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Riesige Vesperteller, Flaschenbier und Schnaps aus Sprudelgläsern ... Alltag bei der Goschamarie in Taldorf. Walter und seine Freunde treffen sich dort regelmäßig zum Stammtisch. Walter ist eigentlich nur der Zeitungsausträger des Dorfes, doch als der alte Pfarrer überraschend stirbt sucht er mit seinen Freunden nach Antworten. War es wirklich ein natürlicher Tod? Ein Humoriger Dorfkrimi mit viel Charme und unglaublichen neuen Geschichten von der Goschamarie.
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Seitenzahl: 442
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Goschamarie
Alte Geschichten – neue Freunde
Ein Taldorf-Krimi
Impressum
2. korrigierte AuflageTexte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2018Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2018Korrektur: Claudia Kufeld (Kierspe)
Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Taldorf, ungefähr zwölf Kilometer westlich von Ravensburg. In früheren Zeiten der Sommersitz der Weissenauer Mönche, heute eine der begehrtesten Wohnlagen im Umkreis. Dort lebt es sich ruhig und beschaulich, nur an den Geruch der Gülle, die auf die Felder gespritzt wird, muss man sich gewöhnen.Im Ort gibt es keinen Einkaufsladen, Arzt oder eine Tankstelle – nicht einmal eine Wirtschaft. Doch das war nicht immer so. Einst gab es gleich zwei Gaststätten, die sich beide nicht über zu wenig Zulauf beklagen konnten.
Eine davon war der Gasthof „Zur Traube“. Dort gab es für wenig Geld riesige Vesperteller und gute Hausmannskost, serviert von einer legendären Frau, die bis heute jedem im Großraum Ravensburg ein Begriff ist: die Goschamarie.
Mit ihrer unnachahmlichen Art machte sie ihre Gaststätte, und damit auch den Ort Taldorf, bis weit ins Land hinein berühmt. Man ging „zur Goschamarie“ um zu essen und zu trinken – und um etwas zu erleben. Hat man heute die Ehre sich an einen der vielen Stammtische im Taldorfer Umkreis setzen zu dürfen, so findet sich in der Runde immer einer, der eine unglaubliche Geschichte von der Goschamarie erzählen kann.Dann, Ende der Neunziger, wurde in der Traube der Zapfhahn für immer zugedreht, nur die Geschichten blieben. Leider kommen keine neuen mehr hinzu. Bis jetzt. Gönnen Sie sich den Spaß und lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Stellen Sie sich vor, die Traube öffnet nach wie vor jeden Tag ihre Türen und unzählige Gäste von nah und fern strömen herbei. Es wird mit Euro bezahlt, obwohl sich Marie jahrelang gegen „des nixige Europageld“ gewehrt hat. Fast jeder besitzt ein Smartphone und sogar gestandene Mannsbilder trinken gerne mal einen Aperol Spritz. Doch die Vesperportionen sind gleich geblieben und Marie regiert in ihrer Gaststätte nach wie vor mit eiserner Hand, auch wenn sie diese durch den dichten Zigarettenrauch oft kaum sehen kann.
Sie haben Angst, Sie bekommen keinen Platz?
Aber sicher doch! Am Eingang steht Marie und winkt Ihnen freundlich zu: „Stellet eich it so ah! Kommet rei! Fier eich hon i immer no a Plätzle frei!“
Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.
Vorspiel
02. Februar 2009, 2.35 Uhr
Schwere Wolken schieben sich vor den Mond wie der schwere Vorhang am Ende der Theatervorstellung. Der stattliche Bauernhof hebt sich nur wage von der Umgebung ab. Aus dem nahegelegenen Wald dringen vereinzelt die Geräusche wilder Tiere. Ein flüchtiger, feuchter Schleier liegt über den Senken der angrenzenden Wiesen. Nicht ungewöhnlich in einer Februarnacht. Zwei Lichter steuern langsam auf den Hof zu und erlöschen in der Einfahrt.
Dr. Baumann bemüht sich leise zu sein, als er die Autotür zuschlägt. Unnötig. Im Wohnhaus sind alle wach, sonst wohnt weit und breit niemand.Der alte Mann liegt halb zugedeckt in seinem Bett. Jeder Atemzug kostet ihn unendlich viel Kraft. Ein leises Gurgeln beim Einatmen, das Ausatmen wie entweichende Luft aus einem undichten Reifen. Ein Schlauch spannt sich von Ohr zu Ohr und lässt aus zwei Öffnungen Sauerstoff direkt in die Nasenlöcher strömen. Er hat die Augen geschlossen und seine Arme liegen schlaff neben seinem Körper auf der Bettdecke. Auf dem kleinen Nachttisch steht eine alte Lampe, die kaum den halben Raum beleuchtet. Der deckenhohe Kleiderschrank gegenüber des Bettes ist so tief, dass nur ein schmaler Durchgang bleibt. Das Fenster auf der rechten Seite ist geschlossen und von schweren Vorhängen verdeckt. Die Tür gegenüber des Bettes öffnet sich langsam. Ein Keil aus kühler Luft bohrt sich in die Stickigkeit des Raumes. Dr. Baumann stellt seine Arzttasche am Fußende des Bettes ab und nimmt sein Stethoskop heraus. Der alte Mann spürt die kalte Membran des Geräts auf seiner Brust und schaudert leicht. Kurz atmet er etwas heftiger, öffnet dann gequält die Augen und nickt dem Arzt kaum merklich zu. Dr. Baumann beugt sich hinab und kommt mit dem Ohr ganz nah an den Mund des alten Mannes. „Ich muss mit meinem Sohn sprechen ... jetzt.“ Ohne ein Wort greift der Arzt nach seiner Tasche und verlässt das Zimmer.In der Küche sitzen der Sohn, dessen Frau und der Knecht am Esstisch. Rote Augen. Verquollen. Zerzauste Haare, knittrige Kleidung. Keiner spricht. Ein Feuer im Herd knackt leise vor sich hin. Keine Reaktion als der Arzt die Küche betritt. Er legt dem Sohn eine Hand auf die Schulter. „Er will dich sehen.“ Der Sohn verharrt einen Moment und löst sich dann schwerfällig vom Tisch.
