Gabe an die Unterwelt / Zweiundzwanzig Lebensläufe - Marcel Schwob - E-Book

Gabe an die Unterwelt / Zweiundzwanzig Lebensläufe E-Book

Marcel Schwob

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Marcel Schwob schrieb historische Romane, Legenden, psychologische Essays und übersetzte Shakespeare und Defoe. Die in dieser Ausgabe enthaltenen Werke ›Gabe an die Unterwelt‹ und ›Zweiundzwanzig Lebensläufe‹ gehören neben dem ›Buch Monelle‹ zu seinen schönsten Dichtungen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 314

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marcel Schwob

Gabe an die Unterwelt / Zweiundzwanzig Lebensläufe

Aus dem Französischen übertragen von Jakob Hegner (Übertragung des Kinder-Kreuzzuges von Arthur Seiffhart)

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Jakob Hegner

 

Inhalt

Gabe an die UnterweltDie MimenProlog [τέττιξ · διόπτρον · ἄνϑος]Mime I: Der Koch [μάχαιρα]Mime II: Die falsche Verkäuferin [ἔγχελυς]Mime III: Die Holzschwalbe [χελιδών]Mime IV: Das Wirtshaus [ϰόρεις]Mime V: Feigenmalerei [συϰη̑]Mime VI: Der bekränzte Krug [ὑάϰινϑος]Mime VII: Der verkleidete Sklave [μάστιξ]Mime VIII: Die Nacht der Hochzeit [λύχνος]Mime IX: Die Verliebte [φάσηλος]Mime X: Der Seemann [ϰόγχη]Mime XI: Die sechs Töne der Flöte [συ̑ριγξ]Mime XII: Der Samoswein [λήϰυϑος]Mime XIII: Die dreifache Flucht [μη̑λου]Mime XIV: Der Tanagraschirm [πηλός]Mime XV: Kinne [στήλη]Mime XVI: Sisme [δαϰτύλιος]Mime XVII: Die Grabesgaben [ποτήριον]Mime XVIII: Hermes, der die Seelen geleitet [ὁδός]Mime XIX: Der Spiegel, die Nadel und der Mohn [ϰόρη]Mime XX: Akme [ϰαρδία]Mime XXI: Der erwartete Schatten [πόπανον]Epilog [ἀσφόδελος, μέλισσα, δάφνη]Der KinderkreuzzugErzählung des GoliardErzählung des AussätzigenErzählung Papst Innocenz’ III.Erzählung dreier kleiner KinderErzählung des Schreibers François LonguejoueErzählung des KalandarsErzählung der kleinen AllysErzählung Papst Gregors IX.Der SternenbrandIIIIIIDie Gabe an die UnterweltDie VampireDie LeichenfrauenBeataArachneLilithDer HolzschuhZweiundzwanzig LebensläufeVorwortEmpedoklesHerostratKratesSeptimaLukrezClodiaPetronSufrahFrate DolcinoCecco AngiolieriPaolo UccelloKlaus LoyseleurKathrein, die SpitzenklöpplerinAlain, der NetteGabriel SpenserPokahontasCyril TourneurWilliam PhipsDer Kapitän KidWalter KennedyDer Major Stede BonnetDie Herren Burke und HareNachwort von Jakob HegnerFabelbild des Marcel Schwob und seine Grabschrift

Gabe an die Unterwelt

Die Mimen

Prolog [τέττιξ · διόπτρον · ἄνϑος]

Der Dichter Herondas, der auf der Insel Kos unter dem alten König Ptolemäus lebte, sandte mir einen zarten unterweltlichen, mit der irdischen Liebe nicht unvertrauten Schatten zu. Mein Zimmer füllte sich mit Myrrhe; und ein leichter Hauch wehte mir kalt an die Brust. Mein Herz wurde gleich dem Herzen der Toten: ich vergaß mein gegenwärtiges Leben.

Der liebevolle Schatten zog aus dem Faltenwurf seiner Tunika einen sizilischen Käse, einen dünnen Korb mit Feigen, eine kleine Amphora mit rotem Wein und eine Zikade von Gold. Sogleich kam mir der Wunsch, Mimen niederzuschreiben, und meine Nasenflügel fühlten den Kitzel des Fettgeruchs von frischer Wolle, den saftigen Schwaden der Küchen von Agrigent und den herben Duft der Syrakuser Fischerläden. In den schimmernden Straßen der Stadt wandelten hochgeschürzt Köche, Flötenspielerinnen mit köstlichen Kehlen, Kupplerinnen, die Wangen zerknittert, und Sklavenhändler mit dicken Besitzerbacken. Über die blauschattenden Weidengründe glitten Hirten pfeifend vorüber, in der Hand die Pansflöte, deren Schilfrohr von Wachs erglänzte, und Milchmädchen, mit roten Blüten bekränzt.

Doch der liebevolle Schatten achtete nicht meiner Gesichte. Er wandte seinen Kopf in die Nacht und zog aus dem Faltenwurf seiner Tunika einen goldenen Spiegel, reifen Mohn, einen Strauß Asphodelen und reichte mir eine der Binsen, wie sie an den Ufern des Lethestromes wachsen. Sogleich kam mir der Wunsch, weise zu werden und die irdischen Dinge zu erkennen. Da schaute ich in dem Spiegel das durchsichtig schwankende Bild der Flöten und der Becher, der steil zugespitzten Hüte, der muntern Mienen mit geschwungenen Lippen, und der dunkle Sinn der Gegenstände ward mir offenbar. Da beugte ich mich über den Mohn, biß in die Asphodelenblätter, mein Herz wurde übergossen von Vergessen, und meine Seele faßte nach der Hand des Schattens, um hinabzuschwinden in den Hades.

