Gebiete sanfte Herrin mir - Andrea Schacht - E-Book

Gebiete sanfte Herrin mir E-Book

Andrea Schacht

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Beschreibung

Start einer neuen Mittelaltersaga um Alyss, die Tochter der Begine Almut

Ein Raubmord in Köln! Die junge Alyss tritt in die Fußstapfen ihrer Mutter Almut und beginnt zu ermitteln, und was sie in Erfahrung bringt, erschüttert sie in ihren Grundfesten …

Begine Almut hat ihren Spürsinn und ihre Scharfzüngigkeit an ihre Tochter Alyss vererbt.
Spannend und gewitzt, lässt Alyss nicht locker, bis sie den Mörder eines Tuchhändlers gestellt und überführt hat.

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Seitenzahl: 514

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Inhaltsverzeichnis
 
Lob
Dramatis Personae
Vorwort
 
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
 
Von Andrea Schacht bei Blanvalet bereits erschienen
Copyright
Sie gebietet und ist im Herzen mein Herrin, und höher als ich selber bin. Ach, wenn ich nur geböte ihr, Dass sie mir könnte treulich sein, ganzer Tage drei und etlich Nächte. Heinrich von Morungen
Dramatis Personae
Alyss – Tochter von Almut und Ivo vom Spiegel, Gattin des Weinhändlers Arndt van Doorne; sie führt nicht nur die Geschäfte ihres Mannes und ihre eigenen, sondern auch ihr quecksilbriges Hauswesen mit harter Hand.
Marian – Alyss’ Zwillingsbruder. Sie unterscheiden sich in Temperament und Farben, nicht in der Form. Alyss’ Haare schimmern wie Amselflügel, die seinen wie rötliches Holz. Ihre Augen funkeln grau, die seinen messen die Welt mit grünem Glas. Und doch hatte der Schöpfer denselben Model verwendet, in den er den Lehm strich.

Das Hauswesen

Arndt van Doorne – Alyss’ Ehemann, dem Wein und krummen Geschäften mehr zugeneigt als seinem Weib und erfreulicherweise oft auf Reisen.
Merten van Doorne – Arndts Stiefsohn, sein derzeitiger Erbe. Er ist wenig am Geschäft, mehr am süßen Leben interessiert und zieht mit den jungen Gecken durch die Tavernen.
Robert van Doorne – Arndts jüngerer Bruder, im Londonhandel tätig. Zufälliges Opfer eines Raubüberfalls, wie es aussieht.
John of Lynne – Roberts englischer Geschäftspartner und Falkner, der ein Interesse daran hat, offene Rechnungen zu begleichen.
Hilda – die abergläubische Haushälterin.
Peer – ein alter, vertrauenswürdiger Handelsgeselle.
Leocadie – Azizas und Leons Tochter, schön und verträumt.
Frieder und Lauryn – Kinder des Pächters derer vom Spiegel, deren Kanten noch abgeschliffen werden müssen.
Tilo – Sohn von Mechtild und Reinaldus, der recht ordentlich mit der Feder umgehen kann.
Hedwigis – hochnäsige Tochter von Peter Bertholf und seiner patrizischen Ehefrau.
Magister Hermanus – Arndts Cousin, ein Kanoniker und Moralist, unser Hauspfaff.
Malefiz – ein schwarzer Kater von Charakter, Urenkel der Konventskatze Teufelchen.
Benefiz – ein schwanzloser Spitz, noch in der Ausbildung.
Jerkin – ein voll ausgebildeter weißer Jagdfalke.

Freunde, Bekannte, Verwandte

Catrin von Stave – Alyss’ enge Freundin, eine Begine, die sich auf Geburtshilfe versteht und um Robert trauert.
Estella Stalen – Gattin des Venedighändlers Laurenz Stalen. Ihr Gatte wird bei dem Schiffbruch ermordet, sie geschändet.
Reinaldus Pauli – gutmütiger, aber etwas schwerfälliger Tuchhändler, der sich gerne gestrandeter junger Frauen annimmt.
Mechtild – Reinaldus’ Frau, Alyss’ Tante, die auch einiges von der Buchführung versteht.
Peter Bertolf – Baumeister, Mechtilds Bruder, Alyss’ Onkel.
Julika – Reinaldus’ Geliebte, die er mit Geld bezahlt, das nicht durch Mechtilds Bücher geht.
Trude de Lipa – Mertens Großmutter, die sich an vieles erinnert.
Harro Peddersen – ein redlicher Friese und Tuchhändler.
Hannes Böcklein – ein unredlicher Schneider.
Mats Schlyffers – Messerschleifer mit Wolfsrachen.
Gislindis – Tochter des Messerschleifers, die Dichtung und Wahrheit trennen kann.
Fygen – Tavernenwirtin, Freundin der Adlerwirtin Franziska.
Yskalt – friesischer Handelsknecht, der beim Adlerwirt den Hammer schwingt.
Folcko – ein Häuptling der Ostfriesen und Verbündeter der Vitalienbrüder.
Lodewig – Abt von Groß Sankt Martin, ein Genießer.
Leon de Lambrays – Weinhändler aus Burgund, Alyss’ Onkel und Geschäftspartner.
Pitter, ehemals Päckelchesträger – jetzt Inhaber einer gut beleumundeten Badestube und noch immer ein Mann mit großem Magen und offenen Ohren.
Franziska – kratzbürstige Adlerwirtin, Mutter einer reichen Kinderschar.
Simon – Adlerwirt und Schmied.
Stina – ihre Tochter, die ihrem Glück ungeschickt nachzuhelfen versucht.
Arbo von Bachem – ritterlich-edler Herr, den der Blitzstrahl der Liebe trifft.

Und natürlich dürfen nicht fehlen

Almut und Ivo vom Spiegel – Alyss’ und Marians liebende Eltern.
Vorwort
1402 – Köln hat eine turbulente Zeit hinter sich. Der seit Jahrzehnten schwelende Konflikt über die Vorherrschaft der Patrizier ist beendet, der Verbundbrief, Kölns ständische Verfassung, unterschrieben. Die Auseinandersetzungen bis dahin verliefen teils ernst, teils sogar blutig – aber, wie von den Kölnern nicht anders zu erwarten, auch mit einigen karnevalistischen Zügen.
Immerhin, zu Beginn des neuen Jahrhunderts – demjenigen, in dem das Mittelalter sein Ende fand – hatten die Zünfte der Handwerker und die Gaffeln der Kaufleute sich das Recht erstritten, ihre Stadt zu regieren.
Der Erzbischof hatte nichts mehr zu kamellen.
Oder nur noch wenig.
Der Handel regierte die Stadt am Rhein, und der Handel blühte. Mit dem gesamten bekannten Europa tauschte man Waren, im Norden bis Russland und Skandinavien, im Osten bis ans Schwarze Meer. Venedig war das Tor zum Orient, Spanien und Frankreich eng verbundene Partner, die Häfen Belgiens und der Niederlande die Basis für den Englandhandel. Die Hanse, der große Städteverbund, dem auch Köln angehörte, sicherte die Routen und die Handelsplätze; die Hanse war es auch, die den Umtrieben der Vitalienbrüder, der Seeräuber der Nord- und Ostsee, Einhalt gebot.
Diese gewaltige Ausdehnung der Geschäfte hatte natürlich Folgen. Zum einen entstanden die ersten Konzerne mit ihren Niederlassungen an den wichtigen Orten, zum anderen begannen sich die ersten »modernen« kaufmännischen Verfahren zu entwickeln.
Hatte man einst schon mal seine Ein- und Ausgaben, so man des Schreibens mächtig war, notiert, um den Überblick über Gewinn und Verlust zu behalten, so wurden diese Maßnahmen nun verfeinert. Man trennte beispielsweise die »Bücher« von Haushalt und Geschäft.
Die Buchführung begann.
Hatte man früher überwiegend Tauschhandel – Ware gegen Ware – betrieben, wurde mit der Vielfältigkeit der Produkte nun auch deren Bewertung durch Geld wichtiger. Es wurde nicht nur getauscht, sondern gekauft und verkauft. Was dazu führte, dass man mit prallen Münzbeuteln zu den Handelsplätzen und Messen ziehen musste. Der Kaufmann war ein gefundenes Fressen für alle Strauchdiebe und Straßenräuber.
Weshalb man flugs den bargeldlosen Zahlungsverkehr erfand. Der Wechsel, ein verbrieftes Zahlungsversprechen, trat seinen Triumphzug an.
Mitsamt dem Missbrauch, den man damit treiben konnte.
 