Als er das Zimmer betritt, erscheint ihm alles seltsam fremd. Der Geruch, die Wände, die Möbel, selbst der Teppich unter seinen Schuhen. Klarheit: Dies wird ihr letztes Gespräch sein. Mit einer fast unsichtbaren Geste winkt ihn die so vertraute Hand ans Bett. Der Sohn setzt sich und beugt den Kopf hinunter zu dem seines Vaters. Ohne die Augen zu öffnen spricht dieser seine letzten Worte. „Es tut mir leid, dass ich dir nun dieses Geheimnis anvertrauen muss ... aber es muss bewahrt werden ...DU musst es bewahren!“ Der alte Mann spricht langsam und deutlich, immer wieder mit kurzen Pausen. Er weiß, was er zu sagen hat. Und so erfährt der Sohn das Unglaubliche.
Nach einiger Zeit öffnet der Arzt vorsichtig die Tür. Auf dem Bett liegen zwei Männer. Blasse Gesichter, die Augen fest geschlossen. Nur einer der beiden lebt.
1
Gleich, dachte Walter, gleich passiert es. Wie jeden Morgen. In einer Minute würde sein Radiowecker über den neuen Tag entscheiden. Walter war immer vor dem Wecker wach, blieb aber mit geschlossenen Augen liegen, um das erste Lied des Tages zu hören. Ein Lied, das ihm gefällt, bedeutete einen guten Tag, andernfalls wäre es ein schlechter. Eingestellt war sein Lieblingssender S4 Bodenseeradio. Die Minutenanzeige sprang auf 2.30 Uhr und aus dem Lautsprecher erklang Beatrice Egli mit „Mein Herz“. Walter lächelte und öffnete die Augen. Er mochte die kleine dralle Schweizerin mit ihren Pausbäckchen, dem ehrlichen Lächeln und den sternenhaft funkelnden Augen. Also ein guter Tag. Er schob die Daunendecke beiseite und schlüpfte schnell in den bereit gelegten Morgenmantel. Er fröstelte leicht, denn es war kalt im Schlafzimmer. Auf der Treppe hinunter zur Küche hörte er schon Balus erwartungsvolles Winseln. Seit drei Jahren war der Wolfspitzrüde sein Mitbewohner. Sein einziger Mitbewohner und sein bester Freund.Nach der allmorgendlichen stürmischen Begrüßung bei der Balu um ihn herum hüpfte und ihm die Hände leckte, öffnete Walter den Holzherd und scharrte mit dem Schürhaken in der Asche. Zwei kleine Glutnester taten sich auf und Walter warf ein paar Scheite Anzündholz darauf, die sofort Feuer fingen. Er füllte den Wasserkessel, steckte das Signalpfeifchen auf den Ausgießer und stellte ihn auf den Herd. „Wie wär’s mit Frühstück, alter Freund?“ Balu verstand und seine Augen wurden groß, während er sich mit der langen Zunge feucht ums Maul leckte. Walter füllte Balus Napf mit Hundefutter und warf drei große Stücke Buchenholz in den Herd. Der Wasserkessel meldete sich mit einem anschwellenden Pfeifen, als Walter gerade aus dem Bad kam. Er schüttete das kochende Wasser in seine französische Kaffeemaschine und ging sich anziehen. Warme Unterwäsche, Hemd, Hose, Hosenträger. Bis vor kurzem hatte noch ein Gürtel ausgereicht, doch dann waren um Weihnachten herum noch ein paar Kilos dazugekommen und Walter musste sich Hosenträger kaufen. Dabei war er nicht dick. Mit 1,68 m war er nur einfach etwas zu klein für die 92 Kilo.Unten bellte Balu zweimal für „Besuch“ und nur Sekunden später wurde ein Auto vor dem Haus abgestellt. Walter öffnete im Vorbeigehen die Eingangstür und presste dann in der Küche den Kaffee ab. Zwei Tassen standen auf dem Tisch, als Jusuf freudig von Balu begrüßt wurde. „Ei Walter – gute Morge!“„Guten Morgen, Jusuf. Alles gut?“ Der Türke schaute angewidert Richtung Tür und schlang sich die Arme um den Oberkörper. „Nix gut heute. Ist scheißenkalt da drauße. Hab isch müssen kratzen Scheibe. Aber bin isch hier jetzt.