Der stille zarte Schatten ging mit mir lange durch das schwarze Gras, wo sich unsre Füße an den Kelchen des Safrans färbten. Und da tat es mir leid um die Inseln im purpurnen Meer, um die mit Stranddisteln gestreiften Gestade Siziliens, leid um das weiße Licht der Sonne. Und der liebevolle Schatten verstand meine Sehnsucht. Er berührte meine Augen mit seinen finstern Fingern, und ich sah Daphnis und Chloe wieder aufsteigen zu den Gefilden von Lesbos. Und ich empfand mit ihnen ihren Schmerz, wie sie in der Erdennacht die Bitternis ihres zweiten Lebens erduldeten. Und die Bona Dea begnadete den Daphnis mit der Gestalt des Lorbeerbaumes und die Chloe mit der Anmut der grünen Weide. Sogleich ward mir die Stille der Pflanzen innerlich faßbar und die Lust der regungslosen Stengel.

Da sandte ich dem Dichter Herondas neue Mimen, duftend von dem Dufte der Frauen von Kos und dem Dufte der fahlen Unterweltsblumen und auch dem Dufte der biegsamen wilden Pflanzen der Erde. Also war es der Wille dieses zarten Schattens aus der Unterwelt.

Mime I: Der Koch [μάχαιρα]

So in in der einen Hand einen silbernen Meeraal, in der andern mein breites Küchenmesser, komme ich vom Hafen nach Hause zurück. Der war an den Kiemen aufgehängt über der Ladenbank einer Verkäuferin mit ganz lichten Haaren, und sie roch betäubend nach See. Mit zehn Drachmen habe ich heute morgen meinen Einkauf auf dem Fischmarkt erledigt: außer dem Meeraal gab es bloß kleine Schollen, magere Sandfische und Sardinen, die man nicht einmal den Hopliten auf den Wällen vorsetzen dürfte. Jetzt aber will ich ihn aufschlitzen; er windet sich wie ein lebender Peitschenriemen; dann lasse ich ihn in der Lake ziehn, und den Küchenjungen, die das Feuer anzünden, drohe ich inzwischen mit der Fischgabel.

Bringt Kohlen herbei! facht die Glut an: es sind Pappelzweige; ihre Funken werden euch schon keine Tränen kosten. Aber seht doch, eure Schädel sind so leer wie die aufgeblähte Fischblase dieses Meeraals: soll ich ihn etwa auf die Erde tun? Reicht mir ein Sieb. Schert euch zu den Raben! Hier das Salbeikraut taugt nichts, Glaukon: ich will es dir in den Mund stopfen, wenn du erst gekreuzigt bist. Mögt ihr alle miteinander zerplatzen wie Saubäuche, übervoll von Mehlmast! Die Ringe! Die Haken! Und du, jeden Abend leckst du die Kochtöpfe bis auf den Boden aus und hast doch den zerstoßenen Knoblauch von gestern dringelassen! Die Stampfe soll dich ersticken und dir die Widerrede versalzen!

Der Meeraal, das wird ein mürbes Fleisch sein. Er wird von Feinschmeckern gegessen werden: Aristipp, der mit Rosen im Haar ankommt, Hylas, dessen Sandalen sogar mit rotem Puder durchgefärbt sind, und mein Herr Parneios mit dem Schmuck von getriebenem Gold. Ich weiß, daß sie in die Hände klatschen werden, wenn sie ihn kosten, und sie werden mir erlauben zu bleiben, gegen die Tür gelehnt, und die geschickten Beine der Tänzerinnen mit anzusehn und die Mädchen, die die Gitarre spielen.

Mime II: Die falsche Verkäuferin [ἔγχελυς]

A: Ich lasse dich züchtigen, ja, mit Ruten lasse ich dich züchtigen. Deine Haut wird mit Flecken besät sein wie die Schürze einer Kinderfrau. – Sklaven, führt sie ab; verabfolgt ihr zuerst Prügel auf den Leib; wendet sie um wie eine Scholle und prügelt sie weiter auf den Rücken! Hört nur; versteht ihr, was sie redet? – Willst du wohl still sein, du Unglücksvieh?

B: Und was habe ich verbrochen, daß ich den Häschern ausgeliefert werde?

A: Ei, ein ganz unschuldiges Kätzchen; es will gemütlich verdaun und mollig liegen. – Sklaven, tragt diese Fische in euern Körben fort. – Warum verkaufst du Lampreten, da die Behörden es verboten haben?

B: Das Verbot war mir unbekannt.

A: Hat es der öffentliche Ausrufer nicht mit lauter Stimme auf dem Markt verkündet und vorher »Ruhe« gefordert?

B: Ich habe niemand »Ruhe« fordern hören.

A: Du treibst Spott, du Dirne, mit den Verordnungen der Stadt. – Dies Weib will die Herrschaft stürzen. Entkleidet sie, damit ich sehe, ob sie nicht einen Pisistratus verbirgt. – Ah! ah! du warst soeben noch ein Weib. Seht einmal an, seht nur. Sicherlich, das ist eine neue Art von Verkäuferin. Haben so dich deine Fische lieber oder deine Käufer? – Laßt ihn nur nackt dastehn, diesen jungen Mann: das Gericht möge entscheiden, wie man bestraft wird, wenn man im Laden, als Frau verkleidet, verbotene Fische verkauft.

B: O Häscher, habe Mitleid mit mir und höre mich an. Ich liebe leidenschaftlich ein junges Mädchen, das der Sklavenhändler von der Maceria longa in Gewahrsam hält. Er will sie für zwölf Minen verkaufen, und mein Vater verweigerte mir das Geld. Ich bin zu oft um das Haus herumgeschlichen, und man schließt sie ein, um mir ihren Anblick zu verwehren. Sogleich wird sie auf dem Markt erscheinen mit ihren Gefährtinnen und ihrem Herrn. Ich habe mich derart verkleidet, um mit ihr sprechen zu können; und um ihre Aufmerksamkeit zu erwecken, verkaufe ich Lampreten.

A: Wenn du mir eine Mine dafür gibst, lasse ich deine Freundin mit dir zusammen ergreifen, weil sie deinen Fisch kauft, und werde so tun, als wollte ich euch beide anzeigen, dich als Verkäuferin, sie als Käuferin; dann, wenn ihr bei mir zu Hause eingeschlossen seid, könnt ihr euch beide bis zum nächsten Tagesanbruch über den geizigen Händler lustig machen. – Sklaven, gebt dieser Frau ihr Gewand zurück – denn es ist eine Frau (habt ihr es nicht bemerkt?), und ihre Lampreten sind gar keine richtigen Lampreten – beim Hermes, es sind mächtig dicke glänzende Aale (habt ihr mir das nicht gleich sagen können?). – Geh, du Unverschämte, an deinen Stand zurück und hüte dich, etwas zu verkaufen, denn noch bist du mir verdächtig. – Da ist das junge Mädchen; bei Aphrodite, wie schmiegsam ihre Lenden; ich werde eine Mine verdienen und vielleicht, wenn ich diesem jungen Menschen Angst einjage, dazu noch die Hälfte eines Betts.

