9,99 €
Eliana glaubt, endlich angekommen zu sein. Berlin, die Musik, die Liebe ... mit Neo an ihrer Seite fühlt sich alles perfekt an. Doch ein einziger Moment reicht, um alles ins Wanken zu bringen. Ein Missverständnis, ein gebrochenes Vertrauen, eine Entscheidung, die alles verändert. Wie findet man zurück, wenn man sich bereits verloren hat?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 632
Veröffentlichungsjahr: 2025
© 2025 Natt Alexy
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin: tredition GmbH, Heinz-Beusen-Stieg 5, 22926 Ahrensburg, Deutschland
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Für die Inhalte ist die Autorin verantwortlich. Jede Verwertung ist ohne ihre Zustimmung unzulässig. Die Publikation und Verbreitung erfolgen im Auftrag der Autorin, zu erreichen unter: N. Höschler, Görlinger Zentrum 9, 50829 Köln, Germany.
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung:
Prolog
2005
Eliana war speiübel.
Eine Übelkeit, die nicht nur von ihrem Magen kam, sondern von etwas Tieferem, das ihre gesamte Seele einnahm.
Ihr Körper zitterte unkontrolliert und ihre Finger umklammerten den Stoff ihrer Jacke, als könnte er sie vor dem Zusammenbruch bewahren. Sie weinte ... laut und heftig, ohne Rücksicht darauf, dass der Taxifahrer sie hören konnte. Eliana hatte keine Kontrolle darüber.
Heute sollte einer der schönsten Tage ihres Lebens werden. Stattdessen fühlte es sich an, als würde ihr die Welt unter den Füßen wegbrechen.
Ihr Handy klingelte.
Er.
Natürlich war er es.
Wer sollte es sonst sein?
Und dabei wollte sie nicht mit ihm reden. Sie konnte nicht. Ihre Kehle schnürte sich zu, allein bei dem Gedanken, seine Stimme zu hören.
»Wohin soll ich Sie bringen?« , fragte der Taxifahrer in einem ruhigen Ton. Die Lichter der Stadt spiegelten sich auf der nassen Frontscheibe und hypnotisierten sie für einen Augenblick.
Eliana öffnete den Mund, doch keine Antwort kam heraus.
Wohin?
Sie hatte keinen Plan davon, wohin es gehen sollte.
Das Handy vibrierte wieder. So schnell sie konnte, drückte sie ihn weg. Ihre Finger zitterten dabei so sehr, dass sie das Gerät fast fallen ließ.
»Sie müssen mir schon eine Adresse nennen, oder soll ich Sie zurückfahren?« , fragte der Fahrer und warf ihr einen flinken Blick in den Rückspiegel zu.
»Nein.« , stieß sie heraus ... beinahe wie ein Reflex.
Eine Nachricht ploppte auf.
Sie konnte sich denken, von wem sie war, doch sie zwang sich, die Worte zu lesen.
Komm zurück. Bitte. Ich bekomme
ihn nicht beruhigt. Lass uns
alle in Ruhe darüber reden
Ruf mich an oder geh wenigstens
dran. Er hat sein Handy gegen
die Wand geschmettert
Sie schloss die Augen, während ein weiterer Anruf auf dem Display erschien. Diesmal war es nicht er, sondern der Absender der Textnachricht. Aber auch diesen Telefonanruf drückte sie weg.
»Ich weiß nicht, was passiert ist ...« , sagte der Taxifahrer und hielt ihr ein Taschentuch hin, nachdem er den Wagen unerwartet abstoppte. »... aber Sie müssen sich überlegen, wohin Sie wollen. Sie können nicht die ganze Nacht ziellos durch die Gegend fahren.«
Eliana nahm das Tempotaschentuch, drückte es gegen ihre Nase und nickte schwach. Ihre Unterlippe zitterte permanent.
Ihr Blick fiel hinaus zu dem Regen, der die Straßen wie ein unermessliches Meer aus Licht und Schatten ausschauen ließ. Das Wetter erinnerte sie an ihn.
Regen ... er ... die Gitarre ...
»Haben Sie Verwandtschaft hier?« , erkundigte der Fahrer sich weiterhin vorsichtig.
Eliana schüttelte den Kopf.
Die Ansicht war so weit weg wie ein anderes Leben. Alles in ihr war wie betäubt. Ihre Gedanken kreisten nur um das Bild, das sie nicht loslassen konnte.
Das Bild, das sich in ihr eingebrannt hatte und das ihr Herz zerriss.
Die Übelkeit stieg erneut an. Sie riss die Autotür in Windeseile auf und übergab sich. Die Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie sich an der Tür festklammerte und bitterlich schluchzte. »Es tut mir leid.« , gab sie fast unverständlich von sich.
»Kein Problem. Ich habe schon Schlimmeres erlebt.« , sagte der Mann am Steuer in einem Ton, der Mitgefühl und Professionalität zur selben Zeit abgab.
Eliana konnte in dem Moment nur daran denken, dass ihr nie so etwas Schlimmes widerfahren war. Und damit meinte sie den Umstand, weshalb sie hier im Taxi saß und nicht ... ihre Kotzerei und Heulerei.
Es fühlte sich an, als wäre irgendwas in ihr gestorben. Etwas, das sie nie wieder zurückbekommen würde. Sie schloss die Tür, lehnte sich zurück und presste die Hände gegen ihr Gesicht.
Aus Verzweiflung ... und Scham.
»Brauchen Sie vielleicht einen Arzt? Oder ... die Polizei?« Der Mann hielt inne, bevor er weitersprach. »Ich meine, Sie sind total panisch in mein Auto gestiegen.«
»Nein.« , flüsterte sie, weil die Kraft für mehr einfach fehlte.
»Gut. Wenn keine Verwandten in Frage kommen ... gegebenenfalls eine Freundin?«
Freundin.
Das Wort hallte in ihrem Kopf wider, bis ruckartig ein Name durch den Dunst ihrer Gedanken brach ... Nora.
Letzte Woche hatte sie diese zufällig getroffen.
Sie hatte komplett vergessen, Neo davon zu erzählen.
Wie unwichtig diese Kleinigkeit doch jetzt erschien.
Eliana suchte hektisch auf ihrem Handy nach der Nummer, während sie betete, dass Nora noch wach war. Es klingelte viermal, bevor ihre vertraute Stimme, mit Hintergrundgeräuschen von Musik, die langsam leiser wurde, erklang. »Hallo? Hallo? Einen Moment, ich geh nach draußen.« Kurze Stille ... Dann ... »So, hörst du mich? Eliana?«
»Nora … ich …« Sie stockte ab, eh sie erneut zu schluchzen begann. Die Worte schafften es einfach nicht heraus.
»Eliana, was ist los? Was ist passiert?« Noras Betonung war ruckartig ernst und voller Sorge.
»Ich … ich … brauche … Hilfe. Kann ich … zu dir?« , wimmerte sie.
»Natürlich, Süße. Wo bist du? Was ist passiert? Nein, warte. Erzähl’s mir später. Komm erstmal her. Hast du meine Adresse noch?« Eliana brachte ein schwaches Ja heraus. »Gut. Ich bin in zehn Minuten zu Hause. Ich warte vor der Tür auf dich. Keine Sorge, egal was passiert ist, wir schaffen das.«
Eliana verabschiedete sich leise und gab dem Fahrer die Adresse.
Während das Taxi durch die Straßen fuhr, starrte sie hinaus in die Nacht. Ihr Handy vibrierte weiter, doch sie ignorierte es. Jede Nachricht, jeder Anruf brachte sie nur tiefer in den Schmerz.
Aus ihrer Handtasche fischte sie einen Kaugummi, um den bitteren Geschmack der Übelkeit zu vertreiben. Dabei fiel ihr Blick auf das Bild, das sie ihm zeigen wollte.
Eines, das ihr Leben verändern sollte. Stattdessen war es jetzt ein Symbol dessen, was sie verloren hatte.
Wie konnte ein Tag, der so schön begonnen hatte, so enden?
Wie konnte das, was sie hatten, einfach verschwinden, als hätte es nie existiert?
Eliana schloss die Augen, als das Taxi die Häuser passierte. Ihre Gedanken drifteten zurück ... zurück zu dem Moment, an dem alles begann.
2002
Eliana wetzte die Treppenstufen hinauf. Ihre Schritte hallten laut im viel zu engen Treppenhaus, während sie versuchte, die fünf Stockwerke bis zu ihrer Wohnung hinter sich zu bringen. Es gab keinen Aufzug, nur endlos scheinende Stufen.
Ihr langes, dunkles Haar fiel ihr immer wieder ins Gesicht, doch sie ignorierte es. Zweimal stolperte sie, fing sich aber gerade noch rechtzeitig ab. Ihre Beine brannten bereits, allerdings war ihr das egal. Sie hatte es eilig.
Nachdem Eliana endlich die oberste Etage erreichte, lehnte sie sich erst einmal keuchend an die Wand. Ihre Hände pressten sich gegen ihre Knie, während sie tief Luft holte. Ihre blassen Wangen hatten sich vor Anstrengung gerötet, und ein feiner Schweißfilm glänzte auf ihrer Haut. Das Adrenalin in ihren Adern ließ ihr Herz rasen, und sie schüttelte kurz den Kopf, um klar denken zu können. Ihre dunkelblauen Augen spiegelten unterdessen ihre Gemütsbewegung wider. Gott, was war sie aufgeregt.