“ Walter musste lächeln. Er kannte Jusuf seit er vor drei Jahren den Job als Zeitungsausträger angenommen hatte. Jusuf brachte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern. Durchgefroren klammerte er sich an seine dampfende Kaffeetasse, während sie noch ein bisschen tratschten. Mit einem „Machst du gut heute, Walter“, machte er sich dann wieder auf den Weg. Noch vier weitere Austräger warteten auf ihre Zeitungen. Walter genoss es zu so früher Stunde mit seinem Fahrrad durch Taldorf zu fahren. Zuerst hatte er seine Zeitungen in Alberskirch und Dürnast verteilt, war über die Höhe nach Wernsreute gefahren und war nun auf dem Heimweg. Es war vollkommen ruhig. Frühnebelschwaden krochen von den Wiesen in die Ortschaft und zeichneten alle Konturen weich. Balu trottete vergnügt voraus und wartete am nächsten Briefkasten. „Hey Balu! Willst du dich in meinen Pferdeäpfeln wälzen? Die sind schön warm!“, höhnte eine Stimme hinter einer halb geöffneten Stalltür. Bimbo. Balu kannte den Haflinger Wallach seit er als Welpe nach Taldorf gekommen war. Und er mochte ihn nicht. Keines der Tiere im Dorf mochte Bimbo. Was die Menschen immer als freundliches Gewieher verstanden, waren in Wahrheit meist üble Beschimpfungen oder vulgäres Geplapper. „Friss Dreck!“, kläffte Balu schroff zurück und trottete weiter. „Hälst dich wohl für was Besseres, weil du frei rumlaufen darfst, hä?“, geiferte der Wallach. „Geh mal nach China! Da werden Tölen wie du in den Topf geschmissen!“
Doch Balu war schon außer Hörweite. Walter pfiff leise die Titelmelodie einer alten TV-Serie. Noch fünf Zeitungen bis zum Feierabend und die letzten Häuser mochte er am liebsten. Es war das sogenannte „Hinterdorf“ von Taldorf mit dem Gasthof „Zur Traube“ als Mittelpunkt. Die Gäste kamen von weit her, doch sprachen sie nie von dem Lokal „Zur Traube“, sondern von seiner einzigartigen Wirtin, der Goschamarie. Arbeiter, Handwerker, Bauern kamen hierher, aber auch Polizisten, Politiker und Prominenz. Es war Goschamaries Art mit den Gästen umzugehen, die einen Besuch in der Traube zu einem unvergleichlichen Erlebnis machte. Jetzt um kurz vor vier war bei der Goschamarie alles ruhig, was nicht selbstverständlich war. Walter hatte schon einige Male die Zeitung vor die Tür gelegt, während drinnen noch ordentlich gezecht wurde. Heute klemmte er sie zwischen Tür und Klinke und tastete dann vorsichtig den Fenstersims rechts neben der Tür ab. Auf einem Bierdeckel fand er das Schnapsglas, das für ihn bereit stand. Goschamaries Art „danke“ zu sagen. Während er den eiskalten Schnaps nippte, schlenderte eine schlanke Tigerkatze unter einem im Hof abgestellten Heuwagen hervor. Balu begrüßte sie mit wedelnder Rute. „Hi Kitty. Schon Mäuse erwischt?“ Kitty ließ sich gerne von Balu beschnüffeln und rieb ihren Kopf an seiner Flanke. „Nein. Bis vor einer halben Stunde war hier noch richtig was los. Da verziehen sich die kleinen Biester immer in die Scheune. Außerdem hab ich keinen Hunger - Marie hat mir Hackbraten rausgestellt. Willst du probieren?“Balu folgte der Katze um den Heuwagen herum zum Napf und aß ein paar Happen. „Kommt ihr heute Abend zum Stammtisch?“, fragte Kitty. Die Zeitung, die Walter austrug, erschien sechsmal in der Woche, aber Stephan, ein Junge aus Taldorf, brauchte Geld, da er sich einen Roller kaufen wollte, und Walter hatte ihm den Samstag gern überlassen. So konnte er sich freitags mit seinen Freunden zum Stammtisch treffen ohne ständig auf die Uhr zu sehen. „Na klar kommen wir. Du kannst ja etwas früher rüber kommen und uns abholen!“ „Mach ich“, antwortete Kitty, stupste Balu in die Flanke und verschwand in Richtung Scheune.
Woher kommt eigentlich das Sprichwort „die verstehen sich wie Hund und Katze“, dachte sich Walter oft, wenn er die beiden Tiere beobachtete. Er stellte das leere Schnapsglas zurück und machte sich auf den Heimweg. Es war Freitag und er freute sich auf den Abend mit seinen Freunden.
