viel. Familienessen, gelegentliche Vorstöße in exotischere Richtungen wie die thailändische oder die japanische Küche. Ich mache einen durchschnittlichen Braten und Fleischklößchen nach einem eigenen Rezept. Ich kann backen und Marinaden anrühren, und ich kann mit geschlossenen Augen ein üppiges englisches Frühstück zubereiten.

Ich würde in der MasterChef-Kochshow nicht weit kommen, aber ich kann kochen – gute Hausmannskost –, die Art von Essen, die nicht nur gut für den Körper ist, sondern auch gut für die Seele. Zumindest möchte ich das gerne glauben. Ich bin wirklich erstaunt, dass die Kinder inzwischen nicht so dick sind wie dieser riesige Marshmallow-Mann in Ghostbusters – in den letzten Jahren habe ich unter anderem über das Essen versucht, sie zu trösten (und wenn ich ehrlich bin, auch mich). Es beschäftigt mich, es gibt mir das Gefühl, etwas Sinnvolles zu tun, und es ist eine Möglichkeit, ihnen jetzt, wo sie für öffentliche Gefühlskundgebungen zu groß sind, meine Liebe zu zeigen.

Sie schlingen es natürlich einfach nur hinunter, sie sind Kinder – aber vielleicht könnte ich an einem Ort wie dem Comfort Food Café tatsächlich von Nutzen sein. Es wäre wirklich, wirklich schön, sich wieder nützlich zu fühlen – und den Sommer in Dorset zu verbringen und noch eins dieser Alben zu füllen.

So. Geht doch. Ich denke, das ist alles. Wahrscheinlich mehr als alles. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie das damit gemeint haben, dass man in einem Brief sein Leben und sein Herz vor ihnen ausbreiten soll, aber das haben Sie nun davon, dass Sie sich so vage ausgedrückt haben. Ich wette, Sie haben ein paar wirklich seltsame Antworten bekommen – und diese ist vielleicht die seltsamste.

Ich würde es Ihnen nicht verübeln, wenn ich nie wieder etwas von Ihnen höre, Cherie. Aber wenn Sie mit mir reden oder mehr erfahren möchten, lassen Sie es mich wissen. Wie immer es ausgeht, ich wünsche Ihnen viel Glück.

Alles Gute

Laura Walker

WOCHE EINS

In der ich nach Dorset fahre, viele Meat Loaf Songs singe, aus Versehen etwas einatme, das Marihuana sein könnte, einem fremden Mann meinen BH um den Kopf wickle und völlig durcheinander bin …

3

»Dort wurde Die Geliebte des französischen Leutnants gedreht«, sage ich und versuche, den Blick meiner Tochter im Rückspiegel einzufangen. Das interessiert sie nicht, natürlich nicht. Sie ist zu sehr mit ihrem Handy beschäftigt, ihre Finger bewegen sich blitzschnell beim Schreiben. So schnell, dass sie nicht mehr als schemenhafte rosa Umrisse sind. Sollte Lizzie eine Superheldin werden, würde sie Fingergirl genannt werden: die schnellste Texterin im Westen.

Traurigerweise scheint Fingergirl mein Hinweis auf den Film nicht zu beeindrucken, aber mal ehrlich, was habe ich erwartet? Ist mir nichts Besseres eingefallen? Als ein rührseliger Film mit Meryl Streep aus der Zeit, als sie noch nicht einmal geboren war? Eine historische Romanze mit ein paar preisgekrönten Schnurrbärten und bedeutsamen Blicken? Meine Bemerkung scheint einmal mehr den schlechten Ruf als Langweilerin zu bestätigen, der Müttern weltweit anhaftet, Herrgott noch mal!

»Noch nie davon gehört, Mum«, antwortet sie widerwillig. Ich bin wirklich überrascht, dass sie mir überhaupt antwortet, und vermute, dass sie auf ihrem Handy etwas sehr viel Unverschämteres von sich gibt, und nehme mir vor, später ihren Twitter-Account zu checken. Oder Tumblr. Oder Facebook. Irgendwie bin ich nicht mehr auf dem Laufenden, was im Moment ihre Lieblingskommunikationsmethode ist. Mit Sicherheit nicht das gute, alte Reden. Zumindest nicht mit mir.

Ich suche nach etwas Aktuellerem – etwas Coolerem. Nach etwas, für das sie mich ein ganz klein bisschen weniger hasst, als sie das im Moment tut. Etwas wie »der Frontsänger von Green Day wird unser Nachbar sein«, nur eben … wahrer.

»Ja. Ich denke, das ist ein bisschen zu antiquiert für dich. Aber Broadchurch wurde auch dort gedreht«, sage ich schließlich.

»Die Serie über das ermordete Kind?«, fragt Lizzie und blickt endlich auf, wobei sie die eine Braue gerade so weit zweifelnd hochzieht, dass es unter ihrem geraden blonden Pony zu sehen ist. Der Pony ist in den letzten Monaten immer länger geworden – langsam fürchte ich, dass er bald ihr ganzes Gesicht verdeckt und sie aussehen wird wie ein langhaariges Monster in Primark-Klamotten.

»Ja, die mit David Tennant«, antworte ich, ermutigt, ein gemeinsames Thema gefunden zu haben. Selbst wenn es eine Gemeinsamkeit ist, die sich auf Kindesmord und Doctor Who gründet.

»Wow. Was für eine Werbung für den Ort«, folgt die sarkastische Antwort. »Erinnere mich daran, mir einen persönlichen Schlüsselalarm anzuschaffen.«

Okay. Tief durchatmen. Dieser Familienausflug dauert mindestens noch vier Stunden, sage ich mir. In einer idealen Welt heben wir uns das Geschrei zumindest auf, bis wir hinter Birmingham sind. Ich erwäge vorzuschlagen, die roten Autos zu zählen, bis mir einfällt, dass sie das seit Jahren nicht mehr gemacht haben. Und mir fällt auch – zum millionsten Mal – ein, dass ich darin katastrophal schlecht war.