Mit einer Hand strich sie ihre dunklen Haare glatt, bevor sie ihren Blick zum Eingang der Wohngemeinschaft schweifen ließ. Sie wusste genau, was jetzt kommen würde.
Sobald Mark, ihr bester Freund, sie in diesem Zustand sehen würde ... verschwitzt und außer Atem ..., war es nur eine Frage der Zeit, bis sein üblicher sprich folgte.
~ keine Kondition, wie immer, Eliana. ~
Er machte sich ständig über sie lustig. Nicht bösartig, eher neckig, doch heute hatte sie keine Lust, ihm eine Vorlage zu liefern. Sie richtete sich auf, schnupperte diskret unter ihren Armen und verzog das Gesicht.
Okay, sie müffelte ein wenig, aber das war normal, wenn man fast den halben Bezirk durchquert hatte.
Tief einatmend griff sie nach dem Hausschlüssel in ihrer Jeans und trat ein.
Kaum hatte sie die Tür aufgeschlossen, stolperte sie über einen Haufen Schuhe, die kreuz und quer im Eingangsbereich verteilt waren. »Super.« , gab sie leise von sich und warf einen kurzen Blick auf die Unordnung, die sie im Grunde selber hinterlassen hatte.
Sie biss sich auf die Unterlippe und trat über das Chaos hinweg.
»Elianaaaa ist endlich daaa.« Marks Stimme donnerte sofort durch die Wohnung. »Aber viel zu spät. Denn eigentlich hätte sie kochen sollen.« Er betonte den letzten Teil extra laut, damit sie es ja hörte.
Eliana stöhnte genervt auf.
Warum musste er immer so sein?
Seit sie zusammen in Berlin wohnten, nachdem sie Köln den Rücken gekehrt hatten, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sie zu ärgern ... oder besser gesagt, darauf zu achten, dass sie nicht mit Faulheit glänzte.
Sie schmulte in die Küche.
Mark stand am Herd. Der Duft von Tomatensoße und Gewürzen erfüllte die Luft. Nicht weit entfernt saßen Nora und Mara am Esstisch, die beide mit ihren eigenen Dingen beschäftigt waren und nicht einmal aufsahen.
Die quirlige blonde Nora, deren Körper einige Piercings schmückten, hatte ihr Handy in der einen Hand, während sie mit der anderen Farben sortierte, die für Gel-Nägel bestimmt waren. Und Mara, mit einer immensen dunklen Lockenpracht gesegnet, starrte auf die Seiten ihres aufgeschlagenen Buches.
»Ich bin doch da.« , gab Eliana von sich, während sie ihre Tasche auf die Arbeitsplatte warf. »Ich hab´ mich nicht gedrückt. Ich ... ich hatte nur noch etwas Wichtiges zu erledigen.«
Keiner der dreien reagierte ... außer Nora, die kurz aufsah und sie für eine Millisekunde anlächelte. Aber da war Eliana sich nicht einmal so sicher, ob sie überhaupt zugehört hatte oder es einfach nur ein Gruß sein sollte.
»Als Strafe müsstest du genau genommen die komplette Woche über alles erledigen.« , motzte Mark vor sich her und band sein Bandana über seine dunklen Haare neu. »Stell´ ma´ vor, ich hätte es nicht bemerkt. Dann hätten alle Hunger gehabt und alle wären muffelig drauf, weil jeder aufs Essen warten müsste.«
Eliana ignorierte ihn und schlenderte zum Tisch, wo sie ein Stück Papier aus ihrer Tasche zog. Mit einem breiten Grinsen legte sie es hin, um es zu präsentieren. »Hier ist meine Ausrede.«
Mark schaute von seinen Töpfen auf. »Ist das der Einkaufszettel, den du auf dem Weg verloren und wiedergefunden hast?« Er zog die Augenbrauen hoch.
»Natürlich nicht.« Eliana funkelte ihn an und wartete darauf, dass wenigstens die zwei anderen einen Blick auf das Blatt warfen. Doch beide ignorierten sie ... Nora war in ihr Nagelset vertieft und Mara las konzentriert weiter.
»Euer Ernst? Das ist das Beste, was uns seit Wochen passiert ist, und ihr schaut nicht ma´ her.« , rief Eliana aus und schnappte sich das Blatt wieder. Sie setzte sich auf die Arbeitsplatte und ließ die Beine baumeln.
»Was denn?« Mara blickte von ihrem Buch auf und schob sich die Lesebrille auf der Nase zurecht.
»Warte, warte. Lass mich raten.« Mark legte den Kochlöffel ab und hob die Hände in die Höhe. »Du hast uns ein Abo im Fitnessstudio besorgt?« tirilierte er.
»Haha, sehr witzig. Nein. Natürlich nicht. Es ist ... einfach nur wow.« Eliana schaute in Gedanken versunken an die Decke.
In diesem Moment betrat Lisa, die Letzte im Bunde und Marks feste Freundin, die Küche. »Was gibt’s zu essen?« , fragte sie, als sei dies das Einzige, was momentan zählte.
»Essen gibt’s, wenn Eliana uns verrät, was sie schon wieder plant.« , erklärte ihr Freund und widmete sich wie gehabt seiner Soße.
Alle blickten sie nun erwartungsvoll an.
»Iiiiiich ...« Sie demonstrierte einen Trommelwirbel, eh sie ihren Satz weiterführte. »... habe uns einen Job besorgt.« Triumphierend grinste sie ihre vier Mitbewohner an.
»Einen Job?« Lisa zog skeptisch die Augenbrauen hoch und setzte sich an den Tisch. »Hoffentlich nicht wieder in irgendeiner Fabrik, wo wir Kartons zukleben müssen.«
»Nein, natürlich nicht. Das hier ist anders. Es ist für uns. Für unsere Band.«
In diesem Augenblick hatte sie die Aufmerksamkeit ihrer Freunde endlich erreicht. Marks Kopf drehte sich langsam in ihre Richtung, Nora ließ die Feile sinken, und Lisa starrte sie mit großen Augen an.
»Erzähl´.« , forderte Letzte sie auf.
»Ich war vorhin unterwegs und habe diesen Typen getroffen ... Christian. Er hat uns mal gehört, als wir draußen gespielt haben. Und er kennt jemanden, der uns braucht ... seinen Bruder Paul. Paul hat eine Bar. Eine richtig große Bar. Bei Pauls Oma im Keller heißt sie. Und er sucht eine Band, die regelmäßig spielt ... und das wären wir.« Ihr Zahnpasta-Lächeln blieb.
»Eine Bar?« Mark sah sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Bei ... Pauls Oma im Keller???«
»Ja, aber das Beste kommt noch ... Es ist langfristig. Jeden Mittwochabend und am Wochenende. Wir spielen Coversongs und unsere eigenen Stücke, und das Publikum kann sich Lieder wünschen.«
Die Gruppe sah sie an, als hätte sie das Unmögliche möglich gemacht.
»Das klingt … eigentlich genial.« , meinte Lisa schließlich. »Falls es nicht wirklich ein ... Partykeller sein sollte.«
»Das ist mehr als genial.« , rief Mark. »Das könnte der Anfang von etwas Großem sein.«
Eliana ließ ihren Blick in die Runde schweifen. »Das wird ... einfach nur geil.«
Nora nickte langsam. »Klar. Mit Sicherheit. Aber … was, wenn das Publikum uns nicht mag?«
»Sie werden uns lieben.« , gab Eliana von sich, während ihr Lächeln gar nicht mehr wegzudenken war ... schließlich könnte das tatsächlich der Anfang von etwas ganz Großen sein.
»Wow.« Lisa blieb stehen. Ihr Blick wanderte langsam durch den Saal. Sie ließ die Szenerie auf sich wirken, bevor sie sich einmal um die eigene Achse drehte. Die hohen Decken schienen endlos, die Tanzfläche blinkte im Licht der Scheinwerfer, und über allem thronte die riesige Bühne wie eine Empore. »Ich dachte, wir landen in irgendeinem verpesteten Partykeller. Aber das hier …«
»… ist bombastisch.« , ergänzte Mara, die neben ihr stand und sich mit einer Hand am Tresen abstützte. Ihre Finger glitten über die glatte Oberfläche, während sie unauffällig eines der großen Ledersofas im hinteren Bereich musterte. »Irgendwie hat das Ganze was. Es erinnert ein bisschen an die 80er oder frühen 90er, aber auf eine schicke Art.«
Paul, der Besitzer der Bar, stand hinter dem Tresen und begutachtete die Gruppe mit einem zufriedenen Lächeln. Mit seiner Baskenmütze und den dünnen, langärmeligen Pulli wirkte er auf den ersten Blick eher wie ein unkonventioneller Künstler als ein Barbesitzer. Doch seine ruhige Ausstrahlung und die Art, wie er jeden von ihnen ansah, machte klar, dass er genau den Beruf ausübte, den er liebte.
