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Die von der deutschen Wehrmacht im Sommer 1944 von Nordfrankreich aus gegen London eingesetzte Flugbombe V1 - erster Vorläufer der heutigen Marschflugkörper - gehörte zu Hitlers "Geheimwaffen". Die genaue Kenntnis ihrer Baupläne gehörte zweifellos zur wichtigsten Kriegsbeute der Alliierten 1945. Der geheimdienstliche Schutz der V1-Abschussrampen an der Kanalküste in Nordfrankreich, von November 1944 bis März 1945 auch in Westdeutschland und in Holland sollte Spionage und Sabotage durch alliierte Geheimdienste und vor Ort tätige Widerstandsgruppen verhindern. Durch internationale Forschungen konnten die Autoren erstmals Licht in das Dunkel dieser speziellen deutschen Gegenspionage, der sogenannten "Abwehrstelle Arras" bringen. Über sie war bisher so gut wie nichts bekannt, da die Akten mehrerer ihrer Agenten noch vor kurzer Zeit beim Bundesnachrichtendienst in Pullach und in französischen Archiven unter Verschluss lagen.
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Seitenzahl: 184
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Dr.rer.nat. Dr.phil. Franz Josef Burghardt studierte Mathematik, Physik und Philosophie, seine Ehefrau Daniela Topp-Burghardt Volkswirtschaftslehre in Köln. Ab 1985 folgte dort ein gemeinsames Geschichtsstudium und ab 2010 Forschungen in europäischen Archiven (Berlin, London, Paris, Brüssel, Lille, Vincennes, Le Blanc, Pullach u. a.) über den deutschen Geheimdienst 1943/45 zum Schutz der Abschußstellungen der "Geheimwaffe" V1.
Franz Josef Burghardt, der seit 1975 mehrere Bücher und über 60 Beiträge in Fachzeitschriften über soziale Mobilität und gesellschaftliche Umbrüche in der Frühen Neuzeit publizierte, veröffentlichte u. a. 2018 das Buch "Spione der Vergeltung". Daniela Topp-Burghardt, Gründerin und langjährige Vorsitzende des "Ring Europäischer Frauen e.V." erhielt für ihr ehrenamtliches europapolitisches Engagement 2013 den "Preis Frauen Europas" der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD) und 2018 die Verdienstmedaille des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland.
Prolog
Nordfrankreich und die deutschen Geheimwaffen
1. V1 und V2 in Nordfrankreich
2. Sonderstellung des Nord-Pas-de-Calais 1940-1944
Die Organisation der deutschen Gegenspionage zum Schutz der Abschußstellungen der Geheimwaffen in Nordfrankreich
1. Abwehr-Nebenstelle Lille
2. Abwehrstelle Arras
3. Frontaufklärung
Die deutschen Agentenführer der Abwehrstelle Arras
1. Egon Mayer und die Organisation Pi
2. Erwin Streif und Christine Gorman
3. Friedrich Topp und sein Netz
Die Abwehrstelle Arras nach dem Rückzug aus Frankreich
1. Aufteilung der Agenten im Herbst 1944
2. Verrat oder Heldentat? Die Fahnenflucht Streifs
3. Das Ende der Abwehrstelle Arras 1945
Nachkriegsjahre
1. Streif und Gorman im Gefängnis Loos-en-Lille
2. Das Ehepaar Kaiser in Loos-en-Lille
3. Internierung und Entnazifizierung
4. Topps Untersuchungshaft in Loos-en-Lille
Epilog
Anhang
1. Amt Ausland/Abwehr beim OKW in Berlin
2. Widerstand in der Abwehr-Nebenstelle Lille
3. Edmond Kaiser in der Resistance: Das Narrativ
4. Pseudonyme (Alias-Namen)
5. Abkürzungen
6. Quellen und Literatur
„Ich habe die Geschichte Frankreichs zweimal gelernt, zuerst in der Schule, dann noch einmal und ganz anders im Archiv“Ein französischer Archivar 2010
Sie kämpfen nicht blutig, nicht mit Gewehren und Panzern. Ihre zuverlässigste Waffe ist das Vertrauen ihrer Gegner, das sie sich mit einem feinen Gespinst von Lügen erschlichen haben. Es sind Schauspieler, die die menschlichen Schwächen ihrer Gegner ausnutzen.