David hatte die Gabe, Autofahrten zu einem Vergnügen zu machen. Ich war diejenige, die dafür gesorgt hat, dass wir Wasser und Muffins und leere Tüten bei uns hatten, falls Nate sich übergeben musste, und er hat sie zum Lachen gebracht. Ich habe auf die Karte gesehen – ein Navi ist was für Faulpelze, hat er immer gesagt –, und er ist gefahren und hat es irgendwie geschafft, alle bei Laune zu halten.

Na ja, sie sind inzwischen älter – und nicht mehr so leicht zu bespaßen. Außerdem weiß ich nicht, wie es möglich sein soll, gleichzeitig die Karte zu lesen, zu fahren und alle bei Laune zu halten. Ich habe schon mit meiner eigenen Stimmung zu kämpfen, um ihre kann ich mich nicht auch noch kümmern. Und obwohl ich (ehrlich) nie etwas trinken würde, wenn ich fahre, verlangt es mich jetzt unheimlich nach einem großen, superkalten Gin Tonic. Oder einem Mojito. Später, sage ich mir. Später.

Ich atme tief durch, wie ich mir das selber verordnet habe, und stelle mir – im Geist – die Frage, die mir mindestens ein paar Mal am Tag durch den Kopf geht. Und jetzt sogar noch öfter, wo wir uns auf dieses aufregende Abenteuer eingelassen haben, das niemand, einschließlich mir, sehr aufregend zu finden scheint. Was würde David tun, denke ich. WWDT, abgekürzt.

David würde sich keine Sorgen machen, das weiß ich. Er würde lächeln und die Dreistigkeit ignorieren und irgendwie die ganze Situation mit einem lahmen Witz entschärfen. Oder er würde anfangen, Pupsgeräusche zu machen. Oder mit einem nachgemachten französischen Akzent Barbie Girl singen.

Irgendwas in der Art.

Doch David hatte den großen Vorteil, dass Lizzie ihn vergöttert hat. In ihren Augen konnte er nichts falsch machen – während ihre Haltung mir gegenüber gerade im Moment nicht ganz so positiv ist. Im besten Fall liegt sie im Bereich von: »Kann mir vielleicht mal jemand sagen, ob ich adoptiert bin?«, und im schlimmsten könnte sie ihr Geburtstagsgeld darauf verwenden, einen Killer anzuheuern. Zu sagen, dass es ihr nicht passt, den Sommer nicht mit ihren Freundinnen verbringen zu können, wäre eine Untertreibung – ganz so, als würde man sagen, dass Daniel Craig halbwegs attraktiv ist.

»Der Ort liegt an der Jura-Küste«, versuche ich es noch einmal. Ich spüre förmlich die schwarze Aura, die vom Rücksitz über meine Schultern kriecht, aber ich muss es versuchen. Denn das ist ganz eindeutig das, was David machen würde, und ich darf mich nicht unterkriegen lassen. Ein Navi ist etwas für Faulpelze und Untätigkeit etwas für Versager. Es ist halb sieben am Morgen, und ich hatte nur einen Becher Kaffee.

Wenn nicht bald jemand mit mir spricht, laufe ich Gefahr, am Steuer einzuschlafen, was für alle Beteiligten schlecht wäre, da ich einen sehr vollen Citroën Picasso mit einem ebenso vollen Dachgepäckträger und einem dicken schwarzen Labrador fahre, der im Kofferraum schnarcht.

Nate lebt bei meiner letzten Bemerkung auf und sieht einen Moment von seinem Nintendo auf. Vermutlich Super Mario/Sonic der irre Igel/Pokémon/oder was auch immer, jedenfalls hat er auf Pause gedrückt. Auch sein Haar ist etwas zu lang, aber nicht aus stilistischen Gründen – wir haben einfach nicht die Zeit gefunden oder hatten keine Lust, so oft zum Frisör zu gehen. Darum hat sich sonst auch sein Vater gekümmert. Ich habe es ihm mit der Nagelschere geschnitten, womit ich wirklich aufhören muss – er ist zwölf. Er kann nicht mehr so aussehen, als würde ihm seine Mutter die Haare schneiden, selbst wenn das so ist.

»Sie haben Jurassic World hier gefilmt?«, fragt er hoffnungsvoll. Ich hasse es, ihn zu enttäuschen, habe jedoch das sichere Gefühl, dass es nicht gut ist, ihn in dem Glauben zu lassen, dass er einen freundlichen Brontosaurus persönlich treffen wird, denn sobald er merkt, dass ich ihn angelogen habe, wird er mich unweigerlich hassen. Er ist, wie ich bereits gesagt habe, zwölf – rein technisch betrachtet, weiß er also, dass keine Velociraptoren in den Bergen und Tälern von Dorset herumstreunen. Aber er ist auch ein Junge, deshalb lebt er in der Hoffnung, dass er auf eine supergeheime Insel mit geiler Rockmusik entführt wird.

»Äh … nein«, räume ich ein. »Aber wenn du magst, können wir auf Fossilienjagd gehen. Am Strand sollen viele angeschwemmt worden sein.«

Er lächelt mich an. Mit diesem kleinen süßen Lächeln, das sagt: »Du beeindruckst mich nicht, aber ich liebe dich trotzdem.« Einen kurzen herzzerreißenden Moment ist sein Grübchen zu sehen, bevor er sein Gesicht wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwendet. Dem kleinen Apparat auf seinem Schoß.

Mich überkommt kurz die Sehnsucht nach jenen Tagen, als die Kinder nicht dauernd an irgendwelchen elektronischen Geräten hingen, doch dann wird mir bewusst, dass ich sowohl scheinheilig als auch sehr, sehr alt bin. Als ich in ihrem Alter war, habe ich meinen Walkman für das Gelbe vom Ei gehalten und sehr böse geguckt, wenn meine Mum gemeint hat, dass ich noch Ohrenkrebs bekomme, wenn ich nicht hin und wieder die Kopfhörer herausnehme.