»Wir haben hier ein gemischtes Publikum.« , begann er und stellte mehrere Getränke hin. »Von jungen Leuten bis hin zu denen in meinem Alter. Die Stammkunden waren mit Käsefuß eigentlich ganz zufrieden.«
Lisa runzelte die Stirn. »Käsefuß?«
Mark grinste schief und hob sein Glas. »Das war wohl der Name der vorherigen Band.«
»Sehr originell.« , murmelte seine Freundin monoton, während sie die Bühne nun mit einem kritischen Blick betrachtete.
»Hier kommt also wirklich jede Altersklasse her?« , fragte Mark zweifelnd, weil er das irgendwie nicht so recht glauben wollte. »Ich meine, wir spielen so ziemlich alles, aber wenn hier nur Rentner abhängen … na ja, ich weiß nicht, ob wir dann die Richtigen sind.«
»Ich glaube nicht, dass diese vorherige Band nur Schlager gespielt hat.« , sprach Lisa. »Aber ... ich kann mir ebenfalls wenig vorstellen, dass hier junge Leute abhängen.« Sie verzog minimal ihr Gesicht.
»Man könnte bei unserem Namen auch denken, wir machen nur Reggae.« , warf Mara ein, bevor sie sich langsam Richtung Schauplatz bewegte.
»Stoney Mahoney klingt halt cool.« , entgegnete Mark und schaute zu den anderen.
Eliana stieg gerade mit einem festen Schritt auf die Bühne. Ihre Schuhe tappten leise auf dem Holz, als sie sich einmal umblickte. Von hier oben wirkte der Saal noch größer ... fast einschüchternd.
Mara folgte ihr und blieb etwas unsicher neben ihr stehen, während Lisa mittlerweile die Sofas nach ihrer Sauberkeit begutachtete. Nora flirtete unterdessen mit dem Barmann, ... scheinbar völlig desinteressiert am Rest der Gruppe.
»Das wird super.« , flüsterte Eliana Mark zu, nachdem er sich ebenso zu ihr gesellt hatte.
Er lächelte sie an. »Ja, das könnte wirklich geil werden, wenn das Publikum stimmt.«
»Ich hoffe nur, dass ich mich auf euch verlassen kann.« , sagte Paul plötzlich. Seine Stimme war ruhig, aber die ernste Note war nicht zu überhören. »Ich hab keine Lust darauf, dass ihr mich ständig versetzt.«
»Keine Sorge. Wir ziehen das durch.« , antwortete Mark, und Eliana nickte energisch.
Paul beobachtete die Gruppe einen Moment, bevor er das Glas, was er mitgenommen hatte, abstellte. »Ich habe übrigens oben eine Wohnung frei. Falls euch das interessiert.«
Eliana drehte sich überrascht zu ihm um. »Eine Wohnung?«
»Ja. Groß, mit vier Schlafzimmern. Nachteil ... Mehr gibt’s nicht. Also kein fünftes Schlafzimmer.« Er zeigte auf jedes einzelne Bandmitglied.
»Und wie viel soll die kosten?« , fragte Lisa, die nun auch bei den anderen stand.
»Ihr arbeitet hier, also nichts. Sie gehört mir. Ich habe früher selbst dort gewohnt ... damals mit meinen Freunden und später mit meiner Moni. Aber Frauen wollen irgendwann ein Haus mit Garten, und seitdem steht die Wohnung leer.« Paul zuckte mit den Schultern. »Wenn ihr wollt, könnt ihr sie euch ansehen. Doch keine Sorge ... Ihr bekommt natürlich trotzdem Gehalt.«
Elianas Augen leuchteten. Sie hatten zwar ein Dach über den Kopf, aber eventuell eine Bessere und direkt hier, wo sie arbeiteten, klang in ihren Ohren perfekt. »Das wäre absolute spitze. So wären wir auf der Stelle hier.«
Lisa zog sie jedoch hastig beiseite. »Spinnst du?«
»Was denn?« , fragte Eliana, als sie die Hand ihrer Freundin abschüttelte.
»Kommt dir das nicht komisch vor?« , flüsterte sie. »Der wird uns doch im Leben nie bezahlen. Am Ende heißt es ... Ihr habt doch eure Wohnung, das reicht.«
Eliana verdrehte die Augen. »Du hast ´ne Macke. Lass uns die Bude erst mal ansehen. Wenn wir uns darauf einlassen, sparen wir immer noch Geld, weil wir keine Miete zahlen müssen.«
Lisa schüttelte den Kopf und atmete tief ein. Das Achtzehnjährige-Nesthäkchen vor ihr verstand nicht, worauf sie hinauswollte. »Du weißt aber schon, dass man trotzdem Geld braucht? Für Lebensmittel und alles andere?« , gab sie deshalb von sich.
»Es wird nicht so kommen.« , erwiderte Eliana entschlossen und ging zurück zur Gruppe, die sich kurz darauf aufmachte, die Wohnung zu besichtigen.
Paul bugsierte sie durch den hinteren Bereich der Bar, vorbei an der Eingangstür, die zum Wohnhaus führte.
»Wohnen hier noch andere?« , wollte Mark sichtlich interessiert wissen, während sie die Treppe hinaufstiegen.
Der Inhaber der Bar schüttelte den Kopf. »Nein. Hier oben ist nur diese Wohnung. Früher habe ich den Rest vermietet, aber der Lärm aus der Bar war immer ein Problem. Ihr seid jetzt ein Teil davon ... also könnt ihr euch über euren eigenen Krach wohl kaum beschweren.«
Er zog einen altmodischen Schlüssel aus seiner Tasche und öffnete die Türe, die leicht knarzte.
Die Gruppe trat ein und hielt einen Moment lang den Atem an. Die Wohnung war riesig. Emporragende Decken, große Fenster und eine Einrichtung, die zwar nicht mehr auf der Höhe der Zeit war, aber die sich in einem guten Zustand befanden.
»Wow.« , flüsterte Mara. »Das ist unglaublich.«
Lisa musterte wie gehabt die Möbel skeptisch. »Ich weiß nicht. Was, wenn wir hier wohnen und er plötzlich sagt, dass wir doch keinen Lohn bekommen?« , gab sie erneut leise von sich.
»Ach, hör auf.« , brabbelte Eliana, während sie durch den Wohnbereich ging.
Sie war hellauf begeistert.
Nach einigen Minuten, in denen sie die Zimmer erkundeten, dauerte es auch nicht lang und die Gruppe stimmte zu. Lisa unterschrieb dennoch als Letzte ... ihre Stirn immer noch skeptisch gerunzelt, als sie dies tat.
Im Unterschied dazu fühlte es sich für Eliana alles wie ein Traum an.
Vor ein paar Monaten hatte sie ihre Sachen gepackt und war gemeinsam mit Mark nach Berlin aufgebrochen, voller Angst, auf der Straße zu landen. Doch das Schicksal meinte es offenbar gut mit ihr.
Ihr neues Leben konnte endlich so richtig beginnen.
»Sag mal, kotzt du?« Eliana klopfte energisch an die Tür der Toilettenkabine.
Ein gequältes Mmmmh kam von innerhalb, gefolgt von einem eindeutigen Würgegeräusch, welches sie selbst kurz würgen ließ.
Sie schüttelte ein wenig angewidert den Kopf und verzog das Gesicht, als ob sie dadurch den Geruch und das Geräusch abwehren könnte.
Was nicht so recht half.
Langsam atmete sie ein und aus, schloss die Augen und versuchte, sich etwas anderes vorzustellen.
»Das ist doch nicht dein Ernst.« , sagte sie schließlich nach längerem Warten. »Wir stehen jetzt bereits seit drei Monaten jede Woche bei Paul auf der Bühne ... und du hast immer noch Lampenfieber?«
Sie wollte ihr keinen Vorwurf machen, aber wenn man schon so ein Hobby hatte, sollte man auch mit dem Publikum klarkommen.
»Meinst du etwa, ich mach das extra?« , jammerte Mara aus der Kabine, bevor sie erneut würgte. Ihre Stimme klang wie durchgescheuert. Schlicht und einfach erschöpft und angeschlagen.
Zum Glück war sie nicht die Sängerin der Band.
»Du musst halt versuchen, damit klarzukommen. Als wir noch auf der Straße gespielt haben, hattest du doch auch nicht solche Probleme.« , murrte Eliana, während sie gegen die Kabinentür klopfte, um eine Antwort zu erhalten.
Bevor sie allerdings weitersprechen konnte, ging die eigentliche Tür für den Raum auf, und die laute Musik aus dem Saal schwappte hinein.
Carlos Santanas Smooth dröhnte deutlich hörbar durch die offene Tür.
Nora, die eingetreten war, stand nun vor dem großen Spiegel und zupfte an ihrer Frisur herum. Sie warf Eliana einen Blick durch das Spiegelglas zu. »Der Typ, den du süß findest, und sein Freund sind wieder da. Genau derselbe Platz wie immer.«
»Wirklich?« , fragte Eliana, und ihre Aufmerksamkeit sprang von Mara direkt zu Nora.