Meine Heldin Alyss geht mit der Zeit. Als Gattin eines Weinhändlers kennt sie sich mit den geschäftlichen Abwicklungen aus, denn ihr Mann bereist die Anbaugebiete, um Ware aufzukaufen, sie wiederum verkauft sie weiter. Sie führt, wie bei vielen Kölnerinnen üblich, ihr eigenes Siegel, ist somit geschäftsfähig. Daneben hat sie aber auch ihr Hauswesen zu leiten, ein eigenwilliges Geschöpf, das mit Strenge und Nachsicht gezähmt werden will.
Man gab damals seine Töchter und Söhne im Alter von etwa vierzehn Jahren in die Obhut verwandter oder befreundeter Familien, damit die jungen Leute dort gesellschaftlich Schliff erhielten und erste Grundlagen des Geschäfts oder der Haushaltsführung erlernten. Insgesamt fünf Jungfern und Jünglinge hat sie anzuleiten, was eine rechtschaffene Aufgabe für eine Vierundzwanzigjährige ist.
Doch ganz Tochter ihrer Eltern, ist sie dem gewachsen, wäre da nicht das lästige Schicksal, das ihr allerlei Knüppel zwischen die Beine wirft.
Einer davon hat die Form eines weißen Gerfalken.
Wenn’s allzu dicke für sie kommt, sucht sie Zuflucht bei dem Dichter Freigedank, der ihr mit seiner weisen Mahnung manche Last leichter macht:
»Ohne Sorgen niemand mag
leben einen ganzen Tag.«
1. Kapitel
Die rettenden Feuer in der sturmschwarzen Nacht erwie sen sich als bösartige Falle. Mit einem durchdringenden Knirschen lief die Kogge auf Sand. Menschen, Fässer, Tauwerk und zerberstendes Holz wurden durcheinandergeworfen, Schreie übertönten das Tosen des eisigen Windes.
Nicht nur Schreie des Entsetzens, sondern auch das Gebrüll des Triumphes.
Mit lodernden Fackeln kamen sie von Land, raue, hochgewachsene Gestalten, in deren Händen das Eisen der Äxte blutrot aufblitzte.
Die Besatzung ergab sich nicht kampflos. Ein Gemetzel begann, und mit bebenden Gliedern drückte die junge Frau sich an ihren Gatten, der versuchte, sie mit seinem eigenen Leib zu schützen. Schon war der Lagerraum im Schiffsbauch erobert, Ballen Tuch, Fässchen, Säcke und Packen warfen sich die Strandräuber zu, stapelten die Ware des Kauffahrers auf dem feuchten Watt. Andere aber setzten ihr Werk der Vernichtung fort. Schon war das Segel gefallen, krachten die Rahen auf Deck, brach der Mast. Verwundete stöhnten, blut überströmte Leichen hingen über der zersplitterten Reling.
Sie wollte schreien vor Entsetzen, aber ihre Stimme versagte ihr den Dienst. Angstvoll klammerte sie sich an die seewassergetränkte Heuke ihres Mannes, der sie die Stiege zum Kastell hinaufdrängte.
In der Hand hielt er einen langen Dolch.
Eine jämmerliche Waffe angesichts der Übermacht, die das Schiff erstürmt hatte.
Wie Höllendämonen wüteten die Wilden im flackerndroten Schein der Kienspäne. Es war eine Frage von wenigen Augenblicken, bis sie entdeckt würden.
Kein Ausgang blieb; mit dem Rücken zur Wand, oben auf den hohen Aufbauten konnten sie nicht entkommen. Der Sprung in die Tiefe wäre ihr Tod – so oder so.
Aus dem rauchigen Dunkel kam eine Gestalt auf sie zu, groß, barbarisch, drohend.
»Laurenz«, wisperte sie. »Laurenz.«
Ein Schluchzen nur.
Ihr Gatte hob den Dolch, bereit ihr Leben zu verteidigen, doch in dem Augenblick schwang der Riese seinen Hammer. Er traf auf den Schädel des Kaufmanns und zertrümmerte ihn. Sein Körper sackte vor ihren Füßen zusammen. Doch bevor sie sich regen konnte, hatte der Wilde sie schon an der Hand gefasst und zu sich gezerrt. Sie wurde auf die blutigen Bohlen geworfen, ihre Kleider zerrissen. Mit einem Grunzen nahm sich der Strandräuber seine Beute.
2. Kapitel
A lyss hob die linke Augenbraue, die sich wie ein schwar zes, samtiges Räupchen anmutig über die helle Stirn schwang.
»Nicht das Handelsgeschäft?«
»Nein, nicht das Handelsgeschäft«, erwiderte ihr Zwillingsbruder energisch.
Verständnisvoll betrachtete Alyss die magere, blasse Gestalt Marians, dessen Stimme derzeit das einzig Energische an ihm war. Er saß zwischen Polstern und Kissen in einem breiten Scherenstuhl, eine Pelzdecke über seinen Knien, obwohl der Mai schon recht warm geworden war. Im Kamin brannte zusätzlich ein Feuer, warmer Würzwein stand in Marians Griffnähe. Und zwei Krücken lehnten in Reichweite seiner Arme an einem Tisch.
Seit zwei Monaten war er wieder daheim – im Haus ihres Vaters, dem Stammsitz derer vom Spiegel am Alter Markt. Zwei lange Monate hatten sie alle um sein Leben gebangt, doch nun ging es ihm zumindest wieder so gut, dass er sich Gedanken um seine Zukunft gemacht hatte. Alyss verbarg ihre Erleichterung darüber hinter der strengen Frage: »Und was willst du stattdessen mit deinem Leben anfangen? Durch die Tavernen bummeln? Hasen auf den Gütern jagen? Den Mägden nachsteigen? Hat dich der Müßiggang der letzten Wochen zum Weichling werden lassen?«
»War ich nicht schon immer ein Schwächling?«
Unvermutet bitter kam das aus dem Mund des jungen Mannes, und Alyss schnaubte.
»Natürlich. Jeder Schwächling reist mit gebrochenen Gliedern und Wundfieber von Spanien nach Köln. Du bemitleidest dich selbst, seit wir es nicht mehr in gebührender Form tun.«
»Ich will kein Mitleid!«
»Kriegst du von mir auch nicht«, beschied ihn seine Schwester und zog die Pelzdecke, die bei Marians heftiger Geste nach unten gerutscht war, sanft wieder hoch. Dann lächelte sie ihn an, und ihr ernstes Gesicht erblühte in strahlendem Liebreiz.
Alyss lächelte selten.
Marian lächelte prompt zurück.
»Hast recht, Schwester mein. Ich bemitleide mich selbst, denn eigentlich habe ich Angst.«
»Weil du glaubst, dass unser Vater deinen Entschluss nicht gutheißen wird?«
Er nickte.
Die Samträupchen zogen sich über der Nasenwurzel zusammen und glitten dann rasch wieder an ihre angestammte Position zurück.
»Er hat dich als seinen Erben erzogen, Marian. Und du hast getan, was er wünschte. Du hast den Handel mit Spezereien gelernt, dich mehrmals auf lange Reisen begeben. Ich hatte den Eindruck, es gefiele dir. Täuschte ich mich so arg?«
»Nein, es gefiel mir. Bis …«
Sacht strich Alyss ihrem Bruder die rotbraunen Locken aus der Stirn, und er hob wieder seinen Kopf. Sie sah ihm in die Augen.
»Was willst du werden, Marian?«
»Ein Heiler!«, flüsterte er.
»Ich verstehe. Ja, ich glaube, ich verstehe dich. Hast du mit Mutter darüber schon gesprochen?«
»Nein, du bist die Erste. Alyss, ich muss es tun, auch wenn er mich dafür verachtet.«
»Wenn er das tut, bekommt er es mit mir zu tun!«
Marian lachte leise auf.
»Du bist ihm schon immer viel mutiger entgegengetreten als ich.«
»Ich bin ja auch nur ein Weib, Marian. In mich hat er lediglich seine Hoffnung auf Enkel gesetzt.«
Nun war es Alyss’ Miene, die sich verdunkelte.
»Nein, Schwester mein, das darfst du dir nicht zum Vorwurf machen. Und ich glaube auch nicht, dass er es tut.«