Mime III: Die Holzschwalbe [χελιδών]

Öffne uns! Kind, Kind, öffne uns! Es sind die Jungen der Holzschwalbe. Sie ist bemalt: der Kopf rot, die Flügel blau. Wir wissen, daß die wirklichen Schwalben nicht so aussehn; und, bei Philomele, da fliegt eine und geradeaus in den Himmel; aber die unsre ist von Holz. Kind! öffne uns! öffne uns, Kind!

Wir sind hier zehn, zwanzig und dreißig, die die bemalte Schwalbe mitbringen, damit sie euch die Rückkehr des Frühlings verkünde. Es gibt noch keine Blüten, aber nehmt diese weiß und rosenroten Zweige. Wir wissen, daß ihr auf dem Herd eine gefüllte Geflügelbrust habt und Rüben in Honig: und euer Sklave hat gestern Quitten gekauft, um sie in Zucker einzulegen. Habt acht auf euern Schmaus; wir bitten nur um wenig. Geröstete Nüsse! geröstete Nüsse! Kind, gib uns Nüsse! gib uns Nüsse, Kind!

Die Schwalbe hat den Kopf rot wie der junge Osten und die Flügel blau wie der Himmel im Neumond. Freut euch an ihr! Die Säulenhallen werden Kühle gewähren und die Bäume ihren Schatten auf die Wiesen malen. Unsre Schwalbe verspricht euch eine Menge Wein und Öl. Gießt das Öl vom vergangenen Jahr in unsre Krüge und den Wein in unsre Amphoren; denn – vernimm, o Kind – die Schwalbe sagt, daß sie dran nippen will! Gieß ein, gib Wein und Öl für unsre Holzschwalbe!

Ihr habt vielleicht früher einmal, als ihr Kinder wart, die Schwalbe umhergeführt wie wir. Sie nickt zum Zeichen, daß sie sich dessen erinnert. Laßt uns nicht an euerm Tor bis zu den Fackeln am Abend warten. Spendet uns Früchte und Käse. Wenn ihr freigebig seid, wollen wir das Nachbarhaus aufsuchen, wo der Geizige mit den fuchsigen Augenbrauen wohnt. Die Schwalbe wird ihm seinen Hasenbraten abverlangen, seine golden überstaubte Torte, seine gebratenen Drosseln, und wir werden ihn bitten, uns Silberstücke zuzuwerfen. Er wird die Brauen hochziehn und den Kopf schütteln. Wir wollen unsre Schwalbe ein Lied lehren, darüber ihr lachen sollt. Durch die ganze Stadt wird sie die Geschichte zwitschern von der Frau eines Geizhalses mit fuchsigen Augenbrauen.

Mime IV: Das Wirtshaus [ϰόρεις]

Herberge, voll von Wanzen, der bis aufs Blut gepeinigte Dichter entbietet dir seinen Gruß. Nicht um dir Dank zu sagen, weil du ihn eine Nacht lang beschirmt hast, am Rand eines dunkeln Weges; die Straße ist schmutzig wie die, die zum Hades führt – zwar sind deine Wackelbetten zerbrochen, deine Lichter schwelen Ruß; dein Öl ist ranzig, dein Brotladen voll Schimmel, und seit dem letzten Herbst hausen kleine weiße Würmer in deinen hohlen Nüssen. Aber der Dichter ist sogar den Schweinehändlern dankbar, die von Megara nach Athen zogen, mit ihrer Herde, deren Gegrunz ihn am Schlafen hinderte (deine Verschläge, Herberge, sind dünn), und er bedankt sich auch bei deinen Wanzen, die ihn wach hielten, indem sie ihn von oben bis unten zerbissen, als sie in dichten Zügen auf den Bettgurten vorwärts drangen.

Er wollte nämlich, da ihn der Schlaf floh, durch eine Luke im Mauerwerk das weiße Licht des Mondes genießen, da sah er einen Mädchenhändler, der an das Tor pochte, sehr spät in der Nacht. Der Händler schrie: »Knabe, Knabe!« aber der Sklave schnarchte auf seinem Bauch; und die Arme überkreuz, hatte er die Ohren mit der Bettdecke verstopft. Da warf der Dichter ein gelbes Gewand über, es war die Farbe wie die von Hochzeitsschleiern; dieses krokusfarbene Gewand war ihm von einem kleinen Freudenmädchen hinterlassen worden, an dem Morgen, da sie geflüchtet war, vermummt in den Umhang eines andern Liebhabers. Also ähnlich einer Magd schloß der Dichter das Tor auf, und der Mädchenhändler ließ eine zahlreiche Schar herein. Das letzte junge Mädchen hatte Brüste so fest wie eine Faust; ihr Preis war auf mindestens zwanzig Minen zu schätzen.

»O Magd«, sagte sie, »ich bin müde; wo ist mein Bett?«

»O meine teure Herrin«, sagte der Dichter, »du siehst, daß deine Freundinnen sämtliche Betten im Hause belegt haben; es bleibt bloß noch die Bettstatt deiner Dienerin; wenn du dich darin ausstrecken willst, tu es nach Belieben.«

Der elende Schuft, bei dem alle diese frischen jungen Mädchen in Nahrung standen, leuchtete mit dem dicken ungeschneuzten Lampendocht dem Dichter ins Gesicht; und als er eine Dienerin sah, weder zu schön, noch zu fein, schwieg er dazu.