»Ja.« , bestätigte ihre blonde Freundin. »Der mit der Haartolle, als wäre er Elvis.« , fügte sie dem noch bei.
»Und die Hundemarke.« , erklang schwach aus der Kabine, bevor Mara erneut würgte.
Nora verzog ihr Gesicht, aber widmete sich weiter ihrem Spiegelbild.
Elianas Augenbrauen zogen derweil in die Mitte. »Hört auf euch über ihn lustig zu machen.« , sagte sie abwehrend. »Das sind halt seine Locken.«
»Ich spreche hier nur die Wahrheit aus. Er bräuchte dringend eine andere Frisur.« , kommentierte die Blondine und drehte sich zu ihr um.
»Nein. Seine Locken sind ...« Sie setzte einen schwärmerischen Blick auf, als sie sich vorstellte, wie süß er wohl morgens mit verwuschelten Haaren aussehen könnte.
Seine dunklen Strähnen schienen wie zufällig gebändigt und seine Augen waren von einem kühlen Blau. Irgendwie wirkte er für Eliana wie ein junger Rockstar.
»Amor hat seinen Pfeil, wenn man die Zeichen richtig deutet, wohl mehr als kräftig bei dir abgeschossen.«
»Quatsch. Ich ... Ich finde ihn einfach nur … süß. Das ist alles.«
»Natürlich.« Nora musterte sie wissend. Immerhin hatte die Jüngste der WG nur noch Augen für diesen einen Burschen, der bei jedem Auftritt im Publikum zu finden war. Und dabei sah sie ihn an, als wäre er die süßeste und leckerste Süßigkeit, die es zu kaufen gab.
»Ach, hör doch auf.« Eliana versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, aber ihre Wangen verfärbten sich leicht rot.
Der besagte Junge war vor circa zwei Monaten das erste Mal bei einem ihrer Auftritte in der Bar gewesen. Stets in Begleitung seines anscheinend besten Freundes. Die beiden saßen immer an derselben Stelle an der Theke. Es war unmöglich, die schüchternen Blicke zu ignorieren, die er ihr mit jedem Mal zuwarf, auch wenn sie momentan so tat, als hätte sie diese nie bemerkt.
Nora schüttelte den Kopf und sprach nun Tacheles. »Du beobachtest ihn ständig. Man könnte denken, du singst nur für ihn.«
Eliana wollte widersprechen, doch stattdessen glitt ihr Blick automatisch Richtung Tür. Sie stellte sich vor, wie er an der Theke saß, seine blauen Augen leicht nervös, aber dennoch aufmerksam auf sie gerichtet. »Quatsch.« , murmelte sie schließlich, nachdem sie von Nora angestupst wurde.
In diesem Moment kam Mara, kreidebleich und unverkennbar mitgenommen, aus der Kabine. Sie hielt sich am Waschbecken fest und ließ kaltes Wasser über ihre Handgelenke laufen.
»Warum bist du eigentlich immer so aufgeregt?« , fragte die Blondine sie. »Du stehst doch hinten am Keyboard. Die Leute achten nicht mal auf dich.« So scharfzüngig, wie es sich anhörte, hatte sie es allerdings nicht gemeint, weshalb sie diese auch zusätzlich noch anlächelte, um ihr dies zu vermitteln.
»Das war gemein.« , warf Eliana dennoch ein und überfiel Nora mit einem strengen Blick. »Man achtet auf jeden Einzelnen von uns.« Sie hatte mittlerweile selbst ein schlechtes Gewissen Mara gegenüber, da sie vorhin im Grunde nicht anders gesprochen hatte.
Dabei war sie jederzeit genauso nervös ... nur das es einen anderen Antrieb dafür gab.
»Ich hab’s nur gesagt, damit sie sich besser fühlt.« , verteidigte sich Nora und schob eine Strähne aus ihrem Gesicht. »Stell dir doch einfach alle Leute nackt vor.«
Mara starrte sie entgeistert an. »Machst du das etwa?«
»Gelegentlich.« , gab Nora mit einem unschuldigen Schulterzucken zu. »Wenn ich einen heißen Typen sehe, stell ich mir vor, wie er ohne Kleidung aussieht.«
Eliana sah sie erschrocken an und driftete kurzzeitig ab.
Wen stellte sie sich bitte alles da nackt vor? Nora war kein Kind von Traurigkeit. Demzufolge ... könnte es auf die eine oder andere Weise jeder sein.
»Wen stellst du dir jetzt vor?« , fragte die Blondine und holte Eliana abermals zurück aus ihrer Gedankenwelt. »Hunde-Elvis?«
»Hunde-Elvis. Echt jetzt?« Sie warf Nora einen vielsagenden Blick zu, während Mara sich zwischenzeitlich die Hände abtrocknete und an beiden vorbeiging. »Das ist echt der beste Spitzname, den du finden konntest?« Sie rollte mit den Augen.
Der Typ war einfach ultrasüß.
Dieses ... Lächeln.
Hatte sie je ein schöneres gesehen?
»Er trägt eine Hundemarke.« , unterbrach Nora wie gehabt Elianas Gedanken und zog die Augenbrauen hoch.
Diese schüttelte den Kopf und ging hinaus in den Hausflur, wo sie anschließend geradewegs zur Tür marschierte, nur um dort stehen zu bleiben.
Durch die Spalte konnte sie einen kurzen Blick in den Saal werfen. Und tatsächlich ... er war da. Zusammen mit seinem blonden großen Freund saß er an der Theke, genau wie immer.
Nora, die mit Mara gefolgt war, öffnete die Türe nun gänzlich und ihre Blicke trafen sich. Es war nur ein kurzer Moment, als er Eliana ansah, aber sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug und ihr Magen kurzzeitig rebellierte.
Er schien zu zögern, bevor er nervös lächelte und dann verlegen wegschaute.
Wie süß er doch war ...
»Vielleicht sind die beiden ein Paar.« , meinte Nora absichtlich um sie zu necken, als sie dicht hinter Eliana auftauchte und mit Mara an ihr vorbeiging.
»Ach.« Sie verdrehte erneut die Augen und ließ sich davon nicht beunruhigen, während sie abermals einen Blick zur Theke wagte, wo er zum wiederholten Male zu ihr sah.
»Na los. Sprich sie doch endlich mal an.« , sagte Julian und stupste seinen Freund dezent an.
Neo atmete tief ein und ließ den Blick über die Bühne schweifen, wo Eliana gerade mit Nora und Mara sprach. »Und was soll ich sagen?« , fragte er schließlich, eh er weitersprach. »Hey, ich bin der Typ, der jedes Mal hier auftaucht, nur um dich anzustarren. Klingt nicht unheimlich, oder?«
Julian schnaufte ein Lachen. »Okay, ja, das klingt wie von einem Stalker.«
Neo ließ seinen Kopf nach hinten fallen und schloss für einen Moment die Augen. »Ich bin nicht gut in sowas. Das weißt du doch.«
»Du hast doch sonst keine Probleme, mit Mädchen zu reden.« Julian nahm einen Schluck von seinem Bier und lehnte sich lässig gegen die Theke. »Was ist diesmal anders?«
Neo sah ihn aus den Augenwinkeln an. »Sie ... sie ist … anders.«
Er erinnerte sich genau an den Moment, wo er die Sängerin der Band, das erste Mal gesehen hatte.
Es war vor mehreren Wochen, als er in Pauls Bar gelandet war, nachdem er dies vielmehr als nur spontan entschieden hatte.
Sie hatte gerade Junimond von Rio Reiser gesungen, und ihre Stimme hatte ihn augenblicklich in ihren Bann gezogen.
Er hatte sie bis dato nicht einmal gesehen, aber er wusste, dass sie etwas Besonderes war. Als er sie dann endlich entdeckte ... mit ihrer lockeren Hüftjeans, dem Nietengürtel und dem schlichten weißen Top ... hatte er sich noch mehr bestätigt gefühlt.
Sie war kein aufgestyltes Barbie-Mädchen, wie man sie überall sehen konnte. Sie hatte etwas Echtes an sich, etwas ... Natürliches.
Julian riss ihn aus seinen Gedanken. »Hör auf, so viel nachzudenken. Schreib ihr einfach einen Songwunsch in den Kessel. Vielleicht gibt es dadurch ja den perfekten Anlass, mit ihr ins Gespräch zu kommen.«
Neo zog eine Augenbraue in die Höhe. »Einen Songwunsch? Und woher soll sie dann wissen, dass dieser von mir kommt, sodass sie dementsprechend mit mir ins Gespräch kommen sollte?«
Paul, der hinter der Theke Gläser abtrocknete, hörte halbwegs die Unterhaltung und grinste. »Keine Sorge, Junge. Die kennen alles. Bis jetzt gab es keinen Song, den die Band nicht draufhatte.« Er legte einen kleinen Notizzettel und einen Schreibstift vor den Lockenkopf. »Na los. Trau dich. Schlimmstenfalls ist es ein Song, den sie improvisieren müssen.« , lachte er.
Neo schnappte sich den Kugelschreiber und kritzelte schnell etwas auf den Zettel. Doch bevor er ihn an Paul übergeben konnte, nahm Julian ihm diesen ab und las, was er aufgeschrieben hatte.
