Gefangene des Scheich - Cassandra Norton - E-Book

Gefangene des Scheich E-Book

Cassandra Norton

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Beschreibung

Victoria Stockbridge, eine junge Adelige im London der 1920er Jahre, verliebt sich Hals über Kopf in den verschlossenen Nicolas Whitby. Kurzentschlossen folgt sie ihm bis nach Arabien, wo sie ihn in einer vollkommen fremden Welt findet. Er ist ein gefürchteter Stammesfürst - und außer sich vor Wut, als er Victoria entdeckt! Er will Victoria für ihre Tollkühnheit eine Lektion erteilen, doch was als sinnliche Bestrafung beginnt, verwandelt sich rasch in wilde Leidenschaft. Aber dann wird Victoria von Nicolas' Todfeind, dem Schwarzen Prinzen, entführt, mit dem Nicolas noch eine Rechnung offen hat ...

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Cassandra Norton

Gefangene des Scheichs

Erotischer Roman

Inhaltsverzeichnis

Cassandra Norton

Gefangene des Scheichs

Erotischer Roman

GREEN EYES BOOKS

Copyright © 2020 by Green Eyes Books GbR, Altleiningen

Covergestaltung: Michael Troy, MT-DESIGN

Bildnachweis: © Gosia_Sz, www.shutterstock.com, © Oliver Denker, www.shutterstock.com, © sirtravelalot, www.shutterstock.com

www.green-eyes-books.de

Die Wüste ist ein Meer aus goldenem Wasser.

Nicolas Whitby

Kapitel 1

Nachdem der Nebel sich gegen Mittag etwas aufgelöst hatte, setzte der Regen ein. Er fiel in dünnen Fäden. Dicht an dicht. Wer den Londoner Nebel kannte, wusste aber, dass er keineswegs Staub und Ruß abwusch, sondern lediglich eine schmierige Masse entstehen ließ, die noch schwieriger zu reinigen war.

Emily schleppte seit Stunden Eimer voller Kohle aus dem Souterrain in die Herrschaftszimmer im ersten und zweiten Stock des Anwesens in Belgravia. Der Schweiß perlte unter den Löckchen hervor, die nur unzureichend von einem zerdrückten Häubchen gehalten wurden.

Vor dem Zimmer der Tochter des Hauses hielt sie einen Moment inne. Ihre Brust schmerzte von der Anstrengung, und ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Allein die leise Grammofon-Musik, die durch die Tür an ihr Ohr drang, munterte sie ein wenig auf. Es war eine beschwingte Melodie, und der Text hatte – soweit sie ihn verstehen konnte – etwas mit einem Burschen zu tun, der sich auf den Tanz mit seinem Mädchen freute.

Emily selbst hatte keinen Freund. Es hätte auch wenig Sinn gemacht, denn sie suchte ständig nach einer neuen Anstellung, in der es ihr vielleicht wenigstens ein klein wenig besser ginge als in der vorherigen.

Noch einmal drückte sie ihren Rücken durch, richtete sich auf und klopfte dann vorsichtig an.

Ihr Herz begann zu rasen, als sie Lady Victoria Stockbridges Stimme hörte, die ihr den Zutritt in ihre privaten Zimmer gestattete. Käme jetzt der Butler oder ein anderes höhergestelltes Mitglied des Personals vorbei und erwischte sie dabei, wie sie Kohlen in Anwesenheit der jungen Dame nachfüllte, würde sie mit einem schlimmen Rüffel rechnen müssen.

Wie immer, wenn sie diese Räume betrat, erfüllte größtes Vergnügen Emilys Herz. Lady Victorias Zimmer strahlte eine freundliche Wärme aus, die eine Reflektion ihrer Bewohnerin zu sein schien. Im Gegensatz zu ihren Eltern war Victoria immer freundlich zu ihr. Ja, sie hatte ihr sogar schon das ein oder andere Mal ein kleines Geschenk gemacht, das Emily in ihrer kleinen Kiste unter ihrem Bett in größten Ehren hielt.

Für das Küchenmädchen war Victoria Stockbridge die schönste junge Dame, die sie je gesehen hatte. Nicht eben groß, aber von weiblicher Figur, mit großen grünen Augen und tizianrotem Haar, das sie nach neuester Mode kurz geschnitten trug. Das volle, in weichen Wellen fallende Haar war ein Erbteil ihrer Mutter, die sich allerdings weigerte, ihr Haar abschneiden zu lassen und es noch immer, in guter edwardianischer Tradition, voluminös aufgesteckt trug.

Miss Victoria saß an ihrem Sekretär und öffnete gerade die Morgenpost, als Emily eintrat, einen Knicks machte und sich dann zu der Schütte vor dem offenen Kamin begab.

„Nun, Emily … Du bist spät dran …“ Das Lächeln, das ihre wohlgeformten Lippen umspielte, spiegelte sich in ihrer Stimme.

„Ja. Verzeihung, Miss. Aber der Kohlenhändler kam nicht rechtzeitig. Er sagte, der Nebel hätte ihn aufgehalten.“

Victoria drehte sich um und erklärte mit spitzbübischem Grinsen: „Es war wohl eher der Gin! Nun gut … bei dem Wetter …“

„Ja, Miss.“

Victoria erhob sich von ihrem zierlichen Stuhl und trat an das hohe Fenster, welches den Blick auf die Straße vor dem Haus ermöglichte.

„Der Regen hört gar nicht mehr auf. Ich denke, wir werden das Licht brennen lassen müssen.“

„Sehr wohl, Miss.“

Zwar schaufelte Emily vorsichtig die Kohlestücke in die Schütte, doch hatte sie mit einem Auge Miss Victorias Kleid genau im Blick. Es war eine flaschengrüne Chiffon-Kreation mit loser Taille, von der ein üppig mit Perlen besticktes Band herabhing, welches bei jeder Bewegung ihrer Herrin im Licht funkelte. Der weich fließende Stoff umspielte Victorias Formen und ließ sie noch graziler wirken.