Herberge, der bis aufs Blut gepeinigte Dichter sagt dir Dank. Das Mädchen, das heute nacht mit der Dienerin schlief, war weicher als Gänseflaum und ihre würzige Kehle wie eine reife Frucht. Aber alles das, o Herberge, wäre Geheimnis geblieben ohne das geschwätzige Geknarr deiner Bettstatt. Der Dichter fürchtet, daß die Schweinchen von Megara auf diese Art sein Abenteuer erfahren haben. O ihr, die ihr meine Worte vernehmt, wenn das »Quick-Quick« der Schweinchen auf der Agora in Athen euch fälschlich berichtet, daß unser Dichter sich gemeinen Liebschaften hingebe, kommt doch zu der Herberge und seht euch, mit ihren Brüsten so fest wie Fäuste, die Freundin an, die er zu nehmen verstanden hat, zerbissen von den gesegneten Wanzen, in einer Mondnacht.

Mime V: Feigenmalerei [συϰη̑]

Diesen Krug voll Milch will ich der kleinen Göttin meines Feigenbaumes weihn. Ich werde jeden Morgen neue Milch hineingießen, und wenn es der Göttin gefällt, will ich den Krug mit Honig füllen oder mit ungemischtem Wein. So werde ich sie ehren vom Frühling bis zum Herbst; und wenn ein Sturm den Krug zerbricht, kaufe ich einen andern auf dem Topfmarkt, obgleich das Tongeschirr dieses Jahr teuer ist. Dafür bitte ich die kleine Göttin, die den Feigenbaum in meinem Garten hütet, sie möge die Farbe der Feigen ändern. Sie waren weiß, saftig und süß; aber Jola hat sie satt. Jetzt möchte sie rote Feigen haben und schwört, sie würden besser sein.

Es ist nicht natürlich, daß ein Feigenbaum mit weißen Feigen im Herbst rote Feigen trägt; jedoch Jola will es. Wenn ich den Göttern meines Gartens Ehrfurcht erweise; wenn ich ihnen Kränze von Veilchen winde und ihnen Kannen voll Wein und Milch hingieße; wenn ich Mohn für sie ausstreue zu der Stunde, da die Sonne aufglüht auf dem Grat meiner Mauer, durch die Mückenwolken hindurch, die in der Abendluft aufsteigen; wenn ich würdig bin ihrer Freundschaft durch mein frommes Verhalten, dann laß deinen Feigenbaum blühn, o Göttin, diesmal um roter Feigen willen.

Erhörst du mich aber nicht, werde ich doch nicht unterlassen, dich mit frischen Krügen zu ehren; zur Jahreszeit der Obstfülle aber werde ich mich im Morgengrauen erheben müssen, um all die neuen Feigen sorgsam zu spalten und sie innerlich auszumalen mit dem guten Purpur aus Tyrus.

Mime VI: Der bekränzte Krug [ὑάϰινϑος]

Ich Töpfer habe den Boden eines Kruges auf der Drehscheibe gerundet, aus goldenem Lehm die Wölbung geknetet und gebaucht; dann füllte ich ihn mit Früchten für den Gott der Gärten. Aber er sieht das Laub zittern, als ängstigte es sich vor den Dieben, die keine Mauer abhält. Zur Nachtzeit haben die scheuen Siebenschläfer ihre Schnauzen in die Äpfel vergraben und sie ausgenagt bis aufs Gehäuse. Furchtsam setzten sie um die vierte Stunde ihre beflaumten, schwarzweißen Schwänze in Bewegung. Im Morgenrot sind die Vögel der Aphrodite, die Halskrause schillernder Federchen gesträubt, auf den violetten Rand meines Tonkruges niedergeflogen. Unter dem schwirrenden Mittagslicht erschien ein junges Mädchen ohne jede Begleitung: sie nahte dem Gott mit Armen voll Hyazinthen. Und obwohl sie mich bemerkte, während ich gebückt hinter einer Buche stand, achtete sie nicht auf mich; sie umwand den Krug, in dem keine Frucht mehr war, mit ihren Kränzen. Möge der nunmehr seines Blumenopfers beraubte Gott sich erzürnen, mögen die Siebenschläfer in meine Äpfel beißen und die Vögel der Aphrodite ihre Köpfe zärtlich gegeneinanderneigen! Ich habe mir die frischen Hyazinthen ins Haar gemischt, und bis zum nächsten Mittag warte ich auf die, die mit Kränzen die Krüge umflicht.

Mime VII: Der verkleidete Sklave [μάστιξ]

O Mannia, nun züchtige diesen Unverschämten mit einer guten Ledergeißel aus Paphlagonien. Ich habe ihn für zehn Minen von phönizischen Händlern erstanden, und er hat bei mir keinen Hunger gelitten. Er soll sagen, ob ihm die Köche nicht Oliven und Salzfische vorgesetzt haben. Er hat sich den Bauch mit gefülltem Geflügel vollgestopft und mit Braten, mit Aalen vom Kopaischen See und mit fetten Käsen, die noch das Gitter ihrer Körbe eingeprägt trugen. Er hat ungemischten Wein getrunken, den ich aufbewahren ließ in würzigen Schläuchen von Ziegenleder. Er hat meine Flaschen mit dem syrischen Balsam geleert, und seine Tunika ist violett von Purpur: niemals haben sie die Wäscherinnen in ihre Zuber getaucht. Seine Haare ringeln frei wie die Feuerbüschel einer goldenen Fackel: kein Scherer ist ihnen mit seinem Schermesser nahgekommen. Meine Mädchen enthaaren ihn täglich, und die rote Lampenzunge leckt ihm die Haut sauber. Seine Lenden sind weißer als meine Kehle, weißer als der Rücken der elfenbeinernen Löwinnen an den Messergriffen.

Bei meiner Seele, er hat bei einer Abendgesellschaft aus meinen Kratern ebensoviel Wein getrunken wie die Eingeweihten der Thesmophonien während der drei Tage der Mysterien. Ich glaubte, daß er schnarchend bei dem Küchengesinde liege, und wollte die Köche bitten, sie möchten ihm, damit er seine Strafe habe, mit einem Mörserklöppel die Lippen bestreichen; er hätte seine Trunkenheit durch den scharfen Geruch frisch zerstampften Knoblauchs ausatmen müssen. Aber ich fand ihn torkelnd, verstörten Blicks, in der Hand meinen Spiegel von geschliffenem Silber; dieser dreifach Gottlose hatte aus meinem Schmuckbehälter eine meiner goldnen Zikaden gestohlen und sie sich in sein eingerolltes Haar gesteckt. Dann, auf einem Bein aufrecht stehend und den Körper von den Erschütterungen des Weins durchzittert, wand er um seinen Schenkel den Gaze-Schleier, in den ich mich unter meiner Tunika von weißer Wolle einzuhüllen pflege, wenn ich mit meinen Freundinnen ausgehe, um den Festen des Adonis zuzuschaun.