2
Während Walter sich in seine warme Bettdecke hüllte, um noch ein paar Stunden zu schlafen, ging in einem Haus in Alberskirch das erste Licht an. Pfarrer Sailer setzte sich umständlich auf und hob die Beine vorsichtig mit den Händen aus dem Bett. Gerade in der kalten Jahreszeit quälte ihn seine Arthrose besonders. Er schob die Füße in die Filzpantoffeln, blieb aber noch ein paar Sekunden sitzen bis der Schmerz in den steifen Knien etwas nachließ. Er vermisste das Privileg der Jugend alles sofort, schnell und ohne Schmerzen tun zu können. Doch er beschwerte sich nicht. Immerhin hatte er einen schweren Herzinfarkt überlebt und konnte seit drei Jahren seinen Ruhestand genießen. Noch im Nachthemd tapste er in die Küche und machte die Kaffeemaschine an. An den entkoffeinierten Kaffee hatte er sich erst gewöhnen müssen, doch nach einer Weile war die Erinnerung an echten Kaffee verblasst. Leise röchelnd spritzten die ersten Wassertropfen auf das Pulver, das sofort sein wundervolles Aroma verströmte. An der Tür zum Garten war ein leises Kratzen zu hören. Der Pfarrer öffnete die Tür einen Spalt und ein beleibter rothaariger Kater trappelte schnurstracks zu seinem Fressnapf. „Guten Morgen, Eglon! Dein Futter kommt gleich.“ Eglon lebte seit zwei Jahren bei Pfarrer Sailer. Er war im Nachbardorf Wernsreute mit fünf anderen Kätzchen zur Welt gekommen und als er etwas größer war, wurde er an Pfarrer Sailer verschenkt, der gerade eine neue Katze suchte. Er war damals schon ein Pummelchen gewesen und so hatte ihn der Pfarrer nach einem Moabiterkönig aus der Bibel benannt, der dort als „sehr dicker Mann“ beschrieben wurde. Als er endlich sein Futter bekam, machte sich der Kater sofort darüber her, als hätte er seit Tagen nichts mehr bekommen.Pfarrer Sailer schaute Eglon kurz beim Fressen zu, wandte sich dann aber seinem eigentlichen Vorhaben zu. Auf dem Küchentisch lag ein Stapel alter Bücher. Sie waren der Grund, warum Pfarrer Sailer so früh wach war. Ein Bekannter hatte das alte Arzthaus in Dürnast gekauft, und die schweren, in Leder gebundenen Bücher in einem Karton auf dem Dachboden entdeckt. Jeder wusste, wie sehr sich Pfarrer Sailer für die Geschichte und Geschichten der Region interessierte, darum hatte der Bekannte ihm diesen historischen Schatz gerne ausgeliehen.Er konnte es kaum erwarten in ihnen zu stöbern. Was würde er alles entdecken? Die Bücher waren in ordentlicher Schrift von Hand geschrieben. Sie enthielten die Aufzeichnungen von insgesamt drei Taldorfer Ärzten, beginnend im Jahr 1803. Damals gab es noch keine Patientenakten, weshalb die Einträge nicht alphabetisch sortiert waren, sondern nach Datum. Er schlug das erste Buch auf und fuhr liebevoll mit der Hand über die eng beschriebene Seite. Der erste Eintrag stammte vom sechsten Juni 1803, einem Montag. „H. Wachter mit Zahnweh. Eitrigen Zahn entfernt. Kamillenumschläge angeraten.“ Pfarrer Sailer wollte sich gar nicht vorstellen, wie das Zähne ziehen damals abgelaufen war. Ein unbequemer Stuhl, eine rostige Zange, keine Betäubung – „... und jetzt schön den Mund auflassen!“. Er schüttelte den Kopf, um das grausame Bild zu vertreiben und goss Kaffee in seine Lieblingstasse, dazu etwas Milch, ein Löffel Zucker. Er blätterte einige Seiten weiter, fand aber nichts Außergewöhnliches. Zahnbehandlungen tauchten fast täglich auf, Bauchweh bei Kindern, kleinere Verletzungen bei den Arbeitern. Auch Ausschläge und eitrige Wunden waren an der Tagesordnung. Pfarrer Sailer überflog grob die nächsten Seiten, blätterte vor und zurück und entdeckte immer mehr bekannte Familiennamen. Viele waren heute noch in der Gemeinde verbreitet. Aus den Aufzeichnungen des Arztes konnte man so viel über das damalige Leben erfahren: Krankheiten, Schwangerschaften, Todesfälle, Erbkrankheiten oder auch Missbildungen. Alles war sorgfältig festgehalten worden. Er nahm sich vor, die Fakten zu sortieren, so dass am Ende die Krankengeschichten den einzelnen Familien zugeordnet werden konnten. Pfarrer Sailer nippte an seiner Tasse und notierte einen ersten Namen in seinem kleinen Notizbuch. Er wusste, dass ihm viel Arbeit bevor stand, aber er hatte ja Zeit. Was für längst vergessene Geschichten würde er wohl finden? Eglon hatte ihn die letzten Minuten beobachtet, während er sein Fell und seine Barthaare putzte. Er kannte das Interesse des alten Mannes an Geschichten und Geheimnissen, kannte aber auch die Gefahren. „Manche Geheimnisse sollten auch geheim bleiben!“
3
