Fünf Tage, die uns bleiben - Julie Lawson Timmer - E-Book
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Fünf Tage, die uns bleiben E-Book

Julie Lawson Timmer

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Beschreibung

Mara ist eine erfolgreiche Anwältin und eine liebevolle Ehefrau und Mutter - und sie leidet an einer unheilbaren Krankheit. Weil sie sich dieser Krankheit nicht bis zum bitteren Ende ergeben will, beschließt sie, sich am Jahrestag ihrer Diagnose das Leben zu nehmen.

Fünf Tage bleiben ihr noch, um sich von ihren Freunden und ihrer Familie zu verabschieden. Fünf Tage, um ihre letzten Spuren in den Herzen ihres geliebten Mannes und ihrer kleinen Adoptivtochter zu hinterlassen ...

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Inhalt

Cover

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Teil I

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

Teil II

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

Teil III

27

28

29

30

Teil IV

31

32

33

34

35

36

Teil V

37

38

39

40

41

Teil VI

42

43

44

45

46

EPILOG

Danksagung

Über die Autorin

Julie Lawson Timmer wuchs in Stratford, USA, auf und absolvierte ein Jurastudium an der Southern Methodist University. Sie arbeitet als Juristin, in ihrer Freizeit schreibt sie Romane. Germeinsam mit ihrem Ehemann undihren Kindern lebt sie Ann Arbor, USA. Fünf Tage, die uns bleiben ist ihr erster Roman. Zurzeit schreibt sie an ihrem zweiten Buch.

Julie Lawson Timmer

Übersetzung aus dem amerikanischen Englischvon Jenny Merling

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2014 by Julie Lawson Timmer

Published by arrangement with

G. P. Putnam’s Sons, Penguin Group LLC, New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dorothee Cabras, Grevenbroich

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Umschlagmotiv: © shutterstock/majivecka

E-Book Produktion: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-0610-1

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

TEIL I

Dienstag, 5. April

NOCH FÜNF TAGE

1

Mara

Mara hatte sich schon vor langer Zeit für eine Methode entschieden: Tabletten, Wodka, Kohlenmonoxid. »Garagencocktail« nannte sie das. Das klang irgendwie elegant. Wenn sie den Namen laut vor sich hin sagte, war sie selbst manchmal fast überzeugt, dass es ja eigentlich gar keine so große Sache war.

Für Tom würde es leider sehr wohl eine große Sache sein, und das machte ihr wirklich zu schaffen. Sie würde es am liebsten so hinter sich bringen, dass dabei keine Leiche übrig blieb, würde ihm gern ersparen, sie so zu finden. Aber wenn es keine Leiche gäbe, wäre das natürlich noch schlimmer für ihn. Und so war es eben am einfachsten; er konnte das Auto mit ihr darin dann einfach wegschaffen lassen. Den freien Platz in der Garage für andere Dinge nutzen. Für die Fahrräder vielleicht. Für Gartengeräte.

Für einen Zweitwagen. Könnte sie nicht vielleicht ein Auto kaufen und den Liefertermin auf die Zeit nach dem »Tag X« legen? Oder wäre das zu seltsam? Ein Geschenk von Ihrer toten Frau. Sie hätte ihm schon vor Jahren einen Zweitwagen kaufen sollen. Zu ihrem Hochzeitstag, zu Lakshmis Geburt oder einfach mal so zwischendurch. Sie hätte so vieles tun sollen.

Mara wurde ganz böse. Seit fast vier Jahren arbeitete sie nun ihre Liste mit Dingen ab, die sie vor ihrem Tod noch erledigen wollte, und trotzdem fiel ihr fünf Tage vorher immer noch etwas Neues ein.

Genau darin lag die Gefahr. Wenn man so lange warten will, bis wirklich alles erledigt ist, tut man’s nie. Irgendetwas fällt einem nämlich immer noch ein. Für manche Leute war das vielleicht kein Problem. Die hatten das Glück, es noch ein paar Wochen, Monate, vielleicht sogar Jahre aufschieben zu können, bis ihnen irgendwann wirklich keine Ausrede mehr einfiel und sie es endlich durchziehen mussten.

Mara hatte dieses Glück nicht. Die Huntington-Krankheit, der Gehirnzellenmörder schlechthin, hatte in weniger als vier Jahren bereits schlimmer in ihrem Körper gewütet, als Tom und sie es sich je hätten vorstellen können. Die Abfindungsvereinbarung ihrer Kanzlei bestätigte das. Ihr Körper, früher grazil und sportlich, war heutzutage schwerfällig und machte nicht mehr das, was er sollte.

Wenn sie jetzt nachgab und sich doch noch einen Moment länger mit ihrem Mann und ihrer Tochter schenkte, noch eine letzte Reise irgendwohin unternahm, wo sie unbedingt einmal gewesen sein wollte, stellte sie vielleicht am nächsten Tag fest, dass es zu spät war. Dass die Krankheit die Kontrolle übernommen hatte. Und sie wäre in dem schrecklichen Zwischenzustand gefangen, ihrem Leben nicht mehr selbst ein Ende setzen zu können, aber auch nicht mehr wirklich zu leben.

Ihr lief die Zeit davon. Sie konnte es nicht riskieren, noch länger zu warten. Bis Sonntag hatte sie noch, so war es geplant. Danach musste Schluss sein.

Mara trank einen großen Schluck Wasser, stellte das Glas zurück auf den Nachttisch und stand auf. Sie holte tief Luft, streckte die Arme zur Decke aus und sah zur Badezimmertür. Fast erlag sie der Versuchung, den Blick ihren Händen folgen zu lassen, so wie die Übung eigentlich ausgeführt werden sollte. Dieser Übermut war jedoch schon oft bestraft worden, und die Dielen waren doch ganz schön hart. Sie zählte bis fünf, atmete aus, beugte sich vor, berührte mit den Fingern den Fußboden und zählte noch einmal bis fünf. Ein Sonnengruß, der als solcher schon fast nicht mehr zu erkennen war. Aber es genügte, um ein wenig Klarheit in ihre Gedanken zu bringen.

Die Dusche wurde abgestellt, und Tom trat aus dem Badezimmer. Er rubbelte sich mit einem Handtuch die Haare trocken.

»Guten Morgen!« Sie ließ den Blick über seinen nackten Oberkörper wandern. »Hast wieder mal mein Lieblingsoutfit an, wie ich sehe.«

Er lachte und gab ihr einen Kuss. »Du hast noch geschlafen, als ich aufgestanden bin. Ich hatte überlegt, deine Eltern zu fragen, ob sie vorbeikommen und Laks zum Bus bringen können.« Er nickte zum Bett. »Soll ich? Dann kannst du noch ein bisschen schlafen.«

Laks. Maras Hals wurde plötzlich eng, und sie musste sich an der Kommode abstützen. Sie wandte sich von ihrem Mann ab und tat so, als ordnete sie darauf herumliegendes Kleingeld und ein paar Ohrringe. Sie schluckte und zwang die Worte nur mit großer Anstrengung heraus.

»Danke, schon in Ordnung, ich bin ja jetzt wach. Ich bring sie nachher selbst zum Bus, muss sowieso bald los. Ich will noch ein paar Besorgungen machen.«

»Aber das musst du doch nicht! Schreib mir doch einfach eine Liste, und ich kümmere mich dann heute auf dem Nachhauseweg darum.«

Er holte eine Hose aus dem Kleiderschrank und griff nach einem frischen Hemd. Sie hoffte kurz, er würde ein blaues nehmen, er entschied sich jedoch für ein grünes. Sie würde nachher ein paar blaue vor die anderen hängen, damit er vor Ende der Woche auf jeden Fall noch einmal so eins trug und sie noch einmal sehen konnte, wie sehr seine blauen Augen dann immer strahlten.

»So ein paar Besorgungen bekomme ich schon noch allein hin, Süßer.«

»Weiß ich ja. Pass bloß schön auf dich auf!« Er versuchte, möglichst bestimmt zu klingen, wusste aber genau, dass sie sich von niemandem Vorschriften machen ließ.

Er schloss seinen Gürtel, wie immer im dritten Loch. Sie schüttelte den Kopf. In den zwanzig Jahren hatte er kein Gramm zugenommen. Wenn überhaupt, war er heute besser in Form als damals. Mit Mitte vierzig war er ein aktiverer Sportler als mit Mitte zwanzig, lief seit zehn Jahren alljährlich einen Marathon. Und sie war daran wohl nicht ganz unschuldig; in letzter Zeit ging er oft laufen, um Stress abzubauen.

Im Hinausgehen strich sie ihm kurz über die Schulter. »Kaffee?«

»Keine Zeit. Hab in zwanzig Minuten den ersten Patienten.«

Kurz darauf stand sie in der Küche und legte ein Kaffeepad in die Maschine. Bei losem Kaffee landete das meiste mittlerweile auf der Arbeitsplatte oder dem Fußboden anstatt im Filter.