Mime VIII: Die Nacht der Hochzeit [λύχνος]

Die Lampe mit ihrem frischen Docht verbrennt ihr feines reines Öl im Schein des Abendsterns. Auf dem Boden liegen die Rosen, die die Kinder nicht aufgelesen haben. Die Tänzerinnen schwingen die letzten Fackeln, deren Feuerfinger sich in den Schatten strecken. Die kleine Flötenspielerin hat auf ihrer beinernen Flöte noch drei hohe Töne geblasen. Die Träger sind gekommen, mit den Truhen voll von durchscheinenden Ringen für die Fußknöchel. Der eine hat sein verrußtes Gesicht hereingesteckt und mir die Späße seines Viertels vorgesungen. Zwei Frauen in roten Schleiern lächeln bei jeder neuen Strophe und schminken dabei ihre Hände mit Zinnober.

Der Abendstern steigt hoch, die schweren Blütenkelche schließen sich. Neben dem großen Weinbottich mit seinem bildnerisch verzierten Steindeckel sitzt ein spöttischer Knabe, seine schimmernden Füße stecken in goldenen Sandalen. Er schüttelt eine Kiefernfackel, sein rotes Haar züngelt in die Nacht. Seine Lippen sind halb offen wie eine aufgesprungene Frucht. Er macht eine Wendung nach links, das Metall klirrt an seinen Füßen. Ich weiß, mit einem Satz wird er davoneilen.

Jo! Da naht der gelbe Schleier der Jungfrau! Ihre Dienerinnen stützen sie unter den Armen. Fort mit den Fackeln! Das Hochzeitslager ist bereit, ich werde sie hinführen in den weichen Glanz der purpurnen Gewebe. Jo! Man tauche den Lampendocht in das duftende Öl. Er knistert und stirbt. Man verlösche die Fackeln! O meine Braut, ich hebe dich an meine Brust: nicht sollen deine Füße auch nur die Rosen auf dem Boden berühren.

Mime IX: Die Verliebte [φάσηλος]

Die Leser dieser Worte bitte ich: sucht meinen herzlosen Sklaven. Er ist aus meinem Zimmer entwichen um die zweite Stunde nach Mitternacht. Ich hatte ihn in einer bithynischen Stadt gekauft, und er duftete nach dem Balsam seines Landes. Seine Haare waren lang und seine Lippen süß. Wir bestiegen ein Schiff, schmal wie eine Schote. Und die bärtigen Matrosen verboten uns, das Schermesser zu gebrauchen oder uns zu enthaaren, weil sie Angst vor Stürmen hatten; und sie warfen im Lichte des Neumonds eine gesprenkelte Katze ins Meer. Die dünnen hölzernen Ruder und die Leinensegel, die die Barke vorwärts trieben, führten uns durch die Pontische See, deren Fluten schwarz sind, bis zum Strande Thrakiens, wo der Streifen Schaum purpurn und safrangolden glänzt, besonders bei Sonnenaufgang. Und wir kamen auch durch die Zykladen und berührten die Insel Rhodos. Dort in der Nähe stiegen wir aus der dünnen Schale auf eine andre kleine Insel, deren Namen ich niemals nennen werde. Die Grotten dort sind bespannt mit roten Blüten und übersät mit grünem Ginster, und die Beeren an den Sträuchern, dunkelrot oder durchsichtig wie Glaskugeln, auch schwarzblau wie die Köpfchen der Schwalben, bergen köstlichen, seelenbelebenden Seim. Gleich einer Eingeweihten der Mysterien verweilte ich still auf dieser Insel. Eine Insel der Seligen ist sie, wie ohne Schatten. Einen ganzen Sommer lang liebte ich dort. Im Herbst erst führte uns ein flaches Boot hierher. Denn meine Geschäfte waren etwas in Unordnung geraten; ich wollte Geld erheben und meinen Freund in feinen weißen Byssus kleiden. Und ich schenkte ihm goldene Armspangen, Stäbe, aus Bernstein geschnitzt, und im Dunkeln funkelndes Geschmeide.

Ich Unglückliche! Er ist von mir gegangen, wo soll ich ihn suchen? O ihr Frauen, die ihr Jahr um Jahr den Adonis beweint, laßt euch meine Bitte angelegen sein! Umschnürt ihn mit Eisenketten, wenn er euch in die Hände fällt, dieser Bösewicht; bindet ihm die Beine mit Riemen; werft ihn ins Verlies auf die Steinfliesen; laßt ihn kreuzigen, der Henkersknecht soll ihm das Haupt umdrehn unter dem Balken: streut Körner aus mit vollen Händen rings um die Schädelstätte, so werden die Sperber und die Raben auf seinen Leichnam schneller zufliegen. Doch nein, ich traue euch nicht, ihr würdet Mitleid haben mit seiner Haut, so glatt wie Bimsstein – berührt ihn lieber nicht, nicht einmal mit der Spitze eurer zarten Finger. Überliefert ihn euern jungen Läufern; schickt mir ihn unverzüglich; ich werde schon wissen, wie ich ihn zu strafen habe: die Strafe soll grausam sein. Bei den erzürnten Göttern, ich liebe ihn, ich liebe ihn.

Mime X: Der Seemann [ϰόγχη]

Wenn ihr es nicht glauben wollt, daß ich auf einer Galeere gerudert habe, so seht euch meine Finger an und meine Knie: abgeschabt sind sie wie altes Werkzeug. Ich kenne jede Meerespflanze auf dem einmal veilchen-, einmal himmelblauen Wasser, auch alle Muscheln in ihrem Gehäuse sind mir bekannt. Manche davon sind lebendig wie wir: sie haben Augen, glasig wie Eis, eine Gestalt gleich einer Sauzitze und eine Menge dünner Füße, die ihnen zugleich als Münder dienen. Und Muscheln sah ich, die waren tausendfach durchbohrt, durch jede dieser kleinen Öffnungen ragte ein Fleischfuß vor oder zog sich zurück, und so ging die Muschel.