Es sind die Spione, die kleinen Spitzel, die Kollaborateure in Bars und Bordellen, die Agenten in biederen Berufen, die Agentenführer - auch Residenten genannt – mit ihren organisatorischen Fähigkeiten und die Geheimdienstoffiziere, die am Schreibtisch die Nachrichten auswerten, die ihnen die Spitzel, Agenten und Residenten liefern, um ihre Erkenntnisse der Geheimpolizei an die Hand zu geben, die so ihre ahnungslosen Opfer fassen konnte. Nachrichten, möglichst über alles und jeden - gespeichert früher in Karteikästen, heute tausendfach verfeinert durch das Sammeln digitaler Daten aus dem Internet und aus kommerziellen Datenbanken -, das ist das Arbeitsmaterial der Geheimdienste, der „Nachrichtendienste“. In England spricht man vom „Intelligent Service“, in Frankreich vom „Service de Renseignements“. CIA, KGB, MI5, Mossad, BND, das sind nur einige Beispiele von vielen.
Damals wie heute ist der Geheimdienst die gefährlichste Waffe aller Nationen, seien es Diktaturen, Monarchien oder Demokratien. Verdeckt schlägt er zu, um die Interessen der herrschenden Eliten zu sichern, sei es mit Sabotage, Falschmeldungen oder Aufwiegelung zum „Regimechange“. Geheimdienstangehörige unterstehen keinem Gesetz. Sie arbeiten außerhalb der Legalität und werden von ihren Auftraggebern – grauen Eminenzen in den Hinterzimmern der Macht – gedeckt. Sie verfügen über falsche Pässe und sehr viel Geld, leben aber in der ständigen Gefahr, erkannt zu werden, ins Gefängnis zu gehen oder getötet zu werden. Aber auch der jeweilige Gegner kennt dieses „Spiel“, dem man sich durch Gegenspionage zu widersetzen versucht: Die feindlichen Spione sind aufzuspüren und auszuschalten.
Das wusste auch der deutsche Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg, als die Ingenieure Fieseler und von Braun völlig neuartige Waffen entwickelten, die Flugbomben und Raketen. Sie sollten ohne jede Rücksicht auf unschuldige Menschen London und andere englische Städte zerstören, als Vergeltung für die verheerenden Bombenangriffe der Royal Air Force auf deutsche Großstädte und deren zivile Bevölkerung. Der geheimdienstliche Schutz dieser militärtechnologisch revolutionären Fernwaffen stand daher an vorderster Stelle, bei der Produktion, beim Transport und im nordfranzösischen, später im westdeutschen und holländischen Einsatzgebiet.
Auch wenn es anders scheint, Spione sind keine gefühllosen Maschinen, keine Drohnen. Für ihren Einsatz müssen sie in besonderem Maße sowohl die eigenen menschlichen Schwächen wie die ihrer Mitarbeiter und Gegner richtig einschätzen. Sie kennen die Gier nach Geld, Sex und Macht, nach einem freien, ungebundenen Leben, aber auch nach Liebe und Geborgenheit.
Schauen wir uns also einige Figuren dieser Gegenspionage an, mit deren Hilfe die Armee des Deutschen Reiches, das Oberkommando der Wehrmacht (OKW), und die SS ihre „Vergeltungswaffen“ V1 und V2 im Einsatzgebiet vor Widerstandsgruppen und Spionen der Alliierten zu schützen versuchten. Diese deutsche Gegenspionage einschließlich ihrer zahlreichen französischen und belgischen Kollaborateure verrichteten ihre „Arbeit“ offenbar sehr gut. Denn bis zum Kriegsende wussten die späteren Siegermächte so gut wie nichts über die neuartigen Flugbomben und Raketen.
Die wohl wertvollste Kriegsbeute der US-Armee am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die in Deutschland aufgefundenen V1- und V2-Waffen. Sie bildeten die technologischen Grundlagen aller nachfolgenden Marschflugkörper und Raketen. Ihre herausragende historische Bedeutung in der Militärgeschichte wird bis heute eindrucksvoll in den Kriegsmuseen der beiden wichtigsten Siegermächte in Washington und in London dargestellt.
Imperial War Museum, London
National Air & Space Museum, Washington D.C.
Die kontinuierliche Weiterentwicklung der V2 durch ihren Konstrukteur Wernher von Braun in den USA nach 1945 bis hin zur Saturn 5 ermöglichte 1969 die erste Mondlandung. Aus der V1 wurden in den USA die Advanced Cruise Missiles entwickelt, die als AGM-129 ACM mit Tarnkappentechnik durch die amerikanische und als AGM-142 Popeye durch die israelische Armee für gezielte militärische Schläge eingesetzt wurden, so z. B. in Libyen, im Irak und in Syrien.
Stellungen der V1-Abschussrampen in Nordfrankreich im Sommer 1944 (MGFI (Hg.), Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 7, S.387)
Erstmals wurde die Flugbombe V1 am 12. Juni 1944 von der französischen Nordküste aus gegen London und Ziele in Südengland eingesetzt. Die V1-Abschussrampen befanden sich zwar fast überall in Küstennähe von Cherbourg im Westen bis Calais im Osten, doch waren die beiden Departements Nord und Pas-de-Calais für das Deutsche Reich von großer militärstrategischer Bedeutung, da von hier aus Südengland und London auf kürzestem Weg durch die Fernwaffen erreichbar waren.
V1 auf einer Abschussrampe (Museum "Le Blockhaus" bei Watten, Dep. Nord)
Auch wirtschaftlich und geopolitisch war die Region Nord-Pas-de-Calais für das Deutsche Reich von großem Wert. So boten die reichen Ressourcen der Region Lille mit Kohlebergwerken und Textilindustrie eine geeignete wirtschaftliche Grundlage für ein bis an die Somme erweitertes Belgien, ein geplanter deutscher Satellitenstaat, wie er auch von Teilen flämischer Nationalisten propagiert wurde. Für die Wehrmacht stand vor allem aber die geostrategische Bedeutung Nordfrankreichs im Vordergrund, sowohl bei der Vorbereitung eines Angriffs auf England 1940/41 wie auch im Hinblick auf Verteidigungsmaßnahmen gegen eine seit Anfang 1943 erwartete Invasion der Alliierten, besonders aber beim Einsatz der V-Waffen 1944, mit deren Hilfe London zerstört werden und so ein für Deutschland günstiger Friedensschluss erreicht werden sollte. So ist es verständlich, dass gerade das Nord-Pasde-Calais eine hohe Dichte an Flugplätzen der Luftwaffe sowie an Abschussrampen für die V1-Flugbomben aufwies.
Ebenso befanden sich die drei Bunker für den erstmaligen Einsatz der V2-Raketen in Nordfrankreich: die oberirdisch gebauten Bunker in Brix bei Cherbourg und im Wald von Eperlecques ("Le Blockhaus") bei Watten nördlich von St. Omer sowie der weitgehend unterirdisch errichtete Bunker bei Wizernes ("La Coupole") südlich von St. Omer. Zum Start einer V2-Rakete kam es in Nordfrankreich aber nicht mehr, da die Bunker von Brix und Eperlecques durch großangelegte alliierte Bombenangriffe dauerhaft funktionsuntüchtig wurden und kanadische Truppen den V2-Bunker "La Coupole" bei Wizernes (Foto umseitig) kurz vor dessen Einsatzbereitschaft einnahmen.
Die hohe Anzahl der V1-Abschussrampen und die Lage der beiden V2-Abschussbunker im Nord-Pas-de-Calais führten im Verlaufe des Krieges durch massive Bombardements der britischen RAF zu immer größeren Zerstörungen durch "Kollateralschäden" in den dortigen Städten und Dörfern mit zahlreichen Toten und Verletzten. Wie Raymond Dufay 1990 eindrucksvoll schilderte, war davon besonders das Audomarois, die Region um St. Omer, betroffen. Diese Stadt wurde auch nach dem verheerenden Luftangriff der RAF vom 13. Mai 1943 mit über 100 Toten immer wieder derart von Bombardements betroffen, dass Elisabeth Burnod in ihrem Roman Le Miracle des violettes (s. Kap. IV) sie schon im Februar 1944 als "tote Stadt“ (ville morte) beschrieb. Von den 23.000 Bomben, die auf La Coupole abgeworfen wurden, trafen so viele Wizernes, dass der Ort vollkommen ausgelöscht wurde.
Insgesamt lassen sich die Bau- und Einsatzzeiten der V1 und V2 in vier Phasen beschreiben
Phase 1 Juni - Dez. 1943 in Nordfrankreich:
Bau von V1-Rampen und V2-Bunkern.
Phase 2 Jan. - Mai 1944 in Nordfrankreich:
Neubau von V1-Rampen und Bau des V2-Bunkers La Coupole.
Phase 3 Juni - Aug. 1944 in Nordfrankreich:
Einsatz der V1 gegen England.
Phase 4 Nov. 1943 - April 1945 in Westdeutschland und Holland:
Einsatz der V1 und V2 gegen Ziele in Belgien und England, vor
allem gegen Antwerpen, Lüttich und London.
Die beiden nordfranzösischen Departements Nord und Pas-de-Calais waren für Deutschland 1940-1944 von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Die Region Lille mit ihren Kohlebergwerken und der Textilindustrie bot reiche Ressourcen für ein bis an Somme erweitertes Belgien als deutscher Satellitenstaat.1 Für die Wehrnacht stand vor allem aber die geostrategische Bedeutung Nordfrankreichs im Vordergrund, sowohl bei der Vorbereitung eines Angriffs auf England 1940/41 wie auch im Hinblick auf Verteidigungsmaßnahmen gegen eine seit Anfang 1943 erwartete Invasion der Alliierten, besonders aber beim Einsatz der V-Waffen 1944, mit deren Hilfe London zerstört werden und so ein für Deutschland günstiger Friedensschluss erreicht werden sollte. So verwundert es nicht, dass gerade das Nord-Pas-de-Calais eine hohe Dichte an Flugplätzen der Luftwaffe2 sowie an V1-Abschußrampen aufwies, und auch die für den Start der V2 gebauten Bunker befanden sich in dieser Region.3
Diese besondere Bedeutung Nordfrankreichs im Rahmen der Kriegsführung des Deutschen Reichs kam auch in der administrativen Sonderstellung dieser Region nach deren Besetzung durch die Wehrmacht zum Ausdruck. Die Departement Nord und Pas-de-Calais wurden verwaltungsmäßig nicht wie das übrige besetzte Frankreich dem Militärbefehlshaber Frankreich (MBF) in Paris, sondern dem Militärbefehlshaber Belgien und Nordfrankreich (MBB) in Brüssel unterstellt. Allerdings genoss Nordfrankreich in mehrfacher Hinsicht eine Sonderstellung. Die dort für die deutsche Verwaltung zuständige Oberfeldkommandanturen (OFK) 670 in Lille unterstand zwar formal dem Militärverwaltungschef beim MBB, war aber in bezug auf die Legislative, Exekutive und Judikative weitgehend unabhängig.4
Wegen der geostrategisch herausragend wichtigen Lage des Nord-Pasde-Calais kam auch dem militärischen Nachrichtendienst in dieser Region eine besondere Bedeutung zu. Es verwundert daher nicht, dass die Abwehrstelle Belgien, eine Dienststelle des von Canaris geführten Amtes Ausland/Abwehr beim OKW, unmittelbar nach der Besetzung dieses Gebiets dort zwei Nebenstellen in Lille und Boulogne-sur-Mer5 einrichtete. Nach der Aufgabe des Angriffsplans gegen England stand die Gegenspionage zur Aufdeckung von Resistance-Netzen im Vordergrund, die durch Spionage oder Schleusen abgeschossener feindlicher Piloten eine mögliche Invasion der Alliierten im Vorfeld hätten unterstützen können. Schließlich musste seit Mitte 1943 im Einsatzgebiet der V-Waffen jegliche Spionage zugunsten der Alliierten möglichst unterbunden werden. Schon unter diesen Gesichtspunkten stellt sich die Frage nach Quantität und Qualität der Abwehrmitarbeiter in Nordfrankreich. Um so mehr tritt diese Frage in den Vordergrund, da jüngste Forschungen Hinweise darauf geben, dass es möglicherweise in der Gegenspionage der Abwehrnebenstelle Lille und der eigens für die Sicherheit der V-Waffen gebildeten Abwehrstelle Arras Ansätze für einen Widerstand gab.6 Im folgenden soll unter sozialbiografischem Blickwinkel der Frage nachgegangen werden, welchen Personen die geheimdienstliche Sicherung Nordfrankreichs übertragen wurde.
Bis heute liegt in der Literatur keine umfassende quellenkritische Darstellung der Abwehr in Nordfrankreich vor. Erst im Rahmen der jüngst erschienenen Biografie Karl Hegeners, des Leiters der Gegenspionage III F in Lille, wurde dieses Thema ansatzweise unter der Überschrift „Zwischen Recht und Rechts“ anhand des Zwiespalts, in dem sich Hegener sowohl in seiner Heimat Duisburg als auch in Nordfrankreich befand, beleuchtet.7 Auch die für die Abwehrtätigkeit in Frankreich und Belgien grundlegenden Arbeiten von Reile und Verhoeyen8 behandeln das Nord-Pas-de-Calais nicht. Auch die zahlreichen Publikationen zu den V-Waffen erwähnen nur ganz beiläufig die Existenz einer eigens für deren Schutz gebildeten Abwehrstelle.9
Zahlreiche Hinweise auf Aktivitäten der Abwehr findet man dagegen schon seit 1944 in den regionalen und lokalen Publikationen zu Resistance-Netzen des Nord-Pas-de-Calais. Auch wenn diese weitestgehend der französischen Gesellschaftsdoktrin des heroischen Patriotismus verpflichtet sind und durchweg jede Quellenkritik vermissen lassen, so bieten sie doch in der Fülle der Zeitzeugenaussagen wertvolle Ansatzpunkte für weitergehende Forschungen.10 Erstmals 2011 stellte der jungen französischen Historikers Thierry die organisatorische Struktur der Abwehr in Nordfrankreich dar, ohne sich allerdings mit deren Aufgaben und Methoden kritisch auseinander zu setzen.11
Die dieser Studie zu Grunde liegenden Forschungen waren in weiten Teilen erst möglich durch wesentliche Änderungen in der Freigabe personenbezogener Akten. Von zentraler Bedeutung war in dieser Hinsicht vor allem die fristenbezogene Übergabe der Personenstandsurkunden an die Kommunalarchive. Ferner ist hier die Freigabe von Akten der Geheimdienst- und Militärgerichtsarchive, so z. B. seitens des Bundesnachrichtendienst und des britischen MI5 zu Agententätigkeiten sowie seitens der belgischen Generalstaatsanwaltschaft und des französische Innenministerium zu Militärgerichtsverfahren.
Eine sehr kritisch zu beurteilende mündliche Quelle sind die Aussagen von jetzt 65-85-jährigen Kindern ehemaliger Abwehrangehöriger, die teilweise auch Material aus dem Nachlass ihrer Väter bereitstellen. Die Zuverlässigkeit dieser mündlichen Mitteilungen erschließt sich letztlich nur im Informationskontext anderer Quellengattungen.
Die umfangreichen Baumaßnahmen zur Vorbereitung des V-Waffen-Einsatzes in Nordfrankreich waren streng geheim. Die größte Gefahr sah das mit dem Einsatz betraute Generalkommando 1943 in
Spionen
, die die Stellungen der V1-Rampen und V2-Bunker an England verrieten, so dass zielgenaue Luftangriffe der Alliierten möglich wurden,
Widerstandsgruppen
der Resistance, die Sabotageakte im Einsatzgebiet durchführten,
Schleusernetze
der Resistance, die abgestürzte alliierte Flieger außer Landes brachten.
Aus deutscher Sicht musste dieser Gefahr durch eine gute Gegenspionage begegnet werden. Im Nord-Pas-de-Calais vertraute man dabei bis Dezember 1943 auf die seit Juni 1940 bewährten Mitarbeiter der Abwehr-Nebenstelle Lille, einer Abteilung der für den Bereich des MBB zuständiger Abwehrstelle Belgien in Brüssel.
Leiter dieser Dienststelle, kurz "Nest Lille" genannt mit der Feldpostnummer 331, war 1940/41 Oberstleutnant Fritz Naumann; ihm folgten der Österreicher Oberstleutnant Josef Höpflinger und 1943-1944 Oberstleutnant Hubert Pfannenstiel aus Niederbayern. Diese Nest-Leiter hatten offenbar eine ausschließlich administrative Funktion, da sie in den Akten und auch in der Literatur im Gegensatz zu ihren Referatsleitern fast nicht erscheinen.
Zu den deutschen Mitarbeitern der Nebenstelle Lille gehörten sehr unterschiedliche Personengruppen:
Soldaten
aller Ränge vom Gefreiten bis zum Oberstleutnant,
Agenten
(zumeist im Ausland lebende Deutsche; z. B. Bruno Luig,
Kap. III.1
),
Informanten
(Informelle Mitarbeiter aus Verwaltung und Wirtschaft; z. B. bis Anfang 1944 Friedrich Topp,
Kap. III.3
Wehrmachtsangestellte
, z. B. Louise Stiefelhagen. Sekretärin bei Dr. Hegener (s. u.)
Zu den nicht-deutschen Mitarbeitern zählten
Vertrauensleute
("V-Leute", eingeschrieben mit einer P-Nummer in eine Liste der Abwehr; z. B. Ernest Boussac,
Kap. III.2
),
Bedienstete
, wie Fahrer, Dolmetscher und Hauswarte (z. B. Armand und Anni Nissen,
Kap. III.3
),
Spitzel
, die gegen Bezahlung oder andere Vorteile arbeiten (z. B. Pierre Bedet und seine Gruppe vor der Bildung der "Organisation Pi",
Kap. III.1
).
"Nest" Lille bestand weitgehend nur aus den folgenden Referaten zur Gegenspionage:
III C1
unter Ernst v. Heydebrand und der Lasa (1941-1944),
III C2
unter Dr. jur. Ernst Pantell (1943-1944),
III F
unter Rudolf Schneeweiß (1940), Dr. jur. Karl Hegener (1941-Ende 1943) und Otto Fischer (1944),
III H
unter einem N. Schwarz(?) und Hans Maetschke (1943),
III L
unter Karl Reinlein (1940/41?), Erwin Römmele (1941- Ende 1943) und Willy Leberecht (Ende 1943 - Aug 1944),
III Rü
unter Max Cuypers (1942) und Dr. jur. Friedrich Staab (1943/44?).
Über die Arbeit der Referate III C1, H, L und Rü ist nur wenig bekannt; in den Akten und in der Literatur erscheinen sie nur selten. Der schwer kriegsverwundete Maetsche (III H) war wohl überwiegend mit Schulungskursen in verschiedenen Heeresabteilungen beschäftigt, Römmele (III L) hatte - wie seine Kinder später berichteten - nur wenig zu tun und konnte sich sportlichen Tätigkeiten widmen. Ganz anders gefordert waren die Referate der beiden Juristen Dr. Pantel (III C2) und Dr. Hegener (III F), deren Aufgabenfelder sich in der Praxis nicht immer klar voneinander trennen ließen. So war z. B. III C2 hauptsächlich für die Aufdeckung von Schleusernetzwerken der Resistance zuständig, III F in diesem Kontext für die geschleusten englischen Agenten oder abgeschossenen Piloten; da Vergleichbares auch für die Arbeit von III H, L und Rü galt, nahm Hegeners Büro eine zentrale Stellung in der Nebenstelle Lille ein.