»Was hast du da geschrieben?« , fragte er und musterte das Stück Papier mit einem skeptischen Blick. »Echt jetzt? Den Song wird sie niemals kennen.«
Neo riss ihm den Zettel aus der Hand und gab ihn Paul. »Abwarten.« , formulierte er nur und setzte sich wieder hin.
Er war optimistisch.
Eliana hatte etwas drauf.
Musikalisch schien sie sehr aufgeschlossen zu sein.
Julian hingegen schüttelte den Kopf. »Warum gerade der? Warum nicht was Einfaches, wie ...« Er überlegte. »... von den Ärzten zum Beispiel?«
Er zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich mag den Song nun mal. Der Bruder meiner Mutter hat ihn mir damals gezeigt, als ich klein war. Das war eines der ersten Lieder, die ich auf der Gitarre konnte.«
»Dein Onkel.« , verbesserte Julian ihn.
Neo schnaufte kurz auf. »Ach. Halt doch die Klappe.« Er sah abermals zur Bühne.
Eliana schaute verstohlen zu ihm rüber, eh die E-Piano-Spielerin mit ihr sprach.
Ob beide über ihn redeten?
»Hast du gesehen?« , fragte Mara, als sie sich ans Keyboard setzte. »Er hat einen Song in den Kessel geworfen.«
Eliana konnte nicht verhindern, aufgeregt zu lächeln. »Was er wohl ausgesucht hat?« , kam neugierig aus ihrem Mund.
»Bestimmt ... Who Let the Dogs Out.« , gab Nora lachend von sich und stöpselte ihre E-Gitarre ein.
Eliana musste in dem Fall ebenfalls kurz auflachen. »Hör auf.« , sagte sie, bevor sie wieder hin zum Tresen schaute.
Er lehnte an der Theke und sprach mit seinem Freund, aber dennoch glitt ab und zu sein Blick zu ihr hinüber ... und jedes Mal bemerkte sie, wie ihre Mundwinkel sich automatisch anhoben.
Wie er wohl hieß?
Paul hatte eben mit beiden gesprochen, als wären sie vertraut miteinander.
Fragen, wollte sie dennoch nicht.
Wie würde das denn aussehen?
Abermals sah er zu ihr und benetzte sich im Zuge dessen kurz die Lippen. Eliana war sich nicht sicher, ob er dies aus Befangenheit tat, es eine Angewohnheit von ihm war, oder ... es möglicherweise sogar ein Flirt-Versuch von ihm war.
Nichtsdestotrotz ... empfand sie es als süß. Egal aus welchem Grund er es tat.
Diese durchdringenden hellblauen Augen, die von dunklen Wimpern eingerahmt waren, machten es ihr schwer nicht immer wieder zu ihm hinzusehen.
Und dieses schelmische, fast schüchterne Lächeln, das sie jedes Mal aus der Fassung brachte, war ... absoluter Wahnsinn ... wie sie es bezeichnen würde.
»Eliana.« Nora stupste sie an. »Wenn du ein bisschen weiter runterguckst, statt immer wieder zur Haartolle hin, siehst du Paul, der dir den Kessel geben will.«
»Oh.« , gab sie verlegen von sich, bevor sie sich den Kübel schnappte und ans Mikrofon trat. »Also, seid ihr bereit? Wir ziehen jetzt den ersten Song des Abends.« , tirilierte sie hinein.
Das Publikum applaudierte, und Eliana reichte den Kessel an Mark weiter, der grinsend einen Zettel herauszog.
Er faltete ihn auf und gab ihn zurück an die Sängerin, die das Papier entgegennahm und es öffnete.
Ihre Augen huschten über die Zeilen.
Das war keineswegs der Song, den er ausgesucht hatte. Da war sie sich sicher.
Sie zeigte jedem Mitglied der Band den Zettel.
Nora verdrehte die Augen. »Warum immer so ein Kitsch?« , nuschelte sie, wobei sie ihre Gitarre zurechtrückte.
Eliana lächelte ungeachtet dessen, während sie ans Mikrofon trat. »Alles klar. Wir haben den ersten Songwunsch des Abends. Und … looooooos geht’s.«
Mara begann auf dem Keyboard mit den ersten Akkorden.
Der Song war nur eine Nacht von Ayman ... ein Lied, welches sie hier schon öfters gespielt hatten, und dieser saß wie eine eins.
Währenddessen fiel ihr Blick erneut auf den Jungen, dessen Augen sie nun ununterbrochen fixierten, als hätte er gerade etwas völlig Neues und Faszinierendes entdeckt.
Der Abend war fast vorbei, und die Luft in Pauls Bar war weiterhin befallen von Musik, Gelächter, Zigarettenqualm und dem Duft alkoholischer Getränke.
Die Band spielte gerade The Bad Touch von The Bloodhound Gang, und Neo grölte zusammen mit Julian den Refrain, ohne sich darum zu kümmern, ob jemand sie hörte oder nicht.
Es war ihnen egal, was andere dachten ... sie hatten Spaß, und das war alles, was zählte.
Pauls Blick wanderte von der Bühne zu den beiden Jungs, und ein Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er sie mit vollem Einsatz mitsingen sah. Schließlich nahm er sich ein Glas Wasser und ließ sich auf dem Hocker neben Neo nieder. »Wann müsst ihr eigentlich zu Hause sein?« , fragte er mal eben nebenbei und nahm einen Schluck.
Julian zuckte mit den Schultern. »Wir sind neunzehn und keine neun.«
»Das weiß ich doch, Jung. Fragen darf man nichtsdestotrotz, oder nich´?!«
Neo stellte sein Glas ab und lehnte sich zurück. »Ich penn’ bei Juli. Also keine Eile.«
Der Inhaber der Bar lachte leise. »Ihr bleibt also wieder bis zum Schluss?« Beide nickten synchron, was Paul ein Kopfschütteln und ein weiteres Grinsen entlockte. »Früher wart ihr nicht so oft hier.« , bemerkte er und ließ seinen Blick erneut Richtung Bühne schweifen. Dort beendete die Band mit Energie gerade den Song. Seine Augen verweilten kurz bei Eliana, die soeben mit einem Lächeln etwas zu ihrer Bandkollegin Nora sagte, nachdem sie kurzzeitig zu ihnen rüber gelinst hatte. »Welche der Ladys hat es euch denn angetan?« , kam er endlich auf den Punkt.
Neo zuckte zusammen, als hätte ihn jemand erwischt. »Wie kommst du denn darauf?« , fragte er schnell und bemühte sich um einen unvoreingenommenen Gesichtsausdruck.
Doch Julian grinste bereits breit und ließ Neo keine Chance zur Flucht. »Schau nicht mich an. Der hier traut sich nicht mal, sie anzusprechen.«
Paul zog fragend die Augenbrauen hoch und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Neo. »Eliana, die Sängerin, oder?«
Der Lockenkopf spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoss. Er starrte auf die Theke. »Eventuell.«
»Sie ist ein liebes Mädchen.« , sagte er leise. »Sie erinnert mich ein wenig an meine Schwester. So unschuldig ... bezaubernd, und ... na ja ...bevor ...«
Julian warf Paul einen schnellen Blick zu.
Er wusste, dass dieser nicht viele Male über die Vergangenheit sprach, aber jeder hier hatte Einblick über die Geschichte.
Seine Schwester war mit neunzehn an einer Überdosis gestorben. Julians Vater, der Paul schon seit seiner Jugend kannte, hatte es ihm erzählt.
Der Barbesitzer redete fast nie darüber, aber immer, wenn das Thema zur Sprache kam, lag ein Hauch von Schmerz in seiner Stimme.
Was selbstredend nachvollziehbar war.
»Du bist echt ’ne Knalltüte, Neo.« , meinte Paul, nachdem er sich wieder gefangen hatte und aufs eigentliche Thema zurückwollte. Er klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Sprich sie doch einfach an.«
Neo lachte nervös. »Ey, ich kann doch nicht wirklich da rübergehen. Was soll ich sagen? Hi, ich bin Neo, und ... wie du bemerkt hast, starre ich dich andauernd an?!«
Paul fand es amüsant, da er ihn gar nicht so zurückhaltend kannte. »Mach’s einfach locker. Hi, ich bin Neo ... dann stellt sie sich vor, und der Rest ergibt sich von selbst.«
Neo verdrehte die Augen. »Klar. Ganz einfach.«
»Ich sag ihm das die ganze Zeit« , warf Julian ein.
»Na also ... mach schon. Hast doch nichts zu verlieren und so unsicher bist du ja sonst auch nicht, was die lieben Mädels betrifft.« Paul stand auf, schlug leicht auf Neos Hinterkopf und ging zurück zur Theke.
Die Band bereitete sich unterdessen auf den nächsten Song vor.
Eliana griff nach dem Kessel, den Mark auf die Bühne gebracht hatte, und zog einen Zettel heraus. »Und jetzt kommen wir zu einer schwierigen Nummer.« , sprach sie ins Mikrofon und lächelte. »Die nächsten Parts übernimmt mein lieber Freund Mark, weil … na ja, so glockenhell kann ich nicht singen.«
Neo hörte, wie die ersten Takte von Fantasy von Mariah Carey erklangen. Normalerweise war das nicht seine Art von Musik, doch wenn Eliana sang, fühlte sich jeder Song anders an. Sie hatte diese Stimme ... dunkel und ein bisschen rau, aber gleichzeitig klar und voller Energie.
Er wandte sich wieder zu Paul, der gerade Gläser abspülte. »Hey, Paulchen.« , rief Neo über die Theke hinweg.
»Alkohol hattet ihr beide genug. Neunzehn hin oder her.« , gab dieser an.
Neo winkte ab. »Nee, ich will nichts bestellen. Hör mal … der Gitarrist und sie ... Eliana ... sind die zusammen?«
Pauls Blick folgte Neos und landete auf der Bühne. »Mark? Nee, der ist mit der Schlagzeugerin zusammen. Lisa heißt sie ... dahinten die Dunkelhaarige mit dem Pagenschnitt. Ein bisschen herrisch für meinen Geschmack, aber das muss er ja wissen.«
Neo nickte, während Mark seinen Part des Songs übernahm. Dann trat er an Eliana heran, reichte ihr das Mikrofon und grinste. Sie erwiderte das Lächeln und setzte ihren Einsatz mit einem fließenden Übergang fort.
Die Melodie tanzte zwischen den Reihen, doch es war ihre Art, wie sie die Töne formte, wie sie diese mit Bedeutung füllte, die Neo in ihren Bann zog.
In diesem Moment war sie mehr als nur die Sängerin. Sie war das Gefühl hinter dem Gesangsstück. Und er hätte schwören können, dass sie ihn damit meinte.
Es war ihm tatsächlich egal, welcher Song es war ... solange sie sang, konnte er zuhören, ohne den Rest der Welt zu beachten.
»War dein Gassenhauer schon dabei?« , fragte Paul später, als er sich über die Theke lehnte.
Neo schüttelte den Kopf. »Nein, bisher nicht.«
»Mal abwarten. Die Songs, die nicht gespielt werden, bleiben im Topf. Vielleicht singt sie ihn ja morgen.«
»Wie lange machen wir das jetzt eigentlich noch?« , hakte Julian plötzlich nach und sah Neo an.
»Was meinst du?«
»Hierher kommen. Nur rumsitzen. Nichts tun.« , zählte er mit seinen Fingern auf.
Neo zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Solange es sich richtig anfühlt.«
»Der große Neo Korbin, der nie um Worte verlegen ist, weiß nicht weiter?« Julian lachte auf, um seinen besten Freund zu necken.
Neo schmunzelte kurz, eh er tief einatmete. »Das ist was anderes. Ich will sie nicht einfach nur … na ... du weißt schon. Ich will sie wirklich kennenlernen.«
»Dann sprich sie an.« , sprach Julian und stupste ihn leicht an. »Ehrlich, du hast rein gar nichts zu verlieren.«
Sein Freund ließ den Kopf hängen. »Aber ... was, wenn sie mich nicht mag?«
»Das sieht doch sogar ein Blinder, dass sie dich auch andauernd ansieht.«
Neo runzelte die Stirn und kehrte der Bühne den Rücken zu. »Vielleicht sieht sie mich an, weil sie sich beobachtet fühlt.«
Paul, der weiterhin das Gespräch mitangehört hatte, lachte leise. »Mensch, Jung. Glaub mir, wenn du’s nicht tust, macht’s ein anderer, und du wirst dich ewig fragen, was hätte sein können.«
Der Song endete, und das Publikum applaudierte lautstark.
Neo drehte sich wieder zur Bühne und sah Eliana an, die sich lächelnd bei den Gästen bedankte, eh ihr Blick von Neuem kurz und behutsam zu ihm fiel.
Eliana war sich nicht sicher, wie oft ihre Augen an diesem Abend schon zu dem Jungen an der Theke gewandert waren. Es war, als hätte er eine unsichtbare Anziehungskraft, der sie sich nicht entziehen konnte.
Ihre Finger strichen unbewusst über das Mikrofon, während ihr Blick ihn aufs Neue einfing.
Diese hellblauen Augen schienen sie immer wieder in ihren Bann zu ziehen.
Sie hatte tatsächlich noch nie Schönere gesehen.
»Gut. Kommen wir zum letzten Song.« , rief Mark laut ins Mikrofon und riss sie damit aus ihren Gedanken.
Eliana zuckte zusammen und visierte einen hellen Punkt, um sich wieder zu konzentrieren. »Lass mich ziehen.« , sagte sie schnell und tänzelte zu Mark hinüber.
Mit einer fließenden Bewegung griff sie in den Kessel, zog einen Zettel heraus und faltete ihn langsam auf. Sie ließ ihren Blick über die krakelige Schrift wandern, und bevor sie es wirklich registrierte, suchten ihre Augen erneut den Jungen an der Theke.
Ihre Blicke trafen sich. Es wäre kitschig zu sagen, dass in jenem Moment die Welt stillstand, aber ... für Eliana war es in diesem Augenblick so, als würden nur sie zwei existieren. Ihre Haut kribbelte. Ein Lächeln erschien auf ihren Lippen, doch gleichzeitig spürte sie, wie ihr Herz schneller zu schlagen begann.
Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe und drehte sich zu Mark um, der sie fragend ansah.
»Und?« , fragte er mit einer hochgezogenen Augenbraue.
»Oh … warte.« , sprach Eliana und zeigte ihm den Zettel, bevor sie zu ihren Freundinnen trat. »Das ist seiner.« , flüsterte sie, ohne zu zögern.
Nora, die gerade ihre Gitarre stimmte, zog zweifelnd eine Braue hoch. »Sicher?«
Eliana nickte. »Ja. Ich bin mir sicher.«
»Woher willst du das wissen?« , hakte sie nach und ließ ihren Blick kurz über die Theke gleiten, wo der Junge gerade mit seinem blonden Freund sprach.
Eliana zuckte mit den Schultern. »Ich hab’s im Gefühl.« , antwortete sie leise und hielt das Mikrofon leicht zur Seite. »Ihr habt den Song drauf, oder? Den dürfen wir nich´ verkacken.«
Mark grinste und nickte. »Klar, den kriegen wir hin.«
Sie atmete tief durch, entspannte sich und gab das Zeichen. Noras E-Gitarre setzte mit den ersten Akkorden ein, gefolgt von Lisas Schlagzeug. Kaum begann die Musik, leuchteten die Augen des Jungen auf.
Sie hatte recht.
Es war sein Zettel.
Der Song war Boom Boom Boom von John Lee Hooker, ein Bluesklassiker, den Eliana schon seit Jahren beherrschte. Sie hatte ihn auf der Gitarre gelernt, als sie gerade anfing, mit Musik zu experimentieren. Die rauen, treibenden Klangfarben passten perfekt zu ihrer Stimme ... dunkel, etwas rauchig, und doch voller Wärme.
Während sie sang, wanderten ihre Augen immer wieder zu ihm.
Er beobachtete sie, sein Blick war durchgehend ... ohne Unterbrechung. Er hatte ein Lächeln auf den Lippen, das fast zurückhaltend wirkte, aber dennoch tief empfunden war.
Der große Blonde neben ihm beugte sich immer wieder zu ihm hinüber, flüsterte etwas, und der Junge nickte oder schüttelte leicht den Kopf. Eliana hätte alles dafür gegeben, zu wissen, worüber sie sprachen.
Als der letzte Ton allmählich zu Ende ging, brach Applaus auf, und die Sängerin trat einen Schritt zurück. Sie verbeugte sich leicht mit den anderen, das Adrenalin noch immer in ihrem Körper.
»Hättest du je gedacht, dass wir so gut bei den Leuten ankommen?« , fragte Mark leise und stieß sie mit einem Lächeln an.
Eliana verneinte es und ihre Augen suchten unwillkürlich wieder die Theke. Doch etwas war in diesem Augenblick anders. Der Blonde sprach intensiv auf den Jungen ein, der jedoch nur die Schultern zuckte und vehement den Kopf schüttelte.
Dann stand er plötzlich auf.
Elianas Herz setzte für einen Moment aus.
Wollte er gehen?
Sie konnte nicht aufhören, ihn zu beobachten, wie er Richtung Ausgang lief.
Eine Flut der Enttäuschung überkam sie.
Sie hatte gehofft, dass dies endlich die Gelegenheit sein könnte, mit ihm zu sprechen. Sie hatte schließlich seinen Song gesungen ... das war doch kein Zufall. Es hätte ein perfekter Einstieg sein können.
Trotz alledem schien es in dieser Sekunde, als würde er flüchten wollen.
Ihr Blick wanderte zurück zum Schanktisch. Sein Freund blieb stehen und sprach kurz mit Paul. Dann, fast wie in Zeitlupe, sahen beide direkt zu ihr auf die Bühne.
Hatte sie etwas falsch gemacht?
Eliana fühlte, wie ihre Hände das Mikrofon ein klein wenig fester umklammerten.
Hatte sie den Song nicht gut genug performt? War er enttäuscht von ihr?
