Gehrenmännle - Stefan Mitrenga - E-Book

Gehrenmännle E-Book

Stefan Mitrenga

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Beschreibung

Ein Bauunternehmer stirbt auf grausame Art in der Sauna eines Fitnesscenters. War es ein Unfall oder Mord? Doch dann erhält die Polizei einen Bekennerbrief, der mit "Gehrenmännle" unterschrieben ist. Alles deutet auf einen Serienmörder hin. Kriminalpsychologe Beller und seine Kollegen von der Friedrichshafener Polizei setzen alles daran, weitere Morde zu verhindern.

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Seitenzahl: 309

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Gehrenmännle

Kriminalroman

Impressum

Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2023Umschlaggestaltung: © Copyright by Kai Mitrenga 2023Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe

Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

In Erinnerung an Marc.

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.

1

Gott trank seinen Kaffee schwarz. Natürlich. Frank beobachtete ihn aus dem Augenwinkel, wie er einen Kaffeelöffel aus der Schublade nahm und an seinem Hemd sauberrieb. Er hob ihn vors Gesicht, hauchte ihn an und polierte ihn erneut. In diesem Moment signalisierte der Kaffeevollautomat mit knarzenden Geräuschen, dass er seine Arbeit vollendet hatte. Gott nahm seine Tasse und rührte mit dem gereinigten Löffel genau fünf Mal im Uhrzeigersinn, dabei hielt er ihn nur mit Daumen und Zeigefinger, den kleinen Finger hatte er linkisch abgespreizt. Frank verstand den Sinn der Rührerei nicht, da Gott weder Milch noch Zucker hinzugegeben hatte.„Ups … Glück gehabt“, kommentierte Gott die drei roten Lampen, die nun aufleuchteten und verschwand in Richtung seines Büros.Frank konnte den jungen Mann nicht ausstehen, was nichts mit seiner Hautfarbe zu tun hatte. Für ihn machte die Abstammung eines Menschen keinen Unterschied, doch er legte größten Wert auf Ehrlichkeit, Verlässlichkeit und Kollegialität. Werte, die für Gott nicht zu existieren schienen. Doch niemand außer ihm störte sich daran.Und dann die Ticks und Allergien. Der halbe Kühlschrank war mit Tupperdosen gefüllt auf denen dick sein Name stand. Gott hatte eine Laktoseintoleranz, schlimmer war jedoch seine Erdnussallergie. Schon Spuren der Hülsenfrüchte in seinem Essen konnten ihn in einen Schockzustand versetzen. Wenn er dann nicht schnell Hilfe bekam, konnte er sogar sterben. Das behauptete er zumindest. Der Betriebsrat hatte daher für die gesamte Abteilung eine Schulung zur Handhabung eines Epipens veranstaltet. Bisher war aber nichts passiert.Gabriel Gott war vor drei Monaten neu in die Kreditvergabeabteilung der Bank gekommen. Seine Eltern stammten von der Elfenbeinküste. Sie hatten ihm als markantestes Merkmal seine pechschwarze Haut vererbt. Wie sie an den Familiennamen „Gott“ gekommen waren, war Frank ein Rätsel, zumal er nicht nach Elfenbeinküste klang. Bei der Aussprache seines Vornamens bestand Gott auf der englischen Version - „Geibriel“ – weshalb Frank es so gut es ging vermied, ihn damit anzusprechen.„Scheiße“, knurrte Frank und füllte Wasser in den leeren Tank der Kaffeemaschine. Das erste rote Licht erlosch. Dann zog er die Tresterschale heraus und kippte das matschige Pulver in den Biomülleimer. Das zweite rote Licht ging aus. Jetzt fehlten nur noch frische Bohnen, doch statt seiner Lieblingsröstung, fand er nur noch ein angefangenes Päckchen vom Discounter. Mit einem resignierten Seufzer füllte er sie ein und die letzte Lampe erlosch. Wäre das nicht Gotts Aufgabe gewesen? Nicht weil er schwarz war, nein, einfach aus Gründen der Kollegialität. Wer etwas leer macht, der füllt es auch wieder auf. Zumindest sah Frank es so.Als seine Tasse voll war, nippte er vorsichtig daran und verzog das Gesicht. Die scharfe Espressoröstung war ihm viel zu bitter. Er glich das durch eine größere Portion Milch und ein Extrastück Zucker aus und nippte erneut. Nicht gut, aber besser. Er balancierte die Tasse in sein Büro und schloss die Tür hinter sich. Ruhe. Wunderbar. Im alten Gebäude war die Abteilung in einem Großraumbüro untergebracht gewesen, doch mit dem Neubau der Bank in der Friedrichshafener Innenstadt hatte die Kreditvergabe Einzelbüros bekommen. Sechs Quadratmeter Ruhe und Ordnung. Frank schlürfte an seinem Kaffee und drehte seinen Bürostuhl zum Fenster. Zwischen zwei hohen Wohnhäusern hindurch, konnte er einen dünnen Streifen des Bodensees sehen. Er fokussierte seinen Blick auf den schmalen Ausschnitt und stellte sich vor, er säße an der Uferpromenade. Fast spürte er die Sonnenstrahlen im Gesicht und hörte das gierige Kreischen der Möwen. Damit würde es bald vorbei sein. Der Bodensee würde in naher Zukunft sein ganzes Fenster ausfüllen. Es war noch nicht spruchreif, doch die Weichen waren gestellt. Karl Lehnert, der Leiter der Abteilung Kreditvergabe würde demnächst in Rente gehen und er würde ihm nachfolgen. Er würde die Abteilungsleitung übernehmen und auch das Büro, zwei Stockwerke höher, mit freier Sicht auf den See. Hinzu kam eine beachtliche Gehaltserhöhung und ein Platz im Vorstand. Darauf hatte er all die Jahre hingearbeitet. Seit er mit sechzehn seine Lehre begonnen hatte, hatte er sich permanent hochgearbeitet. Bereits mit zweiunddreißig Jahren war er Filialleiter in Ailingen geworden und war fünf Jahre später in die Kreditvergabe in der Zentrale der Bank gewechselt. Jetzt war er zweiundfünfzig und würde das Büro mit der fantastischen Aussicht auf den Bodensee bis zu seiner Rente genießen können.Du hast alles richtig gemacht, bestätigte er sich und trank den letzten Schluck Kaffee. Er ging in die Küche und stellte die leere Tasse in die Spülmaschine. Ein Blick auf die Armbanduhr. Noch fünfzehn Minuten bis zu seinem nächsten Termin. Der letzte des Tages. Er freute sich schon auf den Feierabend mit seiner Frau und den Kindern. Du hast alles richtig gemacht, dachte er erneut und lächelte.