Tom umarmte sie von hinten und küsste sie in den Nacken. »Mach heute nicht zu viel. Mach am besten gar nichts! Bleib zu Hause, ruh dich aus!« Er drehte sie zu sich herum. Als er ihr Gesicht sah, gab er sich lächelnd geschlagen. »Aber übertreib es nicht.«

Mara sah ihm nach, wie er in der Garage verschwand. Sie zwang sich, ruhig zu atmen und das Brennen in den Augen zu ignorieren. Sie wandte sich wieder dem Kaffee zu, konzentrierte sich darauf, wie er durchlief, auf die duftende Haselnussnote, auf den Dampf, der von der Maschine aufstieg. Sie goss sich eine Tasse halb voll, stellte sie auf die Arbeitsplatte und betrachtete sie dann sehnsüchtig. Sie hätte zu gern gleich einen kleinen Schluck genommen, musste den Kaffee jedoch erst einmal abkühlen lassen, weil ihre Hände manchmal unkontrolliert zitterten. Besser, eine Pfütze aufzuwischen, als eine Brandwunde kühlen zu müssen. Jetzt fühlte sie sich ruhiger. Sie ging den Flur hinunter zum Kinderzimmer, öffnete die Tür einen Spalt und sah hinein.

Ihre Tochter hob verschlafen den Kopf vom Kissen und begrüßte sie mit einem Strahlen, das etwas lückenhaft ausfiel, da ihr vor Kurzem vier Zähne ausgefallen waren. »Mama!«

Mara setzte sich zu ihr aufs Bett und breitete die Arme aus. Das Mädchen kletterte auf ihren Schoß, drückte sich an sie und legte ihr die Arme fest um den Hals.

»Hmmm, du riechst aber gut.« Mara schnupperte an den frisch gewaschenen Haaren ihrer Tochter. »Freust du dich schon auf die Schule?«

»Ich will heute bei dir bleiben.« Die kleinen Arme legten sich fester um sie. »Ich lass dich nicht los. Nie wieder.«

»Auch nicht wenn ich dich … hier … kitzele?«

Das Mädchen krümmte sich lachend zusammen und ließ die Arme sinken.

Mara stand auf, setzte ihren allerbesten »Mommy meint das ernst!«-Blick auf und zeigte auf die Sachen, die über der Sessellehne hingen. »Los, du Schlafmütze! Zieh dich an, kämm dir die Haare, und dann komm runter in die Küche! In einer halben Stunde ist der Bus da. Daddy hat dich ganz schön lange schlafen lassen.«

»Naaa gut.« Das Mädchen zog den Schlafanzug aus und ging zum Sessel.

Mara stand im Türrahmen und tat so, als wollte sie aufpassen, dass ihre Tochter auch gehorchte. Heimlich suchte sie jedoch nur einen Vorwand, um diesem dünnen Kind mit der Olivenhaut noch ein bisschen länger zuzusehen, dessen Anblick ihr nach all der Zeit manchmal immer noch den Atem nahm.

Während Laks sich anzog, sang sie eins ihrer Liedchen. Zu einer selbst ausgedachten Melodie erzählte sie nach, was sie gerade tat. Mara und Tom nannten das »Elfenlieder«.

»Dann zieh ich meine Jeans an,die mit den Blumen auf der Tasche,und ein pinkes T-Shirt,das find ich so schön.«

Zum Schluss drehte sie mit erhobenen Armen eine kleine Pirouette, die Hände dabei in der »feinen Haltung«, wie sie es bei den größeren Mädchen im Ballettkurs gesehen hatte. Sie führte eine letzte Position vor, sah ihre Mutter an und lächelte stolz. Mara zwang ihre zitternden Lippen zu einem Lächeln, traute ihrer Stimme jedoch nicht und hielt deshalb nur die Hand mit den ausgestreckten Fingern hoch, um ihrer Tochter die Minuten zu zeigen, bis sie in der Küche sein sollte.

2

Mara

In der Nacht nach der Diagnose vor fast vier Jahren, während sich Tom unruhig neben ihr hin und her warf, hatte Mara im Bett gelegen und in die Dunkelheit gestarrt. Bevor das erste graue Morgenlicht langsam die tiefschwarze Nacht vertrieb, hatte Mara einen Entschluss gefasst: Sie würde ein Datum festlegen, und daran würde sich dann nichts mehr ändern. Nicht noch einmal darüber nachdenken, keine Ausreden.

Sie würde ihr Leben bis zu diesem Datum auskosten, so gut sie konnte, würde den Verlauf der Tage, die ihr noch blieben, so weit mitbestimmen, wie es ihr nur möglich war. Würde es der Chorea Huntington so richtig schwermachen und ihr dann einfach irgendwann den Mittelfinger zeigen, den Cocktail zu sich nehmen und diese Welt so verlassen, wie sie in ihr gelebt hatte – nach ihren eigenen Regeln. Das würde sie sich von dieser Scheißkrankheit nicht nehmen lassen.

Ein Datum zu bestimmen war einfach: der zehnte April, ihr Geburtstag. Tom und ihre Eltern würden an diesem Tag sowieso immer um sie trauern, und es wäre unfair, ihnen noch einen weiteren Tag zum Traurigsein dazuzugeben. Aber welcher zehnte April genau sollte es sein, welcher Geburtstag? Nicht der erste nach der Diagnose. Sie hatte bestimmt noch mindestens ein schönes Jahr vor sich, bevor die Krankheit das nächste Stadium erreichte. Der nächste Geburtstag kam ihr auch noch zu früh vor. Aber noch fünf Jahre zu warten, konnte schon zu lange sein.

Als die texanische Sonne die ersten Strahlen durch die Jalousie schickte und die Zimmerdecke von Hellgrau in Weiß verwandelte, hatte sich Mara entschieden. Am sichersten wäre es, sich ein bestimmtes Symptom auszusuchen, das den Anfang vom Ende anzeigte, ein Signal dafür, dass sich die Krankheit nun nicht mehr im Anfangsstadium befand, sondern fortgeschritten war. Sobald dieses Symptom zum ersten Mal auftauchte, hätte sie noch bis zum darauffolgenden zehnten April und dann: Vorhang.

Während sie in der Küche auf Laks wartete, wurde ihr plötzlich übel, und sie musste sich am Tisch festhalten. Hoffentlich verging das wieder, bevor ihre Tochter kam. Sie kniff die Augen zu. Sie musste an den vergangenen Tag denken, und während die Ereignisse des gestrigen Vormittags hinter ihren geschlossenen Lidern erneut abliefen, wurde ihr noch schlechter.

Sie hatte im Supermarkt vor dem Cornflakes-Regal gestanden. Ein paar Schritte weiter bückte sich eine junge Mutter nach dem unteren Regalboden. Ein kleiner Junge hielt sich mit der Patschhand an ihrem Bein fest. Der Kleine lächelte Mara schüchtern an, und sie erwiderte das Lächeln.

Er hob die Hand, und sie winkte ihm gerade, als sie plötzlich sehr dringend auf die Toilette musste. Sie überlegte kurz, wo sich in diesem Laden die Toiletten befanden, und fragte sich überrascht, wieso ihr Körper sich auf einmal so drängend meldete. Bevor sie sich jedoch auch nur eine der beiden Fragen beantworten konnte, war es schon zu spät. Langsam senkte sie den Kopf und sah auf ihre hellgraue Yogahose hinunter, die nun einen großen feuchten Fleck im Schritt aufwies. Eine dünne, dunkle Linie lief innen an ihrem rechten Bein herab. »Oh, mein Gott«, flüsterte sie. »Oh, nein.«

Sie versuchte, den Fleck mit der Hand zu verdecken, aber der Junge hatte ihn schon bemerkt und sah sie erschrocken an. Mara versuchte, ihn wieder anzulächeln, ihm zu versichern, dass alles in Ordnung war und es vor allem nichts gab, das er seiner Mutter erzählen müsste. Ihr Mund gehorchte ihr aber nicht, sie konnte nur den Finger an die Lippen legen. In diesem Moment richtete sich die Mutter des Jungen auf, und er zupfte aufgeregt an ihrem Ärmel und zeigte mit der anderen Hand auf Mara. »Mommy! Die Frau da hat in die Hose gemacht!«

Maras Gesicht brannte. Sie griff nach der Jacke, die sie immer beim Einkaufen dabeihatte, weil ihr in dem klimatisierten Supermarkt oft kalt wurde, doch sie war nicht da. Sie hatte sie im Auto vergessen. Hektisch sah sie sich nach etwas um, womit sie sich bedecken konnte. Der Junge schaute sie weiterhin an, ihre Blicke trafen sich, und sie versuchte erneut ein Lächeln, ihre zitternden Lippen spielten jedoch nicht mit.

Die Mutter des Jungen wollte offensichtlich keine große Sache daraus machen, nahm mit sorgsam ausdrucksloser Miene eine Rolle Küchentücher aus ihrem Einkaufswagen, riss sie auf und ging auf Mara zu, ihren Sohn im Schlepptau. »Starr die Frau nicht so an!«, flüsterte sie ihm zu.