»Gleichwie, ich will an deiner Seite stehen, wenn du ihm von deinen Plänen berichtest. Aber tu es bald, Marian.«
»Heute. Ich habe um deinen Besuch gebeten, weil ich es ihm heute sagen will. Du weißt, er kommt vor dem Vesperläuten immer auf eine Weile zu mir.«
»Dann wollen wir uns wappnen, denn schon beginnt die Sonne hinter die Dächer zu sinken.«
Alyss erhob sich, strich ihren Surkot aus feinstem blauem Tuch glatt und warf einen Blick in den gewölbten Silberspiegel, um ihren gekräuselten Schleier zurechtzuzupfen. Er bedeckte ihre schwarzen Zöpfe zwar, wie es sich für eine verheiratete Frau geziemte, doch ihr Haaransatz und die sich daraus kringelnden Löckchen verhüllte er nicht. Ein kleiner Anflug von Eitelkeit, sicher, aber entschuldbar, fand sie.
»Du wappnest dich mit deiner Schönheit, Schwesterlieb, und womit soll ich es tun?«
»Mit deinem scharfen Geist, mein Bruder. Der hat trotz aller Fährnisse nicht gelitten.«
Marians Augen funkelten.
»Dann wollen wir gemeinsam in die Schranken treten. Ich höre Fußtritte vor der Tür.«
Schon öffnete sich diese, und in den weitläufigen Saal, den besten Raum des Patrizierhauses, trat der Herr ein und füllte ihn mit seiner Präsenz.
Ivo vom Spiegel trug seine neunundsechzig Jahre mit Würde; die Aura von Macht und Autorität umgab ihn wie die Falten seines silbergrauen Gewandes. Sein Haupthaar war weiß geworden, doch die Brauen hatten noch ihre Schwärze erhalten, wie auch die zwei Strähnen in seinem kurz geschnittenen Bart, die sich an den Mundwinkeln entlangzogen.
»Herr Vater, ich grüße Euch!«, sagte Alyss und deutete eine Reverenz an.
»Du lässt dein Hauswesen im Stich, um deinen Bruder mit müßigem Geschwätz zu unterhalten, Tochter?«
»Mein Hauswesen hat die Eigenart, für sich selbst zu sorgen, wenn ich es für eine Weile verlasse, um der Nächstenliebe zu frönen.«
»Nächstenliebe nennst du es, wenn du deinem Bruder den närrischen Klatsch aus den Gassen vorbeibringst?«
Alyss reckte ihr Kinn. »›Würden keine Narren leben, würd’ es keine Weisen geben‹, sagt Freigedank, der bescheidene Dichter.«
Der Blick unter den schwarzen Brauen, der Alyss durchbohrte, hätte manch schwächeres Weib zum Zittern und Zagen gebracht. Doch sie erwiderte ihres Vaters Blick, und mit großer Genugtuung bemerkte sie das feine Gekräusel in seinen Augenwinkeln.
»Du hast dich meiner Bibliothek bedient!«
»Ja, Herr Vater. Mit großem Nutzen für meine unsterbliche Seele.«
»Und du, Sohn? Hat sie auch deine Seele mit frommen Sinnsprüchen erquickt?«
»So weit lasse ich es nicht kommen, Herr Vater. Aber sie war mir alle Tage ein Halt.«
»So ernst, Junge?«
Alyss bemerkte, dass ihr Vater sehr genau zwischen den Zeilen lesen konnte. Er zog einen Stuhl heran und setzte sich zu Marian.
»Ein wenig, Herr Vater. Ich möchte etwas mit Euch besprechen.«
»Wie es scheint, ein Thema von Wichtigkeit.«
Alyss schob einen Schemel näher an Marian und ließ sich darauf nieder.
»Ah, von großer Wichtigkeit«, kommentierte ihr Vater diese Geste. »Und eines, was mich nicht besonders erfreuen wird.«
»Ja, Herr Vater.«
»Sprich!«
»Es ist... Ich enttäusche Euch wieder einmal... Verzeiht, Herr Vater. Aber ich kann nicht anders.«
Marian rang die blassen Hände im Schoß und suchte nach Worten, stammelte und konnte nicht formulieren, was ihm am Herzen lag. Alyss räusperte sich leise, und er sah hilfesuchend zu ihr hin.
»Herr Vater, mein Bruder möchte nicht weiter als Kaufmann tätig sein, sondern als Heiler wirken.«
»Und das traust du dich nicht, mir ins Gesicht zu sagen, Sohn?«, grollte Ivo vom Spiegel.
Marian senkte die Lider.
»Ich weiß, dass es Euer größter Wunsch ist, dass ich das Geschäft übernehme. Ich bin Euer Erbe.«
»Und euer Vater ist ein Gelehrter, der selbst die großen Universitäten besucht hat«, sagte eine klare Stimme von der Tür her. Almut vom Spiegel trat ein und betrachtete die kleine Gruppe, die ihre Familie darstellte.
»Ivo, Ihr seht aus wie das personifizierte Gewitter. Entladet Donner und Blitz, aber dann wollen wir über diesen bemerkenswerten Sinneswandel unseres Sohnes in Ruhe sprechen.«
»Ich donnere und blitze nicht, Weib!«, donnerte Ivo vom Spiegel und sah seine Tochter mit blitzenden Augen an. »Oder?«
»Allmächtiger Vater. Nein, nie!«
Alyss fiel auf, dass ihre Mutter sich auf die Unterlippe biss, aber sehr schnell wieder Würde annahm. Ihr Vater hingegen nickte wohlwollend ob dieser Antwort. Dann stand er auf und wanderte zum Fenster, betrachtete eine Weile das Treiben auf dem Alter Markt und kehrte dann zu seinem Sohn zurück.
»Die medizinische Fakultät unserer Universität lässt noch ein wenig zu wünschen übrig«, grummelte er. »Ich denke, Salerno oder Paris sind geeignetere Orte, die ärztliche Kunst zu studieren.«
Marian zupfte an der Pelzdecke. Dann aber faltete er seine unruhigen Hände und erklärte mit fester Stimme: »Danke, Herr Vater. Aber ich möchte die Heilkunst nicht an den Universitäten studieren, sondern in der Praxis. Und dann, vielleicht später, will ich die Lektionen hören.«
»Wie stellst du dir diese Praxis vor?«
»Der Mann, der mir... geholfen hat, der meine Knochen wieder gerichtet und eingerenkt hat, er wusste mehr als all die Doctores, die nachher spitzfindig über mein Befinden philosophiert haben.«
»Ich habe ihnen gutes Geld für diese Spitzfindigkeiten gezahlt.«
»›Dem Kranken tut es selten wohl, wenn ihn der Doctor erben soll‹«, flötete Alyss.
»Tochter!«
»Was erwartet Ihr, Ivo? Sie ist mein Kind.«
Almut war zu Alyss getreten und hatte ihr die Hand auf die Schulter gelegt.
»Wie wahr. Nun, du willst also bei den Barbieren und Knocheneinrenkern lernen?«
»Bei den Wundärzten, Zahnbrechern und Kräuterweiblein, oder auch bei einem Infirmarius oder Alchimisten. Sie waren es, die mir wirklich geholfen haben.«
»Und wer wird mein Geschäft weiterführen?«
Marian verzog qualvoll sein mageres Gesicht.
»Alyss könnte es, Herr Vater. Weit besser als ich!«
»Meine Tochter ist verheiratet und führt das Geschäft ihres Gatten und ihr eigenes.«
»Darf ich, mein Herr Gemahl, daran erinnern, dass eine ganze Schar von Vettern, Neffen und Schwägern in Eurem Handelshaus tätig sind, die recht ordentliche Fähigkeiten als Kaufleute besitzen.«
»Sind aber nicht meine Söhne«, murmelte der Herr vom Spiegel. »Also werde ich mir den Kopf zerbrechen müssen, wie ich mein Heim bestelle. Wenn du deinem Ruf folgen musst, Marian, dann bemühe dich, das so gut zu machen wie möglich. Wenn du Unterstützung brauchst, sag es mir. Ich kenne den einen oder anderen, der dir helfen könnte.«
Ivo vom Spiegel erhob sich. Hoch überragte er seinen Sohn, dessen zierliche Gestalt durch die lange Krankheit noch schmächtiger wirkte. In den strengen Zügen ihres Vaters gewahrte Alyss tiefe Sorge und – unendliche Zärtlichkeit.