2

Als er die Haustür öffnete, wurde er von Stevie stürmisch begrüßt. So stürmisch wie es für einen dicken Mops eben möglich war. Er trippelte erwartungsvoll auf der Stelle und schleckte sich nervös über die Nase, das gekringelte Schwänzchen vollführte einen irren Tanz.„Hey mein Guter, nur nicht aufregen“, sagte Frank mit ruhiger Stimme und streichelte Stevie über den Kopf. Dann tätschelte er seine Flanke und streichelte immer wieder über den ganzen Hunderücken, bis Stevie ein zufriedenes Grunzen von sich gab. Das war wichtig, denn der kleine Mops durfte sich nicht aufregen. Er war ein Geschenk für seine Frau gewesen und stammte aus einer angesehenen Zucht in der Nähe von Hannover. Frank war extra den langen Weg bis nach Norddeutschland gefahren, um ihn auszusuchen. Während die anderen Welpen des Wurfs fiepsend und quiekend umhergestolpert waren, hatte Stevie einfach nur dagesessen und Frank mit seinen pechschwarzen Knopfaugen angeschaut. Als er ihm die Hand hingestreckt hatte, hatte er sich ihm auf wackeligen Beinen genähert, kurz an seinen Fingern geschnuppert und sich dann an seinem Arm gerieben. Liebe auf den ersten Blick. Eine teure Liebe. Der Züchter hatte für Stevie freudestrahlend zweitausendvierhundert Euro entgegengenommen. Doch er war jeden Cent wert. Der perfekte Hund. Naja, fast perfekt. Während er optisch allen Ansprüchen der gehobenen Mopszucht entsprach, ähnelte seine Verdauung einem fragilen Abgassystem. Wann immer Stevie sich aufregte, reagierte sein Darm mit einem bestialischen Hundefurz. Also: nicht aufregen!„Ganz ruhig, Stevie“, wiederholte Frank, „nur nicht aufregen.“Es funktionierte, wie meistens. Doch es hatte sich herausgestellt, dass Stevie ein sehr empathischer Hund war, der seine eigene Gefühlslage mit der von Frank synchronisierte. Also war es nicht nur wichtig Stevie zu beruhigen, sondern auch, dass Frank selbst ruhig blieb. Dann war alles kein Problem.„Ich bin zu Hause“, rief er noch im Flur und hängte seine Jacke auf. Ein köstlicher Duft stieg ihm in die Nase: leicht süßlich, nach Tomaten, Martini, Knoblauch und Thymian.„Wermuthuhn?“, fragte er überflüssigerweise und umarmte seine Frau, die gerade einen großen Bräter aus dem Ofen hievte.„Für dich nur das Beste“, säuselte sie mit ihrem osteuropäischen Dialekt, den er so liebte. „Ich denke mal, wir haben etwas zu feiern?“Frank zog eine Grimasse. „Es ist immer noch nicht offiziell. Jeder weiß, dass Lehnert aufhört und jeder weiß, dass ich sein Nachfolger werde, aber es wurde noch nicht bekanntgegeben.“Tatjana legte die Topflappen beiseite und umarmte Frank.„Ist sicher nur eine Frage des Timings.“Sie küsste ihn und presste ihren Körper an seinen. Frank spürte ihren festen Busen an seiner Brust und griff reflexartig nach einer ihrer Pobacken. Durch den dünnen Stoff hindurch fühlte er die minimalen Konturen ihres Tangas. Sie stöhnte leise auf, als er ihre Pobacke etwas fester drückte.„Papa, Papa“, jubelte Kati und stürmte die Treppe herunter. Sofort löste sich Tatjana aus Franks Umarmung und ging auf Distanz. Nicht vor den Kindern, sagte ihr Blick. Frank ging in die Hocke und öffnete die Arme für seine Tochter. „Hallo mein Engel“, flüsterte er, während er sie liebevoll drückte. „Wart ihr schön brav?“Die Achtjährige stemmte empört die Arme in die Hüfte. „Ich war in der Schule, habe meine Hausaufgaben gemacht, war bei Annie zum Spielen und habe gerade noch mein Zimmer aufgeräumt. Also ja: ich war brav. Aber frag doch mal Peter.“ Katis Augen verengten sich zu Schlitzen und fixierten ihren Bruder, der gemächlich die Treppe heruntergeschlurft kam. Kopfhörer steckten in seinen Ohren und sein Blick war starr auf sein Smartphone gerichtet.„Hi Dad“, murmelte er abwesend und ließ sich aufs Sofa fallen. „Wann gibt’s Essen?