Walter zwängte sich in seine lederne Trachtenhose. Zum Glück hatte er sie damals etwas größer gekauft, sonst käme er jetzt nicht mehr hinein. „Ich muss dringend ein bisschen abnehmen“, murmelte er seinem Spiegelbild zu. Balu lag flach auf dem Boden und beobachtete Walter mitleidig. Er konnte nicht verstehen, warum der große Hund im Himmel Wesen erschaffen hatte, die überhaupt kein Fell hatten. Sie mussten sich mit Kleidung behelfen, um die kalte Jahreszeit zu überstehen. Und dann passte die Kleidung noch nicht mal richtig. Walter hielt die Luft an und zerrte am Hosenbund. Der Hosenknopf näherte sich Millimeter für Millimeter seinem vorbestimmten Loch. Ein gepresstes „Uah!“, dann hakte der Knopf ein. Mit hochrotem Kopf ging Walter die Treppe hinunter, um seine Jacke anzuziehen. Es war Zeit für den Stammtisch.Als Balu und Walter das Haus verließen, gesellte sich Kitty zu ihnen. „Da seid ihr ja endlich. Hat Walter wieder mit seiner Hose gekämpft?“, lästerte die Katze. „Und wie! Irgendwann wird der Knopf abreißen und dann möchte ich nicht in der Nähe sein! Das Teil wird wie ein Geschoss durch die Luft schießen!“Beide Tiere lachten und folgten Walter zur Goschamarie.Das Gasthaus war nur ein paar hundert Meter von Walters Haus entfernt. Auf dem Parkplatz standen schon einige Autos. Auch zwei Traktoren. Am Bach gegenüber erleichterte sich gerade einer der Gäste. „Grüß dich Walter!“, rief dieser und winkte mit der linken Hand (da er die rechte nicht frei hatte). Walter winkte zurück und ging die drei Stufen zur Eingangstür hinauf. Im Hausgang standen zwei Ehepaare und warteten auf einen freien Platz. Sie waren nicht aus Taldorf, sonst hätten sie einen Platz gehabt. „Darf ich mal durch?“, fragte Walter und schob sich an den Wartenden vorbei und betrat die Gaststube mit Balu und Kitty, die sich schnell unter die Eckbank am Stammtisch legten. Dort saßen schon Max, Peter und Elmar. Marie kassierte gerade an einem Tisch mit Zimmerleuten ab, die alle noch ihre Arbeitskleidung trugen. Sie nickte Walter kurz zu, der sich auf seinen freien Platz am Stammtisch setzte. Heute war Freitag und dies war freitags sein Platz. Deshalb war er noch frei. Kurz darauf brachte Marie die Getränke. Für Walter zwei Flaschen Bier, beide schon geöffnet. „Griaß di Walter! Schee, dass do bisch. Dei Veschper kommt au glei.“ Und schon war sie wieder weg, um den frei gewordenen Zimmermannstisch mit ein paar Bauarbeitern zu besetzen, die gerade gekommen waren. Die beiden Paare standen immer noch im Hausgang. „Die hent reserviert“, raunte Marie ihnen zu, als sie ihre missbilligenden Blicke bemerkte. In Wahrheit hatte natürlich niemand reserviert, aber bei der Goschamarie hatten Freunde und Bekannte immer Vorrang.Walter hob eine der beiden Bierflaschen und streckte sie am ausgestreckten Arm in die Tischmitte. „Zum Wohl meine Herren! Wieder eine Woche geschafft!“ Elmar, Max und Peter erhoben ebenfalls ihre Flaschen und mit viel Schwung und einem zustimmendem „So isches!“ wurde angestoßen. Elmar, der jüngste am Tisch, fingerte eine Lord aus der Schachtel. Walter schaute besorgt zu der niedrigen Decke, unter der bereits eine dichte Rauchwolke waberte. „Kannst du dir die Qualmerei überhaupt noch leisten?“ Elmar hatte sich vor einem halben Jahr als Fliesenleger selbstständig gemacht und kämpfte noch um sein monatliches Auskommen. „Klar. Hab ja was gespart. Aber sag mal Walter: ich hab gehört das Häusle neben deinem wäre verkauft. Weißt du da was?“ Walters Haus lag nicht im Dorfkern, sondern an einem Weg etwas außerhalb. Daneben befand sich noch ein weiteres Haus, das aber unbewohnt war, seit die Besitzerin vor ungefähr einem Jahr gestorben war. „Ich hab nichts gehört. War auch noch niemand da. Wäre mir aber nur recht, wenn da mal einer aufräumen würde. Der Girsch springt überall über den Zaun zu mir rüber.“ Walter hasste das dreifingerige Unkraut, das nicht zu bändigen war. Es überwucherte bereits den gesamten Nachbargarten und schaffte es mit unterirdischen Trieben zielstrebig auch in seine Blumen- und Gemüsebeete. „So Walter, dei Veschper. Loss es dir schmecka!“ Für diesen Vesperteller war Marie berühmt. Was hier für zehn Euro auf den Teller kam, reichte bequem um eine vierköpfige Familie zwei Tage zu ernähren. Schinkenwurst, Blutwurst, grobe Leberwurst, zwei Essiggurken und ein riesiges Stück Rauchfleisch. Dazu frisches Bauernbrot. Walter langte kräftig zu und ließ hin und wieder unauffällig ein kleines Stück Rauchfleisch für Balu und Kitty auf den Boden fallen.Elmar kam wieder auf sein Thema zurück. „Ich hab das von meinem Schwager gehört. Der arbeitet doch auf dem Amt. Das Häusle hat irgendwer von weiter weg gekauft. Bei Frankfurt, sagt mein Schwager. Weißt du, da ist doch sicher einiges zu richten. Ein neues Bad und so. Wäre ideal für einen ortsansässigen Fliesenleger.