»Das klingt cool, Mum«, sagt Nate, wie immer in seine Alternativwirklichkeit vertieft.

»Ist das okay, wenn du damit spielst?«, frage ich. »Dir wird nicht schlecht?«

»Nein. Ich bin okay, Mum. Ich war acht, als mir im Auto schlecht geworden ist.«

»Gut. Aber ich habe ein paar Tüten im Handschuhfach, nur für den Fall …«

Er nickt und lächelt mich noch einmal an, bevor er weiterspielt. Großartiger Junge.

Ich sonne mich in meinem dreißig Sekunden anhaltenden mütterlichen Glanz und sehe kurz auf das näherkommende Autobahnschild.

Hmmm. Autobahntankstelle … ich frage mich, ob sie wohl Mojitos-to-go haben.

4

Wir fahren ohne einen einzigen Mojito-Stopp und mit sehr wenig Konversation die M6 entlang. Es ist ruhig auf den Straßen – die meisten normalen Leute schlafen noch – und noch ruhiger im Auto.

Ich kämpfe dagegen an, indem ich laut Meat Loafs größte Hits höre und bei Bat Out Of Hell mitgröle und alle Geräusche, selbst die, die den Klang von Motorrädern imitieren, mitmache. Ich würde auch zu den Soli in der Luft Gitarre spielen, aber das verstößt möglicherweise gegen die Straßenverkehrsordnung. Ich kann mir die Schilder geradezu vorstellen: Karikaturen von Meat Loaf mit einem großen roten Kreuz über dem Gesicht.

Nate runzelt bei meiner Vorstellung leicht die Stirn, und vom Rücksitz höre ich einen verzweifelten Seufzer. Selbst der Hund bellt einmal halbherzig. Alle äußern sich kritisch.

Ich beschließe, sie zu ignorieren, denn das haben sie mich die letzten Stunden auch. Natürlich hat Lizzie etwas zu sagen, sobald ich mich für diese Vorgehensweise entschieden habe. Anfangs höre ich sie durch mein Singen gar nicht. Seit unserer Abfahrt habe ich drei weitere Tassen schwarzen Kaffee getrunken, sodass ich total aufgedreht bin und mich durchaus für fähig halte, vor einem ausverkauften Haus im Wembley-Stadion aufzutreten.

»Was?«, rufe ich und halte das Stück an, als ich merke, dass sie etwas sagt.

»Weißt du, dass dieser Song davon handelt, wie jemand bei einem schrecklichen Verkehrsunfall umkommt?«, fragt Lizzie, die immer noch ihr Display anstarrt, wie ich im Rückspiegel sehe, und die wahrscheinlich die verschiedenen Möglichkeiten googelt, wie man sich von seinen Eltern scheiden lassen kann. »Findest du nicht, dass du das Schicksal damit ein bisschen herausforderst, wo wir gerade mit 600 Meilen die Stunde ans Ende der Welt fahren?«

»Wir fahren nicht ans Ende der Welt, wir fahren nach Dorset«, antworte ich. »Und ich denke, dir wird nicht entgangen sein, dass Meat Loaf nicht nur Motorrad gefahren, sondern auch wie ein Rammbock über die Autobahn gerast ist. Wir sitzen in einem zehn Jahre alten Citroën Picasso, und ich bleibe fast die ganze Zeit auf der linken Spur für den Fall, dass Jimbo plötzlich pinkeln muss.«

Jimbo ist der Hund. Er ist der dritte schwarze Labrador, den David hatte – seine Eltern hatten Jimbo und Jambo, als wir noch klein waren. Dann kam ein neuer Hund, der Jambo der Zweite genannt wurde und der nach unserer Hochzeit gestorben ist. Danach wollten sie keinen mehr – sie hatten mit ihrem Kreuzfahrt-Club genug zu tun –, und wir haben mit Jimbo dem Zweiten weitergemacht. Der arme Jimbo ist inzwischen fast dreizehn, komplett grau um die Schnauze und rund wie ein Fass. Er schläft, schnarcht und schnieft die meiste Zeit und wird gelegentlich von unerwarteten Energieschüben heimgesucht, wenn er imaginäre Kaninchen jagt und sehr viel jüngeren Hunden Angst einjagt.

Er ist ein hübsches Tier mit äußerst ausdrucksvollen Augenbrauen und einem mächtigen Schwanz, mit dem er einen Tisch abräumen kann, wenn er glücklich ist. Er bekommt bereits Tabletten gegen seine Arthritis, und sein Herz ist nicht mehr das Beste, und er hat alle möglichen Wehwehchen, die bisher jedoch nicht gefährlich waren.

Ich weiß, dass er nicht ewig leben wird, und fürchte insgeheim, dass ich einen Nervenzusammenbruch bekomme, wenn er einmal stirbt. Dass meine ganze achtsam gehandhabte Trauer und Traurigkeit überlaufen und mich in Gefühlen ertränken wird. Dass ich in der Tierarztpraxis anfangen werde zu weinen und alle hinausgespült werden, hinaus auf die Straße, als machten sie eine verrückte Aquaparkfahrt auf Witwentränen. Was ganz nach der Art von Aquapark klingt, wie der Regisseur Tim Burton ihn entwerfen würde.

Wie es scheint, habe ich eindeutig zu viel Kaffee getrunken.

Lizzie reagiert nicht auf meine Verteidigung von Meat Loaf als angemessene Autofahrtmusik. Ich sehe, dass sie sich wieder die Kopfhörer in die Ohren gesteckt hat und so tut, als würde sie schlafen. So viel zu diesem kurzen Frieden. Ich werfe einen Blick zur Seite. Nate schaut aus dem Fenster, sein Kopf hängt herunter, seine Lider sind schwer. Er sieht wie ein Dreijähriger aus, und mein Herz zieht sich leicht zusammen, als ich mich an die Zeit erinnere, als er das noch war. Die beste aller Zeiten.