Er sah jedoch weiterhin gebannt auf Maras nasse Hose. Als er vor ihr stand, hielt er sich mit seinen kleinen Fingern die Nase zu. »Iiiih!«

»Brian!«, zischte seine Mutter ärgerlich. Sie reichte Mara einen Stapel Küchentücher. »Vielleicht hilft Tupfen?« Ihre Miene war weiterhin neutral, sie war jedoch hochrot im Gesicht, und ihre Nasenflügel bebten unmerklich. Sie sah zu ihrem Sohn. »Ich würde Ihnen ja gern eine Decke holen, aber ehe ich mit ihm am Auto und dann wieder zurück bin …«

»Danke«, flüsterte Mara und nahm die Küchentücher. »Das ist mir noch nie passiert.« Sie tupfte an ihrer Hose herum. Brian versuchte, seine Mutter an der Hand wegzuziehen. Mara blickte auf, in den Augen Tränen der Scham. Die Frau erwiderte ihren Blick freundlich. »Sie müssen hier nicht stehen bleiben. Ich will ihrem Sohn keine Angst machen.«

»Der kommt schon klar.« Die Frau riss mehr Küchentücher von der Rolle und reichte sie ihr. Mara sah sich suchend nach etwas um, wo sie die benutzten Tücher lassen konnte, und stopfte sie schließlich in ihre Handtasche. Der Junge machte daraufhin ein erschrockenes Geräusch und versuchte wieder, seine Mutter an der Hand wegzuzerren. Die Frau zog das Kind zu sich heran, beugte sich zu ihm hinunter und flüsterte ihm so laut, dass Mara es gerade noch hören konnte, ins Ohr: »Die nette Frau hier braucht gerade Hilfe, und deshalb werden wir ihr helfen.«

»Aber …«

»Keine Diskussion!«

Mara hob den Kopf und setzte zu einer Erklärung an. Dass sie zu viel Kaffee getrunken hatte. Und dann das ganze Wasser, mit dem sie ihre vielen Tabletten nahm. Und der Eiweißshake, zu dem sie Tom jeden Morgen zwang, damit sie nicht weiter abnahm. Außerdem war sie von der langen Liste mit Besorgungen abgelenkt und das letzte Mal vor mehreren Stunden auf der Toilette gewesen.

Doch dann blieb sie stumm. Sie wollte andere nicht mit ihrem Schicksal belasten. Mara tupfte weiter an ihrer Hose herum, hektischer, aber es half nichts. Die Hose war zu hell und der Fleck zu dunkel. Außerdem klebten jetzt kleine weiße Fussel von dem Küchentuch daran. »Ich glaube, das bringt nichts«, sagte sie zu der Frau, und Demütigung durchfuhr sie wie ein scharfer Schmerz, als sie hörte, wie weinerlich ihre Stimme vor lauter Verzweiflung schon klang. Sie starrte auf das feuchte Küchentuch in ihrer Hand. Sie würde lange duschen und sehr viel Duschgel benutzen müssen, um den Geruch wieder loszuwerden.

Mara sah wieder zu dem Jungen, der angewidert den Mund verzogen hatte, und war plötzlich unglaublich dankbar, dass sie allein einkaufen gegangen war und nur diese Fremden ihr Missgeschick mitbekommen hatten. Was, wenn Laks sie so sehen würde? Oder Tom? Bei dem Gedanken daran wurde ihr ganz schwindelig, und sie musste sich an ihrem Einkaufswagen festhalten. »Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte sie und sah von der Mutter zu ihrem Sohn.

»Was ist denn mit der Frau?«, fragte Brian leise. Mara und die Mutter sahen einander kurz an, eine stumme Übereinkunft, die Frage des Jungen zu ignorieren.

»Sie haben wirklich einen lieben Jungen«, sagte Mara. Sie wollte auf keinen Fall, dass die Frau ihretwegen böse auf den Kleinen war. Seine Reaktion war schließlich verständlich. »Ich mache so was sonst nie, aber ich werde meinen Einkaufswagen einfach hier stehen lassen und zum Auto gehen, glaube ich.«

»Ich kann Ihre Sachen zurückstellen.« Die Frau deutete auf Maras Hose. »Man sieht es übrigens schon viel weniger.«

Ihr Lächeln war jedoch unecht, und Mara fühlte sich wie ein Kind, das sich selbst die Haare geschnitten hatte und dem man sagte, es sähe »ganz schön« aus.

»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte Mara leise. »Es tut mir wirklich sehr, sehr leid.«

»Kein Problem. Einen schönen Tag noch.«

Während Mara den Gang hinunterlief, hörte sie die Frau übertrieben fröhlich den Einkaufszettel vorlesen, während der Junge sie jetzt garantiert ausfragte, was denn mit der verrückten Frau, die sich Pipi-Tücher in die Handtasche gesteckt hatte, los war.

Sie zwang sich, hocherhobenen Hauptes an den Kassen vorbeizugehen. Am Auto angekommen, spürte sie die typische Enge im Hals, die noch mehr Tränen ankündigte. Mara ließ sich auf den Sitz fallen und zog die Tür so schnell hinter sich zu, dass sie sich fast die Füße eingeklemmt hätte. Sie schlug die Hände vors Gesicht.

»Oh, mein Gott, oh, mein Gott. Oh, mein Gott!«

Ein Schluchzen bahnte sich seinen Weg tief aus ihrem Inneren an die Oberfläche und nahm ihr den Atem. Sie fiel erschöpft in sich zusammen und ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Eine Stunde lang saß sie dort so und weinte, spielte das eben Geschehene wieder und wieder vor ihrem geistigen Auge ab, hoffte bei jedem Mal, es würde anders ausgehen.

Schließlich war ihr Körper am Ende, es gab keine Tränen und keine Schluchzer mehr in ihr. Sie bemerkte die Autos um sich herum, die auf den Parkplatz fuhren oder ihn verließen, hörte Radios, Türen, die zugeschlagen wurden, Kinder, die ihren Eltern etwas zuriefen. Sie ließ noch einen Moment den Kopf auf dem Lenkrad ruhen, dann setzte sie sich auf, wischte sich mit dem Ärmel über Wangen und Nase und betrachtete sich im Rückspiegel.

»Das war’s dann also«, erklärte sie ihren verquollenen, rot geweinten Augen mit grimmiger Entschlossenheit. »Am Sonntag ist mein Geburtstag. Danach ist es vorbei.«

Von heute an also noch fünf Tage, die ihr blieben. So wenig Zeit. Aber sie bereitete sich auf diesen Moment ja schon seit vier Jahren vor, seitdem sie dort im Morgengrauen neben ihrem Mann gelegen, ihre eigene Deadline festgelegt und sich geschworen hatte, sie würde keine Ausreden erfinden, um den Termin hinauszuschieben.

Seither hatte sie jeden Moment genossen, als wäre es ihr letzter. Die großen – Laks’ Geburtstag, Thanksgiving, Weihnachten, Hochzeitstage – genauso wie die kleinen: gemeinsames Kochen mit ihrer Mutter, ihrem Vater dabei zuhören, wie er Laks eine Gutenachtgeschichte vorlas, auf der Bank vor dem Haus sitzen und Seifenblasen pusten und Laks und Tom dabei zusehen, wie sie um die Wette rannten, um sie zerplatzen zu lassen. Diese kleinen Momente würde sie am meisten vermissen.

»Mama?« Laks kam mit ihrem Rucksack in die Küche, der gleiche, den auch die großen Kinder im Schulbus trugen, und griff nach ihrer Brottasche mit der Ballerina drauf. »Heute hast du aber an meinen Keks gedacht, oder?« Sie warf Mara einen skeptischen Blick zu und öffnete die Tasche. Zufrieden zog sie den Reißverschluss wieder zu und streckte die Hand aus. »Gehen wir los?«

Über ihrem rechten Ohr waren von einer Haarsträhne nur noch Fransen übrig, das Ergebnis eines kleinen Klebstoffunfalls vergangene Woche. Laks’ beste Freundin Susan hatte ihr aus Versehen etwas davon in die Haare geschmiert und dann, im Bemühen, das Missgeschick zu beheben, die verklebte Stelle mit der Schere herausgeschnitten. Seitdem hatte Mara mehrmals versucht, ihre Tochter zu einem Pferdeschwanz zu überreden, um die stoppelige Stelle zu verstecken. Diese Versuche hatten jedoch immer mit Streit und Tränen geendet, und Mara hatte am Ende nachgegeben. Eine eiserne Faust legte sich ihr beim Anblick ihrer Tochter um die Kehle, wie sie da stand mit ihren struppigen Haaren, den Zahnlücken, einfach wunderschön.

Wie sollte sie sich jemals bereit fühlen?

Doch genau deshalb hatte sie sich selbst dieses Versprechen gegeben. Um es durchzuziehen, ob sie nun bereit war oder nicht.

»Ich will keinen Pferdeschwanz, Mama«, maulte Laks und reckte herausfordernd das Kinn, eine perfekte Kopie von Mara, wie Tom immer sagte, auch wenn sie nicht ihre leibliche Mutter war. »Das ist immer so straff, guck?« Sie zog mit der Hand ihre Stirn nach hinten.

Mara räusperte sich. »Ja, ich weiß. Ich hab eben auch gar nicht über deine Haare nachgedacht, ich hab nur gerade ein bisschen geträumt.«

»Ach so«, sagte Laks zufrieden. »Gehen wir?«

Mara drückte ihr einen Kuss auf den Kopf und strich ihr sanft über die Stoppeln. Dann nahm sie die kleine Hand. »Ja, Mäuschen. Jetzt kann’s losgehen.«

3

Scott

Scott fuhr die Einfahrt hinauf und parkte dicht neben dem Gehweg, um Curtis Platz zu lassen, der am Basketballnetz über der Garage Körbe warf. Er hielt den Ball mit beiden Händen und warf ihn aus der Hocke, typisch für einen Achtjährigen. Als er das Auto hörte, drehte er sich um und winkte.