“ Elmar zwinkerte und saugte genüsslich an seiner Lord. „Wer von weiter weg kauft sich denn hier so eine alte Hütte?“, knurrte Max. Er war der ruhigste am Stammtisch, hatte aber das bemerkenswerte Talent immer die richtigen Fragen zu stellen. „Klar, das Grundstück ist groß, die Lage ruhig – aber halt am Arsch der Welt. Vor allem für ein Frankfurter Würstchen!“ Sie lachten über Max’ Wortspiel und Walter verschluckte sich fast an einem Stück Schinkenwurst. Am Nebentisch wurde bezahlt und abgeräumt. Die beiden Pärchen aus dem Flur witterten ihre Chance. Während die alten Gäste aufstanden, nahmen sie ihnen die Stühle aus der Hand und setzten sich. „Nun bin ich aber sehr gespannt, was wir hier tolles bekommen. Nachdem uns diese Lokalität mehrfach empfohlen wurde“, dozierte einer der beiden Männer in druckreifem Hochdeutsch. Er hob eine Hand und winkte in Maries Richtung. „Frau Wirtin! Die Speisekarte bitte!“ Als Marie sich dem Tisch näherte, wurde es ruhig im Raum. Walter hatte sogar das Gefühl, es wurde kälter. Marie baute sich mit verschränkten Armen vor dem Hochdeutschsprecher auf. „A Karta hon i net. Brauch i au net. I woiss jo, wasses gibt.“ Der Mann hatte offensichtlich Probleme alles zu verstehen, denn er kniff die Augen zusammen und neigte den Kopf zur Seite, wie ein Hund, wenn man mit der Zunge schnalzt. „Aber ich muss doch wissen, was ich bestellen kann!“, brachte er – jetzt schon deutlich unsicherer – hervor. „Des ka i dir au sage: a Veschper gibts. Gucksch do beim Walter. So sieht des aus. Des nimmsch oder losch es!“ Der Mann wechselte ein paar Blicke mit seinen Begleitern und bestellte dann für alle vier. „Und die Getränke? Was können Sie uns denn da empfehlen?“ Marie rollte mit den Augen und schnaufte genervt aus. „Empfähla ka i dir gar nix, du Schwungguschtl. Du kasch a Bier hon, an Wei oder a Wasser. N Schnaps packsch du eh it!“ Der Mann gab auf und bestellte Bier für sich und seinen Freund, für die Frauen Wein und eine Flasche Wasser.Balu und Kitty kicherten unter der Eckbank. „Marie kann auf Fremde schon sehr einschüchternd wirken, dabei ist sie so ein guter Mensch“. Balu schob Kitty noch einen Rauchfleischschnipsel hin. „Das ist sie wirklich. Und sie spricht sogar mit mir, wie alle guten Menschen.“ Kitty konnte, wie alle Katzen übrigens, in die Herzen der Menschen sehen. Sie hatte sich noch nie geirrt. „Pass auf! Gleich kommt Pfarrer Sailer. Ich habe seinen Peugeot im Hof gehört.“Wie auf Kommando drehten beide Tiere ihren Kopf zur Tür.Pfarrer Sailer stolperte mit hochrotem Kopf in die Gaststube und suchte nach einem freien Platz. Er war kein Stammgast, aber ein gern gesehener. Er sah Marie am anderen Ende des Raumes und nickte ihr zum Gruß zu. Sie verstand und kämpfte sich zum Tresen durch, um ihm seinen Trollinger einzuschenken. An einem kleinen Tisch in der Ecke saßen drei Bauern aus der Umgebung und spielten Skat. Pfarrer Sailer begrüßte sie freundlich und setzte sich zu ihnen.„Heute kennt er uns wohl nicht“, grummelte Max. „Wird der alte Herr Pfarrer jetzt etwa zum Kartenspieler?“ Peter klopfte eine Priese Schnupftabak auf seinen Handrücken und gab das silberne Döschen dann an Max weiter. „Mit einem Pfarrer würde ich nie Karten spielen“, sagte er und zog den Tabak in die Nase. „Zum einen würde ich eh immer glauben, dass er Hilfe von oben kriegt, und wenn ich dann mal gute Karten hätte, würde ich ihn wahrscheinlich trotzdem gewinnen lassen. Man will es sich mit dem da oben ja nicht verscherzen.“ Elmar schüttelte den Kopf. „Ich würde ihn nicht gewinnen lassen! Wenn meine Karten besser wären, hätte es der Herrgott wohl so gewollt.“ Am Tisch der Skatspieler wurde es plötzlich laut. „Ach hör doch auf mit dem alten Scheiß! Interessiert ja doch keinen.“ Josef, ein Bauer aus Herrgottsfeld warf seine Karten auf den Tisch und stand auf. „Hätte ich gewusst dass heute nur geredet wird, wäre ich gar nicht erst gekommen!“ Er nahm seine Jacke von der Stuhllehne und verließ wütend die Gaststube.„Reden beim Kartenspielen mag ich auch nicht“, sagte Walter und legte sein Besteck auf den Teller. Er hatte gerade mal die Hälfte gegessen. Mehr ging nicht. Marie würde ihm nachher eine Plastiktüte für den Rest geben. „Beim Skat musst du dich konzentrieren. Aufpassen, wer was spielt. Und mitzählen, welche Karten schon gefallen sind. Wenn da dauernd einer redet, kannst du es vergessen.“ Max, Peter und Elmar stimmten ihm brummelnd zu, dann diskutierten sie noch eine Weile, ob nicht Binokel eigentlich das bessere Kartenspiel sei. Als Walters zweites Bier leer war, winkte er Marie mit seiner Börse zu. Sie kam und knallte ihren schweren, ledernen Geldbeutel auf den Tisch und stellte ein Sprudelglas vor Walter, das ungefähr zu einem Viertel gefüllt war. Mit Obstler. „Ui Marie, den hab ich aber nicht bestellt“, versuchte Walter sich herauszureden. „Isch scho räat. Der got auf mi. Zahle musch oi Veschper und zwoi Bier. Wieviel Brot hosch kett?“ Beim Brot kannte Marie keinen Spaß. Jede Scheibe kostete 30 Cent. Walter hatte zwei Scheiben gegessen. „Denn gibsch mir vierzeh sechzig.“ Walter legte 15 Euro auf den Tisch und verzichtete aufs Wechselgeld. Auch Max und Peter bezahlten. Nur Elmar wollte noch bleiben. Walter, Max und Peter verabschiedeten sich vom ganzen Lokal mit einem kurzen Gruß und von Marie mit einem „Danke! Bis bald wieder“. „Machets guat, ziernet nix, kommet wieder!“, rief sie ihnen hinterher.Vor der Tür gingen die drei getrennte Wege. Walter mit seiner Plastiktüte voll Wurst zu Fuß, die beiden anderen stiegen in ihre Autos. Balu und Kitty freuten sich endlich wieder an der frischen Luft zu sein. „Was war denn vorhin mit dem Josef los?“, fragte Balu. „Der alte Pfarrer hat doch sicher nichts Schlimmes gesagt. Wie kann man denn da gleich so sauer sein?“„Der war nicht sauer“, korrigierte Kitty, „Joseph hatte Angst.“
4
Der Samstag war Walters Lieblingstag. Nicht um 2.30 Uhr aufstehen und viel Zeit für Haus, Wald und Garten. Die Sonne strahlte schon durchs Fenster, als Walter sich Kaffee machte. Durch das Küchenfenster sah er in den Garten. Jetzt, Anfang März, war noch alles kahl und grau. Doch schon in den nächsten Wochen würde das Grün zurückkommen. Sein Blick viel auf das Nachbargrundstück. Ein Jahr ohne Pflege hatte aus dem Garten einen Urwald werden lassen. Girsch, Brennnesseln und andere Unkräuter überwucherten alles, die Wege waren nur noch zu erahnen. Eine Vogeltränke aus Stein lugte noch knapp aus dem Dickicht hervor und die Reste eines gigantischen Liebstöckels zeigten, wo einst das Kräuterbeet gewesen war. Ob da wirklich wieder jemand einzieht? Walter wusste nicht, ob ihm das gefallen würde. Er schätzte die Abgeschiedenheit und die Ruhe, aber ein neuer Nachbar würde sicher den Druck der Einsamkeit etwas lindern. Hin und wieder ein Gespräch am Gartenzaun, vielleicht auf seiner Terrasse gemeinsam ein Feierabendbier trinken. Walter lächelte bei dem Gedanken. Balu winselte ungeduldig vor der Tür zum Garten. Er hatte gefressen und jetzt musste er dem Ruf der Natur folgen. „Na, geh schon!“, sagte Walter und öffnete die Tür. Angenehm frische Morgenluft drang in die Küche und vermischte sich mit dem Kaffeearoma. Walter ging mit seiner Tasse vor die Tür, stellte sich in die Sonne und schloss die Augen.Balu erledigte sein Geschäft etwas abseits (er würde das nie auf dem eigenen Grundstück tun) und begann dann mit kleinen Spritzern sein Revier zu markieren. „Nicht hier!“, drohte eine Stimme aus einem Rosenbusch. Walter hatte den Busch im Herbst großzügig mit Heu und Tannenzweigen abgedeckt, um ihn vor der Kälte zu schützen. Ein ideales Winterquartier für einen Igel. „Seppi, du bist schon wach?“, jubelte Balu. Eine kleine schwarze Nase schob sich durch das Heu und schnupperte. „Noch nicht so richtig. Aber ich muss anfangen zu fressen. Ich bin total abgemagert. Wie geht’s dir so? Ist Kitty auch da?“Balu setzte sich und putzte einen Vorderlauf. „Uns geht’s allen prima. Kitty kommt später sicher auch noch. Wenn du nichts zu fressen findest, kannst du was von ihrem Futter abhaben. Walter stellt ihr jeden Abend ein kleines Schüsselchen mit Nassfutter auf die Terrasse.“Jetzt lugten auch Seppis kleine Knopfaugen aus dem Heu. „Das wäre toll! Das hat die alte Dame nebenan auch immer gemacht. Ich hoffe, da zieht wieder jemand ein der Tiere mag.“Balu hörte auf sich zu putzen. „Wie kommst du darauf, dass da wieder jemand einzieht?“ „Neulich waren Leute da. Die sind überall rumgelaufen – im Haus und im Garten. Und haben darüber geredet, was man alles ausbessern und neu machen muss. Hab sie nicht gekannt. Und dann waren sie auch schon wieder weg.“Balu war jetzt richtig aufgeregt. „Fremde Leute? Eventuell neue Nachbarn? Warum habe ich nichts mitbekommen?“Seppi leckte etwas Tau von einem Grashalm, der ihn aber an der Nase kitzelte, so dass er niesen musste. „Das war ... also, ähm ... ich glaube vor drei Tagen, oder so? Ach, du weißt doch, dass wir Igel uns mit Zahlen schwer tun. Euer Auto war weg an dem Mittag.