Die Referatsleiter hatten die von Agenten, Spitzeln, informellen Mitarbeitern, Freundinnen, Polizei usw. eingehenden Informationen über gegnerische Aktivitäten zu sammeln und auszuwerten. Anschließend verfassten sie darüber Berichte für das Amt Ausland/Abwehr in Berlin; ab März 1942 mussten sie diese auch an den SD weiterreichen. Hegener konnte sich bei seiner Arbeit auf mehrere zuverlässige Mitarbeiter stützen: auf seinen Adjutanten Uffz. Josef Kanehl, auf seine Feldwebel Egon Mayer und Erwin Streif sowie auf seine Sekretärin Louise Stiefelhagen. Pantell dagegen verfügte nur über den Uffz. Dr. Niehoff und einen Wachtmeister.
Die Entscheidung darüber, ob es zu einem polizeilichen Zugriff auf Einzelpersonen oder Netze der Resistance kam, lag bei dem jeweiligen Referatsleiter, der die GFP, später auch die SS-geführte Sipo mit einem solchen Zugriff zu beauftragen hatte. Mitglieder der Abwehr verfügten über keine Exekutivgewalt. Dass Referatsleiter einen Zugriff mehr oder weniger lange hinauszögerten, um möglichst umfangreiche Informationen über eine Person oder ein Netz zu erlangen, ist selbstverständlich. Unklar aber ist, in welchen Fällen oder ob überhaupt ein Zugriff auf verdächtigte Personen seitens eines Referatsleiters bewusst dauerhaft unterdrückt wurde. Nur unzuverlässige Indizien sprechen dafür, dass Hegener einen Zugriff auf den flämischen Schriftsteller van der Mersch aus Hochachtung vor dessen literarischen Leistungen ebenso ablehnte wie einen wohl von der Sipo geforderten Zugriff auf den in der Oberfeldkommandantur Lille als Kriegsverwaltungsrat tätigen und dort sehr einflussreichen Carlo Schmid. Unbekannt ist auch, in welchem Umfang die französischen Freundinnen deutscher oder belgischer Abwehrangehöriger durch gezielte Indiskretion seitens ihrer Partner Informationen an Verwandte und Bekannte weiter gaben, damit diese rechtzeitig untertauchen konnten.
Das 1934 - 1944 von Wilhelm Canaris zur Beschaffung militärischer Nachrichten dienende Amt Ausland/Abwehr, eine Dienststelle im Oberkommando der Wehrmacht (OKW), gliederte sich neben der Amtsgruppe Ausland in vier Abteilungen mit unterschiedlichen Aufgaben.12 So war Abt. III unter Franz-Eccard von Bentivegni13 für die Abwehr der vom Ausland ausgehenden Spionage und Sabotage, also für die Gegenspionage zuständig. Diese Abteilungen waren jeweils in Gruppen aufgeteilt, die für spezielle Aufgabengebiete zuständig waren, so Abt. III in die Gruppen
III W
(militärischer Sektor innerhalb der Wehrmacht) mit den Untergruppen III H(Heer), III M (Kriegsmarine) und III L (Luftwaffe),
III C
(ziviler Sektor
)
mit den Untergruppen C1 (Behörden), C2 (übriger ziviler Sektor ohne Wirtschaft) und III Wi (Wirtschaft
14
),
III D
(Irreführung feindlicher Nachrichtendienste),
III F
(Gegenspionage i. e. S.),
III G
(Gutachten zu Spionage- und Sabotagefällen),
III Kgf
(Spionage und Sabotage in Kriegsgefangenenlagern) und
III N
(Abwehr im technischen Nachrichtenwesens: Funk, Post, Telegraphie).
15
Aufgabe dieser Gruppen war es, alle ihr Sachgebiet betreffenden Informationen zu sammeln und zu analysieren, um so fundierte Berichte über gegnerische Aktivitäten für das OKW anfertigen zu können. Dazu bedienten sich die Gruppenleiter der Berichte, die von den im In- und Ausland eingerichteten Dienststellen eingesandt wurden. Vor Kriegsbeginn gehörten zu diesen Dienstellen die Abwehrstellen (Ast) der Wehrkreiskommandos, die von einem Offizier des Generalstabs, dem „Ic/AO“ geleitet wurden. Einige dieser Abwehrstellen, deren Tätigkeit sich ausschließlich auf das Territorium ihres Wehrkreiskommandos beschränkte, richteten noch vor Kriegsbeginn in Grenznähe auf bestimmte Tätigkeiten spezialisierte sogenannte Abwehrnebenstellen (Anst, Nest) ein. Diese Nebenstellen bestanden aus einzelnen Referaten, deren Leiter dienstrechtlich dem Leiter der Nebenstelle, fachlich aber dem entsprechenden Gruppenleiter des Amtes Ausland/Abwehr in Berlin unterstanden.16
Nach dem Westfeldzug wurden mehrere Abwehrstellen in Frankreich sowie eine Abwehrleitstelle (Alst) im Hotel Lutetia in Paris eingerichtet, ebenso eine Abwehrstelle in Brüssel (Ast Belgien)17 mit mehreren Nebenstellen, darunter eine in Lille für die Departements Nord und Pas-de-Calais. Diese Dienststelle in Lille unter der Leitung von Fritz Naumann (1940-?1941), Josef Höpflinger (1941?-1943) und Hubert Pfannenstiel (1943-1944) bestand weitgehend nur aus den Gegenspionage-Referaten18
III C1 unter Ernst v. Heydebrand und der Lasa (1941-1944),
III C2 unter Dr. jur. Ernst Pantell (1943-1944),
III F unter Rudolf Schneeweiß (1940), Dr. jur. Karl Hegener (1941- Ende 1943) und Otto Fischer (1944),
III H unter einem N. Schwarz(?)19 und Hans Meatschke (1943),
III L unter Karl Reinlein (1940/41?), Erwin Röemmele (1941-Ende 1943) und Willy Leberecht (Ende 1943 - Aug 1944),
IIIRü unter Max Cuypers (1942)20 und Dr. jur. Friedrich Staab (1943/44?).21
Die Aufgabenfelder der einzelnen Referate ließen sich in der Praxis nicht immer voneinander trennen. So war z. B. III C2 hauptsächlich für die Aufdeckung von Schleusernetzen der Resistance zuständig, III F in diesem Kontext für die geschleusten englischen Agenten oder abgeschossenen Piloten; da Vergleichbares auch für die Arbeit von III H, L und Rü galt, nahm III F eine zentrale Stellung in der Nebenstelle Lille ein. Zu den deutschen Mitarbeitern der Nebenstelle Lille gehörten sehr unterschiedliche Personengruppen: Soldaten aller Ränge vom Gefreiten bis zum Oberstleutnant, Sonderführer, (zumeist als Dolmetscher), Agenten, Informelle Mitarbeiter aus Verwaltung und Wirtschaft und Wehrmachtsangestellte. Zu den nicht-deutschen Mitarbeitern zählten eingeschriebene V-Leute, fest angestellte Bedienstete (u. a. Fahrer, Dolmetscher und Hauswarte), gegen Bezahlung oder andere Vorteile arbeitende Spitzel,22 und die Freundinnen der deutschen Mitarbeiter.
Den Kern der einzelnen Gegenspionagereferate bildete ein Stab, der jeweils aus dem Leiter, bis zu zwei weiteren Offizieren oder Unteroffizieren und einer Sekretärin bestand. Diese Stäbe hatten die eingehenden Informationen über gegnerische Aktivitäten zu sammeln, auszuwerten und in Form von Berichten an andere Dienststellen der Abwehr, ab März 1942 auch an den SD weiterzuleiten.23 Die Entscheidung darüber, ob es zu einem polizeilichen Zugriff auf Einzelpersonen oder Netze der Resistance kam, lag bei dem jeweiligen Referatleiter, der die GFP oder die Sicherheitspolizei des SD mit einem solchen Zugriff zu beauftragen hatte. Mitglieder der Abwehr verfügten über keine Exekutivgewalt.
Auf die zahlreichen Aktivitäten der Abwehrnebenstelle Lille soll hier nicht näher eingegangen werden; am bekanntesten sind die Zerschlagungen der Resistancenetze Pat, F2 in Lille, Légion Belge in Ghlin bei Mons, Alliance in Paris und Calais-Dünkirchen, Shelburn (in Le Cateau), OCM in Lombrez und Stade im Departement Nord.24