Der Herr des Hauses verließ den Raum, und die Herrin nahm seinen Platz im Sessel ein.
»Er versteht es manchmal prächtig, einem ein schlechtes Gewissen zu bereiten. Aber Marian, er ist so glücklich, dass es dir wieder besser geht. Ich glaube, er hat gar nicht erwartet, dass du noch einmal im Fernhandel tätig wirst.«
»Ich bin eben nicht gerade sein Wunschbild von Sohn.«
»Womit, Marian, du mir die Schuld zuschiebst, denn schließlich hätte ich mir mit dir ja wohl etwas mehr Mühe geben sollen. Oder wenigstens noch fünf weiteren strammen Söhnen das Leben schenken müssen.«
»Aber Frau Mutter...«
»Richtig.«
Alyss mischte sich wieder ein.
»Im Augenblick, Marian, kannst du noch nicht mit deiner praktischen Ausbildung anfangen. Dafür bist du noch zu schwach. Aber was wäre, wenn wir die Bibliothek nach einigen Werken über die Medizin durchsuchten. Ich meine, ich hätte ein Werk über die Anatomia gesehen.«
»Ein guter Vorschlag!«
Marian stieß die Pelzdecke zur Seite und griff nach den Krücken. Seine Mutter wollte ihm helfen, aber Alyss hielt sie zurück.
»Er schafft es alleine.«
»Richtig, Schwester mein. Manches schaffe sogar ich alleine.« Sprach’s und schwang sich an den Stöcken aus dem Raum.
»Er ist es leid, hilflos zu sein.«
»Ich weiß. Ich bemühe mich, es zu übersehen. Darum erzähle mir nun: Wie laufen deine Geschäfte, Alyss?«
»Die meinen entwickeln sich befriedigend. Tilo ist mit dem alten Peer zu den Winzern in der Pfalz aufgebrochen. Er platzte fast vor Stolz, dass er seine erste Reise machen durfte.«
»Meine Schwester Mechtild hat es mir berichtet. Sie klagte natürlich ein wenig, weil sie um seine Sicherheit fürchtete. Aber dein Handelsknecht wird schon auf ihn aufpassen.«
»Peer ist ein knorriger alter Baum, den wenig erschüttert, und Tilo ist ein ungewöhnlich besonnener Junge. Weit ist die Reise nicht, und die Winzer kennen uns.«
»So argumentierte ich auch. Sie beruhigte sich darob.«
»Und wie steht es um deinen Gatten?«
»Von Arndt habe ich bislang noch nichts gehört. Er ist auf dem Weg nach Deventer, um Fisch zu kaufen. Wie jedes Jahr.«
Ihre Mutter nickte, und Alyss beließ es dabei, auch wenn sie wusste, dass einige Fragen damit wieder einmal unbeantwortet geblieben waren. Über ihre Ehe mochte sie nicht einmal mit ihrer Mutter sprechen.
Dafür aber gab sie ihr eine lebhafte Schilderung ihres Hauswesens in der Witschgasse, das neben dem Gesinde auch fünf junge Leute beherbergte, die bei ihr erzogen wurden. Und dass ihr Schwager Robert, der sein Kontor ebenfalls im Haus hatte, in Kürze aus London zurückerwartet wurde. Natürlich berichtete sie auch von Malefiz, dem schwarzen Kater, der sich unablässig darin vervollkommnete, seinem Namen gerecht zu werden. Er war der Sprössling einer langen ehrenvollen Ahnenreihe, deren Ursprung ihre Mutter noch gekannte hatte. Teufelchen war einst die Katze gewesen, die in dem Beginenkonvent ihr Heim fand, dem Almut in jungen Jahren angehört hatte. Luci, ihre Tochter, gebar Lilith, Herrin der Güter derer vom Spiegel, und ihr Sohn Malefiz schließlich – einer ihrer zahlreichen teuflischen Abkömmlinge, hatte sich bereit erklärt, Wohnung in der Witschgasse zu nehmen und dort sein Unwesen zu treiben.
Almut hörte mit freundlicher Anteilnahme diesen Berichten ihrer Tochter zu, gab, wo sie gefragt wurde, Rat, vermied es aber, weitere Fragen zu stellen.
Dennoch hatte Alyss das Gefühl, die eine oder andere beantwortet zu haben.
Ihre Mutter hatte einen untrüglichen Sinn für die Probleme ihrer beiden Kinder.
Was ihr ein gelegentliches Unbehagen bereitete. Aber Alyss war entschlossen, ihre Angelegenheiten selbst mit fester Hand zu regeln.
3. Kapitel
Das Haus des Weinhändlers Arndt van Doorne war lange nicht so prachtvoll wie das Patrizierhaus derer vom Spiegel. Doch es war ein ansehnliches Anwesen, das gleichzeitig als Wohn- und Geschäftshaus diente. In den kühlen Kellern lagerten die Weinfässer, neben der Hofdurchfahrt befand sich, mit Blick auf die Witschgasse, die vom Rhein hochführte, das geräumige Kontor, dahinter lag das Reich der Haushälterin – die Küche und die Vorratsräume. Auf der anderen Seite der Hofdurchfahrt schlossen sich weitere Lagerräume an, die vom Bruder des Hausherrn, Robert van Doorne, genutzt wurden. Hier stapelten sich die Ballen feinster englischer Tuche, die er an die zünftigen Schneider mit gutem Gewinn verkaufte.
Im Stockwerk darüber empfing man wichtige Gäste im Saal, dem mit aufwändig geschnitzten Schänken und Truhen eingerichteten Prunkraum. Silber und Messing schimmerten auf den Borden, der Kamin war mit Delfter Kacheln verkleidet, den Tisch deckte ein orientalischer Teppich, und das Licht, das durch die runden Gläser der Fenster fiel, zeichnete bunte Kreise auf dem glänzend gewachsten Holzboden. Auf der anderen Seite des Mittelgangs lagen die Gemächer des Hausherrn und seines Bruders. Unter dem Dach, durch die Kammer der Haushälterin und der Magd schicklich getrennt, befanden sich die Schlafräume der jungen Hausgäste. Der sechzehnjährige Tilo war der Sohn des Tuchhändlers Reinaldus Pauli, die ein Jahr jüngere Hedwigis die Tochter des Baumeisters Peter Bertolf. Leocadie mit ihren achtzehn Lenzen die Älteste, war die Tochter Leon de Lambrays, eines burgundischen Weinhändlers, und Frieder und Lauryn, vierzehn und fünfzehn, die Kinder eines Pächters auf den Gütern derer vom Spiegel.
Neben diesen Hausbewohnern belebten noch ständige Tischgäste das Heim derer van Doorne, allen voran Merten, der Stiefsohn des Hausherrn, und Magister Hermanus, Arndts Vetter, ein Kanoniker, der als Messner von Lyskirchen sein karges Leben fristete.
Alyss herrschte trotz ihrer jugendlichen vierundzwanzig Jahre mit eiserner Hand über diesen kleinen Staat – was auch dringend vonnöten war. Ihr Gatte befand sich überwiegend auf Reisen. Die Wintermonate verbrachte er im milden Burgund, um dort die roten Weine aufzukaufen, im Frühjahr beförderte er sie an die Nordseeküste, wo sie nach England verschifft wurden. Im Gegenzug brachte er von dort den begehrten gesalzenen Fisch nach Köln zurück. Im Spätsommer suchte er die Pfalz und ihre Messen auf, und nur die Herbstmonate verbrachte er in seinem Heim.
Fünf Jahre waren er und Alyss nun verheiratet, und sie hatte sich nach und nach angewöhnt, neben der Verantwortung für den Haushalt auch alle in Köln anfallenden Geschäfte zu übernehmen. Sie führte, wie auch ihre Mutter, ihr eigenes Siegel, das es ihr erlaubte, rechtsgültige Abwicklungen vorzunehmen und auf eigene Rechnung Handel zu treiben. Arndt van Doorne kam das entgegen. Meistens zumindest.
 
 
Fünf Wochen waren seit dem Tag vergangen, an dem Marian seinen Entschluss kundgetan hatte, sich der Heilkunst zu widmen. Wie jeden Morgen saß Alyss auch an diesem Junitag im Kontor. Das Fenster zur Witschgasse hatte sie weit geöffnet, und die Sonne ergoss ihr Licht über die Seiten des großen Haushaltsbuches. In ihm nahm sie sorgfältig ihre Eintragungen vor. Jede Einnahme und Ausgabe wurde darin penibel mit Datum, Betrag und einigen erklärenden Worten verzeichnet, sei es Wachs für Kerzen, Mehl oder Graupen, eingehende Weinlieferungen und Zahlungen an verschiedene Handwerker. Nadeln für fleißige Näherinnen, Werkzeuge für den Rebschnitt und die Kelter, neue Stiefel für Magister Hermanus, ein Traktat über Heilkräuter für ihren Bruder oder die bunten Bänder, die Leocadie sich erschmeichelt hatte, wurden in gleicher Form darin aufgeführt wie die eingehenden oder noch ausstehenden Zahlungen, die die Abnehmer der Weinfässer in ihrem Keller zu leisten hatten. Und natürlich auch die Summen, die Merten immer wieder einforderte.
Auf diese Weise wusste Alyss stets auf die kleinste Münze genau, wie viel Geld in den Lederbeuteln in der schweren Eichentruhe lagerten, und konnte, wenn größere Ausgaben anstanden, frühzeitig ihre säumigen Schuldner auffordern, ihren Verpflichtungen nachzukommen. Alles in allem stand das Haus recht gut da.
Nach den Eintragungen in das große Buch öffnete Alyss den Deckel der schweren Eichentruhe, um einige Münzen in eine kleine Börse abzuzählen. Hilda benötigte Geld, um die Einkäufe auf dem Markt zu tätigen, der Fleischhauer wollte bezahlt werden, ebenso der Wagner, der das Rad des Frachtkarrens repariert hatte, und der Böttcher, der neue Weinfässer anfertigen sollte.
Damit waren ihre Tätigkeiten im Kontor für diesen Tag beendet, und sie wollte sich den Haushaltspflichten zuwenden. Doch sie hatte noch nicht den Geldbeutel aufgemacht, da erschien Hilda an der Tür und kündete einen Besucher an.
»Ein fremdländischer Mensch, Herrin. Sagt, er kennt den Herrn Robert.«
»Ein Geschäftsfreund, demnach.«
»Kann ich nicht sagen. Er spricht seltsam und ist nicht von hier. Und ich würde ihn nicht einlassen.«
»Warum nicht?«
»Sein Blick ist böse.«
Da Hilda von allerlei abergläubischen Ängsten heimgesucht wurde, maß Alyss dieser Beobachtung nicht allzu viel Bedeutung bei und verlangte wagemutig, den Mann ins Kontor zu führen.
»Dass es Euch nur nicht später gereut«, murmelte Hilda vielsagend, polterte dann aber zur Haustür zurück. Alyss legte die Börse in die Truhe und klappte den Deckel zu. Nicht jeder unangekündigte Fremde musste direkt sehen, wie viel Geld sie im Haus hatte. Gleich darauf trat der Besucher ein, und sie betrachtete ihn abwartend. Groß war er, wettergegerbt seine Züge, derb seine Kleidung, wenn auch von ordentlicher Qualität. Ein weitgereister Mann, konnte man seinen zerschrammten Stiefeln Glauben schenken. Seine Augen – von hier mochte Hilda ihren Verdacht auf den bösen Blick herleiten – wirkten unter den verhangenen Lidern sehr hell in dem von der Sonne gebräunten Gesicht. Doch Alyss entdeckte keine Gefahr in ihnen, allenfalls Neugier.
»Mistress Alyss? Ich bringe Euch einen Gruß von Robert. Mein Name ist John of Lynne.«
Sein Deutsch war fließend, doch die Melodie seiner Rede klang ungewohnt, und manche Laute mochten seiner Zunge wohl unbekömmlich sein. Dennoch war er deutlich zu verstehen. Alyss nickte ihm grüßend zu.
»Ah, Master John of Lynne. Mein Schwager sprach von Euch. Doch nicht davon, dass Ihr uns aufsuchen wolltet.«
»Die Umstände, Mistress Alyss. Sie zwingen mich. Meines Königs Tochter Blanca wird in sechs Tagen heiraten. Hier in Köln, den Ludwig von der Pfalz.«
»Und das kann sie nur mit Eurer Hilfe, nehme ich an?«
John of Lynne grinste Alyss frech an.
»Ich hoffe, Ludwig wird genug Mann für sie sein. Ich bringe nur das Geschenk für den Grafen und den Erzbischof.«
»Ihr macht dem Grafen und dem Erzbischof also Geschenke. Großmütig von Euch.«
»Geschenke meines Königs, Mistress. Weiße Gerfalken. Und ich habe auch einen für Euch mitgebracht.«
»Einen Falken?« Alyss’ schwarze Augenbraue zuckte in die Höhe.
»Einen Falken, Mistress Alyss.«
»Aus England. Wie einfallsreich. Wenn Ihr einmal Euren Blick aus diesem Fenster schweifen lassen würdet, Master John of Lynne, was werdet Ihr dort wohl erkennen?«
»Einen Kirchturm, Mistress.«
»Was glaubt Ihr wohl, wer auf diesem Kirchturm haust?«
»Der Läuter von den Glocken?«
Alyss schnaubte verächtlich.
»Schaut genau hin mit Euren Falkenaugen.«
»Ah, ich verstehe. Ein Pärchen Falken.«
»Weshalb Ihr mein Befremden vermutlich versteht. Falken, Master John, haben wir auch hier in Köln. Auf jedem Kirchturm.«
»Nun, aber meine Falken sind besonders, Mistress. Nicht wild.«
»Nein? Können sie sprechen?«
Jetzt erlaubte sich John of Lynne ein leises Auflachen.
»So weit haben wir sie nicht … erzogen? Ausgebildet. Sie jagen. Mit Menschen.«
Er beugte mit einer sprechenden Bewegung den Arm, zog einem imaginären Falken das Häubchen vom Kopf und warf ihn in die Luft.
Trotz dieser kleinen Vorführung war Alyss’ Miene noch immer streng.
»Falkenjagd, Master John, ist ein Vergnügen des Adels. Und die Patrizier unserer Stadt haben derzeit andere Sorgen.«
»Aber Euch würde es gut anstehen, Mistress. Nehmt ihn an, als mein Geschenk. Ein weißer Gerfalke ist würdig für eine Königin.«
»Ich bin Sieglerin, nicht Königin.«
»Ich verstehe. Ich bringe das nächste Mal den Adler für die Kaiserin mit, ja?«
Der Blick aus Alyss’ grauen Augen sprach Bände.
»Nicht? Nein? Soll ich Euch wohl ein Ei vom Vogel Roch bringen oder die Asche vom Phoenix oder...?
»Oder ein paar Schwanzfedern der Harpyien. John of Lynne, wirklich nützlich wären ein paar Hühner, die regelmäßig Eier legen.«
»Mistress, Ihr seid so bewundernswert vernünftig.«
»So vernünftig, dass ich Euch jetzt ohne Umschweife nach Eurem Begehr frage, denn ich habe heute Morgen noch Aufgaben zu erledigen.
»Natürlich. Robert, er lud mich ein, für die Tage, die ich hier verbringe, in seinem Haus zu wohnen. Er ist noch unterwegs. Er wird wohl am Ende der Woche eintreffen.«
Nun gehörte das Haus tatsächlich den Brüdern van Doorne, und es war nicht unüblich, dass ihre Gäste ein Bett einforderten. Alyss nickte.
»Ihr könnt Roberts Gemach beziehen. Folgt mir, ich zeige Euch den Weg.«
Während sie voranging, wies sie ihn noch auf die Küche hin, wo die Mahlzeiten eingenommen wurden, und fragte nach seinem Gepäck.
»Ein Bündel nur, Mistress, und natürlich Euer Falke. Habt Ihr ein Obdach für ihn?«
»Reicht ihm der freie Himmel nicht?«
»Stellt Ihr Euren Geldbeutel unter freiem Himmel ab?«
»Mhm. Was, im Namen der heiligen Jungfrau, soll ich nur mit einem wertvollen Falken beginnen? – Frieder!«
»Frieder ist im Stall«, kam die Antwort einer Mädchenstimme aus der Küche, und Lauryn trat an die Tür.
»Hol ihn, Lauryn, er soll sich um den Falken kümmern. Master John wird ihm zeigen, was dazu notwendig ist.«
»Ja, Frau Alyss. Wirklich ein Falke?«
»Ein weißer Gerfalke«, ergänzte John und lächelte die vierzehnjährige Jungfer an. Lauryn, gewöhnlich unempfindlich den Aufmerksamkeiten des männlichen Geschlechts gegenüber, bekam rosa Wangen.
Alyss seufzte.
Nicht nur der Falke bereitete ihr Sorgen.
 
 
Nachdem der Gast versorgt war, kehrte sie in das Kontor zurück, um sich wieder der Börse zu widmen. Diesmal konnte sie ihre Tätigkeit zwar beenden, doch das Kontor zu verlassen, war ihr wiederum verwehrt. Reinaldus Pauli klopfte mit einem freundlichen Gruß an die Tür.
Sie nickte dem Tuchhändler gemessen zu.
»Ihr seht wohl aus, Frau Alyss. Hörtet Ihr jüngst von Eurem Gatten?«
»Nein, Meister Pauli, doch das besorgt mich nicht. Er wird zu gegebener Zeit eintreffen. Es wird Euch aber freuen zu erfahren, dass mein Schwager Robert Ende der Woche zurückkehrt.«
»Mit englischen Tuchen, hoffe ich. Das trifft sich außerordentlich, denn dann wird er gewiss an unserem Gaffelessen am Sonntag teilnehmen.«
»Ich werde es ihm ausrichten.«
»Seid so gut, Frau Alyss. Es findet anlässlich der englischen Hochzeit statt.«
»Die Eheschließung scheint für nicht unbeträchtliche Aufregung zu sorgen, Meister Pauli. Ein Geschäftsfreund von Robert ist soeben bei uns eingetroffen. Ein John of Lynne, der mit – mhm – Falken handelt.«
Reinaldus Pauli lachte auf.
»Wohl nicht ausschließlich. Aber wie man hört, ist es ein diffiziles Geschäft, diese Vögel gesund zu transportieren. Richtet dem englischen Händler auch die Einladung zum Essen aus. Er ist uns herzlich willkommen.«
»Lasst Euch nur nicht auch noch einen Falken andrehen.«
»Auch? Hat er Euch etwa einen mitgebracht?«
»Ja, und ich weiß noch nicht mal ein Rezept, wie man ihn genießbar zubereiten kann.«
»Frau Alyss, das Tier ist mit Gold aufzuwiegen.«
»Und wer, Meister Pauli, gibt mir das Gold für den lästigen Vogel? Wer, Meister Pauli, geht in unseren Kreisen zur Falkenjagd?«
»Je nun, eine berechtigte Frage. Aber es wird sich eine Antwort finden. Doch nun zum Geschäft, Frau Alyss. Wie steht es mit Euren Vorräten an Rheinwein?«
»Derzeit bescheiden, doch ich erwarte eine Lieferung aus der Pfalz. Der alte Peer und Euer Sohn Tilo müssten dieser Tage eintreffen.«
»Das freut mich zu hören. Dann nehmt meine Bestellung für das Gaffelessen entgegen.«
Alyss und der Tuchhändler einigten sich recht schnell über Menge, Qualität und Preis des Weins, und Alyss setzte ihr Siegel unter den Vertrag. Dieser Teil des Weinhandels lag gänzlich in ihrer Hand.
»Wie geht es Frau Mechtild?«, wollte sie dann wissen, als sie die geschäftlichen Abwicklungen beendet hatten. Die Gattin des Tuchhändlers war ihre Tante – zumindest im weitesten Sinne. Sie war die jüngere Halbschwester ihrer Mutter aus der zweiten Ehe ihres Großvaters, des Baumeisters Conrad Bertholf.
»Sie klagt über das Beschwernis ihres Leibes, wie üblich.«
»Die Geburt sollte kurz bevorstehen.«
»Das steht zu hoffen an. Aber auch wenn sie klagt, ist sie doch guter Stimmung. Besucht sie, wenn ihr ein wenig Zeit erübrigen könnt. Es ist ihr zu anstrengend, das Haus zu verlassen.«
»In den nächsten Tagen, Meister Pauli. Sowie die Lieferung eingetroffen ist.«
Er nickte und schob dann auf dem Schreibpult etwas verlegen das Tintenfass hin und her.
»Ich weiß, ihr seid eine rege Frau und kümmert Euch um viele Dinge. Darf ich Euch dennoch um einen weiteren Rat bitten?«
»Einen Rat oder einen Gefallen?«
Reinaldus Paulis breitflächiges Gesicht verzog sich entschuldigend.
»Welchen Gefallen?«, hakte Alyss nach.
»Ein Händler aus Friesland traf vorgestern bei uns ein. In seiner Begleitung hatte er ein junges Weib. Nicht das seine, um das klarzustellen. Ein verstörtes Geschöpfchen, hochschwanger und schreckhaft. Sie ist eines Nachts in ihrem Lager aufgetaucht und hat um Hilfe gebeten. Viel haben die Kaufleute nicht aus ihr herausbekommen. Nur dass sie mit Laurenz Stalen verheiratet war, der mit Venedig Handel trieb und bei einem Schiffbruch umkam. Stalen kannte ich flüchtig, wir sind uns in unserer Jugend dann und wann begegnet. Ich würde gerne etwas für seine Frau tun, aber derzeit kann ich Mechtild nicht zumuten, sich auch noch um eine Kranke zu kümmern.«
»Krank?«
»Eher an der Seele als am Körper. Sie schreit nachts in den Träumen, liegt zitternd und zähneklappernd in den Decken. Sie braucht weiblichen Trost, denke ich. Männer schrecken sie.«
»Ich will nicht ungefällig erscheinen, aber in diesem Haus wimmelt es mehr von Männern als von Frauen, vor allem, wenn Tilo, Robert und auch Arndt zurückkommen. Aber …« Alyss tupfte mit ihrem Zeigefinger an ihre Nase. »Ich wüsste eine Möglichkeit, Meister Pauli. Was haltet Ihr davon, die junge Witwe zu den Beginen am Eigelstein zu bringen? Sendet Catrin von Stave meine Grüße; sie wird sich um sie kümmern, bis sich eine bessere Lösung für sie findet.«
»Aber natürlich, Frau Alyss. Das ist eine gute Idee. Ich werde die frommen Frauen sogleich aufsuchen.«
»Wendet Euch an die Meisterin Clara, sollte Catrin nicht anwesend sein. Sie wird murren und stöhnen, aber sie ist eine herzensgute Frau, die keinem Leidenden die Hilfe versagt.«
Nach einigen weiteren, in Alyss’ Augen reichlich überflüssigen Plaudereien verabschiedete der Tuchhändler sich endlich, und sie konnte die Küche aufsuchen. Hilda wartete darauf, die Börse zu erhalten, damit sie die Einkäufe tätigen konnte.
Die Haushälterin war ungnädig gestimmt. Weniger wegen der Verzögerungen, die sich im Tagesablauf ergeben hatten, als über den neuen Logiergast.
»Es macht mir ja nichts aus, noch ein gefräßiges Maul mehr zu stopfen, Herrin, aber der Mann hat einen seltsamen Blick. Und er ist ein Verführer der Jugend.«
»Wen hat er in dieser kurzen Zeit bereits zu unsittlichem Tun verleitet?«
»Dazu nicht, aber der Frieder ist ganz aus dem Häuschen. Wegen des Vogels. Der Mann hat ihn fliegen lassen. Und dieses böse Tier hat den Storch vom Dach verscheucht. Und Ihr wisst doch, was das bedeutet.«
»Für Kindersegen braucht’s mehr als einen Storch auf dem Dach«, knurrte Alyss.
»Ja, einen Mann im Haus und einen Gatten im Bett!«, schnaubte Hilda. »Und deswegen ist es ein schlimmes Omen. Denkt an meine Worte, Herrin. Ein ganz schlimmes Omen.«
»Ach, pah!«
4. Kapitel
Es war wirklich ein geschäftiger Tag für die Herrin des Hauses van Doorne. Denn schon am Nachmittag traf ein weiterer junger Mann ein, der freudestrahlend verkündete, das Schiff mit der erwarteten Weinladung habe im Hafen festgemacht, und man benötige den Frachtkarren.
»Hervorragende Ware, Frau Alyss. Ganz hervorragende Ware haben wir eingekauft!«
»Du wirst es wissen, Tilo. Vermutlich hast du sie in ausreichender Menge verkostet.«
Alyss betrachtete den Sechzehnjährigen von oben bis unten. Konnte es sein, dass ein Junge in sechs Wochen einen Zoll gewachsen war? Doch sicher nicht. Es musste der Stolz auf die erste Handelsreise sein, die ihm eine so aufrechte Haltung verlieh. Nun gut, sie gönnte es ihm. Er war von den fünf Schützlingen in ihrem Heim der besonnenste.
»Natürlich haben wir uns Kostproben von den Weinen geben lassen. Wer weiß, was für einen Sauerampfer sie uns sonst angedreht hätten!«
»Von jedem Fass einzeln?«
»Ähm … nein.«
»Dann wollen wir hoffen, dass jene, von denen du keine Probe genommen hast, nicht doch gepantschte Lauge enthalten. Und nun lass dir vom Knecht den Karren anschirren. Nur gut, dass das Rad gerade gestern gerichtet wurde.«
Tilo verbeugte sich leicht vor Alyss und begab sich Richtung Hof. Dort kam Leocadie soeben aus dem Kräutergarten, machte offensichtlich eine freundliche Bemerkung über seine Heimkehr, und mit einem weiteren Seufzer beobachtete Alyss, wie Tilo ihr mit verklärtem Blick hinterhersah.
 
Als das Vesperläuten über der Stadt verklungen war, versammelte man sich in der geräumigen Küche zum gemeinsamen Abendessen. Merten hatte sich eingefunden, prunkte mit einer neuen Schecke aus grünem Tuch und setzte sich auffällig nahe zu der schweigsamen Leocadie, die ihm zwar einen seelenvollen Augenaufschlag gönnte, sich aber dann schüchtern in sich selbst zurückzog. Magister Hermanus sprach ein langes und salbungsvolles Tischgebet, währenddessen Alyss sich bemühte, ihr Gähnen zu unterdrücken, und dann Frieder einen strafenden Blick zusenden musste, weil der mit Tilo unter dem Tisch eine Rangelei angefangen hatte. John of Lynne saß regungslos neben ihr, doch zu ihrer Überraschung bemerkte sie, dass er unter halb gesenkten Lidern sehr aufmerksam die Gemeinschaft musterte. Den Tag über hatte sie keine Zeit gehabt, sich auch nur den kleinsten Gedanken zu dem unerwarteten Besucher zu machen, dazu würde sie, falls die Müdigkeit sie nicht vorher übermannte, aber noch diesen Abend kommen.
Hilda tischte eine große Schüssel mit gekochten Würsten auf, die mit ihrem Duft von Thymian, Majoran und Zwiebeln den Raum füllten. Frisches Brot, Bohnenmus, Krüge mit Apfelwein und Bier machten die Runde, nachdem Magister Hermanus endlich sein erlösendes Amen gesprochen hatte.
In der ersten Zeit herrschte die sprichwörtliche gefräßige Stille. Das Tagewerk hatte hungrig gemacht, alle langten herzhaft zu. Nur Lauryn zischte ihren Bruder Frieder einmal an, der ihr die halbe Wurst aus der Schüssel rauben wollte. Auf leisen Sohlen schlich sich auch Malefiz, der schwarze Kater, in den Raum, und Alyss war sich vollkommen sicher, dass er sich den einen oder anderen Wurstzipfel erschmeichelte. Tatsächlich reichte sie selbst ihm heimlich ein Häppchen zu, das er mit einem leisen Schnurren aus ihrer Hand nahm.
Auch das entging ihrem Gast augenscheinlich nicht, denn er hielt ebenfalls unauffällig ein Stückchen Wurst unter den Tisch. Dann aber, als der Korb mit den mit süßen Mandeln und Rosinen gefüllten Pasteten auf den Tisch gestellt wurde, erhob sich das Geplapper. Insbesondere Tilo wurde nach seinen Erlebnissen auf der Reise ausgefragt, und mit sichtlichem Vergnügen schilderte er die Fahrt auf dem Frachtkahn, die ihn an den gefährlichen Felsen der Loreley – nein, nein, leider hatte sie sich nicht die goldenen Locken gekämmt – und durch das brodelnde Binger Loch geführt hatte. Auch der Besuch bei den Winzern und die geschickten Verhandlungen, die er – na gut, vor allem Peer, der Handelsgeselle – geführt hatte, waren Stoff für ausführliche Schilderungen.
Zufrieden registrierte Alyss, dass ihre Schutzbefohlenen zwar Tilo lebhaft ausfragten, sich aber höflich zurückhielten und den Fremden am Tisch nicht sofort mit ihrer Neugier behelligten. Erst Merten zog den schweigsamen Engländer ins Gespräch.
»Eure Reise über die Nordsee verlief ruhig, Master John? Ich hörte, dass Kauffahrer der Hanse sich oft über das verbrecherische Treiben der Seeräuber beklagen.«
Schlagartig war es still in der Runde. Alle Augen richteten sich auf den Gast, und der spülte seinen letzten Bissen mit einem großen Schluck Apfelwein hinunter.
»Diese Überfahrt war friedlich. Aber Ihr habt sicher auch gehört, dass man die Vitalienbrüder in einer großen Schlacht besiegt hat.«
»Nein! Berichtet, Master John.«
»Oh ja, Master John. Wart Ihr dabei? Habt Ihr mit ihnen gekämpft?
»Wann geschah das?«
»Sind sie nun alle vernichtet?«
Wie Alyss feststellen konnte, ergötzte sich ihr Tischnachbar an den eifrigen Fragen, und als er sie zu beantworten ansetzte, konnte sie nicht umhin, seine Erzählkunst zu bewundern. Er beherrschte ihre Sprache zwar nicht vollendet, konnte sich aber sehr gut verständlich machen. Die jungen Leute hingen an seinen Lippen, als er von der wilden Seeschlacht bei Helgoland berichtete, bei der die hansische Flotte das berüchtigte Oberhaupt der Likedeeler, Klaus Störtebeker, gefangen nahm. Nein, er selbst sei nicht dabei gewesen, hatte aber Leute getroffen, die auf der »Bunten Kuh« gefahren waren. Auch die unglaubliche Geschichte der Hinrichtung des Seeräubers nahm die Zuhörer gefangen. Alyss hegte jedoch gewisse Zweifel daran, dass der enthauptete Störtebeker noch an elf seiner Kumpanen vorbeigelaufen sein sollte, um deren Begnadigung zu erwirken, und erst zu Boden gestürzt sei, als der Henker ihm ein Bein stellte. Sie hatte selbst – mit Schaudern erinnerte sie sich daran – vor Jahren einer öffentlichen Hinrichtung beigewohnt, und der Delinquent war, nachdem das Richtschwert gefallen war, absolut nicht mehr in der Lage gewesen, auch nur noch einen Schritt zu tun. John of Lynne schien eine Neigung zu blumigen Ausschmückungen zu pflegen und es mit der Wahrheit nicht ganz so genau zu nehmen. Sein Publikum aber dankte es ihm mit atemloser Aufmerksamkeit. Ja, das Treiben der Seeräuber sei eingedämmt, seit die dreiundsiebzig Männer bestraft worden waren, doch ausgerottet waren sie noch lange nicht. Die friesischen Häuptlinge boten ihnen von jeher Schutz und Obdach, versteckten Schiffe und Ladungen, sorgten dafür, dass die gekaperte Ware gewinnbringend weiterverkauft wurde, und manch unredlicher Kaufmann machte dadurch doppeltes Geschäft.
Das war neu für Alyss, und nun lauschte auch sie fasziniert. Die Seeräuber, die sich mit den Friesen auf den Inseln zusammengetan hatten, lernte sie, lockten Kauffahrteischiffe mit falschen Leuchtfeuern auf die Sandbänke, plünderten sie, meuchelten die sich wehrenden Besatzungen und Passagiere oder nahmen sie als Geiseln und verlangten von deren Verwandten hohe Auslösesummen.
Die junge Witwe, die Reinaldus Pauli an diesem Vormittag erwähnt hatte, fiel ihr ein. Doch er hatte von Schiffbruch gesprochen, nicht von Überfall. Wie dem auch gewesen sein mochte, ihre Freundin Catrin würde ihre Neugier sicher befriedigen, wenn der Tuchhändler die Frau wirklich bei den Beginen untergebracht hatte.
Inzwischen hatte die Tischgesellschaft jegliche Hemmungen verloren, und man überbot sich gegenseitig mit Fragen an den Erzähler. Gutmütig beantwortete John sie und ließ auch grausigste Einzelheiten nicht aus. Die wilden Friesen, die zwar getauft, aber nicht eben zu den wirklich frommen Christen zählten, sondern den alten, streit- und trunksüchtigen Heidengöttern zugetan waren, bannten besonders ihre Aufmerksamkeit.
Bis Magister Hermanus einschritt.
»Hört, Master John of Lynne, Eure Geschichte mag wahr sein oder nicht, doch sie dient nicht der Erbauung junger Seelen. Bedenkt, dass zarte Jungfern am Tisch sitzen und auch die Herrin des Hauses.«
Alyss sah sich zu ihrem Bedauern gezwungen, dem Gast zur Mäßigung zu raten, nicht weil sie um den Seelenfrieden ihrer Schützlinge gebangt hätte – die christlichen Märtyrerlegenden waren in ihrer Blutrünstigkeit den Geschichten von Heiden und Seeräubern durchaus ebenbürtig -, aber der arme Geistliche hatte einen schweren Stand in ihrem Heim, weshalb sie seine Autorität ein wenig stützen musste. Den Hauspfaff nannten sie ihn hinter seinem Rücken und spöttelten über seinen unersättlichen Appetit. Er war auch kein ganz und gar angenehmer Mensch, aber ein Verwandter ihres Mannes, der über keinerlei eigenes Geld verfügte. Seine Tätigkeit als Messner von Lyskirchen brachte ihm nur einen Hungerlohn und eine zugige Kammer auf dem Dachboden des Pfarrhauses ein. Dafür musste er die Pfarrschule leiten, die Kirche in Ordnung halten, die Glocken läuten und dem Pfarrer mit allerlei Dienstleistungen zur Seite stehen.
Alyss’ Einschreiten brachte der Gesellschaft überdies zu Bewusstsein, dass es Schlafenszeit war. Hedwigis und Lauryn übernahmen auf Alyss’ Weisung den Tischdienst, die anderen verließen mit höflichen Verbeugungen vor ihr die Küche. So tat es auch John of Lynne, doch er hatte noch ein paar Worte an sie zu richten.
»Ich hoffe, Mistress Alyss, meine Geschichte hat Euch nicht aufgeregt und wird Euch nicht den Schlaf rauben.«
»Nein, Master John. Ich habe schon schrecklichere gehört. Den Schlaf wird mir eher die Sorge um den Falken rauben.«
Er lachte auf.
»Er ist gut versorgt in Eurem Stall.«
»Ja, bis ich einen Weg gefunden habe, wie ich ihn auf dem Grillspieß zu einem genießbaren Geflügel verarbeiten kann«, knurrte sie.
»Wir lassen ihn morgen fliegen, Mistress Alyss. Und dann werdet Ihr ihn lieben lernen.«
Er verneigte sich ebenfalls anmutig und schien durch das schroffe Wesen der Hausherrin nicht im Mindesten beeindruckt zu sein.
Mit einem winzigen Lächeln in ihren Augenwinkeln sah Alyss ihm hinterher. Dann scheuchte sie auch die Mädchen zu Bett, strich Malefiz, der sich vor dem warmen Herd zusammengerollt hatte, über den Kopf und begab sich selbst in ihre stille Kammer.
 
 
Das Gemach, das Hausherr und -herrin bewohnten, war neben dem Saal das größte im Haus. Seine beiden Fenster führten zum Hof hinaus, die dunklen Deckenbalken waren mit Schnitzereien verziert, genau wie auch die Schiebetüren, die den breiten Alkoven vor Zugluft schützten. Ihre Gewänder, Laken und Decken waren in einem mächtigen Eichenschrank und zwei Truhen untergebracht, ein Holzzuber, ein Schaff und eine große Zinnkanne mit Wasser standen für die Toilette bereit, und in der Ecke lud auf einem niederen Podest der kleine Hausaltar zur Andacht ein.
Alyss legte die Tageskleider ab und schlüpfte in ein einfaches Hemd. Mit einem müden Blick streifte sie das schlichte Kreuz und zündete dann das Nachtlicht an. Liebevoll betrachtete sie die beiden Holzfiguren, die Maria und Joseph darstellten. Ihre Mutter hatte ihr dieses kleine Kunstwerk mitgegeben, als sie aus ihrem Heim ausgezogen war, um an der Seite ihres Gatten zu leben. Aus silbrigem Holz war der Heilige geschnitzt, der seinen Arm fürsorglich um die aus goldfarbenem Holz gearbeitete Gottesmutter legte. Sie aber schaute fast ein wenig herausfordernd zu ihm auf. Diese köstliche Schnitzerei aus der Hand des begnadeten Bruders Bertram, eines Benediktiners, erschien ihr als ein Sinnbild vollkommener ehelicher Gemeinschaft. Als solches hatte sie es schon als Kind gesehen.
Und eine solche hatte sie sich auch von ihrer Heirat erhofft, und anfangs war es ihr so vorgekommen, als ob ihr Wunsch auch in Erfüllung gegangen wäre. Das erste Jahr war Arndt überwiegend zu Hause geblieben. Sie hatte ein Kind von ihm empfangen und geboren, was ihn glücklich zu machen schien. Doch dann hatte er seine Reisen wieder aufgenommen. Erst nur kurze, dann immer längere, und nach dem Unfall hielt er sich nur noch dann und wann für wenige Wochen zu Hause auf.
Er hatte ihre Trauer nicht ertragen, vermutete Alyss.
Er hatte sich eine junge, willige Gattin gewünscht, doch nach dem Tod ihres Sohnes hatte Alyss wochenlang kaum ein Wort gesprochen und war ihren ehelichen Pflichten nicht eben mit Freude nachgekommen.
Vielleicht war er ebenso untröstlich wie sie, aber nie fand sie die richtigen Worte, um mit ihm darüber zu sprechen, und darum flüchtete sie sich in die Arbeit, führte seine und ihre Geschäfte, besorgte das Haus und bewirtete seine und seines Bruders Gäste.
Man hatte sie zwar gelehrt, ein Nachtgebet zu sprechen, doch das tat sie selten. Sie hatte sich vielmehr angewöhnt, vor dem Schlafengehen die Ereignisse des Tages noch einmal zu durchdenken. Und das tat sie gerne vor dem Hausaltar, denn das geschnitzte Paar, Maria und Joseph, hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihren Eltern.
Und die liebte sie sehr. So empfand sie denn ihr stilles Gespräch auch beinahe so, als ob sie bei ihnen wäre und ihnen, wie sie es als Kind so oft getan hatte, ihre kleinen und großen Erlebnisse schildern konnte. Almut und Ivo vom Spiegel hatten ihr immer geduldig zugehört, und das taten Maria und Joseph nun auch.
Neben vielen Kleinigkeiten war es vor allem John of Lynne, über den sie sich Klarheit verschaffen wollte. Ihr Schwager Robert hatte ihn immer mal wieder erwähnt, wenn er über seine Tätigkeit und seine Reisen sprach. John war sein Partner in England, wo er von den dortigen Tuchwebern Ware aufkaufte und sie nach London zum Stalhof, der Niederlassung der Hanse, brachte. Wie genau die beiden Männer zusammengefunden hatten, wusste sie nicht, nur dass ihr Schwager immer mit Anerkennung über Johns Vorgehen beim Einkauf hochwertiger Tuche sprach. Er schien kaufmännisches Geschick zu beweisen, hatte ein Auge für Qualität und ganz offensichtlich auch ein einnehmendes Wesen, wenn man an seine Art des erzählerischen Garnspinnens dachte. Auf eigene Rechnung, daran erinnerte sie sich jetzt, bildete er Falken aus. Das hatte Robert irgendwann einmal berichtet. Jagdfalken waren wertvoll; trotz ihrer knurrigen Bemerkungen über den Grillspieß wusste Alyss das recht gut. Und weiße Gerfalken waren sogar ein hohes Luxusgut. Allmächtiger Vater, was sollte sie nur mit dem Tier anfangen? Sie würde es zumindest so lange behalten und sorgsam pflegen müssen, wie John of Lynne in Köln weilte. Dann würde man sehen. Merten, fiel ihr ein, pflegte Umgang mit ein paar adligen Müßiggängern, deren Eltern vor der Stadt Grund besaßen. Unter Umständen reizte jemanden von denen die Vorstellung, mit einem edlen Gerfalken auf die Jagd zu gehen.
Und dann musste sie sich in den nächsten Tagen unbedingt die Zeit nehmen, nicht nur Frau Mechtild zu besuchen, sondern sich auch nach der schwangeren, verstörten Witwe zu erkundigen. Die Berichte von den rauen Friesen ließen Alyss nicht ganz los. Möglicherweise entpuppte sich Master John da als Helfer, der etwas mehr Licht in die Angelegenheit bringen würde.
Ja, und dann musste sie ein strenges Auge auf die Rasselbande in ihrem Haus haben. Tilos schafsgesichtiger Blick, wann immer er Leocadies ansichtig wurde, versprach Ärger. Desgleichen Lauryns sehnsüchtiges Starren, wenn sie Tilo beobachtete.
Alyss seufzte.
»›Die Liebe – wer sich nicht hüten kann – sie blendet wohl den weisen Mann‹«, murmelte sie die Worte ihres Lieblingsdichters.
Und dann ging sie zu Bett.
5. Kapitel
Sorgfältig notierte Alyss die eingetroffenen Fässer mit Pfälzer Wein in ihrem großen Haushaltsbuch, rechnete die bisherigen Bestellungen dagegen und markierte die Forderungen an ihre Kunden mit einem Kringel. Das war ihr eigenes System, um den Überblick darüber zu behalten, wer ihr noch Geld schuldete und bei wem sie noch offene Rechnungen zu begleichen hatte.
Der Morgen war frisch, und Vogelgesang tönte laut vor dem Fenster. Das Rollen der Frachtkarren, die ihre Ladungen vom Rheinhafen durch die Witschgasse zu den Märkten brachten, das Schnauben der starken Zugpferde und das Gebrüll der Fuhrleute, die sich über Hindernisse aufregten, störte sie bei ihren konzentrierten Arbeiten nicht. Mit flinken Fingern schob sie die klappernden Kugeln ihres Abakus hin und her, eine Fertigkeit, um die sie mancher Kaufmann beneidete. Sie hatte allerlei Währungen im Kopf und konnte Dukaten und Gulden, englische Nobel und welsche Ecu umrechnen, wusste um die Verhältnisse von Pfennigen zu Hellern, Groschen zu Kreuzern, den kleinen Münzen des täglichen Bedarfs, und war sogar in der Zinsrechnung bewandert. Diese Kenntnisse hatte sie sich in der Zeit erworben, die sie bei ihrer Tante Aziza in Burgund verbracht hatte. Damals, zwischen ihrem dreizehnten und neunzehnten Lebensjahr, hatten sie und ihr Bruder Marian im Haushalt des Weinhändlers Leon de Lambrays ihre Ausbildung erhalten, so wie sie jetzt selbst die Kinder ihrer Verwandten betreute. Aziza, die früher in Köln als Geldwechslerin tätig gewesen war, hatte ihr Interesse an den Zahlen geweckt und dabei ihr Talent für die Rechenkunst entdeckt. Marian hatte ebenfalls Freude an mathematischen Spielereien, aber die abstrakten Gedankenübungen fesselten ihn nicht so sehr wie seine Schwester. Er war praktischer veranlagt, wollte, wenn er zählte oder teilte, die Dinge in der Hand halten oder vor sich sehen.
Ihre Ausbildung in dem Haushalt des Winzers und Weinhändlers Leon de Lambrays hatte etwas länger als üblich gedauert, weil in jenen Jahren in Köln die erbitterten Kämpfe der Zünfte gegen die Patrizierherrschaft tobten und es für die Eltern eine große Beruhigung war, ihre Kinder in sicherer Entfernung zu wissen. Nichtsdestotrotz war es für Alyss und Marian eine glückliche Zeit gewesen.
Glockenschläge kündeten die Terz, und mit ihnen kündigte auch Hilda wieder einmal einen Besucher an.
»Ein Haufen Fremder kreuzt hier auf, Herrin. Schon wieder einer aus dem Norden. Er will den Herrn sprechen. Hab ihm gesagt, dass Ihr seine Geschäfte führt. Er wollt’s nicht glauben«, brummelte sie düster.
»Er wird es lernen, wenn er etwas von dem Herrn will. Führ ihn zu mir; ich will mir sein Anliegen anhören.«
Ein vierschrötiger Mann in pelzbesetztem Lederwams wies sich tatsächlich als Nordmann aus. Harro Peddersen, wenn auch ein gestandener Kaufmann aus dem Wik, der Handelsniederlassung der Friesen in Köln, fühlte sich erkennbar unwohl in dem Kontor, in dem eine Frau hinter dem Schreibpult saß und ihn mit kühlen Augen musterte.
»Was ist Euer Begehr, Harro Peddersen?«, fragte Alyss ihn ohne weitere höfliche Floskeln.
»Ich muss mit Arndt van Doorne sprechen.«
»Mein Gemahl befindet sich auf Reisen. Wenn es sich um eine geschäftliche Angelegenheit handelt, will ich Euch gerne behilflich sein. Solltet Ihr ein privates Anliegen haben, werdet Ihr Euch gedulden müssen, bis er heimgekehrt ist. Wir nehmen an, dass er in den nächsten Wochen eintreffen wird, doch genaue Kenntnis, wann das sein könnte, haben wir nicht.«
Der Kaufmann trat verlegen von einem Bein aufs andere.
»Muss ihn sprechen!«, murmelte er. »Wegen Geld.«
»Wenn es um Geld geht, könnt Ihr auch mit mir sprechen, Kaufmann.« Alyss war von den meisten Kaufleuten, mit denen sie Handel trieb, selbstverständlich anerkannt, bei Fremden aber verspürte sie jedes Mal Ungläubigkeit und Misstrauen. »Ich bin Sieglerin und damit berechtigt, Geschäfte abzuwickeln.«
Zur Demonstration holte sie das Siegel aus dem Kasten und reichte es ihm. Er begutachtete das kleine Petschaft aufmerksam. Alyss’ Siegel zeigte eine elegante Frau, die das Wappen derer vom Spiegel hielt und dessen Umschrift lautete: S’ Alyss vom Spiegel Civise Col.
Harro Peddersen schien das Lesen nicht sehr geläufig zu sein, seine Lippen formten mühsam die Laute der Buchstaben nach. Alyss half ihm zuvorkommend aus: »Sigillum der Alyss vom Spiegel, Bürgerin von Köln. Das Wappen, Kaufmann, ist das meines Vater. Er führt drei Spiegel im Schild.«
»Nicht das Eures Ehemanns?«
»Mein Vater ist Patrizier dieser Stadt.«
Peddersen zuckte ob des Tones merklich zusammen.
»Gewiss, nur...«
»Sind die Geschäfte, die Ihr mit Arndt van Doorne tätigt, so heimlicher Natur, dass Ihr sie mir gegenüber nicht erwähnen könnt?«
Noch einmal zuckte der Mann bei der scharfen Frage zusammen. Dann langte er in seinen Beutel und holte ein speckiges Stück Pergament hervor. Unschlüssig drehte er es in der Hand, dann stieß er sie vor und knallte es auf das Pult.
»Bekomme Geld von ihm.«
»Das war zu erwarten. Wofür?«
»Dafür!«
Alyss nahm das gefaltete Schreiben, klappte es auf und las: »Arndt van Doorne zahlt gegen diesen Brief am ersten Tag des Julius im Jahre des Herrn 1402 an Harro Peddersen insgesamt 15 Gulden. Damit sind meine Schulden an ihn beglichen. Folcko von Marienhafe, im März des selben Jahres.« Daneben standen Arndts Schriftzug und sein Siegel.
Ein Wechsel auf einen unerfreulich hohen Betrag und ein Geschäft, das sich, wieder einmal, ihrer Kenntnis entzog. Wenn Alyss auch verärgert darüber war, so gebot es doch die Ehrenhaftigkeit, die fällige Wechselschuld umgehend zu begleichen. Wortlos ging sie zur Truhe, holte den schweren Geldbeutel hervor und zählte dem verdutzten Kaufmann die Goldstücke vor.
»Unterschreibt auf der Rückseite des Wechsels, dass Ihr das Geld von mir erhalten habt, Harro Peddersen«, forderte sie, als der Mann die Münzen in seinem Beutel verstaut hatte. Unbeholfen krakelte der seinen Namen auf das Pergament und setzte sogar sein Siegel neben das von Alyss. Sie verabschiedete ihn darauf kalt, beinahe unhöflich, was aber vor allem mit ihrer überschäumenden Wut zu tun hatte, nicht mit seiner berechtigten Forderung.
Was für Geschäfte hatte Arndt mit einem Folcko betrieben? Vor allem über einen derart hohen Betrag? Er hatte fast die gesamte Barschaft aufgezehrt. Noch drei Gulden waren übrig. Es war ein gewaltiger Schlag ins Kontor.
Dennoch trug sie gewissenhaft die Ausgabe in ihr Buch ein.
Und dann kam ihr glücklicherweise das Komische der Situation in den Sinn. Der arme Peddersen hatte ganz offensichtlich nicht geglaubt, dass er für den schmierigen Fetzen Pergament tatsächlich einen Haufen Gold bekommen würde, und war wohl auf eine lange Auseinandersetzung mit Arndt vorbereitet gewesen. Und dann war er auf sie, die Herrin des Hauses, getroffen, von der er noch weniger vermuten konnte, dass sie den Sinn des Wechsels verstand.