Segelt man über die Säulen des Herkules hinaus, gleich wird das Weltmeer, das die Erde umspült, unheimlich fremd und wild.

Und es bildet in seiner Strömung trostlose Inseln mit allerlei Bevölkerung und wunderbarem Getier. Dort gibt es eine Schlange mit einem goldenen Bart, die über eines der Reiche in Weisheit herrscht; und die Frauen dort haben an jeder Fingerspitze ein Auge. Andre haben Vogelschnäbel und Vogelschöpfe, sehn aber sonst wie wir aus. Auf einer der Inseln, die ich besuchte, trugen die Bewohner ihre Köpfe, wo wir unsre Magen haben; und als sie uns begrüßten, wackelten sie mit ihren Bäuchen. Von den Einaugen, den Zwergvölkern und den Riesen will ich gar nicht erst sprechen; es sind ihrer zu viele.

Nichts von allen diesen Dingen scheint mir unnatürlich und flößt mir irgendeinen Schrecken ein. Doch eines Abends bin ich der Skylla begegnet. Unser Schiff lief an der sizilischen Küste auf Sand. Als ich das Steuer wendete, erblickte ich inmitten der Wellen ein Frauenhaupt mit geschlossenen Augen. Ihr Haar war goldblond. Sie schien zu schlafen. Und alsogleich erzitterte ich; denn ich fürchtete, ihre Augensterne zu sehn; ich wußte wohl, wenn ich ihre Augen schaute, würde ich unser Schiff in den Schlund des Meeres steuern.

Mime XI: Die sechs Töne der Flöte [συ̑ριγξ]

Auf Siziliens fetten Triften steht ein Mandelbaum mit süßen Mandeln, nicht weit vom Meer. Dort ist ein alter schwarzer Steinsitz, seit vielen Jahren die Lagerstatt der Hirten. Im Gezweig der nahen Bäume hängen Grillenbauer aus zartem Rohrgeflecht und Reusen aus Weidenruten zum Fischfang. Die jetzt schläft, aufrecht auf dem schwarzen Steinsitz, die Füße mit Bändern umschlungen, den Kopf unter dem Schutz eines spitzen roten Strohhuts, harrt eines Hirten, der nicht wiederkam. Er ging fort, die Finger mit Jungfernwachs gesalbt, um in den feuchten Gründen Schilf zu schneiden und daraus eine siebenröhrige Flöte zu bilden, wie es der Gott Pan gelehrt hat. Und als sieben Stunden verstrichen waren, entquoll der erste Ton nah dem Steinsitz, wo damals wachte, die nun schläft. Dieser erste Ton erklang aus nächster Nähe, rein und silbern. Und sieben Stunden zogen abermals über die im Sonnenlicht bläuliche Wiese, da erschallte der zweite Ton, heiter und wie von Gold. So hörte die jetzt Schlafende alle sieben Stunden ein Rohr der neuen Flöte ertönen. Der dritte Ton aber kam aus der Ferne und gewichtig wie Eisengeklirr. Noch ferner war der vierte Ton und tiefgestimmt gleich dem Dröhnen von Erz. Der fünfte Ton war ein unruhiges Geräusch, abgehackt, wie der Schlag an ein Zinngefäß. Der sechste wieder klang dumpf gedämpft und stumpf, ganz so wie Bleigewichte im Netz gegeneinanderstoßen.

Nun lauschte die jetzt Schlafende auf den siebenten Ton, doch der blieb aus. Die Tage woben ihre strahlenden Dünste um das Mandelgehölz, die Dämmerungen ihre grauen Nebel und die Nächte ihre Schleier von Purpur und Blau. Vielleicht hofft der Hirte selbst noch auf den siebenten Ton, am Rand eines hellen Wasserspiegels, in dem wachsenden Schatten der Abende und der. Jahre; und sie auf dem schwarzen Steinsitz ist in Erwartung ihres Hirten eingeschlafen.

Mime XII: Der Samoswein [λήϰυϑος]

Polykrates, der Gewalthaber, verlangte, man solle ihm drei versiegelte Fläschchen bringen mit drei herrlichen Weinen verschiedenen Ursprungs. Der eifrige Diener nahm eine dunkle Steinflasche entgegen, eine goldgelbe und eine gläsern helle; doch der zerstreute Mundschenk hatte in alle drei Flaschen ein und denselben Samoswein getan.

Polykrates sah sich das dunkle Steingefäß an, seine Braue hob sich. Er brach das Siegel von Gips und sog den Duft ein. »Dieses Gefäß«, sagte er, »ist von schlechtem Stoff, der Odem seines Inhalts lockt mich nicht besonders.«

Dann hob er das goldgelbe Fläschchen hoch, und es gefiel ihm sehr. Als er es entsiegelt hatte, sagte er: »Der Wein da ist sicherlich weniger wert als seine schöne Hülle mit ihrem reichen roten Traubengehäng und den spiegelnden Ranken.«

Darauf ergriff er die dritte, die helle kleine Glasflasche, und hielt sie gegen das Licht. Der Wein funkelte blutrot. Polykrates löste den Verschluß, goß den Inhalt in eine Schale und leerte sie auf einen Zug. »Niemals noch«, sagte er und holte tief Atem, »habe ich einen köstlichem Wein getrunken.« Und wie er die Schale auf den Tisch setzte, stieß er an die kleine Flasche, daß sie in Staub zerschellte.