Sie dachte an die letzten Minuten zurück. Sie hatte gesungen, gelächelt, ihm in die Augen gesehen ... und er hatte doch gestrahlt. Es hatte ihm gefallen. Davon war sie überzeugt. Warum war er dann so abrupt gegangen?
Ihre Gedanken rasten, während sie weiterhin in die Richtung der Tür sah. Als diese sich erneut öffnete, bemerkte sie ihn draußen im Flur. Er lehnte an der Wand, ... eine Zigarette zwischen den Lippen.
Gerade, als die Tür ins Schloss fallen wollte, hielt sein Freund sie auf und sprach mit ihm. Doch der Junge schüttelte wie gehabt nur den Kopf und sah plötzlich wieder direkt zu ihr.
~ Lass uns gehen. ~
Eliana konnte die Worte von seinen Lippen ablesen, und sein Blick bestätigte nur, was sie gedacht hatte.
Er deutete hinaus, und sein Freund folgte ihm. Kurz darauf schloss sich die Tür hinter ihnen, und sie waren verschwunden.
Für einen Moment konnte sie nur dastehen und in die Richtung starren, in die sie abgerauscht waren. Anschließend ließ sie ihren Kopf leicht sinken und zog die Lippen ein.
Ein wildes Durcheinander von Gedanken tobte in ihr, während alle anderen freudig um sie herum die Getränke von Paul annahmen.
Vielleicht hatte sie sich alles nur eingebildet. Möglicherweise waren die beiden wirklich ein Paar, wie Nora manchmal scherzhaft aussprach, um sie zu ärgern.
»Hier ... nimm.« Die Blondine hielt ihr ein Glas hin, was sie gedankenverloren nur annahm, aber nicht ansetzte.
Hatte sie sich tatsächlich geirrt?
Hatte er sie nur angesehen, weil sie die Sängerin der Band war?
Irgendwie schien es in diesem Moment logisch zu sein. Sie war auf der Bühne ... natürlich sah man sie auch ohne Hintergedanken an.
Ein leises enttäuschtes Ein- und Ausatmen entfleuchte ihr.
Warum musste ausgerechnet ihr das geschehen?
Eliana schlurfte die Stufen hinauf, während sie das leise Lachen und die Musik aus der Bar hinter sich ließ. Sie zog die Wohnungstür auf und atmete tief ein.
Die Gedanken verschwanden nun mal nicht.
Sie warf ihre Schuhe, ohne weiter darüber nachzudenken auf den Fußboden und blieb einen Moment stehen. Ihr Blick wanderte zu dem Wohnraum und sie sah schon fast hypnotisiert auf die Bewegungen des Vorhangs, welche aufgrund des offenen Fensters zustande kamen.
Waren seine Blicke wirklich nur ein Zufall?
War sie in der Tat so blind und voller Hoffnung gewesen, weil sie ihn einfach zu schnuckelig fand?
Sie wanderte ins Badezimmer. Mit einem leisen Knall schloss sie die Tür, machte sich frisch, zog sich schnell um und schlüpfte in ihr gewohntes Nacht-Outfit ... Panties und ein lockeres Top.
Eliana war jedoch nicht müde genug, um gleich ins Bett zu gehen. Ihr Kopf war einfach zu voll und die Vorstellungen stoppten nun mal nicht ab.
Stattdessen ging sie in die Küche, öffnete eine Schublade und zog ihre kleine Holzkiste hervor. Die Kiste war alt und verkratzt, mit eingeritzten Mustern, die sie in einem Moment der Langeweile selbst hineingeschnitzt hatte.
Die Nachtluft war kühl, als sie auf den Balkon trat. Sie setzte sich auf einen der alten, aber bequemen Stühle. Die Stadt unter ihr war noch nicht leise. Doch wann war sie es schon?!
Sie öffnete die Kiste und nahm alles heraus, was sie benötigte ... Papers, Filter-Tips, ein wenig Tabak und Cannabis. Mit geübten Bewegungen begann sie, einen Joint zu drehen, wobei sie leise vor sich hin summte.
Der Song Boom Boom Boom von John Lee Hooker war noch immer in ihrem Kopf. Es war nicht nur die Melodie, die hängen geblieben war. Es war die Tatsache, dass es sein Lied gewesen war. Der Gedanke daran ließ ihre Finger kurz innehalten, bevor sie weiterrollte.
Sie verstand einfach nicht, warum er so abrupt abgehauen war.
Gerade, als sie den Joint fertig gebaut hatte und das Papier mit einem leichten Hauch anleckte, hörte sie ein Geräusch hinter sich. Erschrocken zuckte sie zusammen und drehte sich um.
Mark stand in der Türeinfassung, die Hände gelassen in den Hosentaschen und ein eindeutiges Grinsen im Gesicht. »Das gute Zeug nur für dich allein?«
Eliana ließ sich entspannt zurück in den Stuhl sinken. »Ist ja auch mein Vorrat.« Trotzdem reichte sie ihm den Joint, und er setzte sich neben sie, bevor er diesen mit einem Feuerzeug anzündete.
Der Rauch stieg in die Luft, während Mark tief inhalierte. Er hielt den Atem an, blies dann eine dichte Rauchwolke aus und sah sie mit diesem wissenden Blick an, den sie manchmal an ihm hasste. »Warum hast du ihn nicht angesprochen?« , erkundigte er sich schließlich, ... die Marihuanazigarette hatte er dabei noch immer zwischen den Fingern.
Eliana wich seinem Blick aus und zuckte mit den Schultern. »Was?« , fragte sie abwehrend, als wüsste sie nicht, worauf er hinauswollte.
»Der Typ, auf den du stehst. Der, der direkt nach dem Auftritt geflüchtet ist.« Sie antwortete nicht, sondern streckte nur die Hand aus, damit er ihr den Joint zurückgab. »Ja meinst du etwa, ich bekomme das nicht mit?« , fuhr er fort. »Du trällerst da oben Songs wie ein verknallter Teenie. Glaub mir, ich hab Augen im Kopf.«
»Übertreib mal nicht.« , sagte Eliana und lachte trocken, obwohl ihr das Thema unangenehm war.
Mark lehnte sich zurück und legte einen Arm über die Lehne seines Stuhls. »Ich kenn´ deinen Typ. Lukas hatte auch so eine punkige Art. Klar, der war ein bisschen wilder, aber da warst du doch auch voll drauf abgefahren.«
Eliana lächelte schwach.
Lukas. Ihr erster und bisher einziger Freund.
Sie zog einen tiefen Zug vom Joint und ließ den Rauch langsam aus ihren Lungen entweichen.
Ihre Gedanken reisten zurück in die Vergangenheit.
Lukas war anders gewesen. Rebellisch. Laut.
Sein roter Irokesenschnitt hatte sie damals sofort begeistert, genauso wie seine abgewetzten Lederjacken und seine mühelos coole Art.
Sie erinnerte sich noch genau daran, wie ihre Mutter einen regelrechten Anfall bekommen hatte, nachdem sie ihn das erste Mal mit nach Hause brachte. Dieser Junge? Sie hatte es damals kaum fassen können, denn er passte keineswegs in die Welt, die für ihre werte Tochter vorgesehen war.
Aber für Eliana war er zu diesem Zeitpunkt, das gewesen, was sie wollte. Eine Zuflucht.
Lukas hatte ihr gezeigt, wie man Musik nicht nur spielte, sondern fühlte. Er hatte sie inspiriert, motiviert und immer wieder zum Lachen gebracht.
Fast zweieinhalb Jahre waren sie zusammen gewesen, bevor sich ihre Wege trennten.
Es war keine dramatische Trennung erfolgt, sondern das Ergebnis davon, dass sie sich einfach in unterschiedliche Richtungen entwickelt hatten. Trotzdem war Lukas fortwährend irgendwie präsent geblieben ... der Kontakt war weiterhin vorhanden.
Eliana schwieg.
Mark hatte schon recht. Dieser Junge mit den Locken hatte einen Hauch von Punk in sich, wenn sie sein äußeres Erscheinungsbild näher erläutern müsste.
»Ich weiß doch gar nicht, wie er mich findet.« , sagte sie schließlich leise, während ihre Gedanken wieder konstant bei dem Jungen mit den hellblauen Augen blieben.
Mark schnaufte amüsiert. »Ist dem nicht immer so?«
Eliana druckste herum. »Trotzdem. Ich kann ihn doch nicht einfach ansprechen. Für was hält er mich dann?«
»Für eine selbstbewusste junge Frau, die du ja auch eigentlich bist.« , entgegnete Mark direkt. Eliana atmete tief ein, und eine kleine Pause entstand, bevor ihr Kumpel sich aufrichtete und den Joint zu Asche schnippte. »Wenn er es nicht macht, musst du es machen. So einfach ist das.«
Eliana biss sich auf die Unterlippe. »Manchmal nervst du.« , gab sie an, aber ein minimales Lächeln schlich sich auf ihre Lippen.
»Das ist mein Job.« , erwiderte Mark, stand auf und streckte sich. »Ich geh´ jetzt pennen. Überleg dir mal, ob du die nächsten Tage ein bisschen mutiger bist.«
Eliana sah ihm nach, wie er in die Wohnung zurückging, bevor sie ihren Blick wieder auf die Lichter der Stadt richtete.