Doch nicht nur Kleid und Frisur unterstrichen den Unterschied zwischen Victoria und ihrer Mutter. Es war die gesamte Haltung. Wo Lady Stockbridge eine beinahe majestätische Würde und Steifheit an den Tag legte, mit leicht affektiert abgewinkelten Handgelenken, strahlte ihre Tochter eine gewisse Nonchalance aus, die den modernen jungen Leuten innezuwohnen schien.

Wobei Emily nun nicht behaupten konnte, dass sie Ihre Ladyschaft sonderlich oft zu Gesicht bekam. Höchstens einmal, wenn es eine große Einladung gegeben hatte und die Dame des Hauses in das Souterrain kam, um sich bei den Dienstboten für den reibungslosen Ablauf zu bedanken. Dann stand Emily am Ende der langen Reihe, die vom Butler und der Köchin angeführt wurde, und konnte sich nicht sattsehen an der hochgewachsenen Frau mit den beinah herben Zügen.

Als das letzte Kohlestück umgefüllt war, erhob Emily sich mit knackenden Gelenken, griff ihren Kohlekasten und wartete, ob Victoria noch einen Wunsch äußern würde. Da diese aber schweigend aus dem Fenster blickte, ergriff Emily selbst das Wort: „Soll ich noch stärker nachfeuern, Miss?“

Ein leichter Ruck ging durch die junge Frau. Offensichtlich hatte Emily sie aus ihren Gedanken gerissen. „Nein. Nein, ich denke, das genügt fürs Erste. Danke.“

Emily machte einen Knicks, wobei sie einen dunklen Fleck auf ihrer Schürze bemerkte, für den sie sich etwas schämte. Sie verließ zügig das Zimmer, wobei das Papier, mit dem sie ihre Schuhe ausgestopft hatte, drückte. Sie hatte sie von Polly, einem der Stubenmädchen, „geerbt“. Doch Polly hatte größere Füße als sie, und so hatte sie sich behelfen müssen, indem sie ein Stück der Zeitung des Herrn ausgerissen und hineingestopft hatte.

Seit fünf Uhr war sie am Schuften, und das Leben schien ihr ein nicht endender Strom aus Erschöpfung und Schmerzen im Rücken und in den Beinen zu sein.

Victoria war ebenfalls noch müde. Sie hatte zwar ihre Post geöffnet, doch empfand sie keinerlei Lust, die Briefe und Einladungen zu lesen, die Tag für Tag auf ihrem Sekretär landeten wie trockenes Laub im Park.

Ihre Ballrobe vom Vorabend war bereits bei ihrer Zofe verschwunden, damit diese das wertvolle Stück reinigen und den ausgetretenen Saum nähen konnte. Billy Arbiter war ihr beim Twostepp so unglücklich auf die Füße getreten, dass das Kleid gelitten hatte. Ähnlich wie ihre Zehen.

Heute waren allein fünf Einladungen zu Hausbällen, Soireen und Diners eingetroffen, und Victoria wusste bereits jetzt, welche ihre Mutter zur Annahme empfehlen würde und welche sie würde ausschlagen müssen.

Schmunzelnd dachte sie an Emily und mit welcher Begeisterung diese wohl zu einem Tanztee gehen würde, wenn sie denn könnte. Für Victoria aber waren diese Veranstaltungen nichts als das sinnlose Ausfüllen der leeren Zeit, bis sie einen passenden Ehemann finden würde.

Die immer gleichen Leute mit den immer gleichen Themen in den immer gleichen Häusern. Was nach ihrer Einführung in die Gesellschaft und der Präsentation bei Hof noch große, glänzende Augen und ein hektisches Beben in ihr ausgelöst hatte, war mittlerweile beinahe zu einer Strapaze verkommen. Eine Strapaze, die stoisch zu ertragen ihre Mutter sie nur zu gern gelehrt hätte.

Bei dem Gedanken an ihre Mutter fiel ihr ein, dass Lord Astenbury ihr eine Botschaft für sie aufgetragen hatte, und ein Blick auf die Uhr unter der Glasglocke auf dem Kaminsims sagte ihr, dass es höchste Zeit war, ins Wohnzimmer zu gehen, um die Nachricht zu überbringen.

Ihre Mutter saß wie immer kerzengerade ganz vorn auf dem Sofa, als gelte es, absolute Aufmerksamkeit für einen unsichtbaren Gast zu demonstrieren.

In ihrer Hand hielt sie eine zierliche Porzellantasse, und vor ihr auf dem niedrigen Tisch stand eine silberne Platte mit Gurkensandwiches. Sie trug ein marineblaues Kostüm und eine cremefarbene Seidenbluse mit modisch tief sitzender Taille. Um den Hals hatte sie eine dreireihige, lange Perlenkette geschlungen. Der einzige Schmuck an ihrem Kleid bestand in einem kleinen Seidenblumenbukett in Creme und Marine, das auf ihrer Schulter befestigt war.

Als sie Victoria bemerkte, setzte sie die Tasse ab und lächelte sie an.

„Guten Morgen, mein Kind! Nun? Wie war die Einladung bei Astenburys?“

„Nett. Danke.“

Victoria brauchte nicht mal zu ihrer Mutter hinzusehen, um die Missbilligung zu erkennen, als sie sich ein Sandwich nahm und wenig elegant in den Ledersessel fallen ließ.

„Der Vorteil der Jugend ist, dass man ungestraft alles essen kann, was man mag“, kommentierte sie mit einem Lächeln, das ein Kompliment an ihre perfekte Figur förmlich herausforderte.

Victoria verdrehte ein wenig die Augen und biss hungrig ab.

„Hast du Dickie Pontecore getroffen?“

Schlagartig verging ihr der Appetit. Dickie Pontecore … So weit war es also schon, dass ihre Eltern bereit waren, sie einem amerikanischen Finanzhai in den Rachen zu schleudern, nur um die störrische Tochter doch noch unter die sprichwörtliche Haube zu bringen. Fast bereute sie es, heruntergekommen zu sein, nachdem ihre Mutter mal wieder dieses leidige Thema eröffnen wollte.