“Frank und Tatjana wechselten einen missbilligenden Blick, sagten aber nichts. Frank hatte immer geglaubt, dass die schwierige Phase bei Kindern die Pubertät sei, doch Peter war erst zehn und machte schon jetzt auf „unausstehlich“. Wie schnell die Zeit vergangen ist, schoss es Frank durch den Kopf. Nun war er schon fast elf Jahre mit Tatjana zusammen, diese wundervolle Frau, die sein Leben verändert und eigentlich erst lebenswert gemacht hatte. Er erinnerte sich noch gut an ihre erste Begegnung. Er hatte sich mit einem Schulfreund und dessen Frau zum Essen verabredet. Jochen war ein erfolgreicher Anwalt, seine Frau kam aus der Ukraine. Sie hatte ihre Schwester, die gerade zu Besuch war, zu der Verabredung mitgebracht. Tatjana. Damals gerade zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte offen mit ihm geflirtet, obwohl Frank zwanzig Jahre älter war. Ungeschickt hatte er den Flirt erwidert. Hübsche, junge Frauen kamen in seinem Leben damals nicht vor. Doch so schlecht konnte er sich nicht angestellt haben, denn sie hatten sich gleich am nächsten Tag für ein Treffen zu zweit verabredet. Frank hatte dafür eine gemütliche Weinstube in der Nähe von Meersburg ausgewählt. Noch am selben Abend war Tatjana mit ihm nach Hause gegangen. Bis heute erregte ihn die Erinnerung an jene Nacht, in der sie keinen Schlaf gefunden hatten. Zunächst hatte er an eine heiße Affäre geglaubt, doch nach vier Wochen hatte Tatjana noch immer jede Nacht mit ihm verbracht. Als ihr Visum abgelaufen war und sie in die Ukraine zurückkehren musste, brach für Frank eine Welt zusammen. Doch sein Freund Jochen hatte eine schnelle Lösung parat gehabt: sie sollten heiraten. Erst war Frank vor dem Gedanken zurückgeschreckt, doch der Schmerz über ihre unfreiwillige Trennung hatte ihn schier wahnsinnig gemacht. Schließlich hatte er zugestimmt und Jochen hatte mit seinen Anwaltstricks für eine schnelle Abwicklung gesorgt. Keine zwei Monate später hatten sie sich das Ja-Wort gegeben. Und Tatjana wurde schwanger.Zehn Jahre ist das jetzt her, überlegte Frank, und da sitzt das Kind unserer Liebe und starrt nur auf sein Handy. Ist hoffentlich nur eine Phase. Wird schon wieder vorbeigehen. Peter war eigentlich ein toller Junge. Kati kuschelte sich zu ihrem Bruder aufs Sofa und schielte neugierig auf sein Handy, während Tatjana den Tisch deckte und das Wermuthuhn herübertrug.„Ich gehe gleich noch ein bisschen trainieren“, sagte sie beiläufig. „Willst du mit?“„Heute nicht“, lehnte Frank ab, da er am Abend zuvor schon trainiert hatte. Ein ordentlicher Muskelkater in den Oberschenkeln schmerzte bei jedem seiner Schritte. Er nutzte den Fitnessraum im Keller eigentlich zu selten. Sie hatten ihn mit Profigeräten ausgestattet, die nun die meiste Zeit still standen. Franks Favorit war das Rudergerät, Tatjanas neue Leidenschaft war Poledance. Erst hatte er die Tanzstange im Keller als etwas Anrüchiges betrachtet, da er das zuvor nur aus zwielichtigen Lokalen kannte, doch nachdem er Tatjana einige Male beim Training beobachtet hatte, ließ er Poledance als echten Sport durchgehen. Es war extrem anstrengend und manchmal kam es auch zu Verletzungen. Meist nur blaue Flecken, hin und wieder aber auch Schürfwunden und Prellungen. Des Spaßes wegen hatte Tatjana für ihn einmal nackt an der Stange getanzt, doch das war nicht sein Ding gewesen. Er ging lieber nach dem Sport mit ihr in ihre Sauna und beobachtete ihren perfekten Körper beim Schwitzen. Das machte ihn mehr an, als der Stangentanz.„Ich komme später noch in die Sauna nach“, sagte er und zwinkerte seiner Frau zu.Sie zwinkerte zurück. „Ich warte auf dich!“Ich habe alles richtig gemacht, dachte Frank und lächelte.