»Interessante Technik, Großer!«, sagte Scott.

»Pfff. Ich will gar nicht wie eine Oma werfen, aber irgendwie treff ich bei dem Korb einfach nicht.« Der Junge hielt den Ball vor sich und beäugte ihn unzufrieden wie einen Verräter. Scott legte Schlüsselbund und Aktentasche auf den Boden, fing mit einer eleganten Bewegung den ungeschickten Pass von Curtis, zielte auf den Korb und versenkte den Ball. Curtis schnappte sich den Ball aus der Luft und versuchte es auch. Dank weniger ausgefeilter Technik und geringerer Körpergröße prallte der Ball einen knappen halben Meter unter dem Metallring an die Garagenwand. Er sah vorwurfsvoll zu Scott. »Siehste?«

Scott fing den Ball auf und sah zu einem kaputten Basketballkorb aus Plastik hinüber, der an der Garage lehnte. »Hast ja recht. Als der andere den Geist aufgegeben hat, hätte ich dir so einen frei stehenden Korb kaufen sollen, an dem man die Höhe verstellen kann.« Er warf noch einen Korb, richtete sich auf, breitete die Arme aus, und der Junge rannte zu ihm und schlang die Arme um seine Hüfte. Scott streichelte den kleinen Kopf, der an seinen Bauch gedrückt war. Seine Hand hob sich blass von der braunen Haut, die durch Curtis’ schwarze Locken zu sehen war, ab. Er beugte sich zu dem Jungen hinunter, vergrub Nase und Mund in seinen Haaren und atmete den Geruch nach verschwitzter Kleidung und dem Frühling in Michigan ein.

»Du wirst mir fehlen«, sagte er. Der Junge nickte und drückte sich fester an ihn. Einen Moment standen sie so da, die Arme umeinandergeschlungen. Dann befreite sich Curtis, wischte sich mit der schmutzigen Hand über die feuchten Augen und lief dem Ball hinterher.

»Wo ist Laurie?«, rief ihm Scott hinterher.

»Küche. Macht Lasagne.«

Scott grinste beeindruckt. »Wie hast du das denn geschafft?«

»Miss Keller hat mir ein Gut gemacht! ins Hausaufgabenheft geschrieben, weil ich heute den ganzen Tag lieb war.« Curtis warf Scott einen triumphierenden Blick zu, und Scott gab ihm anerkennend die Faust. »Nicht schlecht. Schon das zweite Mal diese Woche. Noch drei mehr, und du darfst am Freitag lange aufbleiben.«

»Popcorn und ein Film! Bis um zehn!« Der Mund des Jungen verzog sich plötzlich in übertriebenem Ekel. »Aber Laurie will ja mitgucken, weil es das letzte Mal ist, also muss es ein Mädchenfilm sein. Ohne Explosionen und so.«

»Aber bis zehn Uhr aufzubleiben ist doch wohl trotzdem toll, oder?«

Curtis’ Miene hellte sich wieder auf. »Und Popcorn!«

»Dann gib dir schön Mühe die nächsten drei Tage. Ich geh schon mal rein. Werfen wir nach dem Abendbrot noch ein paar Körbe?«

»Mal sehen. Ich muss heute Abend noch lesen, hat Laurie gesagt. Und Mathe üben auch.«

Scott musste angesichts des gespielten Ärgers lächeln. Der Junge brauchte und genoss die Erwartungen und Regeln, die das Leben in der Familie Coffman mit sich brachte, war aber alt genug zu wissen, dass man so etwas nicht zugab. Scott spielte mit. »Die Schule ist nun mal wichtig, Großer. Mach nicht mehr so lange, ja?«

Er hob seine Sachen auf und ging auf die Haustür zu. Hinter sich hörte er ein lautes »Mist!«, als der Ball das Netz wieder mal um ein Stück verfehlte.

Scott schloss die Tür hinter sich, legte den Schlüssel auf den kleinen Tisch im Flur und atmete tief ein: Knoblauch, Tomaten, Basilikum, Käse.

»Laur?«, rief er. »Es riecht fantastisch hier!«

Er stellte die Aktentasche ab und bückte sich nach einem Dielennagel, der sich gelöst hatte und nur auf die nächste Socke wartete, die daran hängen blieb. Er drückte den Nagel mit dem Hacken zurück ins Holz und sah sich um, ob noch mehr hochstanden. Zehn Jahre war es her, dass er diese Dielen abgeschliffen hatte. Bis heute zuckte bei der Erinnerung seine Hand reflexhaft zu seinem unteren Rücken.

Die Vision seiner Frau von einem Traumhaus hatte nicht unbedingt im Verhältnis zum gemeinsamen Do-it-yourself-Budget gestanden. Die Renovierung des hundertjährigen Hauses aus der Kolonialzeit – ideal für handwerklich begabte Bastler – hatte sich damals zu einer dreiseitigen Aufgabenliste ausgewachsen und ein ganzes Jahr lang jeden Abend und jedes Wochenende verschlungen. Das war nun mal der Preis für das Haus, das Laurie sich wünschte und er ihr unbedingt ermöglichen wollte: großzügige Zimmer, Dielenböden, Einbauregale und zwei Kamine. Voller Charme und eines Tages auch voller Kinder.

Er strich mit der Hand über die Wand. Die vielen Tapetenschichten herunterzubekommen hatte allein schon zwei Monate gedauert. Dann das Streichen – im ganzen Haus ein neutrales »warmes Ecru« und in den einzelnen Zimmern jeweils eine Wand in einem auffälligen anderen Farbton, den sie sorgfältig aus mehreren Farbproben unterschiedlichster Schattierungen ausgewählt hatten. Sie hatten herumgealbert, dass sie den Typen aus der Farbabteilung im Baumarkt auf ihre Weihnachtskarten-Liste setzen müssten.

Scott stellte sich in den Türrahmen der Küche. Seine Frau stand vornübergebeugt am Herd, ihre Silhouette mit dem riesigen Bauch auch nach Monaten noch ein überraschender Anblick für ihn. Sie trug immer noch ihre Arbeitssachen, hatte sich lediglich die blonden Locken zum Zopf gebunden.

»Es duftet fantastisch!«, sagte er noch einmal.

»Ach, hallo! Hab dich gar nicht gehört.« Sie stellte die Lasagne auf dem Herd ab.

Er gab ihr einen Kuss. »Curtis hat sich heute super benommen?« Er beugte sich über die Lasagne und atmete tief ein. »Hmmm. Bin echt froh darüber, ich hab nämlich auch schon seit Ewigkeiten mal wieder Appetit auf deine Lasagne.«

Sie verzog das Gesicht und strich über ihren Bauch. »Da seid ihr zwei aber die Einzigen. Ich kann schon den Geruch kaum ertragen.« Angesichts seines besorgten Blicks winkte sie ab. »Nichts Schlimmes. Wir hatten zum Mittag Fatousch von diesem neuen Restaurant neben meinem Büro, und es war mir ein bisschen zu fettig. Aber freu dich nicht zu sehr über Curtis’ Benehmen! Ich habe vorhin mit Miss Keller gesprochen, als ich ihn abgeholt habe. Sie ist diese Woche ein bisschen nachsichtiger mit ihm, weil er ja am Wochenende einiges vor sich hat. Er hat nur die Hälfte der Verhaltenspunkte erreicht, aber sie hat es trotzdem gelten lassen. Sie meint, sie muss ihm helfen. Sie will ihm wohl noch ein Erfolgserlebnis mit auf den Weg geben, damit er den Abschied besser übersteht.«

»Hat die liebe Miss Keller vielleicht auch eine Idee, wie ich den Abschied überstehen soll?«, fragte Scott. Seufzend schob er die Gardine vor dem kleinen Fenster beiseite und beobachtete den Jungen in der Einfahrt, bis ihn eine Hand auf dem Rücken daran erinnerte, dass seine Frau und er gerade mitten in einem Gespräch waren. Er zog die Gardine wieder vor das Fenster und drehte sich um.

»Überrascht mich, dass du da mitmachst«, sagte er. »Lasagne, obwohl er eigentlich gar nicht alle Punkte erreicht hat?« Das ganze Jahr lang war Laurie diejenige gewesen, die sich für Konsequenz und Strenge ausgesprochen hatte. Er legte ihr eine Hand auf den runden Bauch. »Die bevorstehende Mutterschaft lässt dich richtig weich werden, hm?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Hatte ich sowieso vor, egal, was Miss Keller sagt. Ich wollte, dass Curtis das noch mal essen kann, bevor er geht. Morgen gibt’s Spaghetti, und er kann mir helfen, Kekse für den Nachtisch zu backen. Am Donnerstag gibt’s selbst gemachte Pizza. Ich hatte überlegt, für Freitag einen Kuchen zu backen, und Samstag könnten wir grillen. Jeden Tag eines seiner Lieblingsessen, weißt du? Obwohl ich ihn am liebsten nur mit Obst und Gemüse vollstopfen würde, damit er noch ein paar Vitamine kriegt, bevor er weg ist.«

Scott zuckte zusammen.

»Sorry«, sagte sie.

»Nein, ist schon okay. Hat ja keinen Sinn, sich was vorzumachen. Er zieht nun mal nicht ins Ritz, ist ja so. Und es ist auch in Ordnung – zumindest versuche ich mir das seit Wochen einzureden.« Er schloss die Augen, als sagte er ein Mantra vor sich hin. »Es ist in Ordnung. Selbst wenn er von kalten Dosenravioli lebt, nur einmal pro Woche duscht und wieder den gleichen Mist wie früher anstellt. Das ist alles immer noch besser, als ohne seine Mutter aufwachsen zu müssen. Selbst wenn sie sich nicht darum kümmert, ob er seine Hausaufgaben macht, selbst wenn sie ihn ohne Frühstück in die Schule schickt – er braucht seine Mutter.«

»Genauso ist es«, stimmte Laurie zu. Ihre Stimme klang genervt. »Klingt ja, als glaubtest du es langsam auch selbst.« Sie sagte nicht »endlich«, doch er wusste, dass sie es dachte.

»Fast«, gab er zurück. Sie öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber er wusste, was kommen würde, und wollte es nicht hören. »Danke übrigens, dass du ihn abgeholt hast«, kam er ihr zuvor. »Tut mir leid, dass ich unseren Plan in letzter Minute noch mal umschmeißen musste. Kann ich dir hier eigentlich irgendwie helfen? Soll ich schon mal den Tisch decken?«

Es funktionierte. Sie reichte ihm drei Gläser und den kleinen Brotkorb, nahm selbst das Besteck und die Servietten und ging vor ins Esszimmer. »Gern geschehen. Aber Pete sollte doch eigentlich diese Woche das Training übernehmen, damit du mehr Zeit zu Hause hast. Wieso hast du die Frau nicht auf nächste Woche vertröstet?«

Sie sprach in diesem fröhlichen Tonfall, den er als in Höflichkeit verpackten Vorwurf kannte, ihre Frage war in Wirklichkeit ein kleiner Angriff. Sie hatte ihm schon oft solche Fragen gestellt: Wieso stand er am Samstagmorgen früh auf und fuhr die halbe Stunde ins Zentrum von Detroit, wenn er doch ausschlafen könnte? Die Hälfte der Kinder, die an seinem samstäglichen Nachhilfeprogramm teilnahmen, kamen doch sowieso nur wegen der kostenlosen Pizza zum Mittag – war ihm das nicht bewusst? Wieso verbrachte er seine Sommerabende auf dem heruntergekommenen Basketballplatz vor der Schule mit Kindern, deren Lehrer dankbar waren, sie während der Ferien zwei Monate lang nicht sehen zu müssen oder sie nach ihrem Wechsel an die Highschool endlich ganz los zu sein?

Scott streckte entschuldigend die Handflächen aus. »Du weißt doch, wie die Elternabende an dieser Schule immer verlaufen. Ich lese eine Stunde lang in der Sports Illustrated, und in der Zeit tauchen vielleicht ein oder zwei Leute auf. Wenn endlich mal jemand Interesse an der Bildung seiner Kinder zeigt, dann muss ich da sein. Wenn ich den Termin mit der Frau auf nächste Woche verschiebe, kommt sie vielleicht nie mehr.«

»Du kannst sowieso nicht jeden einzelnen Schüler an der Franklin Middle School retten.«

»Ich weiß. Ich werde nie alle erreichen, drei Jahre sind einfach nicht genug.« Er grinste schief und hoffte, sie damit um den Finger zu wickeln.

Sie stöhnte genervt und ging zurück in die Küche. »Das meine ich nicht, und das weißt du auch.« Er folgte ihr, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und füllte ihr ein Glas mit Leitungswasser. Er reichte ihr das Glas, und sie stießen miteinander an. Sie nahm einen Schluck, verzog wieder das Gesicht und legte die Hand auf ihren Bauch.

»Wirklich alles in Ordnung?«

Sie seufzte. »Du weißt doch, wie das ist. Ich esse eine falsche Sache, und schon geht’s mir den ganzen Tag elend.«

Er hielt sein Bier hoch. »Auf dass das letzte Drittel der Schwangerschaft besser wird!« Das letzte Drittel begann in zwei Wochen. Der errechnete Geburtstermin war der fünfzehnte Juli.

»Hoffentlich.« Sie stellte das Glas ab und betrachtete es. »Irgendwie gibt es keinen richtigen Zeitpunkt, dir das zu sagen, und ich glaube auch nicht, dass das hier der richtige Moment ist. Aber ich denke, es wird uns guttun, unser altes Leben wiederzuhaben.« Sie sah seinen Blick und fügte schnell hinzu: »Also, nicht dass es uns jetzt schlecht geht, ich meine nur, es wird wieder einfacher. Nach der Arbeit nur nach Hause kommen und sich auf die Couch setzen. Sich entspannen. Anstatt Taxifahrer, Nachmittagssnackvorbereiter, Hausaufgabenkontrolleur zu sein.«

Scott sah wieder aus dem Fenster zu dem Jungen hinaus. Er blieb stumm. Er hatte keine Liste mit Dingen im Kopf, die er lieber tun würde, als Zeit mit Curtis zu verbringen.

»Würdest du lieber in Ruhe hier sitzen und lesen oder rauskommen und mit mir Körbe werfen?«, hatte Curtis einmal von ihm wissen wollen. »Laurie hat gesagt, ich muss dich fragen, was du willst, und soll nicht erwarten, dass du immer mit mir spielst.«

Scott hatte das Buch sinken lassen. »Ich spiele immer lieber mit dir. Aber würdest du lieber ohne Gegner spielen, damit du dir hinterher einreden kannst, du wärst der Beste? Oder soll ich mit rauskommen und dir zeigen, wie ein echter Profi aussieht?«

Würdest du lieber. Das war zu ihrer Sprache geworden. Die Version eines Zweitklässlers von »Ich hab dich auch lieb«. Würdest du lieber Scherben essen oder über Scherben laufen? Würdest du lieber eine Handvoll lebender Spinnen schlucken oder eine Stunde lang in einem Zimmer voller Fledermäuse stehen?

Laurie räusperte sich. Würdest du lieber dem Jungen weiter zusehen und dafür für den Rest des Abends eine verärgerte Frau haben oder ihr deine Aufmerksamkeit zuwenden? Er drehte sich vom Fenster weg.

»Mir wird er auch fehlen«, sagte sie. Sie holte ein Messer aus der Schublade und schnitt die Lasagne an. »Aber ich versuche, mich auf das Positive zu konzentrieren, und das solltest du auch. Ich habe schon Pläne für die nächste Woche: Montag setze ich mich nach der Arbeit mit dem Stapel Babybücher auf die Couch, für die ich noch keine Zeit hatte, und rühre bis zum Abendbrot keinen Finger mehr.« Sie zeigte mit dem Messer auf Scott. »Ich hoffe doch sehr, mein lieber Mann führt mich an dem Abend zum Essen aus. Vielleicht gehen wir hinterher sogar noch ins Kino? Ist ewig her, dass wir das letzte Mal einen Abend nur für uns hatten.«

Sie verstummte, wartete auf seinen Einsatz. Er gab sich Mühe, begeistert zu nicken, und sie sprach zufrieden weiter. »Am Dienstag gehe ich endlich zu dieser Schwangerschaftsmassage, für die mir die Mädels aus dem Büro den Gutschein geschenkt haben. Kann’s kaum erwarten.« Sie stützte sich mit den Händen den Rücken. »Am Mittwoch … Na ja, bis jetzt gehen meine Pläne nur bis Dienstag. Den Rest der Woche werde ich wohl damit verbringen, rumzusitzen, die Füße hochzulegen, zu lesen und die Stille zu genießen.«

»Klingt gut.«

»Überleg doch mal, was du alles mit deiner neu gewonnenen Freizeit anstellen kannst! Du kannst zum Beispiel die Babybücher mit mir zusammen lesen. Wir sind im sechsten Monat schwanger und hängen auch genau sechs Monate hinterher. Wir wissen überhaupt nicht, was hier drin eigentlich gerade passiert.« Sie zeigte auf ihren Bauch, und er legte die Hand darauf. Sie legte ihre Hand auf seine, lehnte sich gegen den Herd und lächelte. »Manchmal kann ich es immer noch nicht glauben. Nach so langer Zeit. Ein Baby. Hier bei uns. Im Juli.« Ihr Lächeln wurde noch breiter. »Kannst du das glauben?«

»Ich grinse immer noch jedes Mal wie ein Honigkuchenpferd, wenn mich jemand danach fragt«, sagte Scott. »Das behauptet Pete zumindest.« Peter Connor war ebenfalls Englischlehrer an der Franklin Middle School, Trainerassistent beim Basketball und Scotts bester Freund.