Vielleicht hatte er recht.
Je nachdem sollte sie mutiger sein.
Sie zog noch ein paar Mal, stand auf, und brachte die Holzkiste zurück in die Küche, eh sie in ihr Zimmer ging. Im Spiegel betrachtete sie ihre leicht geröteten Augen und ihre zerzausten Haare.
Morgen war ein neuer Tag. Vielleicht würde er ja trotz seiner Flucht wieder in der Bar sein.
Mit diesem Empfinden kroch sie ins Bett, legte sich seitlich mit einem Bein angewinkelt hin und schloss die Augen.
Julian saß im Auto und trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad herum.
Die Sonne war gerade erst aufgegangen, und die Straßen waren noch teilweise ruhig. Es war eine hirnrissige Situation, in der er sich befand, aber er hatte einfach keine andere Wahl gesehen. Neo hatte ihn gestern fast in den Wahnsinn getrieben.
Seit Wochen hatte er nur ein Thema.
Eliana.
Diese Eliana, die ihn völlig aus der Bahn warf.
Gestern Abend war es wieder passiert. Sein Song wurde gesungen, die perfekte Gelegenheit, mit ihr zu sprechen ... doch statt zu handeln, war Neo aufgesprungen und einfach verschwunden. Die ganze Heimfahrt mit ihm hatte sich wie eine Endlosschleife angefühlt.
Immer wieder hatte Neo seine Unsicherheit geäußert.
Julian konnte es nicht mehr hören.
Wenn sein bester Freund es nicht schaffte, die Sache in die Hand zu nehmen, dann musste er es eben tun.
Er war früh hierhergekommen, hatte sich in sein Auto gesetzt, seine Redbull-Dose geöffnet und gewartet.
Ja.
Warten war sein Plan.
Er wusste nicht genau, wann Eliana das Haus verlassen würde ... oder ob überhaupt, ... aber er wollte vorbereitet sein, falls sie auftauchte.
Während er einen weiteren Schluck aus der Dose nahm, klopfte es plötzlich und unerwartet laut an seine Scheibe. Er zuckte zusammen, und der Rest seines Getränks landete aufgrund dessen auf seiner Jeans. »Verdammt.« , fluchte er leise und stellte die Blechbüchse in die Halterung. Er ließ das Fenster herunter, nur um Paul vor sich zu sehen, der mit einem breiten Grinsen in das Auto schaute.
»Und? Wen observierst du in der frühen Morgenstunde?« , fragte dieser und beugte sich dabei leicht vor, um einen besseren Blick ins Wageninnere zu werfen.
»Niemanden.« , log Julian schnell und versuchte, die Flecken auf seiner Hose unauffällig abzuwischen. »Ich war ... zufällig hier und wollte in Ruhe ... na ja ... ähm ... frühstücken.«
Paul hob skeptisch eine Augenbraue und visierte den Energy-Drink. »Aha.« Er klang nicht überzeugt, ließ es aber darauf beruhen. Stattdessen deutete er mit dem Kopf auf den Laster, der hinter dem Wagen parkte. »Wenn du schon mal hier bist, kannst du mir beim Ausladen helfen, Jung.«
Julian wusste, dass er keine Wahl hatte. Er atmete tief ein und aus, eh er ausstieg, und Paul zum Laster folgte, wo Pascal, der üblicherweise hinter der Theke arbeitete, bereits mit den Fässern kämpfte. Sein hellblondes Haar lag zerzaust über der Stirn, und trotz der Anstrengung schien sein kantiges Gesicht fast ungerührt. Die kristallklaren Augen, die jedem Gast hinter der Bar auffielen, waren jetzt konzentriert auf die schwere Last gerichtet.
»Neue Lieferung?« , fragte Julian und griff sich eine Sackkarre.
»Neue Fässer für die Bar.« , erklärte Paul. »Die müssen ins Lager.«
Pascal fluchte leise, während er versuchte, eine festgezogene Kordel zu lösen. »Verdammtes Scheißteil.« , murrte er, bis Julian ihm ein Feuerzeug reichte. Mit einem kurzen Flammenstoß hatte der junge Barkeeper das Problem gelöst, und sie starteten damit, die schweren Fässer auf die Sackkarre zu laden.
Sie brachten die ersten Bottiche ins Lager, und Julian begann, sich derweil zu fragen, warum er sich auf diese Situation eingelassen hatte. Doch bevor er sich weiter beschweren konnte, hörte er plötzlich lautes Gelächter von oben.
Er sah zur Treppe, und in diesem Moment erschienen Mark, Mara und Eliana. Julian achtete allerdings direkt auf die Sängerin der Band, die als Schlusslicht die Stufen hinabkam.
Sie sah sich erst einmal nicht ganz anwesend um, doch ihr Blick blieb sofort an ihm hängen. Für einen Moment schien sie überrascht, dann fast enttäuscht, nachdem sie sich noch ein weiteres Mal umsah und anscheinend nicht denjenigen sah, den sie gerne sehen wollte.
Paul nutzte die Abwesenheit von Neo, um dessen Position kurzfristig zu stärken. Mit einem entschlossenen Blick wandte er sich an die Gruppe und zeigte auf den hier Anwesenden des Duos. »Das ist Julian. Der Sohn eines guten Freundes von mir.« Er deutete nun auf die drei Mitglieder der Band. »Das hier sind Mark, Mara und Eliana.«
Julian versuchte, so entspannt wie möglich zu wirken. »Hi. Freut mich.« , sagte er und schüttelte jedem die Hand.
Mark grinste. »Du bist doch ziemlich oft hier, oder?« Sein Blick fiel dabei kurz zu Eliana.
Julian nickte. »Ja genau.« Anscheinend waren Neo und er bereits aufgefallen, aber ... was anderes hatte er im Übrigen eh nicht erwartet.
Paul, der weiterhin unter die Arme greifen wollte, rief Mark zurück zum Laster, um beim weiteren Ausladen zu helfen. Auch Mara folgte auf Anhieb.
Eliana und Julian blieben im Hausflur.
Sie lächelte ihn an. »Ihr macht gute Musik.« , sagte er, um das Schweigen zu brechen.
»Danke.« , antwortete sie leise und biss sich verlegen auf die Unterlippe. Er überlegte währenddessen, wie er das Gespräch weiterführen konnte, ohne sich dabei zu sehr zu verraten. »Es ist ungewohnt, dich alleine zu sehen. Ich meine, du bist sonst immer mit deinem Freund …« , gab sie unerwartet die richtige Richtung an.
»Neo. Ja. ... genau. Eigentlich ... ist er immer mit von der Partie.«
»Neo.« , sagte sie leise und ein wenig, als würde sie geradeswegs ins Traumland katapultiert werden.
Er hatte also richtig gedeutet. Sie war genauso Feuer und Flamme für ihn, wie er von ihr.
»Er ist mein bester Freund.« , fügte er dem zusätzlich hinzu.
»Er ist nicht hier?« , erkundigte sie sich und sah sich ein weiteres Mal um.
»Nein, der schläft bestimmt noch.« , antwortete Julian und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Aber … vielleicht hättest du ... also ihr, die Band ... Lust, nach der nächsten Show mal mit uns noch etwas zu trinken ... und so ... also ...«
Ihr Lächeln wurde auffallender. »Gerne.«
»Cool.« , gab er spürbar erleichtert von sich.
Doch dann wurde Eliana nachdenklich und er runzelte sofort selbst die Stirn. Was ging in ihr vor? »Weiß er das? Also … Neo? Ist das okay für ihn?« , kam schließlich zögerlich aus ihr heraus.
Julian lachte leise. »Ja, keine Sorge. Das ist mehr als in Ordnung für ihn.«
»Kommst du jetzt mit zum Bäcker?« , rief Mark ins Innere.
Eliana nickte ihm zu, eh sie sich wieder an Julian wendete. »Wir sehen uns dann später.«
»Auf jeden Fall.« , antwortete er.
Mit einem letzten Lächeln verabschiedete sie sich und ging nach draußen, wo Paul mit Mark und Mara am Laster stand.
Julian blieb noch einen Moment stehen. Er hatte es geschafft. Der erste Schritt war endlich getan.
Er atmete tief durch und ging nun ebenso wieder zurück ins Freie.
»Ich denke, deine Arbeit ist hiermit erledigt.« Paul zwinkerte ihm zu.
»Ja ... endlich.« , lächelte er und steuerte seinen Wagen an.
Er setzte sich hinein, griff nach seiner Dose Red-Bull und lehnte sich zurück. Ein kleines Lächeln spielte auf seinen Lippen. Er hatte den Stein ins Rollen gebracht. Jetzt musste Neo nur noch den Rest übernehmen.
Julian und Neo betraten die Bar.
Das Lokal war bereits gut gefüllt.
Julian hatte Neo mit Absicht nichts von seinem Gespräch mit Eliana erzählt. Er wusste nicht, wie sein bester Freund darauf reagieren würde, und ehrlich gesagt, hatte er Angst, dass Neo wieder die Flucht ergreifen könnte, so wie die letzten Male.