3

Eine Woche war vergangen und noch immer gab es keine Bekanntgabe des Vorstands, wer Karl Lehnerts Nachfolger werden sollte. Frank hatte sich vorsichtig bei Frau Ammann, Lehnerts Sekretärin, erkundigt, doch die hatte ihm nur gesagt, man arbeite daran. Allmählich machte er sich Sorgen. Warum dauerte das so lange? Oder hatte Lehnert vielleicht seine Entscheidung zurückgenommen und blieb noch ein oder zwei Jahre auf seinem Posten?In der Küche traf er auf Gott und Frau Maler, die sich angeregt unterhielten.„Glauben Sie denn, die Entscheidung ist schon gefallen?“, fragte Gott seine Kollegin und lächelte sie mit seinen schneeweißen Zähnen an.Sie kicherte. „Ich glaube schon, aber offiziell weiß ich von nichts. Ich darf wirklich nichts sagen.“ Sie kicherte erneut.„Welche Entscheidung?“, mischte sich Frank ein und schob seine Tasse in die Kaffeemaschine. Rotes Lämpchen. Wasser auffüllen.„Na, wer Lehnerts Nachfolger wird“, erklärte Gott und blinzelte Frau Maler zu. Gleichzeitig zog er sein Smartphone aus der Tasche und tippte hektisch darauf herum. Frank fand das unhöflich. „Da gibt es nicht so viele, die in Frage kommen, denke ich“, sagte Frank unsicher und sah sich nach der Zuckerdose um. In diesem Moment ließ Frau Maler ihren Kaffeelöffel fallen, der klimpernd über den Küchenboden tanzte.„Huch“, rief sie und bückte sich, um ihn aufzuheben. Sie kam in der engen Küchenzeile leicht ins Straucheln und taumelte rückwärts auf Frank zu, der sie gerade noch an der Hüfte abfangen konnte.Frau Maler richtete sich abrupt auf und schob Franks Hände von ihrer Hüfte. „Herr Stein, das geht jetzt aber doch eindeutig zu weit.“Frank lief rot an und hob entschuldigend die Hände. „Ich wollte doch nur … also ich habe nicht … ich … ich …“Ohne ein weiteres Wort, stürmte Frau Maler aus der Küche. Gott grinste ihn kurz an und ging ebenfalls.Was war das denn?, überlegte Frank kurz darauf, als er mit seinem Kaffee in der Hand wieder einmal den schmalen Ausschnitt des Bodensees betrachtete. So hatte er seine Kollegin noch nie erlebt. Er schüttelt den Kopf, um die Gedanken an den Vorfall zu vertreiben. Er wollte an schönere Dinge denken. An gestern Abend zum Beispiel. Er hatte Tatjana einen lang ersehnten Wunsch erfüllt und war mit ihr ins Autohaus gefahren. Nach einem Check seines Aktienportfolios, und in Erwartung der Beförderung, hatte er entschieden, dass dem Kauf eines Tesla nichts mehr im Wege stand. Nach einer Probefahrt und einer ausführlichen Beratung, hatte er den Kaufvertrag unterschrieben. Der Verkäufer hatte eine Flasche Sekt geöffnet und mit ihnen angestoßen. Angesichts der fast hundertfünfzigtausend Euro, die den Besitzer wechseln würden, hätte es auch ruhig Champagner sein dürfen, dachte Frank. Doch trotz billigem Schaumwein, war Tatjana glücklich gewesen. Zu Hause angekommen, war sie noch im Flur über ihn hergefallen. Kleidungsstücke wurden zerrissen, Flaschen gingen zu Bruch. Frank hatte gehofft, dass die Schallschutzfenster in beide Richtungen funktionierten, doch heute Morgen hatten ihn die Nachbarn wie immer freundlich gegrüßt. Gute Fenster. Mein Gott, dachte Frank, es war wie früher. Vier Mal in nur einer Nacht. Und das mit zweiundfünfzig. Was für ein glücklicher Zufall, dass die Kinder an diesem Abend bei Freunden übernachtet hatten.Ich habe wirklich alles richtig gemacht, dachte er und lächelte.

4