Sie schnippte mit den Fingern. »Ach, bevor ich’s vergesse: Bundles of Joy hat angerufen. Wir hatten uns doch dieses Kinderbett angesehen, das mit den geschwungenen Füßen, das schon verkauft war? Anscheinend bekommen sie Ende der Woche oder Montag noch eins davon geliefert. Es ist grau, aber streichen können wir es ja selbst. Das reservieren sie uns.«

»Tolle Neuigkeiten, was das Bett angeht. Nicht so sehr, was das Streichen angeht.«

»Ach, komm, das wird bestimmt lustig. Und diesmal geht’s ja auch nur um ein Zimmer.«

Er warf ihr einen skeptischen Blick zu, damit sie auch ja wusste, dass sie ihm nichts vormachen konnte. Es ging vielleicht nur um ein Zimmer, aber er hatte ihre To-do-Liste für das Kinderzimmer bereits gesehen, und die war so lang wie die Liste, die sie damals für die gesamte obere Etage geschrieben hatte.

Laurie lachte und boxte ihn gegen den Arm. »Ach, hör auf! Das macht dir doch genauso viel Spaß wie mir.«

»Hast ja recht«, stimmte er zu. »Ich hol mal den Großen rein.«

Bevor er an der Haustür war, flog sie schon auf, und Curtis kam angerast. Im letzten Moment breitete Scott die Arme aus und fing ihn auf. Curtis lachte vergnügt. Nur ungern befreite sich Scott aus der Umarmung. Er schob den Jungen in Richtung Küche. »Hände waschen, LeBron. Abendbrot ist fertig.«

4

Mara

Der Bus war weg. Mara stand in der Küche und strich mit der Hand über die kühle Granitplatte. Das hier war ihr Lieblingsraum im ganzen Haus. Sie fand, es wirkte alles so edel: die glatten, blaugrauen Granitarbeitsplatten, durch die eine dünne, grünliche Ader verlief, die hohen Kirschbaumschränke mit ihrem warmen Braunton, der sexy Schieferfußboden – in einem helleren Grau als der Granit, aber ebenfalls von einer zarten Ader im selben Grünton durchlaufen.

Sie mochte die Küche sehr, obwohl sie leider mittlerweile eine gewisse Herausforderung darstellte. Die Backofentür schien mit jedem Tag schwerer zu werden, es bedurfte inzwischen einer perfekt eingespielten Kombination aus Arm-, Bein- und Hüftbewegungen, um sie zu öffnen und zu schließen. Um die Ecken der Arbeitsplatten machte Mara stets einen weiten Bogen – sie hatte genug blaue Flecken, die sie ständig daran erinnerten, wie schmerzhaft der Granit sein konnte. Und der hübsche Schieferboden war auch nicht zu unterschätzen. Wenn ihr wieder mal ein Glas oder ein Teller aus der Hand rutschte, verschwendete sie heutzutage keine Zeit mehr mit der Hoffnung, das Geschirr könnte vielleicht überlebt haben, sondern ging schnurstracks zur Kammer und holte Handfeger und Kehrblech.

Tom drängte sie immer, sich doch mehr im Wohnzimmer aufzuhalten, wo eine weiche Couch stand und der Boden mit Teppich ausgelegt war, anstatt in der Küche mit den harten Holzstühlen und den Barhockern. Aber Mara liebte es einfach, wie die Sonne durch die Glastür fiel, die hinaus in den Garten führte. Der Sonnenfänger im Türrahmen fing das Licht ein, bündelte es und verteilte es in der Küche, eine Million farbiger Strahlen, deren Anblick ihr immer Energie verlieh – selbst an Tagen nach schlaflosen Nächten oder wenn beunruhigende Termine bei Dr. Thiry in der Huntington-Klinik in Dallas anstanden.

Mara, Tom und Laks aßen an der Insel in der Mitte der Küche zu Mittag und im Esszimmer zu Abend, sodass der Küchentisch als Arbeitsplatz diente. Dort residierten ihr Laptop, mehrere Schreibblöcke, ein Becher mit Kulis und mindestens zehn Packungen Klebezettel. Früher hatte dort auch immer ein Stapel Akten aus der Kanzlei gelegen. Mittlerweile nutzte Mara den Platz für Zeitschriften und Romane für nachts, wenn sie nicht schlafen konnte und ihr nichts mehr einfiel, das sie im Internet checken könnte.

Bis vor Kurzem war sie nach ihrem morgendlichen Date mit Crosstrainer und Hanteln im Gästezimmer immer gleich an den Küchentisch gegangen und hatte noch eine Stunde Arbeit eingeschoben, bevor die anderen aufwachten. Und wenn Laks abends im Bett lag, war sie auch noch einmal in die Küche zurückgekehrt, um von Tom irgendwann überredet zu werden, für diesen Tag Schluss zu machen und sich zu ihm auf die Couch oder im Winter vor den Kamin zu setzen.

Mara ließ sich an dem Tisch nieder, riss einen großen Klebezettel vom Stapel, nahm sich einen Kuli und überlegte, was sie noch alles in den nächsten fünf Tagen zu erledigen hatte. Sie musste den Sonntagmorgen minutiös durchplanen. Musste dafür sorgen, dass Laks am Samstagabend nicht zu Hause war. Musste sich verabschieden.

Aufgabe Nummer eins – die nötigen Details auszuarbeiten – war fast erledigt. In der Hausbar stand eine volle Flasche Wodka. Sie hatte die letzten Monate Schlaftabletten gehortet, und es müssten eigentlich genug sein, aber sie würde sie später noch einmal zur Sicherheit zählen. Falls sie doch noch mehr bräuchte, wäre das mit einem kurzen Anruf bei Dr. Thiry geregelt. Vier einfache Wörter – »Ich kann nicht schlafen« –, und schon hätte sie noch mal dreißig kleine weiße Tabletten dazu.

Aufgabe Nummer zwei – dafür zu sorgen, dass Laks nicht zu Hause war – war auch ganz einfach. Mara rief ihre Eltern an.

»Morgen, Töchterlein.« Pori war sehr stolz darauf, die Nummer des Anrufers im Display sehen zu können.

»Hallo, Dad. Ist Mom da?«

»Ich bin dir wohl nicht gut genug?«

»Doch, klar. Ich wollte was wegen Samstagabend besprechen …«

»Moment, ich hol deine Mutter.«

Mara lachte. Der Hörer wurde raschelnd weitergereicht.

»Hallo, Marabeti«, begrüßte Neerja sie. »Wie geht’s dir? Hast du gut geschlafen?«

»Ja, super«, log Mara. »Mom, kannst du mir einen Gefallen tun? Könnte Laks diesen Samstag bei euch übernachten?«

»Natürlich. Dein Vater und ich haben sie doch gern bei uns. Ist alles …?«

»Ja, alles in Ordnung. Tom und ich würden nur gern … wir haben … wir müssen da was …«

Ihre Mutter lachte. »So was muss dir doch vor mir nicht peinlich sein. Lakshmi ist uns immer willkommen, dann könnt ihr beiden euch in Ruhe um eure Angelegenheit kümmern.« Sie lachte leise.

»Mutter. Bitte.«

»Ich nehm dich nur ein bisschen auf den Arm, Beti. Ist doch schön für euch. Was machst du heute noch so? Ausruhen, hoffe ich mal?« Mara antwortete nicht. »Übernimm dich jedenfalls nicht!«

»Danke wegen Samstag. Laks wird sich freuen.«

»Ruh dich aus, Mara!«

»Ja, Mom.«

Aufgabe Nummer drei – sich zu verabschieden, ohne dabei Misstrauen zu erregen – würde ein bisschen länger dauern. Mara malte drei Spalten auf einen Klebezettel.

Leute, von denen sie sich persönlich verabschieden würde: Tom, Laks, ihre Eltern. Die »Zwei Frauen« – Laks’ Bezeichnung für Steph und Gina, Maras beste Freundinnen, die tatsächlich fast alles zusammen unternahmen, sodass jeder sofort verstand, warum Laks ihnen einen gemeinsamen Namen verpasst hatte. Als sie sich das ausgedacht hatte, hatte es aus ihrem Mund noch wie die »swei Fauen« geklungen. Mittlerweile konnte sie die Wörter richtig aussprechen und wollte nicht mehr daran erinnert werden, dass es je anders gewesen war.

Perfektes Timing: Die Zwei Frauen waren am Samstagmittag zum Geburtstagsessen mit Mara verabredet. Ein weiterer Vorteil der Tatsache, dass sie sich den zehnten April als Deadline gesetzt hatte. Sie würde Tom bitten, am Samstagabend mit ihr in ihr gemeinsames Lieblingsrestaurant essen zu gehen. Das notierte sie sich gleich neben seinem Namen, um es nicht zu vergessen.