Ich drücke noch einmal auf Play, drehe die Lautstärke jedoch herunter, für den Fall, dass Nate dösen will. Es ist nicht seine Schuld, dass seine verrückte Mutter ihn zu nachtschlafener Zeit geweckt hat, um ihn für den ganzen Sommer ans Ende des Landes zu verschleppen. Es ist auch nicht Lizzies Schuld, und mir ist schon klar, warum sie sauer ist.

Sie wollte nicht mit. Sie ist vierzehn. Ihre Freunde sind ihre Welt, und ich habe den Verdacht, dass auch ein Junge im Spiel ist. Das ist es gewöhnlich in diesem Alter. David ist in ihrem ersten Jahr an der Highschool gestorben, sie hatte also einen schwierigen Start. Sie war Ewigkeiten das Mädchen mit dem toten Vater und Objekt der gleichen Mischung aus Mitleid und Angst, die Hinterbliebene immer bei anderen hervorrufen.

Wir alle haben lange gebraucht, um uns wieder zu fangen, und für sie scheinen ihre Freunde, Emo-Rock und schwarzer Eyeliner dazu wichtig zu sein. Nein, Lizzie wollte wirklich nicht in ein kleines Dorf auf dem Land, obwohl ich versucht habe, es ihr als super lange Ferien zu verkaufen.

Sie hat sogar gefragt, ob sie stattdessen bei meiner Schwester bleiben kann, was mich so erschüttert hat, dass ich ein plötzliches Bedürfnis vorgetäuscht und mich eine Weile auf der Toilette eingeschlossen habe, um zu weinen. Das mache ich zurzeit recht oft, denn ihre Zunge wird schärfer, und ihre Hormone spielen verrückt, ich aber werde nicht robuster.

Sie hat mich so oft weinen sehen, dass es für ein ganzes Leben reicht, da bin ich mir sicher – und es ist besser, sie glaubt, ich leide an einem irritablen Darmsyndrom, als dass sie mich weiter so weinerlich erlebt. Wie dem auch sei, von der eigenen Tochter in seinen Gefühlen verletzt zu werden, scheint dazu zu gehören, soweit ich mich erinnere. Ich kann mich noch gut an mein eigenes Türenschlagen und Augenrollen entsinnen und wie ich meiner Mutter vorgehalten habe, dass sie mich nicht versteht.

Jetzt bekomme ich es von meiner Tochter zurückgezahlt. Ich vermute, all das gehört zu dem großen Kreis des Lebens, wenn auch nicht zu dem, von dem sie im König der Löwen singen.

Das Problem, wenn man über etwas weint, ist, dass es unweigerlich dazu führt, dass man auch noch über etwas anderes weint. Das ist eine der vielen angenehmen Begleiterscheinungen der Trauer – man weint über etwas (wie über einen besonders rührseligen John-Lewis-Werbespot oder eine patzige Tochter) und schließlich weint man über alles, was einen irgendwann einmal verletzt hat. Doch sobald ich mich ausgeweint und das Heiligtum des Klos im Erdgeschoss verlassen hatte, habe ich über ihren Vorschlag nachgedacht.

Ich weiß, dass Rebecca, meine um zwei Jahre jüngere Schwester, Lizzie in ihrem Leben und in ihrer Wohnung im Zentrum willkommen geheißen hätte und dass es für Lizzie bei ihr vielleicht sehr viel lustiger gewesen wäre als bei mir.

Becca hat keine Kinder, wissen Sie. Und keinen toten Mann. Nicht einmal einen betagten Labrador. Sie hat überhaupt keine Pflichten, und genau das gefällt ihr. Mit siebzehn hat ihr jemand ihr Teenieherz gebrochen, und seitdem ist sie Single und unbeschwert.

Lizzie hätte zweifellos einen Heidenspaß gehabt, wenn sie den Sommer über bei ihr geblieben wäre, doch ich hatte nein sagen müssen. Abgesehen von allem anderen hat Becca von Grenzen und Disziplin so viel Ahnung wie ich von Teilchenphysik. Ich wäre möglicherweise nach Hause gekommen, und Lizzie wäre schwanger oder in der Reha gewesen oder hätte gerade ein neues Leben als Tattookünstlerin angefangen. Alle drei Risikofaktoren wären bei Becca gleich wahrscheinlich.

Nachdem diese Möglichkeit vom Tisch war, hatte Lizzie mich lustigerweise nicht gefragt, ob sie bei meinen Eltern bleiben könne … sie ist nicht dumm und weiß, dass ihre Vorstellung von einer wilden Nacht so aussieht, beim Bingo im Gemeindesaal zu gewinnen.

Meine Eltern sind sehr vernünftig – deshalb haben sie natürlich auch nicht gewollt, dass ich fahre. Sie haben mich für verrückt erklärt, obwohl sie sich einfühlsamer ausgedrückt haben. Meine Eltern sind dieser Tage sehr vorsichtig im Umgang mit mir, was auf eigene Weise herzzerreißend ist. Ich sehne mich danach, dass mein Vater mir wieder in die Augen sehen und ungehalten mit mir sein kann.

Vielleicht haben sie alle recht, denke ich, während ich den langsam dichter werdenden Verkehr betrachte, als wir auf die M5 abbiegen und den Schildern folgen, die hoch und heilig versprechen, dass wir Richtung Südwesten fahren. Vielleicht liegen Lizzie und Nate und meine Mutter und mein Vater ja hundert Prozent richtig mit ihrer Einschätzung: Vielleicht bin ich verrückt. Hinzu kommt, dass Becca mich, wenn ich jetzt darüber nachdenke, nicht von der Idee abzubringen versucht hat, was wahrscheinlich ein sicheres Zeichen dafür ist, dass ich eine schlechte Entscheidung getroffen habe.