„Ja, Mama. Er war auch da. Und ich habe mit ihm getanzt.“

„Schön“, sagte ihre Mutter und lächelte versonnen auf die silberne Teekanne. „Er hat ein gewaltiges Vermögen, heißt es.“

„Ach, Mutter. Du kennst dieses Vermögen doch garantiert bereits bis auf den letzten Penny.“

Das war eine offene Kriegserklärung, und ihre Mutter verstand sie offensichtlich auch so, denn sie erhob sich ruckartig und trat ans Fenster.

„Victoria, ich kann nicht verstehen, wie du dich dermaßen gegen eine Heirat sträuben kannst.“

„Könnten wir bitte das Thema wechseln?“ Es war ein matter Versuch, die Gedanken der Mutter in andere Bahnen zu lenken.

„Mein Kind, es wird von unserem Geschlecht erwartet, einen passenden Ehemann zu wählen und ihm Kinder zu schenken. Das ist die vornehmste Aufgabe der Frau. Dein Vater und ich haben dich nicht zu einem Blaustrumpf erzogen! Dickie Pontecore ist an dir interessiert. Das steht fest. Du brauchst also nur Ja zu sagen und alle – du inbegriffen – sind glücklich. Er ist zwar Amerikaner, aber er bringt alles mit, was einen guten Ehemann ausmacht.“

„Jaaaa …“, sagte Victoria gedehnt und schenkte sich Tee ein. Wenn sie sich schon einen Vortrag anhören musste, konnte sie das auch mit gewärmtem Magen tun.

„Liebes, es geht doch um dein Glück.“

Jetzt hätte sie sich beinahe an ihrem Tee verschluckt. „Um mein Glück geht es also?“

„Ja. Dein Glück an der Seite eines wohlsituierten Mannes, der dir alles bieten kann, was du dir wünschst.“

„Genau. Er bringt das Geld und ich …“

Ihre Mutter fiel ihr ins Wort.

„Ich hoffe doch sehr, du favorisierst nicht diese fürchterlichen Ansichten, die unter den jungen Leuten derzeit so in Mode sind.“

„Und am Ende wollen die Frauen noch in die Regierung.“ Es war ihr Vater, der das sagte. Er war unbemerkt eingetreten, elegant wie stets, in einer samtenen Hausjacke mit einem Monokel in der Seitentasche, das er zwar nicht benötigte, das ihm aber einen gewissen Nimbus verlieh, mit dem er gerne kokettierte.

„Alastair! Wie zeitig du heute bist!“

Er beugte sich zu Victoria herab, gab ihr einen sanften Kuss auf die Wange und begrüßte dann seine Frau auf die gleiche Art und Weise.

„Ja. Ein höchst amüsanter Bursche, den Rodham irgendwo in der Royal Society aufgetan hat, kommt zum Lunch.“

Amüsante Burschen zählten eindeutig nicht zu Lady Stockbridges Favoriten. „Vielleicht ist das ja ein Heiratskandidat für unsere innig geliebte Tochter.“ Lord Stockbridge liebte es, seine Frau aufzuziehen, wenn auch allen klar war, dass ihm mindestens ebenso viel an dem Thema lag wie seiner Frau. Ja, dass er keine Gelegenheit verstreichen ließ, seine Tochter mit aussichtsreichen Kandidaten zusammenzubringen.

Victoria beschlich von Tag zu Tag mehr die Überzeugung, dass es für ihre Eltern kein anderes Thema bezüglich der Tochter gab, das ihre Aufmerksamkeit auch nur annähernd so zu fesseln vermochte. Wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich elend, hatte sie doch keine Alternative zu jenen Männern, die ihre Eltern für angemessen hielten, geschweige denn zum Stand der Ehe ganz allgemein.

Sie hatte nicht den Vorzug einer Tochter aus der Mittelschicht, die sich eine Stelle als Sekretärin suchen konnte. Vor ihrem inneren Auge sah sie all die jungen Männer ihrer Generation, die aus dem Krieg heimgekehrt waren. Wund an Leib und Seele, gezeichnet von den Erlebnissen in der Hölle. Viele von ihnen noch immer im Krieg – mit sich selbst und der Welt im Allgemeinen. Nein, so einen Mann wollte sie nicht! Dann lieber die vorwurfsvollen Blicke der Eltern ertragen und alleine durchs Leben gehen. Irgendwann mussten sie ja doch aufgeben. So zumindest Victorias stille Hoffnung.

Der mit den Morgenzeitungen eintretende Butler brachte eine kurze Ablenkung in die kleine Gruppe. Lady Stockbridge setzte sich in einen der Sessel und begann, wie die anderen auch, in ihren frisch gebügelten Zeitungen zu lesen. Allein – das Schweigen, das sich nun im Raum ausbreitete, war nur ein kurzes Atemholen, und das wusste Victoria. Ein zähes, lähmendes Gefühl legte sich über sie. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als endlich nicht mehr an einen möglichen Ehemann denken zu müssen.

„Ich gehe mal hoch und schreibe den Dankesbrief an die Astenburys. Ach, Mama, ich soll dir noch ausrichten, dass du in Ascot auf Thunderbolt setzen sollst.“

Lady Stockbridge blickte von ihrer Zeitung hoch und lächelte. „Ah ja … Georgies neueste Errungenschaft. Danke dir, Liebes.“

Victoria entfloh beinahe dem Salon, wenig erpicht darauf, einen Brief im ewig gleichen Wortlaut zu verfassen. Sie hatte sich sogar schon einmal überlegt, solche Dankesbriefe auf Vorrat zu schreiben. Was natürlich ausgesprochen ungezogen wäre. Wenn auch praktisch.

Zügigen Schrittes eilte sie nach oben, wo sie sich auf ihr bereits gemachtes Bett warf. Ein Blick auf ihren Sekretär erinnerte sie daran, dass sie noch immer nicht alle Briefe geöffnet hatte, und so erhob sie sich, schob die schweren Kuverts mit flacher Hand durcheinander und griff dann zu einem etwas dickeren Brief, den sie mit einem zierlichen Messer öffnete.