Leute, von denen sie sich am Telefon verabschieden würde: ihre engsten Freunde in Montreal, nach Steph ihre besten Freunde aus dem Jurastudium. Toms Mutter und Schwester in New York, die um diese Zeit sowieso mit Maras halbjährlichem Anruf rechneten, um sie auf den neuesten Stand zu bringen, und sich deshalb nichts dabei denken würden. Es hatte den beiden stets genügt, zweimal im Jahr telefonisch und einmal durch eine Weihnachtskarte von Mara zu hören, dass es ihrem Sohn/Bruder gut ging und wie groß ihre Enkelin/Nichte seit dem letzten Mal geworden war. Ganz anders als der ständige Kontakt mit Pori und Neerja, die noch vor Mara wussten, wenn Laks einen Zahn verloren hatte oder neue Schuhe brauchte. »Damit muss man eben rechnen, wenn man Familienmitglieder auf ihr Alkoholproblem anspricht«, hatte Tom resigniert, aber nicht verbittert gesagt. »Da wird leider gern mal der Überbringer schlechter Nachrichten für die Tatsache verantwortlich gemacht.«

Leute, von denen sie sich per E-Mail verabschieden würde: eine Handvoll Kollegen aus der Kanzlei, bei der Steph und sie seit ihrem Abschluss an der Singapore Management University gearbeitet hatten, ein paar befreundete Mütter aus Laks’ Schule. Und natürlich Maras liebe Freunde aus dem Andersals-die-anderen-Forum, einer »Online-Community für Adoptiv-, Stief-, Pflege-, homosexuelle und andere nicht traditionelle Familien«. Sie hatte das Forum, eine Woche nachdem Tom und sie mit Lakshmi als kleinem Baby aus Indien zurückgekehrt waren, entdeckt. Die Kleine stammte aus demselben Waisenhaus in Hyderabad, aus dem Neerja und Pori siebenunddreißig Jahre zuvor auch Mara zu sich geholt hatten.

In den letzten fünf Jahren hatte Mara fast täglich wenigstens kurz mit den anderen Mitgliedern des Forums gechattet, hatte sich über nicht traditionelle Elternthemen und vieles andere ausgetauscht. Arbeit, Kochen, Sport, Geld, Ehe, Sex – kein Thema war tabu. Viele Leute verschwanden wieder aus dem Forum, nachdem sie eine Antwort auf ihre jeweilige Frage bekommen hatten. Ein kleiner Kreis kehrte jedoch immer wieder, und Mara war eine davon. Der Grund für ihren jeweils individuellen Eintritt in das Forum war schon lange von dem Grund verdrängt worden, weshalb sie letztendlich blieben: Freundschaft.

Mit einigen wenigen Mitgliedern war die Kommunikation über Gruppendiskussionen hinaus- und in die Welt der privaten Nachrichten übergegangen. Es geschah des Öfteren, dass eine Unterhaltung im öffentlichen Forum begann, ein Mitglied dann jedoch ein anderes bat, das Gespräch per Private Message weiterzuführen. Diese privaten Nachrichten wurden ebenfalls innerhalb der Online-Community ausgetauscht, einfach per Doppelklick auf den Benutzernamen, sodass diese persönlichere Form der Unterhaltung auch nicht mehr Rückschlüsse auf die tatsächliche Person am anderen Ende zuließ als das Forum selbst.

SoNotWicked, die Gründerin des Forums, hatte darum gebeten, dass alle Mitglieder anonym blieben, um die Pflegeeltern unter ihnen zu schützen, die in Bezug auf die Belange ihrer Pflegekinder meistens der Schweigepflicht unterlagen. Die Mitglieder waren sich darin einig, dass gerade die Anonymität das Beste am Forum war: Sie machte es so viel leichter, über Dinge zu sprechen, die man Freunden und Familie eben nicht erzählen konnte. Mara hatte schon oft amüsiert zu Tom gesagt, dass es doch seltsam war: Im »echten Leben« behielt sie Persönliches lieber für sich, und trotzdem fiel es ihr unglaublich leicht, mit Menschen, die sie nur als PhoenixMom, MotorCity, flightpath, SoNotWicked und 2boys kannte, die intimsten Details zu besprechen.

Mara schrieb MotorCity auf ihren Klebezettel und umkringelte den Namen. Er und seine Frau hatten für ein Jahr einen Pflegejungen bei sich aufgenommen. Nächsten Montag würde er zu seiner Mutter zurückkehren, die sich in seinen acht Lebensjahren weniger um ihn gekümmert hatte als MotorCity in den letzten zwölf Monaten. Er liebte seinen »Großen« wie sein eigenes Kind, und obwohl er immer wieder betonte, dass es das Beste für den Jungen sei, wieder bei der eigenen Mutter zu leben, wussten alle, dass er es kaum ertrug, dass Sonntag sein letzter Tag mit ihm sein würde.

Am Montag würde MotorCity eine Freundin gut gebrauchen können.

Am Sonntag würde Mara sterben.

Bei dem Gedanken daran zog es ihr vor schlechtem Gewissen die Brust zusammen. Mara wandte sich von ihren Klebezetteln ab und klappte den Laptop auf. Sie öffnete das Forum und ihre Spracherkennungssoftware und diktierte eine kurze Nachricht.

Dienstag, 5. April, 08:32 Uhr

©MotorCity- Ich muss schon den ganzen Morgen an dich denken. Nur noch fünf Tage mit deinem Großen (weißt du selbst, klar). Ich denk ganz doll an dich. Ich meld mich später noch mal.

Sie klickte auf Senden und wartete, dass die Nachricht als neuer Kommentar angezeigt wurde. Als sie auf dem Bildschirm erschien, las sie sie noch einmal durch und verzog unzufrieden das Gesicht. Ein paar Zeilen über nette Gedanken waren nicht gerade eine große Hilfe.

Sie scrollte nach oben und sah nach, welches Thema SoNotWicked für heute zur Diskussion gestellt hatte. Es ging um MotorCitys Situation: Wie waren andere Forumsmitglieder damit umgegangen, als ihre Pflegekinder zurück in ihre Familien mussten? Welchen Rat hatten sie für MotorCity, um die nächsten Tage durchzustehen?

Es würden viele darauf antworten, da war Mara sicher. Der Gedanke nahm ihr etwas von ihrem schlechten Gewissen. Die Mitglieder waren größtenteils vielbeschäftigte Menschen mit wenig Freizeit, aber der harte Kern nahm sich eigentlich immer die Zeit, wenigstens einen kurzen Kommentar dazulassen, bevor man sich wieder den Kindern und der Arbeit widmete. Selbst wenn Mara vor lauter Aufgaben nicht wusste, wo ihr der Kopfstand, hatte sie doch immer ein paar tröstende Zeilen geschrieben, wenn ein anderes Forumsmitglied sie brauchte.

Maras Online-Freunde wussten nichts von ihrer Krankheit. Vor Monaten schon hatte deshalb eine tägliche Auseinandersetzung in ihr begonnen: Verschonte sie damit die anderen, oder enthielt sie ihnen etwas vor? Sie hatte das Gefühl, die anderen mit ihrem Schweigen zu belügen. Und einfach ohne jede Erklärung zu verschwinden, gerade jetzt, da MotorCity seine Freunde am nötigsten brauchte, erschien ihr unverzeihlich. Mara beugte sich zu dem kleinen Mikrofon an ihrem Laptop vor und sprach hinein.

Dienstag, 5. April, 08:34 Uhr

Wo wir gerade beim Thema »nur noch fünf Tage« sind – es gibt da was, was ich euch schon seit einer ganzen Weile erzählen wollte:

Sie las noch einmal durch, was sie bis jetzt diktiert hatte, und überlegte, wie sie fortfahren sollte. Es würde MotorCity bestimmt helfen zu wissen, dass sie mehr als nur oberflächliches Mitgefühl für das empfand, was er gerade Tausende von Kilometern entfernt durchmachte. Auch sie bereitete sich schließlich darauf vor, sich von ihrem Kind zu verabschieden.

Sie konnte nachempfinden, wie ihm die Luft wegblieb angesichts der Vorstellung, seinen Großen nicht wiederzusehen. Der eiserne Ring um seine Brust jedes Mal, wenn er an ein Leben ohne den Jungen dachte. Wie er jeden Abend die Tränen unterdrücken musste, wenn er den Kleinen ins Bett brachte und wusste, dieser Gutenachtkuss war einer der letzten. Sie machte genau dasselbe durch, das konnte sie ihm jetzt sagen. Es würde ihm doch bestimmt helfen, wenn er wüsste, dass sie seinen Schmerz nachempfinden konnte.

Oder wäre er vielmehr entsetzt, weil sie im Gegensatz zu ihm die Wahl hatte und sich bewusst für lediglich fünf letzte Tage mit ihrer Tochter entschied, anstatt abzuwarten, wie lange sie noch leben würde? Würden ihr die anderen das vorwerfen? War es nicht vielleicht doch besser, sich unauffällig aus dem Leben von MotorCity und den anderen zu verabschieden und sie nicht mit dem Wissen um den wahren Grund dafür zu belasten?

Vor ein paar Monaten hatte Maras Feinmotorik angefangen zu rebellieren. Viel schlimmer als verschüttetes Kaffeepulver in der ganzen Küche war die Tatsache, dass ihre Einträge im Forum plötzlich wirkten, als hätte eine Zweitklässlerin mit Rechtschreibschwäche sie geschrieben. Als 2boys sich schließlich in seiner typisch groben Herzlichkeit danach erkundigte (ey mara, hast du so früh schon einen sitzen, oder was?), hatte Mara gelogen und behauptet, sie hätte sich den Arm gebrochen und könnte im Moment nur mit einer Hand tippen. Danach lud sie sich sofort eine Spracherkennungssoftware auf Laptop und Handy.