Mime XIII: Die dreifache Flucht [μη̑λου]

Die Feigen sind von ihren Zweigen gefallen, und die Ölbäume haben ihre Ölfrucht verloren: ein Unerhörtes ist auf der Insel Skyros geschehn. Verfolgt von einem Jüngling floh eine Jungfrau. Sie hatte den Saum ihres Kleides hochgehoben, und man sah einen Streif ihres Gazestrumpfes. Wie sie so lief, ließ sie ein Silberspiegelchen fallen. Der Jüngling hob es vom Boden und spiegelte sich darin; er betrachtete seine Augen, die er voll Weisheit sah, hatte ihr kluges Wesen lieb, gab die Verfolgung auf und setzte sich hin auf die Wiese. Das Mädchen aber floh von neuem, ein Mann in der Vollkraft der Jahre war hinter ihr her. Sie hatte ihr Kleid hochgeschürzt, und ihre Schenkel leuchteten wie zwei Früchte. Im Lauf rollte ein Paradiesapfel aus ihrem Schoß. Und ihr Verfolger hob den Apfel auf, barg ihn in seiner Tunika, fand ihn anbetungswert, gab die Verfolgung auf und setzte sich hin in den Sand. Das junge Weib floh noch weiter, aber schon minder rasch; denn ein schwankender Greis hatte die Verfolgung aufgenommen. Ihr Kleid hatte sie wieder fallen gelassen, die Knöchel schimmerten, umwickelt mit buntgestreiftem Band. Jetzt aber, während sie lief, geschah das Unerhörte: ihre Brüste lösten sich los, eine nach der andern, und fielen auf den Boden wie reife Mispeln. Der Greis sog sie beide aus. Das Weib stieß, eh sie sich in den Fluß stürzte, der die Insel Skyros teilt, zwei Schreie aus, zwei Schreie des Schreckens und des Bedauerns.

Mime XIV: Der Tanagraschirm [πηλός]

Nunmehr gespannt auf gegossene Stäbchen, ein Strohgeflecht in Ton nachgebildet oder ein Gewebe aus rotgebrannten Stoffen der Erde, hält mich rückwärts gegen die Sonne ein junges, schönbusiges Mädchen. Mit der andern Hand hebt sie ihre Tunika von weißer Wolle, über ihren persischen Sandalen wird ein Knöchel sichtbar, geschaffen für Bernsteinspangen. Ihr Haar ist gewellt und mit einer großen Nadel oberhalb des Nackens festgesteckt. In der Wendung des Kopfes zeigt sie ihre Scheu vor der Sonne, und ihr Hals ist wie von Aphrodite selbst gebogen.

Dieses ist meine Herrin, an deren Hand ich vormals die hyazinthen gefleckten Wiesen durcheilte, als sie noch aus rosigem Fleisch und ich aus gelbem Stroh war. Von oben küßte mich das Weiß der Sonne, von innen, unterhalb meiner Kuppel, der Duft aus den Haaren der Jungfrau. Und die Göttin, die Verwandlerin der Formen, hat mich erhört: gleich einer Uferschwalbe, die mit gestreckten Flügeln niedersinkt, um mit ihrem Schnabel die teichgeborene Blüte zu liebkosen, ließ ich mich sanft auf ihr Haupt herab; ich büßte das Schiff ein, das mich fern von ihr in der Luft hielt, und ward zu ihrem Hut, ein Zitterdach, das sie schützte.

Doch ein Töpfer, der auch junge Mädchen in Ton nachbildete, erspähte uns in einer Vorstadt; er bat uns zu verweilen und drehte rasch unter seinen Daumen ein Tonfigürchen. Als Werkmeister geringerer Werte hat er uns in seine irdische Sprache übertragen; und, gewiß, wie gut hat er es verstanden, mich gar fein zu flechten, die Tunika von weißem Wollstoff in weiche Falten zu legen und meiner Herrin das Haar zu wellen! Doch da ihm die Sehnsucht der Dinge fremd geblieben war, trennte er mich grausam von dem geliebten Haupt; so wurde ich in meinem abermaligen Dasein wieder Schattenschirm und schwanke nun fern von dem Nacken der Geliebten.

Mime XV: Kinne [στήλη]

Ich weihe diesen Altar dem Andenken der Kinne. Hier, in der Nähe der schwarzen, schaumumbrandeten Felsen, schweiften wir beide umher. Der Strand mit seinen Mulden kann es bezeugen und das Ebereschengehölz, die Sandbänke und die gelben Köpfe der Disteln. Ihre Hände waren von zackigen Muschelschalen voll, die bebenden Muscheln ihrer Ohren füllte ich ihr mit Küssen. Sie lachte über die Haubenlerchen, die auf den Algen saßen und mit dem Schwanze wippten. Ich sah in ihren Augen den langen Streifen weißen Lichtes, die Grenzlinie zwischen der braunen Erde und dem blauen Meer. Ihre Füße wateten bis zu den Knöcheln im Wasser, und die kleinen Seetiere krabbelten auf ihrem Wollkleid.

Wir liebten den schimmernden Abendstern und den frischen Neumond. Der Wind vom Meer brachte uns die Düfte der Gewürzländer herüber. Unsre Lippen waren weiß von Salz, und durch das Wasser hindurch sahen wir glasige weiche Tiere leuchten wie lebendige Lampen. Aphroditens Hauch umfing uns.

Und ich weiß nicht, warum die Bona Dea Kinne in Schlaf versenkt hat. Sie sank hin in die gelben Stranddisteln, im rosigen Schein des Morgensterns. Auf ihrem Munde war Blut, und das Licht ihrer Augen erlosch. Ich sah zwischen ihren Lidern den langen schwarzen Streifen, der die Scheidung ausdrückt zwischen jenen, die sich der Sonne erfreun, und den andern, die an den Sümpfen klagen. Jetzt wandelt Kinne allein am Ufer der unterirdischen Wasser, die Muscheln ihrer Ohren erklingen vom Rauschen der schwebenden Schatten, an dem unterweltlichen Gestade wiegen schwarze Distelköpfe schwermütig hin und her, und das Gestirn am finstern Himmel der Persephone weiß nichts von Abend- noch Morgenrot; da gleicht sie einer welken Asphodelosblüte.