Sie stieß ein entnervtes „Pfffff“ aus, als sie die schwere, auf Karton aufgezogene Fotografie ihrer Freundin Elsa in Händen hielt. Ein Gruppenbild. Elsa mit ihrem Gatten in der Mitte, die Eltern des Paares seitlich gruppiert. Ernste Gesichter. Elsa in einem traumhaften Brautkleid nach der neuesten Mode, den Schleier tief in die Stirn gesetzt und ein gewaltiges Lilienbukett über dem Arm drapiert. Zu ihren Füßen die Brautkinder. Ihr Mann in Uniform. Schneidig. Korrekt. Dass etwas mit seinem Bein nicht stimmte, erkannte man lediglich an der leidlich versteckten Krücke, die es ihm erst ermöglichte, für den Fotografen stehend auszuharren.

Ob sie sich liebten, vermochte ein Außenstehender an diesem Bild nicht zu erkennen. Wahrscheinlich musste es aber so sein. Victoria hoffte es zumindest für ihre Freundin. Aber selbst, wenn nicht – man hatte ihr recht schnell beigebracht, dass Ehen nun mal nicht im Himmel geschlossen wurden. Wenn man dann auf jemanden traf, für den man tatsächlich entflammte, so war es in ihren Kreisen allgemein akzeptiert, dass man sich diese Person als Liebhaber oder Mätresse nahm. Alles war möglich, solange man sich diskret verhielt.

Victoria aber hatte eine andere Vorstellung von der Ehe. Nicht, dass sie besonders romantisch veranlagt gewesen wäre. Mit einem Stallburschen durchzubrennen, wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Aber sie hatte ein zu starkes Selbstwertgefühl, als dass sie sich mit scheinheiligen Zwischenlösungen zufriedengegeben hätte. Und gerade weil es für ihre Eltern kein wichtigeres Thema zu geben schien, hatte sie sich verbarrikadiert und all jene Männer nicht mal angesehen, die ihr mehr oder minder direkt angeboten worden waren. Manchmal verstieg sie sich sogar dazu, die Dienstmädchen im Haus zu beneiden, denen es verboten war, zu heiraten – noch immer mussten sie den Dienst verlassen, wenn sie eine Heirat planten.

Missmutig legte Victoria das Foto zur Seite. Dann überlegte sie kurz und drehte es um, sodass sie es nicht mehr ansehen musste. Aus einem goldenen Etui nahm sie eine Zigarette und zündete diese an. Auf die lange Spitze verzichtete sie, denn sie war eigentlich nur Zierde und im Moment überflüssig, wo sie allein war und nicht „exklusiv“ wirken musste. Sie war zumindest bis zu jenem Augenblick allein, als ein Klopfen an der Tür ertönte. Im Gegensatz zu den offiziellen Räumen war es Usus, dass an den Privatzimmern der Herrschaft stets angeklopft werden musste.

„Ja?“, rief sie etwas lauter, da sie wusste, wie massiv die Türen waren.

Janet, ihre Zofe, trat ein. Sie trug ein sackartig geschnittenes schwarzes Kleid und darüber eine schmucklose, strahlend weiße Schürze. Die alten Hauben waren nach dem Krieg durch kleinere, volantlose ersetzt worden.

Alles war nun schlichter, praktischer als vor dem Krieg.

Janet trug ein funkelndes Kleid vorsichtig über dem Arm drapiert.

„Ich bringe die Robe. Monsieur Poiret hat sie soeben liefern lassen.“

Victoria atmete tief durch. Sie wusste, dass ihr Vater eine beinahe unverschämt hohe Summe für dieses schneiderische Wunderwerk ausgegeben hatte und wertete die Ausgabe als das, was sie war: ein weiterer Versuch, die Tochter so zu präsentieren, dass sie einen Ehemann finden musste! Aus diesem Grund wandte sie sich achtlos von dem kostbaren Stück ab und gab vor, weiter ihre Post durchzusehen.

„Wollen Sie es denn nicht anprobieren, Miss?“

„Später.“

„Ihre Ladyschaft möchte es aber gerne noch sehen, bevor sie ausfährt.“

Damit hatte Janet sie in der Ecke. Victoria erhob sich.

„Gut. Dann hilf mir bitte.“

Da die modernen Kleider wesentlich schneller anzuziehen waren als jene, die noch mit diversen Unterröcken und Korsetts getragen wurden, konnte sie kurz darauf bereits in die Robe schlüpfen.

Das Kleid war ein Traum, über und über bestickt mit lavendelfarbener Seide und Silberlamé. Ärmellos fiel es locker bis zu den Hüften, wo es seitlich einen mächtigen, mit Perlen bestickten Riegel hatte, von dem zahllose Perlenschnüre bis zum Saum herabflossen.

Janet trat einen Schritt zurück und bewunderte den Anblick. Und auch Victoria musste zugeben, dass das Kleid einen beinahe blendete.

„Welchen Kopfschmuck soll ich dazu tragen?“, fragte sie ihre Zofe, denn ihr eigener Anblick hatte sie mitgerissen.

„Ich würde das silberne Haarband mit den Federn empfehlen.“

„Hol es, bitte!“

Mit geschickten Händen zog Janet den Haarschmuck über Victorias Kopf und tief in die Stirn.

„Und dazu die lange Perlenschnur! Die, die bis zur Hmtata geht …“, verkündete Victoria, woraufhin ihre Zofe etwas verlegen schmunzelte, als habe sie gerade einem vorwitzigen Kind gelauscht.

„Oh. Die Perlen trägt gerade Ihre Ladyschaft …“

„Na, dann nichts wie runter zu Mama und sie ihr vom Hals gerissen!“

Sie hatte jeglichen Gedanken an einen Ehemann vergessen, begeistert von dem wundervollen Kleid, das sie tragen durfte und das sie aussehen ließ wie die Favoritin eines unermesslich reichen Scheichs.

Während sie, den Rock gerafft, nach unten eilte, träumte sie von verruchten dunkelroten Lippen, wie die Stars aus den Stummfilmen sie auf den Plakaten trugen, und sie kokettierte für einen Moment mit dem Gedanken, ihre Eltern damit zu schockieren.

Victoria war derart in einen Rausch verfallen, dass sie beinahe atemlos die Türe zum Empfangszimmer aufriss und mit zwei langen Schritten eintrat.

„Ich sterbe, wenn ich diese Perlen nicht bekomme!“, verkündete sie melodramatisch, warf den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und bedeckte sie mit dem Handrücken, während sie den anderen Arm, wie nach einer Stütze suchend, neben sich ausstreckte.

Hatte sie nun mit einer schmunzelnden Ermahnung ihrer Mutter gerechnet, wurde sie von eiserner Stille überrascht. Verwundert nahm sie die Hand von den Augen und sah sich einer Szene wie in ihren Lieblingsfilmen gegenüber: Ihre Mutter saß kerzengerade auf der Couch und sah sie mit versteinertem Gesicht an. Victoria kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Er fand nur noch eine Steigerung, wenn die Kiefer der Mutter zu mahlen begannen und hohle Stellen in den Wangen schufen.

„Meine Tochter Victoria.“

Jetzt sah sie den Grund, weswegen ihre Mutter um Beherrschung rang.

Vor dem Kamin stand ein großgewachsener Mann mit kurz geschnittenem blondem Haar, schmalen Lippen und gerader Nase. Seine Augen wurden dominiert von kräftigen Brauen, die ihm fast etwas Düsteres gaben. Sein Gesicht schien ebenso ausdruckslos wie das ihrer Mutter, doch in seinen Augen sah sie eine kalte Entschlossenheit. Er war von kräftiger Statur und trug einen sandfarbenen Anzug, wie Victoria ihn schon in Büchern über Archäologen gesehen hatte. Vollkommen unpassend für den Londoner Regen. Und doch trug er diesen Aufzug mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass der Eindruck entstehen mochte, nicht er, sondern vielmehr alle anderen seien unpassend gekleidet.

Victoria schluckte hart. Dann überzog sich ihr Gesicht mit glühender Röte.

Es kostete sie alles, den Raum nicht rennend zu verlassen, sondern irgendwie ihre Würde zu wahren. Kurz schloss sie die Augen und presste die Lippen zusammen. Einer Asta Nielsen passierte so etwas niemals …

Der fremde Gast hatte offensichtlich nicht vor, etwas von der Peinlichkeit der Situation zu mildern, indem er einfach dazu überging, die Honneurs zu machen. Vielmehr blieb er mit kaltem Blick stehen und bewegte sich nicht. Victoria fühlte sich erniedrigt, was leise aufkeimenden Zorn in ihr hervorrief.

„Major Nicolas Whitby“, stellte ihre Mutter den Fremden vor und übernahm somit die Führung.

Entschlossen, da sowieso nichts mehr zu verlieren war, trat Victoria auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Whitby aber löste sich viel zu zögernd aus seiner Position, um noch als wohlerzogen und höflich zu gelten.

„Miss Victoria …“ Jetzt endlich ergriff er die ihm dargebotene Hand und schüttelte sie. Wobei „schütteln“ der falsche Ausdruck war, wie Victoria fand. Er hob sie vielmehr nur einmal kurz an und ließ sie dann wieder los, als sei ihm die Berührung mit der jungen Frau beinahe unangenehm.

Was bist du denn für ein Vogel, schoss es ihr durch den Kopf. Sie war wahrhaftig ein anderes Verhalten von Männern gewohnt.

„Ich denke, meine Tochter wollte ihr neues Kleid vorführen“, sagte ihre Mutter verbindlich, und Victoria erkannte an ihrer Stimme, dass sie offensichtlich schon seit geraumer Zeit größere Mühe hatte, eine Konversation mit diesem Whitby aufrechtzuerhalten. Auch jetzt zeigte er keinerlei Anzeichen, dem dargebotenen Konversationsangebot Folge zu leisten, sondern starrte Victoria lediglich kalt an.

Diese wiederum presste die Lippen zusammen und bemühte sich beinahe trotzig, seinen Blicken standzuhalten. Dabei bemerkte sie ein unerwartetes Kribbeln in ihrem Magen, das sich in konzentrischen Kreisen in ihren ganzen Körper auszubreiten schien.

Nachdem er verschiedenen Gedanken nachgegangen zu sein schien, sagte er beiläufig: „Schön“, wobei nicht klar war, ob er das Kleid meinte oder die Situation im Allgemeinen. Jetzt schien Victoria doch noch seine Aufmerksamkeit erlangt zu haben. Allerdings anders, als sie erwartet hatte, denn er fuhr mit ruhiger Stimme fort: „Sicherlich wollen Sie sich jetzt umkleiden.“

Es war eine Äußerung von solcher Impertinenz, dass es nicht nur Victoria den Atem verschlug, sondern auch ihrer Mutter. Diese aber fasste sich wesentlich schneller als die Tochter und sagte: „Ja. Das ist sicher eine gute Idee. Wir entschuldigen dich also für einen Moment, liebe Victoria. Sobald du umgezogen bist, nimmst du bestimmt einen kleinen Luncheon mit uns …“

Hatte sie nun von sich selbst erwartet, froh zu sein, von der Gegenwart dieses merkwürdigen Mannes befreit zu sein, ertappte sie sich doch dabei, wie sie die Treppen in das obere Stockwerk förmlich hinaufflog, in ihr Zimmer eilte und ein im Matrosenstil geschneidertes Kleid förmlich aus dem Schrank riss. Die wertvolle Ballrobe rauschte unbeachtet zu Boden, während sie in das Tageskleid schlüpfte. Sie wartete hierbei nicht mal auf ihre Zofe, wie es sich gehört hätte.

Auch so ein Überbleibsel, schoss es ihr durch den Kopf. Die modernen Kleider machten Zofen vollkommen überflüssig. Vorbei waren die Zeiten, wo die Kompliziertheit der Garderobe einer Dame es völlig unmöglich gemacht hatte, dass sie sich allein anzog. Sie erinnerte sich noch der Zeiten, wo sie – still wie ein Mäuschen – im Ankleidezimmer ihrer Mutter gesessen und beobachtet hatte, wie diese, kerzengerade aufgerichtet und einer Marmorstatue gleich, dagestanden hatte und sich hatte ankleiden lassen.

Victoria drehte sich vor dem großen, schwenkbaren Spiegel und fragte sich, ob sie Whitby wohl gefallen würde in diesem Kleid. Es war modern, aber nicht übertrieben. Verdeckte ihre weiblichen Rundungen, ließ sie aber dank des fließenden Stoffes nicht unförmig erscheinen. Ja, beschloss Victoria. Er würde es mögen.

Als sie am Fuß der Treppe stand, kam ihr einer der Diener entgegen. Seine Livree saß wie angegossen, und er trug ein silbernes Tablett.

„Ihre Ladyschaft erwartet Sie im Speisezimmer, Miss.“

Ihre Mutter wollte diesen Whitby also loswerden. Sonst hätte sie niemals so zügig den Lunch servieren lassen. Victoria fragte sich, ob Whitby dies aufgefallen sein mochte. Für jedes Mitglied der Gesellschaft wäre es augenfällig.

Als sie das Speisezimmer betrat, hatten beide schon Platz genommen und Butler samt einem Diener und einem Dienstmädchen standen an der Anrichte parat, um auf ein Zeichen hin sofort mit dem Servieren zu beginnen.

Victoria nickte Whitby zu, der – seinen starren Blick auf sie gerichtet – mit beinahe ignoranter Verzögerung das Nicken erwiderte.

„So. Dann können wir wohl beginnen …“

Victoria löffelte schweigend ihre Suppe, entschlossen, vor diesem Mann, der seine Augen nicht von ihr ließ, kein dummes Wort zu sagen. Denn nur zu deutlich spürte sie eine seltsame innere Erregung, die wohl dazu führen mochte, dass sie – einmal losgelassen – wild zu plappern beginnen würde. Und für ihre Begriffe war der Star-Auftritt genug an Peinlichkeit für einen Tag gewesen.

So lauschte sie dem ans Fenster prasselnden Regen, ohne auch nur zu registrieren, was sie überhaupt aß. Sie umklammerte den Griff des Löffels förmlich, spürte sie doch Whitbys Blicke ungebrochen auf sich.

„Wie lange werden Sie in London bleiben, Mr. Whitby?“

„Major Whitby“, verbesserte er sie kalt.

Das Lächeln ihrer Mutter gefror, dann nickte sie und nahm einen weiteren Löffel Consommé.

„Ich weiß es noch nicht. Ich werde vor der Royal Geographic Society noch einen Vortrag halten, und dann habe ich noch ein paar Verpflichtungen, denen ich nachkommen muss.“

Es war der längste Satz, den Victoria bisher von ihm gehört hatte, und sie vermutete, dass er sich bemühte, die Kerbe auszuwetzen, die er zuvor geschlagen hatte.

„Das ist schön.“

An dieser Stelle hätte ihre Mutter, der Konvention folgend, der Hoffnung Ausdruck verleihen müssen, Major Whitby noch öfter als Gast des Hauses begrüßen zu dürfen. Sie unterließ es, was Bände sprach. Zumindest für gesellschaftlich versierte Personen.

„Und wohin reisen Sie dann?“

„Zurück nach Denhar.“

Er sprach das letzte Wort in einer so merkwürdigen Art und Weise aus, dass Victoria sofort begriff, dass er die Sprache der Einheimischen dort beherrschte.

„Wie lange werden Sie reisen?“

Whitby schob den leeren Teller ein Stück von sich, der sofort abgeräumt wurde. Dann erläuterte er seine Reiseroute, während seine Blicke zwischen der Dame des Hauses und ihrer Tochter hin und her wanderten. Ja, Victoria konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er immer lebhafter wurde, je mehr er von diesem fremden Land berichtete. Und je mehr er zu brennen begann, desto mehr riss er sie mit.

Victorias Mutter war weniger beeindruckt. „Aber, Major Whitby … die Wüste, ich bitte Sie! Gewiss, unser Londoner Wetter, von dem Sie gerade einen lebhaften Eindruck gewinnen, ist nicht das Angenehmste. Aber doch sicherlich der toten Hitze der Wüste allemal vorzuziehen.“

„Meine Liebe, du düpierst unseren Gast.“ Einmal mehr hatte ihr Vater seine Meisterschaft im unerwarteten Auftauchen demonstriert, was bei den Dienern emsige Aktivität auslöste, indem sie sofort ein neues Gedeck auflegten.

„Nichts liegt mir ferner, mein Lieber. Aber ich halte doch die Wüste für den totesten Ort der Welt. Wenn mir dieser sprachliche Fehler erlaubt ist.“

Ihr Vater breitete schmunzelnd eine Damastserviette auf seinem Schoß aus, und Whitby schüttelte ungehalten den Kopf.

„Die Wüste ist nicht tot!“, knurrte er und starrte Victoria an, als gälte seine Maßregelung ihr.

Sie aber sah ihn verwundert an. Seine Züge hatten an Lebhaftigkeit gewonnen. Die kräftigen Brauen bewegten sich über den glänzenden Augen, während er seine Empörung an dem Fisch auf seinem Teller ausließ. Seine Art, den Worten ihrer Mutter gegen alle Konvention Kontra zu bieten, beeindruckte sie. Ebenso seine kräftigen Hände. Sie ertappte sich bei dem Gedanken, wie wohl seine Arme aussehen mochten, wenn er kein Hemd trug.

Die Überlegung ließ sie erröten und damit dies nicht bemerkt würde, senkte sie schnell den Kopf. Dass Whitby es dennoch registriert hatte, war ihr klar.

„Ihr Lieben, beenden wir den Streit!“

Lady Stockbridge sah ihren Mann mit gehobenen Augenbrauen an. Schließlich hatte sie diesen Gast ja ihm zu verdanken!

„Ich schlage vor, dass wir alle den Vortrag von Major Whitby am Freitag in der Royal Society besuchen und uns ein eigenes Bild machen.“

Schweigen in der Runde war die einzige Antwort.

„Gut. Damit wäre das beschlossen und verkündet!“, sagte ihr Vater zufrieden und ordnete die Serviette auf seinem Schoß neu.

Kapitel 2

Der Freitag brachte eine nochmalige Verstärkung der Regenfälle, und es war an Lady Stockbridge, ihrem Mann gehörig den Kopf dafür zu waschen, dass sie alle sich nun wegen seiner Eingebung bei diesem Wetter nach draußen begeben mussten, um einem unsäglichen Vortrag über einen unsäglichen Ort zu lauschen.

Die Einzige, die beharrlich schwieg, war Victoria. Seit ihr Vater seinen Beschluss verkündet hatte, freute sie sich auf den Vortrag. Beziehungsweise auf den Vortragenden. Seit jenem Tag, an dem sie Whitby zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er nicht mehr aufgehört, ihre Gedanken zu beherrschen. Nie zuvor hatte sie jemanden erlebt, der mit solcher Selbstverständlichkeit sämtliche Konventionen des Salons gebrochen hatte. Alles an ihm schien ihr beeindruckend: sein Aussehen, seine Herkunft, seine Haltung, seine Unnahbarkeit. Allein, ihn vor ihrem inneren Auge zu sehen, ließ ihren Atem schneller gehen.

Und nun saß sie unter den anderen Zuhörern im großen Saal der Gesellschaft und wartete so gespannt auf seinen Auftritt, als müsse sie selbst gleich nach vorn gehen und sprechen.

„Sitz doch still!“, mahnte ihre Mutter mit leisem Zischen, als gälte es, ein ungezogenes Kind zu maßregeln. Die Federn an ihrem Hut waren heruntergedrückt von der herrschenden Feuchtigkeit und taten ihrem majestätischen Erscheinungsbild doch keinen Abbruch.

Ein Mitglied der Royal Society trat ans Rednerpult, das aus schwerem dunklen Holz gefertigt war und die Bedeutsamkeit jener Erkenntnisse zu symbolisieren schien, die hier vorgetragen wurden.

Vereinzeltes Räuspern, hin und her Rutschen auf den Stühlen – und dann Totenstille.

„Wir dürfen heute in unserer Mitte Major Nicolas Whitby begrüßen. Er wird uns ein Land vorstellen, das leider noch immer eine Art weißer Fleck auf der Landkarte des Wissens ist, und zwar Saramaa mit seiner Hauptstadt Denhar. Major Whitby wurde zwar in England geboren, doch bereits als kleiner Junge zog er mit seiner Familie in jenes geheimnisumwitterte Land, aus dem seine Mutter stammte. Wir freuen uns, ihn für einen Vortrag in unserer Mitte begrüßen zu dürfen. Wir erhoffen uns viele Erkenntnisse über dieses Land und seine Menschen. Bitte heißen Sie Major Nicolas Whitby mit mir willkommen!“ Indem er ein paar Schritte rückwärtsging, klatschte er Beifall, der vom Publikum aufgenommen wurde.

Auch jetzt trug Whitby zu Victorias Verblüffung nicht den obligatorischen Cut für dieses Ereignis, sondern seine merkwürdige Wüstenuniform. In seiner ganzen, beinahe steifen Haltung ähnelte er mehr einem Offizier beim Rapport als einem Forscher oder Reisenden.

Als er seine Unterlagen geordnet hatte, setzte Victoria sich unmerklich noch etwas aufrechter hin und blickte ihn erwartungsvoll an. Sein ausdrucksstarkes Gesicht mit den großen Augen ließen warme Schauer von ihrer Brust direkt in ihren Unterleib strömen. Und diese intensivierten sich noch, als seine Blicke wie suchend über die Zuhörerschaft schweiften, um schließlich an ihr haften zu bleiben.

Jetzt spricht er nur für mich, dachte sie, und aus der Wärme wurde glühende Hitze.

Hatte sie sich auch darauf gefreut, mehr über sein Heimatland, wenn man es denn so bezeichnen wollte, zu erfahren, erinnerte sie sich schon Momente nach Ende des Vortrags an kein einziges Wort mehr. Nur sein Gesicht, seine Hände, seine Stimme hatten sich ihr förmlich eingebrannt. Auch die Fragen, die nunmehr sowohl von den Zuhörern als auch von den Mitgliedern der Royal Society gestellt wurden, nahm sie nicht wahr. All ihr Denken und Fühlen konzentrierte sich auf ihn. Und so saß sie noch Minuten, nachdem alle sich erhoben hatten, wie verzaubert da und beobachtete Whitby, der mit einigen Herren in der Nähe des Pults stand und sprach. Wobei ihr nicht entging, dass er wieder und wieder ihre Blicke zu suchen schien und wenn er sie dann gefangen hatte, sekundenlang in ihnen verharrte.

Allein die Tatsache, derart schamlos fixiert zu werden, trieb ihr die Röte ins Gesicht und ein machtvolles Rauschen in den Unterleib. Nie zuvor hatte ein Mann etwas auch nur annähernd Ähnliches in ihr ausgelöst. Sie wollte nur noch ganz nah bei ihm sein. Seinen Duft riechen und seine Stimme mit jenem eigentümlichen, melodischen Singsang hören.

Ihre Gedanken wanderten in verbotene Gefilde, deren nebelhafte Hitze einer anständigen jungen Frau verboten war. Vor ihrem inneren Auge sah sie Szenen aus ihren Lieblingsfilmen. Heldinnen, die sich in die Arme ihrer Liebhaber warfen. Feurige, von ihren Sehnsüchten getriebene Männer und Frauen, die sich in einem entfesselten Taumel begegneten und niemals nach den Folgen ihres Tuns fragten. So sah Victoria sich in seinen Armen liegen.

Ja, sie war so in ihren Tagträumen gefangen, dass sie zu ihm hintrat und ihn schweigend ansah. Die irritiert blickenden Herren um ihn herum bemerkte sie nicht. Auch nicht ihre Mutter, die ein solches Benehmen ausgesprochen inakzeptabel fand.

„Victoria … es ist Zeit“, erklärte sie etwas gepresst, nickte den Herren zu und machte sich daran, die Tochter aus der fragwürdigen Situation zu dirigieren.

Der Saal leerte sich und hätte nicht ein Mitglied der Royal Society sowohl ihren Vater als auch ihre Mutter in ein Gespräch verwickelt, das dafür sorgte, dass Victoria sich allein zum wartenden Wagen begab, wäre sie möglicherweise nie an jener Säule vorbeigekommen, die in jenem schmalen Gang stand, der zu einem der Seitenausgänge führte.

Im gleichen Moment aber, da sie diese Säule passierte, schoss ein Arm hinter derselben hervor, und eine kräftige Hand packte sie an der Schulter. Ehe Victoria noch irgendwie reagieren konnte, wurde sie bereits mit Gewalt hinter die Säule gezerrt und gegen den kalten Stein gepresst. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie jenen Mann an, der ihre Gedanken beherrschte wie kein anderer.

Als sein Gesicht dem ihren so nah war, dass sie die kleinen Sprenkel in seinen Augen sehen konnte, drohten ihre Knie zu versagen. Sie sackte sogar ein wenig zusammen, doch er fing sie mit entschlossenem Griff auf. Sein Körper drängte mit solcher Macht gegen den ihren, dass sie kaum noch atmen konnte. Victorias Blut rauschte in ihrem Kopf, und als er seine Lippen auf ihre presste, brach ein Sturm in ihr los, wie sie ihn noch nie empfunden hatte. Eine Urgewalt ergriff Besitz von ihr, nahm ihr jegliche Fähigkeit zum klaren Denken. Sie dachte nicht mehr an die Örtlichkeit, an der sie sich befanden. Dass jeden Moment jemand um die Ecke kommen und sie beide sehen mochte. Weder an die Peinlichkeit, hier ertappt zu werden wie ein Dienstmädchen beim Stehlen noch an die gesellschaftlichen Konsequenzen ihres Tuns. Da waren nur noch Whitby, der heftig atmend ihren Mund eroberte und mit seiner Hand ihre Brust knetete, und sie, die sich ihm vollkommen bedenkenlos hier, hinter dieser Säule, hingegeben hätte. Ja, sie schlang sogar ein Bein um seine Hüfte, in dem wirren Versuch, seine Männlichkeit, die hart gegen ihren Unterleib drückte, näher an sich zu spüren.

Nie zuvor hatte sie eine solch animalische Gier nach einem Mann verspürt, war sie in einen solchen Taumel geraten, elektrisiert von der Lust, die von ihm ausging und sie in eine andere Welt zu versetzen schien. Gleichzeitig fühlte sie sich geborgen in seinen Armen, ja beinahe unangreifbar, als habe er einen Umhang um sie geworfen, der sie beide unsichtbar machte.

Victoria spürte sein Herz, wie es so heftig trommelte, dass es sich anfühlte, als sei es direkt in ihre Brust gewandert. Sie öffnete sich ihm ganz und gar, verzehrt von Flammen, die so glühend loderten, dass sie zu verbrennen drohte. In diesem Moment, brachial gegen die Säule gepresst, hätte sie ihm alles gegeben. Ohne auch nur für eine Sekunde an ihren Ruf oder ihre Ehrbarkeit oder ihre Zukunft zu denken. Er begehrte sie, und das war alles, was für Victoria zählte. Er begehrte sie mit einer Inbrunst, einer Direktheit, die jeden anderen Mann in einen Nebelschleier verwandelte.

„Ich will dich!“, stieß er heiß an ihrem Ohr hervor, und seine Worte ließen – sie spürte es sofort – Feuchtigkeit zwischen ihren Schamlippen herausfließen.

Victoria errötete. Wegen seiner Worte und der daraus resultierenden Reaktion ihres Körpers. Zu Antworten vermochte sie nicht. Sie konnte nur die Augen schließen und biss Whitby – ohne es zu beabsichtigen – seitlich fest in den Hals. Er warf den Kopf zurück und stöhnte. Sie erschrak, war sich nicht sicher, ob es aus Schmerz oder Lust geschah.

Whitby aber drückte sie von sich weg, und seine zornerfüllten Augen oszillierten hektisch über Victorias Gesicht. Seine Hand war zu jener Stelle emporgefahren, die sich nun rot verfärbte, und presste entschlossen gegen den Abdruck. Sein Kopf machte eine halbherzig abwehrende Bewegung, dann eilte er davon.

Sie stand da. Schockiert. Überrascht. Lauschte den sich entfernenden Schritten und wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte oder warum er sie wortlos hatte stehen lassen. Sie wusste nur, dass alles in ihr zusammenzufallen drohte. Ein heftiges Zittern, ähnlich jenem, das einen schweren Fieberanfall begleitet, erfasste Victoria, und sie fragte sich, ob sie es überhaupt schaffen würde, hinaus zum wartenden Wagen zu kommen …

Kapitel 3

Die der heftigen Umarmung folgenden Stunden waren die Hölle. Je mehr zeitlichen Abstand Victoria zu jenem Ereignis gewann, desto größer wurde das Gefühl der Scham darüber, sich derart gehen gelassen zu haben. Jede Handbreit ihres Elternhauses, jeder Blick eines Dienstboten, gemahnte sie an jene Schritte, die sie sich vom Weg fort begeben hatte. Doch die Bilder jener hitzigen Minuten kehrten wieder und wieder in ihr Gedächtnis zurück und gewannen, ihrer Scham zum Trotz, immer stärkere Plastizität.

Ja, gegen Abend war es ihr, als bräuchte sie nur den Kopf ein wenig vorzustrecken und könnte schon den Stoff seiner Jacke an ihrer Wange spüren, das Schlagen seines Herzens fühlen, den Duft seines Atems riechen.

Victoria wurde mulmig bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Doch noch mehr schreckte sie die Möglichkeit, Whitby nie mehr zu begegnen.

Er gemahnte sie an einen fürchterlichen Gewittersturm, der sie als Kind unweit des Parks ihrer Großeltern in Northumberland überrascht hatte. Sie hatte, entgegen der strikten Order des Großvaters, den Park verlassen und war über die duftenden Sommerwiesen geschlendert. Wilde Blumen hatte sie gepflückt und von schwarz glänzenden Brombeeren genascht, als plötzlich, angekündigt nur durch einen kurzen, warmen Hauch, jener Sturm losgebrochen war, gegen den sie Schutz am Stamm einer alten Eiche gesucht hatte. Ebenso wie vorhin bei Whitby, hatte sie damals ihre Finger in die raue Borke gegraben, in der Hoffnung, nicht mitgerissen zu werden.

Doch im Gegensatz zu jenem Sommertag in Northumberland, war der Sturm jetzt keineswegs abgeebbt.

---ENDE DER LESEPROBE---