Als er am Abend nach Hause kam, merkte er sofort, dass etwas nicht stimmte. Die Küche war kalt und Tatjana stand rauchend auf der Terrasse. Peter saß mit grimmigem Blick auf dem Sofa und starrte Löcher in die Luft. Ohne Kopfhörer. Ohne Handy. Stevie versuchte sich bemerkbar zu machen und tänzelte nervös um Franks Beine, doch er wollte zuerst erfahren, was los war. Er ging zu Tatjana auf die Terrasse, während Stevie sich beleidigt und aufgeregt unter dem Sofatisch verkroch.„Buuuuuuah“, schrie Peter kurz darauf und rannte die Treppe hoch in sein Zimmer. Mopsfürze können grausam sein.„Was ist passiert?“, fragte Frank und gab Tatjana zur Begrüßung einen Kuss.Sie blies zornig eine Rauchwolke in den Himmel. „Die Eltern von Kai haben die Jungs beim Rauchen erwischt.“ Kai war Peters Freund, bei dem er übernachtet hatte.Frank war fassungslos. „Sie sind erst zehn. Bist du sicher … dass … also …“Tatjana zerquetschte ihre Zigarette im Aschenbecher und sah ihn direkt an. „Wie kann man da nicht sicher sein? Kais Vater wollte am Abend nochmal nach den Kindern sehen, da waren die Betten leer. Das Fenster stand offen. Er hat sie im Gartenhäuschen gefunden.“Frank wurde schlecht. Sein Sohn beim Rauchen erwischt. Mit zehn. „Das war sicher nur so eine Mutprobe unter Jungs. Das muss nichts bedeuten“, versuchte er zu beschwichtigen.„Ach ja?“ Tatjana funkelte ihn böse an. „Frank, sie haben keine Zigaretten geraucht … sie haben gekifft!“Oha! Das war allerdings etwas anderes. „Ich … ich weiß nicht, was ich sagen soll. Das ist fürchterlich. Aber kannst du mir erklären, wie sie an das Gras gekommen sind?“Tatjana schwieg und sah ihn durchdringend an.In diesem Moment wusste Frank: das war sein Gras gewesen.Vor ein paar Jahren hatte er heftige Migräneanfälle gehabt, gegen die kein Kraut gewachsen war, außer eben diesem. Seitdem hatte er für Notfälle stets zwei oder drei Joints in seinem Schreibtisch versteckt. Er achtete stets darauf, dass die Schublade, in der sich auch seine Finanzunterlagen befanden, verschlossen war. Er ging in sein Arbeitszimmer und fand die Schublade offenstehend. Oben auf den Unterlagen lag die Auswertung seines Aktienportfolios, die er vor dem Teslakauf zusammengestellt hatte. Er musste vergessen haben, die Schublade wieder abzuschließen.„Shit!“Tatjana war mittlerweile in der Küche und öffnete eine Dose Ravioli. Heute würde er nicht verwöhnt werden.„Was haben die Eltern gesagt? Haben sie die Polizei geholt?“Tatjana warf ihm einen spöttischen Blick zu. „Axel ist bei der Polizei. Sogar bei der Kripo. Hast du das vergessen?“Schlimmer konnte es nicht kommen. Frank holte sich eine angefangene Flasche Wein aus dem Kühlschrank und goss sich ein Glas ein. Wenn Kais Vater den Vorfall meldete, konnte er große Probleme bekommen. Nicht auszudenken, wenn der Vorstand der Bank davon erführe. Aber Moment: hatte Axel nicht das gleiche Problem?„Wird Axel das melden? Oder sogar Anzeige erstatten? Was hat er gesagt?“„Er war stinksauer. Er hat mich angeschrien, warum wir Drogen offen in der Wohnung rumliegen haben. Ich hab ihm versichert, dass sie natürlich nicht offen rumliegen und nur für Notfälle gedacht waren, falls du wieder eine Migräneattacke hast. Das hat ihn etwas beruhigt und er möchte, dass wir diesen Vorfall so schnell wie möglich vergessen. Es wäre für uns alle nicht gut, wenn das bekannt würde, hat er gesagt. Sollte das aber nochmal passieren, würde er nicht zögern und Anzeige erstatten.“Das hatte Frank sich gedacht. Axel wollte seine Karriere bei der Kripo genau so wenig riskieren, wie er seine bei der Bank.„Dann ist doch alles in Ordnung. Verbuchen wir das unter „blöder Kinderstreich“ und brummen Peter zwei Wochen Hausarrest auf.“Tatjana nickte. „Das habe ich schon. Außerdem ist sein Handy für eine Woche beschlagnahmt. Das wird ihm wohl am meisten stinken.“Frank wusste, dass sie recht hatte und beließ es dabei. Kurz darauf saßen sie am Esstisch und löffelten schweigend die Ravioli. Ich kann ja nicht immer alles richtig machen, dachte Frank, ohne zu lächeln.