Mime XVI: Sisme [δαϰτύλιος]

Die du hier siehst, eine eingetrocknete Mumie, hieß Sisme, Tochter des Thratta. In ihren Anfängen waren ihr die Bienen und die Lämmer vertraut; dann fand sie Geschmack an dem Salz des Meeres; endlich entführte sie ein Kaufmann in die weißen Häuser Syriens. Jetzt liegt sie eingezwängt wie ein kostbares Bildwerkchen in ihrem Steinfutteral. Zähle die Ringe, die an ihren Fingern glänzen: so viele Jahre lebte sie. Schau auf das Band, das ihre Stirn umschließt: dahin empfing sie schüchtern den ersten Kuß der Liebe. Berühre den Stern aus blassen Rubinen, der an der Stelle schläft, wo ihre Brüste waren: dort ruhte ein teueres Haupt. Neben Sisme hat man ihren erblindeten Spiegel gelegt, ihre silbernen Würfel und die dicken Bernsteinspangen, die durch ihr Haar gingen; denn nach zwanzig Jahren (sie trägt zwanzig Ringe) war sie mit Schätzen überhäuft. Ein reicher Karthager schenkte ihr alles, was die Frauen begehren. Sisme vergißt ihn nicht, und ihr zartes weißes Gebein wehrt sich nicht gegen den Schmuck. Hier nun errichtete ihr der Karthager dieses prächtige Grabmal, damit es ihren sanften Tod behüte, und umgab sie mit Duftgefäßen und goldnen Tränenkrügen. Sisme dankt es ihm. Aber willst du das Geheimnis eines Mumienherzens kennen, dann biege die äußersten Fingerglieder ihrer linken Hand zurück: darunter wirst du ein schlichtes kleines Glasringlein finden. Das Ringlein war durchsichtig; seit Jahren ist es wolkig und dunkel. Sisme hat es lieb. Schweig und begreife.

Mime XVII: Die Grabesgaben [ποτήριον]

Ich legte in Lysanders Grab einen grüngeflochtnen Korb, eine rote Lampe und einen Silberbecher.

Der grüne Korb soll ihn für eine kurze Weile an unsre Freundschaft erinnern (in einem Sommer schon wird das Geflecht dahin sein), an das weiche Grün der Weideplätze, an die Rückenbogen der grasenden Lämmer und an den kühlen Schatten, darin wir schliefen. Und er wird sich der irdischen Nahrung entsinnen und des Winters, da man die Vorräte in den Tonkrügen anhäuft.

Die rote Lampe ist mit nackten Frauengestalten verziert; sie halten sich an den Händen und tanzen mit überkreuzten Beinen. Der Duft des Öles wird schwinden, und der Ton, woraus sie geformt ist, wird im Hingang der Jahre zerfallen. Wenigstens aber wird Lysander in seinem Dasein unter der Erde der glücklichen Nächte nicht so bald vergessen noch der lichten Leiber, die die Lampe beschien; und sie diente auch mit ihrer Purpurzunge zum Absengen des Flaumes an Armen und Schenkeln, das Vergnügen an Berührung und Anblick steigernd.

Der Silberbecher trägt einen Kranz aus Weinlaub und aus goldnen Trauben; ein sinnenentrückter Gott schwingt auf ihm seinen Thyrsosstab, und der Esel des Silen – noch scheinen seine Nüstern zu zittern. Der Becher war voll herben Weins, rein und gemischt: Chios-Wein, duftend von Ziegenhaut, und Ägina-Wein, gekühlt in Tongefäßen, die im Wind gehangen hatten. Lysander trank daraus bei den Festen, wenn er Verse sprach, und die Seele des Weins begabte ihn mit dichterischem Geist und dem Vergessen der irdischen Dinge. So wird die Hülle dieses Geistes noch bei ihm sein; und wenn der Korb längst verkommen und die Lampe zerbröckelt ist, wird das Silber in seiner Grabstätte noch bestehn. Möge er oft diesen Becher des Vergessens leeren, eingedenk seiner besten Stunden unter uns!

Mime XVIII: Hermes, der die Seelen geleitet [ὁδός]

Die Toten, ob sie nun eingeschlossen ruhn in den verzierten Steingräbern, ob ihre Überreste in dem Urnenbauch von Metall oder Ton bewahrt werden, ob sie vergoldet und blau bemalt, ohne Hirn und Eingeweide, in Leinenstreifen gewickelt, aufrecht lehnen – sie alle entführe ich Schar um Schar und weise ihnen mit meinem Führerstab den Weg.

Wir schreiten auf einem abschüssigen Pfad, den Menschenaugen nicht erblicken können. Die Dirnen schmiegen sich an die Jungfrauen, die Mörder an die Weisen, die Mütter an die andern, die keine Kinder haben wollten, die Priester an die Eidbrüchigen. Sie bereuen ihre Untaten, die in Gedanken verbrochenen und die mit den Händen vollführten. Da sie, gebunden durch Gesetz und Brauch oder eigene Erinnerung, auf Erden keine Freiheit kannten, fürchten sie nun die Losgelöstheit und halten sich einer an den andern. Die in den Badestuben nackt lag unter den Männern, tröstet ein junges Mädchen, das heftig von der Liebe träumte und vor der Hochzeit starb. Ein Straßenräuber, das Gesicht beschmutzt mit Asche und Ruß, legt seine Hand auf die Stirn eines Denkers, der mit Predigten über den Tod die Welt erneuern wollte. Die Frau, die ihre Kinder liebte und durch sie litt, verbirgt ihr Haupt am Busen einer Hetäre, die absichtlich unfruchtbar geblieben war. Der Mann im langen Gewand, der sich mühte, an seinen Gott zu glauben, und sich zu Kniefällen zwang, weint an der Schulter des Spötters, der vor den Augen seiner Mitbürger alle seine leiblichen wie geistigen Verpflichtungen abtat. So helfen sie einander unterwegs, hinwandelnd unter dem Joch ihrer Vergangenheit.

Dann kommen sie an das Ufer des Lethestromes, wo ich sie entlang dem still hinfließenden Wasser aufreihe. Und die einen tauchen ihren von übeln Gedanken erfüllten Kopf in den Fluß, die andern strecken ihre Hand hinein, die das Böse vollbrachte. Sie richten sich auf, und das Wasser der Vergessenheit hat ihr Erinnern ausgelöscht. Sogleich gehn sie voneinander, und jeder lächelt für sich – in dem Glauben, frei zu sein.

Mime XIX: