Geh vorbei wenn du kannst... - Gigi Martin - E-Book

Geh vorbei wenn du kannst... E-Book

Gigi Martin

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Beschreibung

Gigi Martin schildert eingehend die Liebe einer 17-Jährigen zu ihrer besten Freundin. Einer der ersten Lesbenromane der Nachkriegszeit!

Das E-Book Geh vorbei wenn du kannst... wird angeboten von Math. Lempertz und wurde mit folgenden Begriffen kategorisiert:
Sex, Erotik, Leidenschaft, Lust, Erregung, Passion Publishing, Neigung, Vorliebe, jung, Frau, attraktiv, sexy, neue Welt, Freiheit, Traum, Wunsch, Vorstellung, Fantasie, Phantasie, Liebschaft, Affäre, Liebesaffäre, pervers, unanständig, versaut, Sünde, erotische Erzählungen, Lesben, lesbische Liebe

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Gigi Martin

Geh vorbei wenn du kannst…

Inhalt

Kapitel I

Kapitel II

Kapitel III

Kapitel IV

Kapitel V

Kapitel VI

Kapitel VII

Kapitel VIII

Kapitel IX

Kapitel X

Kapitel XI

Kapitel XII

Kapitel XIII

Ich heiße Gigi Martin.

Ich war zehn Jahre alt, als der Krieg endete.

Jetzt bin ich dreiundzwanzig.

Ich bin in München geboren und lebe in Hamburg.

Meine Großeltern mütterlicherseits stammen aus Frankreich, aber ich war nie dort.

Ich habe klassisches Ballett studiert, getanzt und Theater gespielt.

Diese Geschichte ist wahr, so wahr, dass ich sie aufschreiben musste.

Ich widme sie als Buch

ANITA

I

Es ist Sommer.

Der Sommer 1943. Wir haben Krieg. Acht Uhr abends ist es. Am noch hellen Himmel leuchtet der erste Stern. Ein warmer, weicher Wind bewegt die Luft. Er streichelt sanft unsere braungebrannten Gesichter. Meine Schwester und ich hocken am Rand einer Mulde. Wir haben die Hosenbeine und die langen Ärmel von unseren baumwollenen Trainingsanzügen hochgekrempelt. Und wir lassen in dem warmen, dreckigen Regenwasser, das sich in der Mitte der Grube gesammelt hat, Schiffchen schwimmen.

Sie sind aus gefaltetem Zeitungspapier, und das größte Schiff heißt Queen Mary. Es fährt nach Amerika, ins Schlaraffenland, von dem meine Mutter sagt, daß es dort ohne Lebensmittelkarten Fleisch, Eier und schneeweißes Brot und sogar Apfelsinen zu kaufen gibt.

Die Grube war nicht immer eine Grube. Vor einer Woche noch stand da ein Mietshaus wie unseres auch. Aus roten Backsteinen, mit fünf Stockwerken.

Peters wohnten da und Frau Merkel mit ihrer dicken, fetten Katze, die mit ihr zum Einholen auf den Markt ging, die ihr die neugeborenen Babys aufs Bett legte und so verwöhnt war, daß sie nur noch frische Sprotten fressen wollte.

Im ersten Stock wohnten Grablers, die Eltern von Klaus. Er war der einzige Junge in der Straße. Überhaupt das einzige Kind außer uns. Und so wurde er ehrlich unter uns geteilt. Als vorgestern die Männer in den blauen Arbeitshosen, mit den nackten Oberkörpern kamen, jagten sie uns davon. Von weitem sahen wir, wie sie mit Spaten unter den Trümmern buddelten. Manchmal zogen sie unter dem Schutt und den Steinbrocken einen formlosen Körper hervor und deckten ihn sofort mit Zeltplanen zu.

Dann kam ein offener, großer Lastwagen. Die Männer trugen die Toten, über die Schultern gehängt, zum Wagen. Dann warfen sie sie hinein. Wir zählten mit. Es waren acht. Frau Merkel ist tot und die dicke, fette Tigerkatze, Peters und Klaus. Die anderen Toten aus dem Haus kennen wir nicht.

Es wohnt nun keiner mehr in der Straße, der mich gegen das Schienbein stößt, wenn er beim Murmelspielen verliert. Ich lief jedes Mal laut weinend davon, und meine Schwester kam und verprügelte Klaus.

Meine Schwester heißt Marietta. Sie ist sechs Jahre alt. Ich bin zwei Jahre älter. Trotzdem ist sie so viel stärker als ich. Und sie kann schwimmen und laufen und turnen und auf Bäume klettern wie ein Junge.

Die Eltern von Klaus leben noch. Sie waren gerade, als die Luftmine einschlug, bei Freunden zu Besuch. Nur Klaus ist tot. Und alle Möbel sind zu Asche zerfallen, das Geschirr in tausend Scherben; aber unter all dem Schutt liegt völlig unversehrt Klaus' elektrische Eisenbahn in einer roten Pappschachtel, deren Deckel zerfetzt ist.

Seine Mutter reißt sie an sich, Tränen rinnen aus ihren geschlossenen Augen, und sie wiegt die Schachtel in ihren Armen, als sei sie ein Baby. Als ihr Mann sie ihr wegnehmen will, schreit sie immer nur: „Warum lebe ich noch? Warum lebe ich noch?"

Klaus' Mutter hat sich für die Trauerzeit aus dem Gehrock ihres verstorbenen Vaters ein Kleid genäht.

Sie kauften einen Rotbuchekranz mit weißen Chrysanthemen, und auf der Papierschleife stand in großer, schwarzer Blockschrift:

- UNSER LIEBER EINZIGER SOHN KLAUS -

Ich konnte es lesen, als seine Eltern den Kranz zum Friedhof brachten.

Ich fand Klaus nie lieb. Trotzdem war er bei unserer Reise ins Schlaraffenland wichtig. Denn er war Kapitän auf der Queen Mary. Und das Schiff geriet bei jedem scharfen Sturm in Seenot. Es ist uns schon zweimal gekentert, und meine Mutter gibt uns kein Zeitungspapier mehr für neue Queen Marys, weil sie es zum Einwickeln der Lebensmittel in die Geschäfte mitbringen muß.

Klaus' elektrische Eisenbahn hat seine Mutter nun gegen Kaffee, Schnaps und Zigaretten eingetauscht.

Ein paar Sirenen heulen. Erst leise, dann immer lauter. Sie schwellen an und ab, an und wieder ab, an und wieder ab. Dann weinen schon Hunderte von Sirenen ihr grausiges Huhuhu, und in unserem Haus ist alles still und dunkel.

Auf dem Flakturm, unserem Haus gegenüber, erkennen wir schemenhaft im Halbdunkel der heraufziehenden Nacht Soldaten an den Abwehrgeschützen.

Die letzten Fußgänger beginnen zu laufen. Sie versuchen noch in ihre Wohnungen zu kommen. Wenn sie zu weit entfernt sind, laufen sie zu dem nächsten Luftschutzbunker am Marktplatz, zwei Minuten von hier.

Marietta und ich klopfen uns gegenseitig den Dreck von den blauen Trainingsanzügen. Ich nehme sie an der Hand, und wir rennen ins Haus.

Unsere Nachbarin, Frau Eipel, stolpert gerade verstört die Treppen hinunter. In der einen Hand hält sie ein Vogelbauer, in der anderen einen Topf, aus dem es wundervoll nach Erbsensuppe mit Speck riecht.

Im Vogelbauer sitzt der Kanarienvogel und zwitschert unbekümmert sein butsch, butsche, butsche vor sich hin. Frau Eipel schließt in panischer Angst die Kellertür auf und schreit: „Alarm! Alarm!" und schubst uns vor sich her die Steintreppen hinunter. Dann läßt sie sich erschöpft in einen Sessel sinken. Ihr Atem pfeift gleich einem Sägewerk. Sie zieht einen Eßlöffel aus der geblümten Morgenrocktasche, wischt ihn am Unterrock ab und beginnt gierig schmatzend zu essen.

Mein Vater und meine Mutter stolpern in den Keller.

„Gott sei Dank, daß ihr da seid!" ruft meine Mutter.

Mein Vater schleppt Koffer und Wolldecken, und meine Mutter hat die Hände voll mit Briketts und Marmeladestullen. Die Briketts hat sie noch in der Hand, weil sie gerade in dem Moment, als die Sirenen anfingen, ins Kino wollten. Um eine Kinokarte kaufen zu können, muß man aber ein Brikett mitbringen und es an der Kasse abgeben. Sonst kommt man nicht hinein.

Marietta und ich klettern in unsere Feldbetten. Sie schläft oben und ich unter ihr. Meine Mutter steckt jedem von uns eine Doppelstulle, zwei Äpfel und auch eine halbe Tafel Schokolade zu. Sie hat die Schokolade auf Lebensmittelkarte 32 Abschnitt A zugeteilt bekommen und mußte drei volle Stunden dafür beim Kolonial-Warenhändler Schlange stehen.

Die Sirenen hören mit schreien auf. Jetzt rauschen Bomber, wie das Brausen großer Vogelschwingen. Rattarattat, rattarattat, knattern die schweren Maschinengewehre der Heimwehr vom Flakturm gegen tieffliegende Flugzeuge. Dann birst die Luft. Die Glühbirne flackert. Der Tisch bebt.

Meine Mutter hebt den Kopf und starrt angstvoll an die graue Zementdecke.

Mein Vater sagt: „Das war 'ne Fünfhunderter-Bombe."

Und Frau Eipel flüstert: „Lieber Gott, lieber Gott, lieber Gott…" wie eine stehengebliebene Grammophonnadel und faltet die Hände über dem Topf mit der Erbsensuppe. Wir kriechen ganz tief unter unsere rotweißgewürfelten Kissen, aber wir haben keine Angst. Wir finden es sogar herrlich, denn wir dürfen mit Schuhen schlafen und brauchen uns vor dem Zubettgehen nicht zu waschen und keine Zähne putzen. Eigentlich ist es fast so aufregend wie „Räuber und Prinzessin" spielen. — Meistens schlafen wir wie die Murmeltiere. Schlafen den Schlaf der unwissenden Ungerechten.

Wenn wir bei Entwarnung immer noch schlafen, tragen uns die Eltern auf den Armen zurück in die Wohnung, und wir wechseln nur das Bett. —

Jetzt ist es wieder totenstill. Frau Eipel kratzt den Rest ihrer Erbsensuppe aus dem Topf, und meine Eltern kuscheln sich in den Clubsesseln zurecht.

Herr und Frau Rüdiger poltern in den Keller. Frau Rüdigers Kopf steckt voller Lockenwickler. Durch ihre mit Wasserstoffsuperoxyd gebleichten Haare schimmert der natürliche schwarze Haaransatz. Sie trägt einen alten Persianermantel und darunter ein halbes Dutzend ihrer besten Kleider. Ein graues Schneiderkostüm, drei Jerseykleider, ein Nachmittagskleid und ein enges, geschlitztes Abendkleid aus gehämmertem hellblauem Brokat. Um den Hals hängen ihr zwei dicke Perlketten, und an den Fingern blitzen schwere goldene Ringe mit Türkisen und Brillanten.

Ihr Mann schleppt zwei prallgefüllte Aktentaschen mit Büchern und Manuskripten und eine Reiseschreibmaschine. Um den Hals hängen ihm ein Fotoapparat und ein Opernglas. Er ist Dramaturg. Er trottet wie ein gutmütiger Brummbär an unsere Betten.

„Na, ihr Pappchinesen!" brüllt er, kneift uns in die Backen und lacht hoho, wie ein ganz altmodischer Schmierenkomödiant und muß gleich darauf heftig husten. Er zieht eine Flasche aus seinem kamelhaarfarbenen Hausjackett, das mit einer Kordel über dem dicken Bauch zugebunden ist, an deren Enden puschelige Quasten befestigt sind.

Er nimmt einen langen Zug, schüttelt sich, wischt sich mit dem Handrücken den Mund. Dann stellt er die Flasche für alle, die wollen, auf den Tisch und zündet sich eine dicke, rehschwarze Brasil an. Die beiden setzen sich zu meinen Eltern an den Rauchtisch in die molligen, weichen Clubsessel. Jeder Mieter hat nämlich ein Möbelstück aus seiner Wohnung hier heruntergestellt, und so sieht der Keller fast wie ein Salon aus.

Meine Mutter holt zwei Gläser aus dem Regal an der Wand. Mein Vater legt zwei volle Päckchen Zigaretten auf den Tisch. Er trägt eine schneeweiße Uniform. Er ist Stabsoffizier bei der Luftwaffe. Seine Figur ist die eines Studenten, der frühzeitig kahl wurde. Er sagt, das kommt daher, weil seine Waffenbrüder seinen Kopf als Schleifstein für ihre Säbel benutzten, da er kleiner war als sie. Und so laufen jetzt dicke, weiße Wulste über die kahle Kopfhaut und die fleischigen Backen, bis zu dem schweigsamen Mund. Er hat einen Bauch, aber er nennt es, eitel wie er ist, hoher Magen.

Frau Rüdiger zieht ein Bündel Karten aus ihrem Brustausschnitt. Sie mischt sie und verteilt an meinen Vater, ihren Mann und sich.

„Karo", höre ich dann schon im Halbschlaf meinen Vater rufen, und ich denke: Zu fremden Leuten ist er immer freundlich…

„Dame!" kreischt Frau Rüdiger.

„As!" brummt ihr Mann.

Der Kanarienvogel trillert, und Frau Eipel schnarcht, den Kopf auf der Brust und den leeren Topf auf dem Schoß.

„Passe!" sagt mein Vater.

Warum Pa Frau Eipel wohl nicht mag? denke ich. Wegen ihrer Eßgier? Nein, sicher nicht. Andere essen doch auch so viel… Vielleicht wegen ihrer langen, gebogenen Nase? „Passe auch!" plärrt Frau Rüdiger.

„Wer spielt aus?"

„Ich hab 'n kleines Herz!"

„Wie klein ist der?"

„Bis zur Dame."

„Warum stechen Sie nicht?" brummt mein Vater.

Warum hat Pa vor dem Krieg denn nichts gegen Frau Eipel gehabt? Ma hat recht, wenn sie sagt, daß der Krieg die Menschen schlecht macht. Frau Eipels Nase ist besonders stark gebogen, das stimmt. Fast wie die einer Hexe… Ach, Unsinn, Pa glaubt doch nicht an Märchen. Oder doch? Vielleicht gibt es Märchen für Erwachsene?

„Trumpf!"

„Ich würd's wegschmeißen."

Ich stecke mir die Finger in die Ohren und versuche zu schlafen. Sie rauchen und trinken Rum. Das Grammophon spielt alte Schlager und Märsche. „La Paloma", „Lili Marlen" und „Auf der Heide blüht ein Blümelein…"

Dazwischen ballert die Flak „bum bum", und die Soldaten singen weiter „und das heißt…" bum bum — „Erika…"

Meine Mutter strickt rosa Kindersöckchen aus Schafwolle. Plötzlich schreckt Frau Eipel auf. Dann stiert sie vor sich hin.

„Eins, zwei, drei, vier", flüstert meine Mutter, und die Nadeln klappern.

„Gestern roch's so gut im Treppenhaus", sagt Frau Eipel und zieht ihren Sessel näher an den Tisch heran.

„Haben Sie wieder was gebacken?"

„Ja", sagt meine Mutter, „Pflaumenkuchen. Die Kinder essen ihn so gern. Noch warm, wissen Sie!"

„Mh, und vielleicht mit 'nem Berg Schlagsahne, was? Ich habe immer so schrecklichen Hunger, und wenn ich Angst habe, wissen Sie, wenn ich so gräßliche Angst hab', dann krieg ich immer mehr Hunger. Dann kann ich gar nicht mehr aufhören zu essen, und ich eß' alles auf, was ich hab'. Immer wenn ich so 'ne Angst hab'.“

Frau Eipel schielt an die Decke. Sie sitzt starr und lauscht und starrt in die Totenstille. Die Nadeln meiner Mutter klappern.

„Eins, zwei, drei, eins abnehmen", zählt sie.

„Wenn der Alarm vorbei ist, schicke ich Marietta zu Ihnen hinunter. Sie bringt Ihnen dann ein Stück."

„Wirklich? Ach, so hab ich es ja nicht gemeint", sagt Frau Eipel verlegen.

Butsch, butsche, butsche schnarrt der Kanarienvogel.

„Vergiß nicht, daß Kretschmars morgen zum Kaffee kommen", sagt mein Vater, und dabei schaut er böse zu Frau Eipel hinüber.

Dann sieht er auf seine Karten. Die Nadeln klappern, und sie kloppen Karten. Sie erzählen sich Ehekräche, die letzte Grippe, Mariettas und meine Streiche, aber keiner spricht vom Krieg. Und keiner spricht mehr mit Frau Eipel. „Wer von uns beiden hat denn heute eigentlich Brandwache?" fragt Herr Rüdiger und wirft einen König auf den Tisch.

„Brandwache? Menschenskind, ich!" ruft mein Vater und knallt seine Karten auf den Tisch.

„Na los, jetzt aber nichts wie rauf! Und, gnädige Frau, bitte, machen Sie weiter 'n dritten Mann."

Herr Rüdiger drückt meiner Mutter einen Packen Karten in die Hand.

„Pa, ich kann nicht schlafen. Darf ich bitte mit rauf?" frage ich und springe schon aus dem Bett.

„Kommt gar nicht in Frage. Du bleibst hier!"

„Aber Pa, bitte."

„Na, laß sie schon mit", schaltet sich meine Mutter ein.

„Los, dann komm", brummt mein Vater mißmutig und nimmt mich an die Hand. Wir steigen die Kellerstufen hinauf. Dann kommen wir ins stockfinstere Treppenhaus. Wir tasten uns die Stufen hoch. Stockwerk für Stockwerk, bis zur sechsten Etage. Mein Vater öffnet die quietschende Bodentür. Ich stoße im Dunkeln gegen Sandsäcke und Feuerlöscher. Wir tasten uns vor ans Fenster. Ich halte mich hinten an seinem Jackett fest. Es ist völlig still hier oben. Der Himmel ist schwarz, klar und friedlich. Aber es ist ein unheimlicher Friede, einer, der Angst hat.

Denn lautlos kommen sie. Man hört sie nicht. Das Unheimliche ist: man bemerkt sie gar nicht. Bis zum Bombenhagel, den Phosphorbränden und toten Menschen und dürrer Erde.

Plötzlich blendet ein winziges Licht neben dem anderem am Himmel auf. Sie bilden Linien, zackige Linien, die stufenförmig ansteigen und sich auf der andern Seite in der gleichen Weise wieder senken.

„Pa, Pa, siehst du das? Was ist das?"

„Ein Tannenbaum."

„Im Sommer? Feiern die Engländer jetzt schon Weihnachten?"

„Nein, mit dem Tannenbaum stecken sie ein Feld ab, das sie bombardieren wollen."

„Ach, und das, Pa, was ist das?" frage ich aufgeregt und deute auf zwei Scheinwerfer, die am Himmel hin- und herirren, wie zu einem Tanz. Jetzt überschneiden sie sich zu einem Kreuz, und jetzt bilden sie ein großes V.

Plötzlich ballern vom Flakturm her die Geschütze. Die einzelnen Einschläge schneiden die Luft und blinken zu einem kurzen Feuerwerk auf.

„Auf dem Flakturm haben sie mit ihren Scheinwerfern ein einzelnes feindliches Flugzeug entdeckt", sagt mein Vater ungeduldig und lockert sich den Schlips ein bißchen. Er öffnet den obersten Kragenknopf.

„Und jetzt versuchen sie es abzuknallen."

„Heiß heute, was, Pa?"

„Ja, scheußlich. Übrigens — morgen brauchst du nicht mehr zur Schule."

„Au fein. Warum denn nicht?"

„Du kannst aber Mutti ein bißchen beim Packen helfen." „Verreisen wir denn?"

„Ja, zu Tante Lu aufs Land."

Tante Lu ist die einzige Schwester meines Vaters. Sie ist älter als er, und darum hat sie das Gut von meinem Großvater geerbt.

„Och, ich möchte aber lieber hierbleiben."

„Kinder haben gar nichts zu sagen", schnauzt mein Vater mich an.

„Mutti und ich haben es so beschlossen. Es wird hier zu gefährlich für euch. Jetzt ist bald Schluß", sagt mein Vater und zuckt gleichzeitig mit dem Satz zusammen. Angstvoll versucht er in die dunklen Ecken zu schielen.

„Schluß mit dem Tausendjährigen Reich", flüstert er fast lautlos.

„Vor wem hast du denn Angst, Pa?" frage ich.

„Wieso? Wie kommst du denn darauf?"

„Ach, ich weiß nicht, du bist so anders."

„Vor niemand brauche ich Angst zu haben, verstehst du?" schreit er und sieht sich erschrocken um.

„Niemand in diesem Land hat Angst", raunzt mein Vater und stiert geradeaus.

Ein tiefes, langgezogenes Brummen ertönt.

„Oh, Entwarnung! Entwarnung!" rufe ich und hüpfe von einem Bein auf das andere.

„Pa, wie spät ist es?"

„Ein Uhr", sagt er, als er auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr blickt.

„Der Alarm dauert aber auch immer länger, was?"

„Komm, wir gehen hinunter. Marsch, endlich ins Bett", sagt mein Vater und knipst Licht an.

„Mutti und Marietta sind bestimmt schon in der Wohnung." „Vati, hast du noch eine halbe Tafel Schokolade? Marietta hat nämlich alles alleine aufgegessen."

“Ja", sagt mein Vater, „ja", und nimmt mich bei der Hand. Langsam geht er mit mir die Treppen hinunter. „Und sprich nicht so viel mit Frau Eipel, hörst du?" „Warum nicht?"

„Es paßt mir nicht."

„Warum nicht, Pa?"

„Sie paßt nicht zu uns. Durch den Krieg, da sind viele im Haus, die gehören nicht hierher. Die gehören einfach nicht her."

II

Das Gut meiner Tante ist sehr groß. Tausend Morgen Land. Mein Vater besorgt Tante Lu Dreschmaschinen, Wasserpumpen, Toilettendeckel, alles, was man regulär nicht mehr bekommt. Dafür können wir dort so lange leben, bis der Krieg vorbei ist.

Das Gut liegt nahe der Heide. Sie blühte gerade am schönsten, als wir vor zwei Jahren hier ankamen: Mutti, Marietta und ich. Die Erika war lilarot, und die träge Luft war voll von dem strengen Duft und dem surrenden Gebrumm der Bienen.

Jetzt haben wir Frühjahr. Frühling 1945, und es ist in diesem Jahr Anfang Mai schon so heiß wie sonst erst im Juni oder Juli. Im Garten blühen sogar die ersten Rosensträucher.

Das Haus duckt sich in die Landschaft. Es hat zehn Zimmer, und alle bewohnt Tante Lu. Wir haben zu dritt ein kleines Mansardenstübchen mit schrägen Wänden und einem runden Bullaugenfenster. Wir schlafen alle drei in einem Ehebett.

Wenn mein Vater uns übers Wochenende besucht, werden Marietta und ich ausquartiert. Wir dürfen dann ausnahmsweise in Tante Lus guter Stube auf der Couch schlafen. Durch das geöffnete Fenster weht der strenge, heiße Duft aus den Kuhställen. Und die Luft lebt in dem Rasseln der Ketten, dem behaglichen Muhen und dem malmenden Wiederkäuen der schwarzweißgefleckten Tiere mit den ernsten, feuchten Augen.

Sie heißen Alma, Martha, Lisbeth, Malwine. Trixy wird in diesen Tagen ihr Kälbchen gebären.

Als mein Vater uns letztes Wochenende besuchte und am Montag früh wieder in die Stadt zurückfährt, sagt er:

„Die ganze Sache dauert nicht mehr sehr lange. Kann sich höchstens noch um einige Wochen handeln." Dabei seufzt er einmal tief und äugt ängstlich an uns vorbei, als hätten wir ihn bei etwas Verbotenem ertappt.

„Ich habe hundertprozentig sichere Informationen." Und hinter der hohlen Hand flüstert er: „Aus erster Quelle. Die Amis kommen hierher. Aber nicht darüber reden." Dann fährt er zurück in die brennende Stadt.

Am Dienstagmorgen werden wir von ratternden Lastwagenkolonnen, Panzern, Jeeps und dröhnenden Motorradbrigaden geweckt.

Die Mägde schreien: „Sie kommen! Sie kommen!" Sie stürzen ins Haus und verriegeln die Türen.

„Wer kommt?" fragt Tante Lu und kommt schlaftrunken die Treppe herunter.

„Sie kommen!" kreischt Trina.

„Wer kommt?" fragt meine Mutter

„Sie — sie — sie kommen! — Die Amis kommen!"

Meine Mutter schiebt die rotkarierten Gardinen beiseite und sieht auf den Hof, während sich Tante Lu mit den sechs Mägden in der Besenkammer unter der Treppe versteckt. Wir hören das Knirschen schwerer Räder im Sand und das Quietschen von Bremsen. Wir laufen alle ans Fenster.

Im Hof stehen fünf Lastwagen, drei Panzer, ein Dutzend Jeeps und eine Unmenge Motorräder. Aus den Fahrzeugen klettern hundert Neger. Sie pfeifen freche Melodien, schmeißen ihre Käppis in die Luft, räkeln sich in ihren engen Hosen zurecht und stecken die Daumen hinter die Gürtel. Sie stehen im Hof zwischen brüllenden Kühen mit prall gefüllten Eutern und zwischen umgestoßenen Melkeimern. Sie rufen laut und fröhlich: „Hallo! Hallo!"

Aber keiner von uns öffnet. Dann hämmert eine Faust gegen die Haustür. Trina, unsere älteste Magd, muß die Tür einen Spalt aufmachen. Sie wird weiter aufgestoßen. Ein Neger in khakifarbener Uniform schiebt die völlig verängstigte Trina beiseite und geht auf Tante Lu zu. Sie zieht ihren wattierten Morgenrock über der Brust enger. Mein Hund Fips rennt mit wütendem Gekläff zwischen den Beinen des Negers durch die offene Tür auf den Hof.

Ich habe ihn gestern von meiner Mutter zum Geburtstag bekommen. Die Schwarzen begrüßen Fips mit lautem Gebrüll. Sie füttern ihn mit Schokolade.

„Gutten Tack, I am Charly", grinst der erste Offizier.

Er reicht Tante Lu mit einem breiten, fröhlichen Lachen ein Schreiben. Es ist ein Räumungsbefehl. Wir dürfen einen Teil der Möbel herausnehmen und ziehen damit in den Hühnerstall. Die Neger aber ziehen ins Haus.

Der Hühnerstall ist eine lange, flache Holzhütte, die auf losem Sandboden gebaut ist. Einem Teil der Fenster fehlen die Scheiben. Meine Mutter und Tante Lu legen Perserteppiche auf den Streusandboden. Wir essen wie die Inder mit gekreuzten Beinen auf dem Boden. Wir schlafen auf nebeneinandergelegten Schlaraffiamatratzen. Über uns hocken die Hühner auf der Stange. Gekocht wird auf einem kleinen, gußeisernen Ofen, der lange ausrangiert war. In der Nacht vergraben wir alles Silber und allen Schmuck und das Eingemachte und Gepökelte vom Keller im Garten. Wir markieren die Stellen mit gekreuzten Hölzern.

Am Morgen waschen wir uns vor der Hütte, im Futtertrog der Schweine. Und dann stehen Marietta und ich vor dem Gutshaus aus schwedischem Klinker, unter den grüngestrichenen Fenstern der Neger und betteln: „Please, give me chocolate. Have you not no, is alle — please chewinggum."

Sie werfen uns wundervoll salzige Keks herunter, die nach nichts schmecken als nach Salz. Pudding in Dosen und ziehige Massen in schwarz, braun, weiß oder grau und Bonbons, die schmecken, als hätten sie ein Jahr in Waschpulver gelegen.

Wir schreien zu ihnen hinauf: „Thank you very much! Thank you so many!"

Und hinter den Fenstern mit den roten Gardinen erscheint mein Dackel Fips. Fips hat sich als Hühner- und Eierjäger engagieren lassen. Die Hühner nehmen sie ihm wieder ab, aber von den Eiern sehen sie nur das Gelbe um seine schwarze Schnauze.

Sie schießen mit Armeepistolen auf die Fische im Teich. Aber Fips würde um keinen Preis ins Wasser gehen, um sie herauszuholen, schon gar nicht für einen toten Karpfen. So treiben die Fischleichen im Teich herum und verpesten die Gegend.

Für Marietta und mich lohnt es sich, Englisch zu lernen wegen Schokolade und Kaugummi. Deutsch haben wir bald fast vergessen. Aber Tante Lu bleibt in Panik vor den „Wilden". Sie liest noch einmal alle alten Zeitungen rückwärts, mit den verlogenen Warnartikeln und den schwülstigen Gedichten:

Kommt den Negern nie zu nahe!

Sprecht nicht mit ihnen!

Sie hypnotisieren euch und braten euch am Spieß!

Sie vergewaltigen…

Sie vergewaltigen euch alle!

Die Mägde machen sich so unansehnlich und häßlich wie möglich. Sie frisieren sich nicht mehr und sehen bald männlicher aus als Männer. Tante Lu trägt schwarz, in Trauer um ihren Mann, der in Rußland gefallen ist. Aber das Schwarz steht ihr gut. Es macht ihre fülligen Formen etwas schlanker. Sie hat einen Gesichtsausdruck, als trage sie immerfort die Gebeine ihres Mannes auf einem Tablett vor sich her.