5

Frank hatte schlechte Laune. Fast zwei Stunden hatte er mit einem Kunden zusammengesessen, der für die Erweiterung seines Betriebs einen Überbrückungskredit haben wollte. Frank hatte abgelehnt. Durch eine kurze Recherche hatte er herausgefunden, dass das Gebäude, das der Mann als Sicherheit anbot, über eine andere Bank finanziert war, ihm also gar nicht gehörte. Der Mann hatte beteuert, er habe ja Geld und bräuchte den Kredit wirklich nur kurzfristig, um während der Geschäftserweiterung nicht zahlungsunfähig zu werden. Tatsächlich besaß er ein Konto auf dem über siebenhunderttausend Euro parkten. Doch Frank war schon zu lange in der Kreditabteilung und kannte die Tricks seiner Kunden. Er überprüfte die Zahlungseingänge und stellte fest, dass das Konto bis vor einer Woche noch leer gewesen war, bis dann eine Überweisung von siebenhundertfünfzigtausend Euro eingegangen war, von der seitdem schon wieder fünfzigtausend abgebucht worden waren. Ein alter Trick. Man beschaffte sich kurzfristig eine größere Summe, um das Konto als Sicherheit angeben zu können, kaum hatte man den Kredit, verschwand das Geld genauso schnell wie es aufgetaucht war.Der Mann hatte wütend Franks Büro verlassen und gedroht, sich zu beschweren. Sollte er doch. Franks Bilanz über die letzten Jahre war fast makellos, weil er eben immer genau nachforschte. Einige Antragsteller waren nach seiner Absage zu anderen Banken gewechselt und hatten dort ihr Glück versucht. Teilweise mit Erfolg. Von manchen hatte er später in der Zeitung gelesen, als ihr Bankrott öffentlich gemacht wurde.Natürlich, Kredite brachten der Bank Geld ein, doch man musste das Risiko sehr genau abschätzen. In all den Jahren war nur ein einziger von Franks Kunden bankrottgegangen, und auch diesen hätte er eigentlich gar nicht angenommen, doch ein Mitglied des Vorstands hatte ihn damals beiseite genommen und ihm erklärt, wie wichtig der Mann sei. Viele Freunde im Stadtrat. Beste Beziehungen überall hin. Eine Ehre, ihn als Kunden gewinnen zu können. Als der Mann sechs Monate später Konkurs angemeldet hatte, konnte sich das Vorstandsmitglied natürlich nicht mehr an ihr Gespräch erinnern und der ganze Ärger war an Frank hängengeblieben. Er würde den Mann heute noch hassen, doch der hatte sich kurz darauf das Leben genommen, als bekannt geworden war, dass er einige schräge Dinger gedreht hatte.Seitdem hatte er sich nicht mehr beeinflussen lassen und achtete noch mehr auf die Risiken. Das führte dazu, dass er weniger Kunden hatte als andere, aber es gab auch keinen einzigen Ausfall mehr.Frank ging in die kleine Gemeinschaftsküche und stellte erfreut fest, dass an der Kaffeemaschine kein einziges rotes Lämpchen brannte. Während das Mahlwerk ratterte, hörte er Stimmen auf dem Gang. Neugierig lugte er um die Ecke und sah Gabriel Gott mit dem Mann, den er vor wenigen Minuten verabschiedet hatte.„Machen Sie sich keine Sorgen“, lächelte Gott schneeweiß, „wir schauen uns das Ganze jetzt noch mal an. Ich bin sicher, wir finden eine Lösung.“Sie verschwanden in Gotts Büro und schlossen die Tür. Kurz überlegte Frank, Gott zu warnen, doch letztlich war es seine Entscheidung. Wenn später irgendetwas schiefgehen würde, wäre das nicht sein Problem.„Herr Stein, haben Sie kurz Zeit?“Abteilungsleiter Karl Lehnert kam in die Küche und gab Frank ein Zeichen, ihm zu folgen. Frank ließ seine Kaffeetasse stehen und folgte seinem Chef, der Franks Büro ansteuerte. Lehnert schloss die Tür hinter sich und zeigte auf Franks Arbeitsplatz. Er selbst setzte sich auf den Besucherstuhl.„Ich mache es kurz: es geht um den Mann, den Sie gerade weggeschickt haben. Er kam zu mir und hat sich über Sie beschwert. Sie hätten seine Sicherheiten nicht akzeptiert.“Obwohl das keine Frage war, antwortete Frank.„Die Sicherheiten waren … naja … sagen wir: verdächtig. Unter diesen Umständen konnte ich ihm den Kredit nicht gewähren. Zumal er auch neu bei uns wäre und wir keinerlei Erfahrung mit ihm als Kunden haben.“Lehnert zog die Stirn kraus. „Aber genau darum geht es ja, Herr Stein. Er ist ein potenzieller Neukunde. Wir verdienen mit Krediten Geld und da zählt jeder neue Vertrag.“„Ich verstehe“, sagte Frank langsam, „aber das Risiko war mir da einfach zu hoch.“„Ich weiß schon – Sie sind einer von der alten Schule. Nur ja nichts riskieren. Das ist mir grundsätzlich auch lieber, aber so kommen wir nicht mehr weiter. Der Markt ist hart und die Konkurrenz groß. Vor allem die ganzen Onlinebanken … da können wir nicht so weitermachen wie bisher. Meinen Sie nicht, Sie könnten in Zukunft etwas … offener sein?“Frank verstand durchaus, was Lehnert meinte, doch mit einer größeren Offenheit, wie sein Chef es nannte, würde auch das Risiko steigen, große Summen komplett zu verlieren.„Sehen Sie sich Gott an“, sprach Lehnert weiter, ohne auf Franks Antwort zu warten, „er schließt fast doppelt so viele Kredite ab wie Sie, und dass, obwohl er erst seit drei Monaten bei uns ist. Das nenne ich geschäftstüchtig.“Frank fragte sich, ob sein Chef es immer noch so sehen würde, wenn Gott die ersten Kredite verlor, doch er verzichtete auf eine Diskussion.„Natürlich, ich werde mich bemühen.“„Das wollte ich hören“, strahlte Lehnert und erhob sich. „Sie sind mein bester Mann und ich verlasse mich auf Sie.“Ohne ein weiteres Wort verließ er das Büro und schloss die Tür hinter sich. Frank blieb nachdenklich an seinem Schreibtisch sitzen und fixierte den schmalen Ausschnitt des Bodensees. Das war ein Spiel, das er nicht spielen wollte. Mehr Kredite auf Kosten eines größeren Risikos. Er beschloss, nichts an seiner Vorgehensweise zu ändern. Bisher habe ich doch alles richtig gemacht, dachte er, konnte aber nicht lächeln.