Aber irgendwie … weiß ich, dass sie richtig ist. Ich weiß es einfach, mit einer Sicherheit, wie ich sie lange nicht mehr gespürt habe. Ich bin ängstlich und beunruhigt, und mir fehlt David wie wahnsinnig – aber ich fühle auch etwas Seltsames. Etwas kaum Greifbares und Merkwürdiges. Etwas, das vage an Hoffnung und Optimismus erinnert und an ein Gefühl von Stärke. Vielleicht ist es eine reine Schockreaktion, ich weiß es nicht – aber selbst wenn Lizzie mich eine Weile (oder vielleicht auch für immer) hasst und Nate sich langweilt und meine Eltern überlegen, mich einweisen zu lassen, weiß ich, dass ich mich in die richtige Richtung bewege. Selbst ohne Navi.

All das kommt für mich genauso unerwartet wie für meine Familie. Ich würde sagen, dass ich kein impulsiver Mensch bin, aber eigentlich weiß ich nicht wirklich, ob das stimmt oder nicht. Ich weiß nicht wirklich, was für ein Mensch ich bin, nicht in dieser Version der Wirklichkeit. Ich war so lange mit David zusammen – den größten Teil meines Lebens –, dass meine ganze Identität mit ihm verwoben war. Ich war nie allein – ich war immer mit ihm zusammen. Ich war nie einfach Laura, ich war immer die eine Hälfte von David und Laura. Daura oder Lavid … nee, das klingt beides blöd. In Hollywood würden wir damit nicht groß rauskommen.

Etwas hieran – die Zelte abzubrechen und uns alle nach Dorset zu verschleppen – fühlt sich wie der erste Schritt an herauszufinden, wer ich als Nächstes sein werde. Das klingt verrückt, ein bisschen so, als wäre ich eine internationale Spionin mit diversen falschen Identitäten und Pässen und Bündeln von Euros, die in einem Lüftungsschacht versteckt sind.

Aber ich weiß, dass dieses Gefühl wichtig ist. Ich habe lange gebraucht, um überhaupt zu akzeptieren, dass es ein »Leben danach« geben wird – zu akzeptieren, dass ich versuchen muss, mir ein Leben ohne David aufzubauen. Im Wesentlichen, weil ich gar kein Leben ohne David wollte – und es genau genommen immer noch nicht will. Aber es geht nicht nur um mich, es geht um die Kinder. Ich kann mich nicht verkriechen und einfach im Sonnenuntergang verschwinden, auch wenn Lizzie das im Moment vielleicht gerne hätte.

Ich muss weitergehen. Ich muss vorwärts sehen und den Mut finden, daran zu glauben, dass es ein »Leben danach« gibt. Es ist jetzt über zwei Jahre her, dass er von uns gegangen ist, und dieses kleine, nicht greifbare Gefühl – diese Hoffnung – macht, dass ich mich auf diese Wahnsinnsfahrt eingelassen habe. Oder vielleicht kommt dieses kleine, nicht greifbare Gefühl auch nur von dem vielen Kaffee auf nüchternen Magen. Egal, wir sind unterwegs. Es kommt mir richtig vor – und außerdem habe ich den Job bekommen. Das ist, genau in Betracht gezogen, in sich selbst schon ein kleines Wunder, und es wäre geradezu unhöflich, ein Wunder zurückzuweisen, nicht wahr? Selbst ein kleines.

Ich habe den lächerlichen Brief zwei Tage vor Ablauf der Bewerbungsfrist abgeschickt und ganz sicher nicht mit einer Antwort gerechnet. Ich meine, wer, der noch alle fünf Sinne beisammen hat, gibt einer Frau wie mir einen Job? Einer Frau, die nicht nur einen tränenverschmierten Brief schreibt, in dem sie alles von sich preisgibt, sondern die ihn auch noch abgeschickt hat?

Cherie Moon tut es offensichtlich. Vielleicht sollte ich das als deutliche Warnung nehmen – Cherie, meine neue Chefin, die Frau, die in den nächsten anderthalb Monaten unser Schicksal in ihren Händen hält, ist wahrscheinlich nicht ganz richtig im Kopf. Außerdem hat sie, wie Becca hilfreich bemerkt hat, einen sehr cool klingenden, aber möglicherweise erfundenen Namen.

Die Antwort auf meinen Brief war sehr kurz, aber sehr nett. Sie ist vor vier Wochen in einer dieser kleinen braunen gefütterten Versandtaschen gekommen, die die Leute verwenden, wenn du etwas bei eBay gekauft hast. Da ich nichts bei eBay gekauft hatte und meine Post in der Regel aus Rechnungen und Briefen besteht, in denen man mich davon zu überzeugen versucht, meine Restschuldversicherung zurückzufordern, war ich etwas überrascht. Ich habe sie ein paar Minuten angestarrt, sie geschüttelt und schließlich – in einem Anfall erstaunlicher Klarheit – aufgemacht.

Darin war eine kleine, in der Mitte gefaltete rosa Karte von niemand anderem als der legendären und möglicherweise erfundenen Cherie Moon.

»Herzlichen Glückwunsch«, stand in einer kleinen geschwungenen Schrift darauf. »Ihr Brief hat mich überzeugt, dass Sie genau die Richtige für den Job sind, und ich kann es kaum erwarten, Sie alle zu Ihrem Arbeitsurlaub im Comfort Food Café willkommen zu heißen. Beiliegend finden Sie die Wegbeschreibungen zu uns und zu Ihrem Cottage zusammen mit den Schlüsseln, ein paar langweiligen Informationen zum Haus und die Telefonnummern für den Fall, dass Sie sie brauchen. Ich erwarte Sie am dreiundzwanzigsten Juli – und im Café habe ich etwas Nettes und Besonderes für Sie.«

Das war es. Selbst ich mit meiner sehr begrenzten Erfahrung in der Arbeitswelt wusste, dass das unkonventionell war. Sie fragte nicht nach Referenzen (Gott sei Dank), und ich musste auch nur wenige Formulare ausfüllen. In dem Umschlag steckten nur die schöne, kleine Karte mit der kleinen Schrift, ein paar fotokopierte Bögen mit einer Straßenkarte und Bildern und die Schlüssel.