Wenn sie jetzt alles erzählte, würden sich die anderen vielleicht Vorwürfe machen, dass sie nicht hinterfragt hatten, wieso sich ihr Tippen schlagartig wieder verbessert und sie sich von dem angeblich gebrochenen Arm überraschend schnell erholt hatte. Jetzt alles zu erzählen – würde das den anderen helfen oder nur ihr? Sie würde ohne das schlechte Gefühl sterben können, ohne jede Erklärung und Verabschiedung aus dem Forum verschwunden zu sein. Dafür müssten die anderen aber mit dem Wissen leben, dass es ihrer Freundin schon lange Zeit schlecht gegangen war und sie ihr nicht geholfen hatten. Sie würden es sich nie verzeihen, nicht für sie da gewesen zu sein. Die Tatsache, dass Mara ihnen auch gar nicht die Gelegenheit dazu gegeben hatte, würde es nicht besser machen.

Anfangs war es nicht einmal eine bewusste Entscheidung gewesen, ihnen nichts von der Krankheit zu erzählen. Sie hatte es ja zunächst selbst nicht glauben wollen, hatte sich ebenso hartnäckig geweigert, vor sich selbst zuzugeben, dass etwas nicht stimmte, wie vor anderen. Und nach der Diagnose war ihr ganzes Umfeld ständig so besorgt um sie, so unerträglich hilfsbereit, dass sie schon wieder bereute, überhaupt jemandem davon erzählt zu haben. So erleichternd es war, endlich eine Diagnose zu haben, so frustrierend war es auch, vor aller Augen abzubauen. Sobald einmal das Wort »Krankheit« gefallen ist, behandeln einen sofort auch alle wie eine Kranke, selbst an den Tagen, an denen es einem gut geht, dachte Mara einmal mehr.

Das Forum war die letzte Bastion der Normalität in ihrem Leben geworden. Ein Ort, wo die Leute sie nicht ständig beschworen, doch kürzerzutreten, es ruhig angehen zu lassen, sich nicht zu verausgaben. Dort wurde sie nicht wie Mara die Patientin behandelt, Mara die Kranke, Mara die Arme, der es nicht vergönnt war, ihre eigenen Eltern zu überleben. Im Forum war sie einfach nur LaksMom: Adoptivmutter, Vollzeitanwältin, mit ihrem Freund aus College-Tagen verheiratet, eine hilfsbereite Freundin. Das Seil, an dem sie sich festhalten konnte und das, auch wenn es bereits etwas ausgefranst war, doch nach wie vor dazu beitrug, dass sie nicht völlig verrückt wurde.

Mara las noch einmal den Anfang ihrer Nachricht durch. Wenn sie je Hilfe dabei benötigt hatte, nicht durchzudrehen, dann diese Woche. Dies war nicht der Zeitpunkt, die anderen in ihr Geheimnis einzuweihen. Sie schob den Mauszeiger zum unteren Rand des Bildschirms und klickte auf Text löschen.

5

Mara

Mara lag neben Tom im Bett und streichelte ihm über Brust und Schulter, während er den zufriedenen Schlaf eines Mannes schlief, der gerade beim Sex keinen Finger hatte krummmachen müssen. Für Mara war es ein verzweifeltes, trauriges Liebesspiel gewesen, halb Entschuldigung für das, was sie ihm bald antun würde, halb Dankbarkeit für alles, was er für sie getan hatte und noch für ihre gemeinsame Tochter tun würde. Zum Teil war es auch eine Verabschiedung gewesen. Für ihn war es aufregend.

Jetzt, eine halbe Stunde später, schlief er tief und fest und bemerkte ihre Berührungen nicht. Sie strich ihm sanft über die lange, gerade Nase und über die Stoppeln an seinem kantigen Kinn. Eigentlich war er kein bisschen eitel, doch in letzter Zeit bedrückte es ihn, dass sich langsam Grau in Koteletten und Bart schlich, auch wenn er ihn sich sowieso nie mehr als ein verlängertes Wochenende stehen ließ. Mara gefiel es hingegen gut. Sie fand, die grauen Haare waren wie kleine Scheinwerfer, die das strahlende Blau seiner Augen noch mehr betonten.

Neerja hatte einmal zu Mara gesagt, die seltene Kombination aus blauen Augen und dunklen Haaren würde oft besondere Schönheit hervorbringen. Maras Studienobjekt, das hier neben ihr schlief, bestätigte diese Theorie auf jeden Fall. Männer und Frauen flirteten ständig mit ihm. Wie viele Einladungen, wie viele Annäherungsversuche hatte er in den letzten zweiundzwanzig Jahren wohl abgelehnt?

Wie lange würde es nach ihrem Tod dauern, bis er doch endlich darauf einging?

Sie zog die Hand weg.

Vorsichtig machte sie sich von ihm los, schlich sich aus dem Zimmer und ging hinüber zu Laks, ein kurzer Abstecher, bevor sie sich am Küchentisch an ihren wartenden Laptop setzen würde. Es war eine nächtliche Gewohnheit, die schon automatisch ablief – ein paar Sekunden, um die Decke hochzuziehen, die Armee von Kuscheltieren etwas beiseitezuschieben, die Laks um sich herum versammelt hatte, ein Kuss auf die Stirn, »Ich hab dich lieb« flüstern. Danach setzte sie sich an den Tisch, arbeitete oder las oder surfte im Internet.

In dieser Nacht fühlte sich Mara jedoch vom Anblick der schmalen Schultern über der Decke wie gelähmt. Sie blieb stehen und sah der kleinen Brust dabei zu, wie sie sich hob und senkte, hob und senkte. Ihr wurden die Knie weich, und sie setzte sich auf die Bettkante. Als sie bemerkte, dass Laks von dem Gewicht auf der Matratze anscheinend nicht aufwachte, streckte sie sich vorsichtig neben ihr aus und rutschte an das schlafende Mädchen heran.

Sie legte einen Arm um Laks und zog sie langsam zu sich heran, bis der kleine Po an ihren Bauch gedrückt war. Sie vergrub das Gesicht im dichten Haar ihrer Tochter und atmete tief ein. Laks war es an diesem Abend gelungen, sich vor dem Duschen zu drücken, und ihr Haar roch noch nach dem Shampoo des Abends zuvor und nach … Honig? Wahrscheinlich noch vom Mittagessen: fünf Tage die Woche Vollkorntoast mit Butter und Honig, die Rinde abgeschnitten. Sechs kleine Möhren dazu. Eine Flasche Wasser. Und der verdammte Keks natürlich. Wehe dem, der vergaß, ihr den Keks einzupacken!

Mara rieb ihre Nase an Laks’ Nacken und fühlte etwas Klebriges. Lächelnd stellte sie sich Laks beim Mittagessen vor, wie sie mit dem Brot in der Hand gestikulierte, während sie mit ihrer Freundin Susan schwatzte. Plötzlich juckte sie etwas im Nacken, und sie kratzte sich mit derselben Hand, in der sie ihr Brot hielt. Dass sie sich dabei mit Honig vollschmierte, kümmerte sie nicht. Würde man sie darauf ansprechen, würde sie lediglich mit den Schultern zucken, bedauernd vielleicht oder auch nicht, und dann einfach weiterreden. »Miss Dreckspatz« nannte Tom sie manchmal.

Mara zog Laks noch ein Stück näher zu sich heran, ihre ausgestreckte Hand umfasste den kleinen Brustkorb. Sie fühlte das Herz des Mädchens gegen ihre Handfläche pochen. Sie rutschte ein Stück tiefer und drückte Nase und Mund gegen das Pyjamaoberteil. Der Stoff fühlte sich rau an ihren Lippen an. Sie atmete wieder tief ein: der Morgengeruch ihres Körpers.

»Dieses Kind hat morgens keinen Mundgeruch, dieses Kind riecht morgens am ganzen Körper«, hatte Tom einmal gesagt.

Sie hatten zwar kein anderes Kind zum Vergleich, waren aber trotzdem beide von dem säuerlichen Geruch überrascht, den Laks allmorgendlich nach dem Aufwachen verströmte, eine Mischung aus Schweiß und getrockneter Spucke. Und an einem Morgen, nachdem sie am Abend zuvor das tägliche Duschen umgangen hatte, wurde dieser Duft noch vom Aroma des jeweiligen Essens »bereichert«, mit dem sie sich bekleckert hatte.

»Ist schon ein bisschen eklig«, fand Tom.

Es ist der herrlichste Duft auf der ganzen Welt, dachte Mara gerade.

Sie schloss die Augen und atmete tief ein, drückte sich mit jedem Zentimeter ihres Körpers so eng an Laks, wie es nur ging, versuchte, sich genauestens einzuprägen, wie sich die Wärme ihrer Tochter anfühlte, die hervorstehende Wirbelsäule, ihr knochiger Hintern. Wie sie roch. Wie sie im Schlaf atmete, wie sie beim Einatmen kurz stockte. Wie sie aussah, so still, so klein, so friedlich.

Ein Schluchzen stieg in Mara auf. Ein verzweifeltes, entsetztes Schluchzen, und sie schloss die Arme instinktiv fester um Laks. Das Mädchen regte sich im Schlaf und wollte sich umdrehen, aber auf der einen Seite blockierte der Körper ihrer Mutter den Weg, und auf der anderen Seite wurde sie von zwanzig Kuscheltieren flankiert.

»Mama?« Sie befreite sich aus Maras Griff und drehte sich verwirrt zu ihr um.