6

Am Samstag verkündete Tatjana, dass sie zum Abendessen Gäste haben würden.„Die Rabes kommen und ich werde mein legendäres Chili kochen.“Die Rabes waren nette Leute, Frank mochte sie, aber sie hatten sich noch nie gegenseitig besucht. „Gibt es irgendeinen Anlass dafür?“, fragte er unsicher.Tatjana lächelte bitter. „Unsere kiffenden Kinder – ist dir das Anlass genug?“Autsch. Das hatte er vergessen. Nein: verdrängt. Natürlich musste man die Rabes sanft stimmen, schon weil Axel bei der Kripo arbeitete.Sie kamen pünktlich um sieben Uhr. Die Begrüßung war nach dem Joint-Zwischenfall etwas kühl, doch schon bei der zweiten Flasche Wein wurde die Stimmung lockerer.„Was machen eigentlich die Kinder?“, fragte Axel, als der Tisch abgeräumt war und eine neue Flasche Wein im Kühler stand.„Die sind oben“, sagte Frank. „Keine Angst – die Schublade mit den Joints ist abgeschlossen. Ich hoffe nur, sie schauen keine Pornos.“Obwohl es nicht ernst gemeint war, sahen sich Axel und seine Frau panisch an.„Das war nur ein Scherz“, beschwichtigte Tatjana. „Auf Peters Laptop ist eine gute Kindersicherung installiert. Da kommt er gar nicht auf solche Seiten. Und sowas interessiert ihn sowieso noch nicht. Er ist doch erst zehn.“„Du hast recht“, sagte Axel schmunzelnd. „In dem Alter ist kiffen viel wichtiger.“Autsch. Frank rutschte nervös auf seinem Stuhl hin und her. Stevie, der bisher gemütlich in seinem Hundekorb gelegen hatte, nahm seine Stimmung auf.„Hast du jemandem davon erzählt?“, fragte Frank vorsichtig. „Den Kollegen, oder so?“Eine vorsichtige Formulierung für die Frage: „Hast du eine Anzeige gemacht?“Axel schüttelte den Kopf. „Wem wäre damit geholfen? Euch nicht, uns nicht und schon gar nicht den Kindern. Belassen wir es dabei.“Franks Puls senkte sich und auch Stevie entspannte sich. Zeit für Smalltalk.„Ist denn gerade viel los bei der Kripo?“„Es geht so. Nur der übliche Kram. Ein bisschen mache ich mir wegen dem Seehasenfest Sorgen. Du erinnerst dich an letztes Jahr?“Natürlich erinnerte sich Frank an das letztjährige Seehasenfest. Wer nicht? Ein paar Verrückte hatten mehrere Schiffe der Weißen Flotte in ihre Gewalt gebracht und die Fahrgäste als Geiseln genommen. Sie hatten ein unglaubliches Lösegeld kassiert und waren anschließend verschwunden. Die Polizei hatte nur einen der Täter am Züricher Flughafen verhaften können. Als „Schwarzer Seehas“ war die Geiselnahme europaweit in den Medien gewesen.„Habt ihr mittlerweile eigentlich alle Geiselnehmer erwischt?“Axel seufzte. „Leider nein. Von einem wissen wir, dass er in Kuba gestorben ist. Zwei weitere haben wir bis nach Thailand verfolgen können, aber dort endete die Spur. Und dann gibt es da noch den mysteriösen Drahtzieher. Von dem wissen wir gar nichts. Der scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Aber wir bleiben dran.“Axel nahm einen großen Schluck aus seinem Weinglas. „Und wie läuft es bei dir in der Bank? Du bist in der Kreditabteilung, richtig?“Frank nickte. „Richtig. Da läuft alles …“, er fand nicht dir richtigen Worte, „… alles … gut …“„Frank wird bald befördert“, mischte sich Tatjana ein. „Der Abteilungsleiter geht in Rente und Frank wird sein Nachfolger.“„Na – da gratuliere ich“, lächelte Axel und hob sein Glas zum Anstoßen. „Auf den neuen Abteilungsleiter!“Sie stießen an, doch Frank lächelte nur halbherzig. Mit jedem Tag, der verstrich, ohne eine offizielle Verkündung, schwand seine Zuversicht. Es dauerte einfach schon zu lang.„Und weil Frank befördert wird, haben wir uns etwas Besonderes geleistet.“Tatjana ging zu einer Kommode und nahm eine Mappe aus einer der Schubladen.„Den hier“, sagte sie stolz und legte die Teslabroschüre auf den Tisch. „Er wird in zwei Monaten geliefert.“Axel pfiff anerkennend. „Wow. Das ist ja der Hammer!“Er überflog staunend die Hochglanzseiten, wobei er immer wieder den Kopf schüttelte.„Wahnsinn. Aber der kostet doch sicher ein Vermögen … hundert?“Frank lächelte bitter. „Hundertfünfzig …“„Aber er ist jeden Euro wert“, ereiferte sich Tatjana. „Und gut für die Umwelt ist er auch.“Frank wusste, dass seiner Frau die Umwelt scheißegal war. Dieses Auto war für sie lediglich ein weiteres Statussymbol, genauso wie der Audi Q5 in der Einfahrt, das Haus oder auch ihre Urlaube, die sie immer in den exklusivsten Ressorts verbrachten. Er hatte einmal vorgeschlagen, nach Südtirol zum Wandern zu gehen, doch Tatjana hatte nur die Nase gerümpft und gemeint, das sei doch eher etwas für einen Altherrenausflug. Frank hatte damals klein beigegeben, sich aber vorgenommen, den Südtirolurlaub irgendwann nachzuholen. Gerne auch ohne seine Frau.Eine halbe Stunde später war die nächste Flasche Wein leer und die Rabes riefen nach ihrem Sohn.„Was habt ihr die ganze Zeit gemacht?“, fragte Axel seinen Sohn.„Mario Kart gespielt. Peter hat einen riesigen Flatscreen in seinem Zimmer. Echt super. Kriege ich auch so einen?“Axel legte Kai die Hand auf die Schulter. „Mal sehen. Du hast ja bald Geburtstag.“Auch Peter und Kati kamen zur Verabschiedung herunter und man versprach sich gegenseitig, so einen Abend bald zu wiederholen.Kurz darauf saß Frank allein am Tisch, da Tatjana etwas zu viel Wein erwischt hatte und schon ins Bett gegangen war. Er hatte sich einen winzigen Schluck seines Lieblingswhiskeys eingeschenkt. Nett, diese Rabes, dachte er, während er die braune Flüssigkeit im Glas kreisen ließ. Das war ein schöner Abend. Sogar Stevie war ruhig und vor allem geruchsneutral geblieben. Da haben wir doch mal wieder alles richtig gemacht, dachte Frank als er lächelnd den letzten Schluck Whiskey trank.

7

Einer der Vorzüge bei der Bank zu arbeiten, war der eigene Tiefgaragenstellplatz. Je nach Position lag er näher beim Fahrstuhl. Der Vorstand parkte in erster Reihe, dann kamen die Abteilungsleiter, die Sachbearbeiter folgten, die restlichen Angestellten mussten sich im hinteren Teil einen Platz suchen. Frank würde bald in die erste Reihe aufrücken. Zufrieden lenkte er seine Mercedes A-Klasse zu seinem gewohnten Parkplatz. Es gab keine Schilder mit Namen oder Kennzeichen, doch jeder wusste, wo er zu stehen hatte. Nur dieser schwarze Hyundai Ioniq nicht. Frank hatte das Fahrzeug, das auf seinem Stammplatz stand, noch nie gesehen. Missmutig blickte er die Reihe der parkenden Autos entlang und fand erst zwei Einfahrten weiter hinten einen freien Platz. Er ärgerte sich über den Fahrer des Wagens, der offensichtlich nicht wusste, wo er hingehörte.„Der Chef möchte Sie in einer halben Stunde sehen“, begrüßte ihn Frau Ammann.„Ach ja?“, spielte Frank den Überraschten. „Wissen Sie, um was es geht?“„Natürlich weiß ich, um was es geht“, antwortete die Sekretärin herablassend. „Aber das wird Ihnen Herr Lehnert nachher selber sagen.“„Aber sicher“, erwiderte Frank höflich. Endlich war es soweit. Endlich würden sie ihm die Beförderung offiziell mitteilen. Wurde auch Zeit. Mit einem Lächeln blieb Frank vor seiner Bürotür stehen und sah auf das Namensschild.„Frank N. Stein“Er wusste bis heute nicht, ob seine Eltern damals lustig sein wollten, oder ob sie es schlicht und einfach nicht bemerkt hatten. Frank Norbert Stein, Frank N. Stein – Frank-en-stein. Der zweite Vorname „Norbert“, nach seinem längst verstorbenen Urgroßvater. Bereits in der Schule hatten ihn seine Mitschüler damit aufgezogen – Frankenstein, das Monster … uuuuuh. Genauso war es wahrscheinlich dieser einen Ministerin gegangen, dachte Frank. Wie konnte man seine Tochter Andrea nennen, wenn man „Nahles“ hieß? Das Türschild „A. Nahles“ fand Frank noch schlimmer als „Frank N. Stein“.Es hatte schon etwas komisches, dass hier in der Bank „G. Gott“ sein Büro neben „Frank N. Stein“ hatte. Himmel und Hölle. Der Schöne und das Biest. Und ja - auch schwarz und weiß.Er sah seine Mails durch und entdeckte eine Erinnerung von Frau Amman, in der sie noch einmal auf den Termin hinwies. Offensichtlich hielt sie ihn für vergesslich. Er hätte gerne noch einen Kaffee getrunken, doch dafür reichte die Zeit nicht mehr. Er entsperrte sein Handy und wechselte auf die Frontkamera, um sein Spiegelbild zu betrachten. Er zupfte ein Nasenhaar aus, das unschön hervorlugte. Sofort kamen ihm die Tränen. Mit der freien Hand glättete er seine Haare. Passabel. Hätte er gewusst, dass heute der große Tag sein würde, hätte er einen anderen Anzug angezogen. Den anthrazitfarbenen mit den kaum sichtbaren Nadelstreifen. Aber auch so sah er gut aus.„Setzen Sie sich, Herr Stein!“ Karl Lehnert wies mit der Hand auf den Besucherstuhl vor seinem Schreibtisch. „Ich denke, Sie wissen warum ich Sie hergebeten habe.“ Er hatte den Satz nicht als Frage formuliert, trotzdem nickte Frank. „Ich werde in wenigen Wochen in den Ruhestand gehen und es wird Zeit, meinen Nachfolger zu benennen. Und da haben wir natürlich auch an Sie gedacht, Herr Stein.“ Frank runzelte die Stirn. Was sollte dieses „auch“ bedeuten? „Sie sind, nach mir, am längsten in der Kreditabteilung und haben über die Jahre wirklich vorbildlich gearbeitet. Ich denke, dass Sie mit ihrer Erfahrung ein wertvolles Mitglied dieser Abteilung sind. Die Sorgfalt und Vorsicht, mit der Sie Ihre Arbeit verrichten, hat unsere Bank bestimmt in vielen Fällen vor Schäden bewahrt. Das ist wirklich beeindruckend.“Jetzt sag es endlich, dachte Frank und wischte unauffällig seine Hände an der Hose ab. Er spürte sein Herz schlagen und konnte nur mit Mühe ein Fußwippen unterdrücken.Lehnert erhob sich und stellte sich, mit dem Rücken zu Frank, ans Fenster. Für ein paar Sekunden, schien er den fantastischen Blick auf den See zu genießen.„Herr Stein, Sie sind wie ich von der alten Schule. Sie machen Ihre Arbeit so, wie wir es in unserer Ausbildung gelernt haben. Doch die Zeiten haben sich geändert.“Frank meinte sich verhört zu haben und legte den Kopf schief.„Wir sind Dinosaurier und Sie wissen ja, was mit den Dinosauriern passiert ist. Die Finanzwelt hat sich weiterentwickelt, leider in eine Richtung die mir – und sicher auch Ihnen – nicht gefällt. Doch das ist nun mal so. Gewinne erwirtschaften sich nicht mehr aus Geschäften mit fast hundertprozentiger Sicherheit. Heute muss man Risiken eingehen, um einigermaßen profitabel zu sein.“Frank wurde schlecht.„Daher muss ich Ihnen leider sagen, dass wir uns für jemand anderen als meinen Nachfolger entschieden haben. Natürlich weiß ich, dass Sie an der Reihe gewesen wären, doch der gesamte Vorstand kam zu dem Schluss, dass wir frisches Blut brauchen. Wir müssen unsere Denkweisen anpassen und neue Wege gehen …“Lehnert sprach noch weiter über die neuen Ziele der Bank, doch Frank konnte ihn nicht mehr hören. In seinen Ohren rauschte das Blut und seine Gedanken kreisten um das, was er gerade gehört hatte. Er, ein Dinosaurier, der aussterben würde? Er war zweiundfünfzig, hochqualifiziert und hatte mehr Erfahrung als jeder seiner Kollegen. Plötzlich kam ihm ein fürchterlicher Gedanke.„Wer?“, fragte er einsilbig.„Nun, die Entscheidung ist uns wirklich nicht leichtgefallen“, wand Lehnert sich, „aber wir haben mit meinem Nachfolger eine Person gefunden, die die Abteilung in mehrfacher Hinsicht in ein sehr positives Licht rückt …“„Wer?“, wiederholte Frank seine Frage.Lehnert räusperte sich. „Also, er ist jung, leistet gute Arbeit … und nicht zuletzt gehört er einer Minderheit an …“Frank blieb die Luft weg. Das konnten sie nicht machen. Nicht Gott!„Gabriel Gott ist der Mann, der diese Abteilung in die Zukunft führen wird“, sagte Lehnert bestimmt. „Er bringt alles mit, was es für diesen Job braucht, vor allem ist er bereit für Veränderungen.“Eine peinliche Pause entstand. Frank wurde klar, dass Gott demnächst in diesem Büro sitzen und die wunderbare Aussicht genießen würde. Er hingegen, würde die nächsten fünfzehn Jahre in seinem Büro festsitzen, bis er dann endlich in Rente ging. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf.„Und ich? Also … bleibe ich …?“„Aber mein lieber Herr Stein“, antwortete Lehnert mit aufgesetztem Lächeln, „natürlich bleiben Sie in der Kreditabteilung. Ich habe mit dem Vorstand besprochen, dass sie sogar Gotts Stellvertreter werden. Das ist wenigstens eine kleine Beförderung und bringt auch eine Gehaltserhöhung. Sie sehen, wir wollen Sie und Ihre Erfahrung keinesfalls verlieren. Was sagen Sie dazu?“Frank fand keine Worte. Am liebsten hätte er seine Hose heruntergelassen und seinem Chef auf den Tisch geschissen.„Das ist toll“, sagte er stattdessen und erhob sich. „Dann ist ja alles geklärt.“Lehnert begleitete ihn zur Tür. „Ich bin wirklich froh, dass Sie es so sportlich sehen. Denken Sie bitte daran: es ist alles zum Wohle der Firma.“„Natürlich.“Frank ging auf direktem Weg in sein Büro. Unter einem Vorwand sagte er alle Termine ab und verließ das Gebäude. Er musste raus. Atmen. Schreien.Er dachte an Gott und stellte fest, dass der alles richtig gemacht hatte. Wahrscheinlich lächelte er jetzt.

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