Die Schlüssel, die jetzt in meiner Tasche liegen, die vollgepackt mit einem Multipack mit Saftpäckchen und Minischachteln mit Rosinen und Trockenaprikosen, die niemand essen wird, irgendwo zu Nates Füßen steht. Ich liebe es, vorbereitet zu sein für den Fall, dass wir durch einen außergewöhnlichen Schneesturm oder eine Zombieinvasion auf der Straße festsitzen, Sie verstehen?

David hat mich immer mit meiner »Pfadfindermentalität« aufgezogen, wie er das genannt hat. Mir fehlt selbst das. Es fehlt mir, aufgezogen zu werden, was in gewisser Weise schon tragisch ist. Aber er hat sich auf nette Weise über mich lustig gemacht, und jetzt gibt es niemanden mehr, der mich gut genug kennt oder mich so mag, dass er sich die Mühe macht, mich aufzuziehen.

Ich verpasse mir eine mentale Ohrfeige und singe bei IWould Do Anything For Love mit, statt mich auf gewohnte Weise im Unglück zu suhlen. Ich will mich nicht suhlen – mein neues Mantra –, denke ich, während ich Meat Loaf auf seiner akustischen Reise durch diverse Herzensangelegenheiten begleite.

»Ich mag das«, murmelt Nate im Halbschlaf. Sein komatöser Ton bringt mich zum Lächeln – so klingt er immer, bevor er einschläft.

»Ich auch«, antworte ich lächelnd.

»Ich nicht«, mault Lizzie vom Rücksitz.

Na gut, denke ich, froh, ihre Stimme zu hören, selbst wenn sie angefressen klingt. Zwei von drei ist nicht schlecht.

5

Unsere Ankunft in Budbury verläuft nicht ganz so wie geplant. Um genau zu sein, ist es ungefähr sieben Stunden später, als ich gehofft hatte, uns ist allen sehr heiß, wir sind genervt, und der Hund hat die letzten dreißig Minuten durchgewinselt. Ich weiß genau, wie er sich fühlt.

Es ist fast dunkel, es herrscht dieses seltsame Dämmerlicht, bei dem die Sonne sowohl aufgehen als auch untergehen könnte. In diesem Fall geht sie definitiv unter, so tief wie meine Moral inzwischen gesunken ist.

Wir hatten ein paar Probleme, nachdem wir von der Autobahn abgefahren waren. Zuerst war da das Navi-Fiasko. Oder das Fiasko des fehlenden Navis, um genauer zu sein. In meinem unendlichen Irrsinn hatte ich beschlossen, dass es eine gute Idee wäre, in Avebury einen Stopp einzulegen, uns die berühmten Steinkreise anzusehen und mit dem Hund einen Gang zu machen und etwas Sonne und Luft zu tanken, die nicht von dem Benzingestank der Tankstellen geschwängert war.

Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, wenn Sie jemals mit Teenagern des 21. Jahrhunderts zu tun hatten, ist diese Idee sehr gut angekommen.

Dieser idyllische, kleine Abstecher hat uns die Stunden gekostet, die wir durch unseren frühen Aufbruch gewonnen hatten, vor allem da ich überzeugt war, ohne Navi zurechtzukommen. Es war auf der Karte. Es war eine Touristenattraktion. Bestimmt würde es braune Schilder oder Schlangen von Druiden in fließenden weißen Roben geben, die durch die Haltebucht wanderten.

Der arme Nate hat versucht, die Karte zu lesen, während Lizzie hinter ihm hing und ihm über die Schulter guckte, mit dem Finger auf die Seiten zeigte und Kommentare abgab wie »Wir müssen nach rechts, du Vollidiot«.

Nate hat ihr schließlich den Ellenbogen ins Gesicht gerammt, was ich ihm nicht wirklich verübeln kann. Er hat es geschafft, sie am Jochbein zu erwischen, worauf sie so laut aufgeheult hat, dass der Hund mitgejault hat. Während dieser familiären Freuden hatte ich einen Traktor vor mir, und ein Land Rover ist so dicht aufgefahren, als wollte er mich heiraten.

Als wir die gleiche, zugegebenermaßen sehr schöne Straße zum ich weiß nicht wievielten Mal entlanggefahren sind, hatten wir alle genug. Lizzie hat Nate angeschrien. Nate hat zurückgeschrien. Der Hund hat gebellt. Ich habe versucht, die Ruhe zu bewahren, aber schnell meinen Lebenswillen eingebüßt.

Alles ist richtig eskaliert, als Lizzie gerufen hat: »Nimm um Gottes willen das verdammte Navi!« Und Nate war mit der traditionellen Antwort gekommen – »Navi ist was für Faulpelze« –, was ihre Stimmung nur noch tiefer in den Keller getrieben hatte.

»Das hat Dad immer gesagt«, zischte sie. »Aber Dad ist nicht hier. Und Mum ist mit dem Job einfach überfordert.«

Das tat weh, fast schon körperlich. Ich fühlte mich ein bisschen, als hätte sie mir eine Gabel in den Hinterkopf gerammt, und das Blut würde an meinem Schädel herablaufen.

Das Schlimmste war, dass sie zu hundert Prozent recht hatte. Vielleicht finde ich ja langsam mein Gleichgewicht wieder; vielleicht versuche ich ja, nach vorne zu schauen; vielleicht bin ich ja nicht mehr so ein nervöses Wrack wie noch vor einem Jahr. Aber ich war dem Job trotzdem nicht gewachsen – vorausgesetzt der Job war der, ihr Vater zu sein. Denn so sehr ich mich auch bemühte, ich würde niemals ihr Vater sein – und dass ich beim Wegfinden gewaltig versagte, war nur ein kleiner Teil davon.

Schließlich entschied ich mich für die äußerst vernünftige Möglichkeit, eine dieser Aussichtsbuchten anzusteuern, in denen man Fotos von der umwerfenden Landschaft machen kann. Da es in meinem Auto aber nur gewalttätige Kinder und einen senilen Labrador gab, verzichtete ich darauf, sie in einem magischen Foto festzuhalten, und stieg stattdessen einfach aus.

Ich nahm Jimbo an die Leine und hörte seine alten Knochen nahezu knacken, als er sich aus dem Kofferraum hievte. Sofort hob er das Bein, um an einem Zaunpfahl zu pinkeln, bevor er versuchte, die Hinterlassenschaften von ein paar Schafen zu fressen.

Ich blicke auf die Berge und Täler und die üppige grüne Vegetation und verstand total, warum das alte Volk beschlossen hatte, seine mysteriösen und angeblich mächtigen Steinkreise hier zu errichten. Ich wünschte nur, sie hätten ein paar bessere Wegweiser hinterlassen.

Nachdem Jimbo noch ein paar Mal geschnuppert und geschnieft und das sanfte Gefühl des Sonnenlichts auf meiner Haut die Wut hatte verrauchen lassen, die meine Kinder in mir entfacht hatten, half ich dem Hund, zurück in den Kofferraum zu klettern, und stieg wieder ein.

Beide Kinder waren sehr still, was immer ein beunruhigendes Zeichen ist. Ich sah sie beide kurz an, um mich zu versichern, dass sie noch lebten, bevor ich mich anschnallte und zum Abfahren bereit machte.

»Es tut mir leid, Mum«, hörte ich eine leise Stimme vom Rücksitz. Ich fühlte eine Hand meine Schulter tätscheln, was mich zum Schmunzeln brachte. Es war ein so zögerliches Tätscheln, als wüsste sie, dass sie das tun musste, obwohl sie es hasste. Fast als hätte sie Angst, sich bei mir mit Lepra anzustecken, wenn sie es länger als ein paar Sekunden machte.

»Wofür?«, fragte ich, nicht bereit, so schnell nachzugeben.

»Dafür, was ich über Dad gesagt habe. Dafür, dass ich gemein war. Du machst das großartig, und ich sehe in die Karte, wenn du willst.«

Ich berührte kurz ihre Finger – kurz genug, um den Moment nicht durch zu viel Gefühl zu ruinieren – und nickte.

»Danke, Lizzie. Und es ist okay – wir vermissen ihn alle, und wir sind alle manchmal gemein. Aber weißt du was? Ich denke, in diesem Fall hast du recht. Ich denke, ich muss Dads Regel brechen, und kann nur hoffen, dass das für ihn okay ist. Nate, hol bitte das Navi aus dem Handschuhfach …«

Nate beeilte sich zu gehrochen und innerhalb von sechs Minuten waren wir in Avebury – wie es schien, hatten wir es geschafft, immer wieder um die Stadt herumzufahren, ohne dass es uns aufgefallen war.

Der Stopp war schön, die Kinder haben Eis gegessen, und wir haben alle Fotos gemacht. Jimbo entdeckte viele neue Gerüche, und alles in allem konnte ich das Ganze der »Positiv«-Seite zurechnen.

Der restliche Tag verlief allerdings weniger positiv. Dazu gehörte, dass – in unbestimmter Reihenfolge – unsere Autobatterie den Geist aufgab und wir ein paar vorbeikommende deutsche Touristen anhalten und um Hilfe bitten mussten, wir uns (trotz des Navis) noch einmal verfuhren, Nate sehr, sehr schlecht wurde und er sich in diversen sehr malerischen Haltebuchten übergeben musste, wir uns wieder verfuhren, wir in Yeovil bei McDonald’s einen Nothalt einlegen mussten, wir uns weiter verfuhren und Lizzie in einem Feld Pipi machen musste.

»Ich werde die Stadt nie, nie mehr verlassen …«, murmelte sie und warf die Toilettenrolle so fest gegen die Windschutzscheibe, dass sie abprallte und auf die Straße flog.

Mit den diversen Verzögerungen brauchten wir für die Fahrt viel zu lange. Wir kamen erschöpft und gereizt und, was mich angeht, von der ganzen Fahrerei schielend, in Budbury an.

Die Abfahrt zum Cottage-Komplex – The Rockery – sehen wir erst in letzter Minute, sodass ich abrupt nach links ausscheren muss, um durch das offene Tor zu kommen, und dankbar bin, dass auf der einspurigen Straße hinter uns kein Verkehr ist.

Wir fahren langsam an dem schattigen Spielplatz mit seinen bunten Schaukeln und Rutschen vorbei, an dem Spieleraum, in dem Licht brennt und in dem es alte Tischspiele, Bücher, DVDs, Tischfußball und eins von diesen Airhockeyspielen zu geben scheint, und folgen den Schildern zu den Cottages.

Als wir auf einem steinigen Kiesweg halten, der um eine große grüne Rasenfläche führt, wird das Licht langsam grau, und ich kann sowohl den Mond als auch die Sonne am Himmel sehen. Es ist sehr seltsam und ein bisschen wie der Anfang eines Fantasyfilms.

Ich steige aus dem Auto, total erleichtert, endlich angekommen zu sein, und blinzle in das schwindende Licht, während ich herauszubekommen versuche, welches Cottage unseres ist. Hyacinth House, unser Zuhause für den Sommer. Der Name kommt mir vage bekannt vor, aber nicht bekannt genug, um zu wissen warum. Das passiert mir im Zuge des Älterwerdens immer öfter, und meine Mutter hat mir vergnügt erklärt, dass das der Anfang vom Ende meiner Gehirnzellen sei.

Soweit ich das sehen kann, verteilen sich sieben oder acht Cottages über das grüne Terrain. Drei stehen zusammen wie Reihenhäuser, zwei dicht beieinander und ein etwas größeres steht nahe des Eingangs. Die um den Rasen angebrachten Solarleuchten glimmen und sehen in der Dämmerung wie Glühwürmchen aus.

In den Fenstern der meisten Cottages brennt Licht, bei einigen sind die Vorhänge vorgezogen, bei anderen nicht. Ich sehe Familien in den Häusern, sehe kurz Kinder herumlaufen, flimmernde Fernseher und ein beschlagenes Fenster, als würde jemand in der Küche arbeiten.

Ich weiß nicht, ob unser Cottage eins von denen ist, die ich sehen kann, oder ob es weiter hinten in der Anlage liegt. Ich kann gerade noch einen Weg ausmachen, der an der Cottagereihe entlangläuft, sowie die Umrisse von weiteren Gebäuden dahinter.

Ich beschließe, dass wir später auf Erkundung gehen können – zuerst muss ich sehen, wie ich den Dachgepäckträger ausgepackt bekomme. Vor ungefähr einer Stunde ist mir der Gedanke gekommen, dass ich mit dem Dachgepäckträger möglicherweise einen taktischen Fehler begangen habe. Als ich ihn vollgepackt habe, musste ich mich dazu auf einen Schemel stellen.

Natürlich habe ich den Schemel nicht mitgebracht, und da ich auf der Fahrt nicht gewachsen bin, bin ich immer noch ein paar Zentimeter zu klein, um daran zu kommen. Das ist ein Problem – und ich vermute, ich muss einfach hoffen, dass es in Dorset Fußschemel gibt oder vielleicht große Leute. Aber zumindest sind wir hier.

Ich mache die Vorder- und Hintertüren auf, und der auf der Fahrt produzierte Abfall purzelt aus allen Fußräumen – Tragetaschen voller Taschentücher, Muffinverpackungen und Apfelgriebse, alte Trinkbecher von McDonald’s, weiche Bananen mit schwarz gewordener Schale, ein zerrissener Prospekt über das English Heritage und schließlich zwei total fertige, mürrische Kinder. Ich sammele den Abfall auf und werfe ihn in den Mülleimer, öffne den Kofferraum, damit der arme Jimbo herausklettern und seine alten Beine strecken kann.

Nur dass Jimbo beschließt, dass er überhaupt nicht alt ist, nachdem er so lange im Auto eingepfercht war. Er beschließt sogar, dass er eigentlich noch ein Welpe ist, und rast über das Gras wie eine Gazelle auf Kokain, springt und hüpft in den dämmerigen Abendhimmel.

Er rennt in Kreisen über den Rasen, die Solarleuchten unterstreichen den schwarzen Glanz seines Fells und spiegeln sich in seinen Augen, was ihm ein leicht dämonisches Aussehen verleiht. Er bellt und knurrt aus reinem Entzücken, während er seinen eigenen Schwanz zu fangen versucht und mit den Pfoten auf dem Boden herumkratzt.

Die Kinder beginnen zu lachen, und ich stimme mit ein. Ich bin vielleicht hundemüde und erschöpft und ausgebrannt, doch das Kichern meiner Kinder belebt mich weit mehr als ein Spa-Aufenthalt und ein Kübel mit eisgekühltem Prosecco.

Sie sind beide in so einem schwierigen Alter – unausgegorene menschliche Wesen, noch keine Erwachsenen, aber auch keine Babys mehr –, sodass dieses Lachen in unserem Haus nicht oft zu hören ist. Lizzie ist immer öfter mit ihren Freunden unterwegs, und Nate ist viel auf seinem Zimmer und spielt Xbox Live. Sie pendeln zwischen Mich-Brauchen und Mich-nicht-Brauchen hin und her und, was Lizzie betrifft, zwischen Mich-Mögen und Mich-Verabscheuen. Auch ohne den Tod ihres Vaters wäre es für uns alle eine schwierige Zeit, nehme ich an.

Unser Lachen und das ausgelassene Zähnefletschen des Hundes sind so ziemlich die einzigen Geräusche, die ich hören kann. Es ist fast schon beunruhigend ruhig in der Rockery. Die Familien sind alle in ihren Häusern, leben ihre Leben, auf die ich einen flüchtigen Blick erhascht habe. Es gibt keinen Verkehr. Keine laute Musik aus lauten Autos, keine Martinshörner in der Ferne und keine Züge oder Straßenbahnen, die vorbeirattern. Nichts von den üblichen Stadtgeräuschen, an die wir alle so gewöhnt sind. Nur das zarte Zwitschern der Vögel in der Dämmerung, die ein letztes Lied singen, bevor sie schlafen gehen.

Jimbo springt auf die Füße, und seine Ohren richten sich auf. Wir denken vielleicht, dass es ruhig sei, und er ist in Hundejahren gerechnet vielleicht um die tausend, aber er hört ganz eindeutig etwas, das wir nicht hören. Sein Kopf fährt herum, die graue Schnauze zeigt auf die Cottages, und plötzlich setzt er zu dem schnellsten Lauf an, den ich seit Monaten bei ihm gesehen habe.

Er rast auf den Pfad bei der Cottagereihe zu, sein tiefschwarzes Fell verblasst in dem schwindenden Licht, sein rotes Halsband ist gerade noch zu erkennen. Ich laufe hinter ihm her und merke, wie sich mein inzwischen krauses, lockiges braunes Haar um meinen Kopf bauscht.

Ich hole ihn ein, wo der Weg sich zwischen den Cottages verliert. Zwischen den Setzlingen ragen noch ein paar weitere Solarleuchten hervor, sodass ich genau sehen kann, was seine Aufmerksamkeit erregt hat und warum er lange genug stehen geblieben ist, dass ich ihn einholen kann.

Jimbo hat seine Schnauze im Schritt eines Mannes vergraben, der bis auf ein weißes Handtuch um die Hüften nichts anzuhaben scheint. Er stellt erheblich mehr zu Schau, als ich seit Langem bei einem Mann gesehen habe, und ich bin froh, dass es so dunkel ist, dass er mein knallrotes Gesicht nicht sieht – eine Kombination daraus, dass mir zu warm ist, weil ich gerannt bin, obwohl ich so sportlich wie eine asthmatische Schildkröte bin, und einer leichten Verlegenheit.