“Balu überlegte. Vor drei Tagen waren sie zu Hause gewesen, aber vorgestern hatte ihn Walter am Nachmittag zum Einkaufen mitgenommen. „Dann war es vor zwei Tagen, Seppi. Aber erzähl doch: was waren das für Leute? War an denen irgendwas Besonderes?“Seppi zog sich schüchtern wieder etwas in seine Heuhöhle zurück. „Tut mir leid, mehr weiß ich nicht. Hab ja auch nicht hingeschaut, sondern mich versteckt. Bei Fremden weißt du nie! Aber es waren nur Männer, da bin ich mir ganz sicher.“ Der kleine Igel schlüpfte aus seinem Versteck und streckte erst das rechte Hinterbein, dann das linke genüsslich aus. „Ich geh rüber zur Terrasse und schau was noch an Katzenfutter da ist.“Balu lief gemütlich neben ihm her und setzte unterwegs die ein oder andere Markierung.Walter fegte gerade ein paar Blätter vom letzten Herbst von der Terrasse, als Balu mit wedelnder Rute auf ihn zu gerannt kam. „Stell dir vor Walter: wir kriegen neue Nachbarn! Der Seppi hat sie schon gesehen und die wollen auch ganz viel neu machen und sich ums Grundstück kümmern!“ Walter, der natürlich nichts verstanden hatte, tätschelte dem Wolfsspitz den Kopf. „Du bist ja ganz aufgeregt, Balu. Das liegt sicher am tollen Wetter! Hast recht - einfach herrlich …“ Walters blick wurde von einer Bewegung auf der Dorfstraße eingefangen. Ein Jogger in neongelber Sportkleidung trabte dort locker vor sich hin und wedelte wie wild mit den Armen in Walters Richtung. „Huhuuuuuu!“, rief er schrill und bog in den Weg zu Walters Haus ein. Wenige Sekunden später stand ein heftig atmender Eugen Heesterkamp an Walters Zaun. Er beugte sich leicht vornüber und versuchte seinen Atem zu beruhigen. „Hallo … Walter. Alles … gut … bei Ihnen?“, hechelte er. „Bei mir schon. Da mache ich mir gerade eher Sorgen um sie, Eugen“. Tatsächlich hatte der ehemalige Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) eine besorgniserregende rote Gesichtsfarbe mit bläulichen Flecken an den Ohrläppchen und der Nase. „Nein, nein … alles … in bester … Ordnung!“ Er drückte kurz auf sein schwarzes Armband, das daraufhin leise zu piepsen begann. Nach kurzer Zeit erklang ein durchgehender Ton und Eugen hielt Walter lächelnd das Armband unter die Nase. „Hier! Perfekt. Puls 123. Bisher 1240 Kalorien verbrannt.“ „Um Gottes willen!“, entfuhr es Walter. „Ich hole Ihnen einen Stuhl und ein Glas Wasser!“ Walter war schon auf dem Weg Richtung Haus, als Eugen ihn zurück rief. „Aber nein. Das ist ein idealer Wert. Die Fettverbrennung funktioniert am besten bei einem Puls zwischen 115 und 125. Zumindest bei meinem durchtrainierten Körper. Bei ihnen wäre das wahrscheinlich niedriger. So zwischen 100 und 110.“ Walter fragte sich, ob er das als Beleidigung auffassen sollte, entschied sich aber dagegen. „Ich hatte mal einen 95er Puls. Da hat mir der Arzt Tabletten verschrieben. Die nehme ich bis heute.“ Eugen setzte sein überhebliches Gymnasiallehrergesicht auf und hob belehrend den Zeigefinger. „Natürlich ist ein Ruhepuls über 90 nicht gut. Ein Belastungspuls ist in diesem Bereich aber genau richtig. Ich drucke nachher die Daten von meinem Fitness-Tracker als Diagramm aus, dann könnte ich Ihnen den Verlauf genau zeigen.“ Walter hatte keine Ahnung, wovon Eugen redete. Ein „Trecker“ hatte bei ihm vier Räder und ein solcher war weit und breit nicht zu sehen. „Ach, ist schon gut. Wenn es Ihnen nur gut geht. Aber warum tun sie das? Sie sind doch eh nicht zu dick.“ „Ich jogge, damit das so bleibt. Muss ja nicht jeder so ein kleines Wohlstandsbäuchlein haben, gell?“ Schuldbewusst blickte Walter auf seinen Bauch, der den freien Blick auf seine Schuhe verhinderte. Eigentlich hatte Eugen ja Recht. Etwas weniger Bauch wäre schon schön – auch wegen der Lederhose. Er beschloss darüber nachzudenken, aber nicht jetzt. „Für so was hab ich keine Zeit. Ich muss heute dringend meine drei Hochstämme schneiden. Schiebe das schon seit Wochen vor mir her und bald wird’s warm … dann ist es zu spät.“ „Da kann ich Ihnen doch helfen! Ich habe letztes Jahr am Schuhmacherhof einen Kurs gemacht, damit ich meinen Golden Delicius schneiden kann.“ Was Walter am aller wenigsten wollte, war mit einem dozierenden Oberlehrer im Schlepptau den Nachmittag zu verbringen. „Nein, nein. Das geht schon“, stammelte er. „Bin da ganz schnell durch. Ich möchte doch nicht Ihre wertvolle Trainingszeit vergeuden.“ Eugen hatte gerade mit seltsamen Übungen begonnen, um seine Beinmuskulatur zu dehnen. „Da haben Sie auch wieder Recht. Wissen Sie, ich möchte im Sommer beim Halbmarathon in Lindau mitlaufen. Bis dahin ist noch einiges an Training zu absolvieren.“ Jetzt spreizte er mit dem Rücken zu Walter die Beine und ließ seinen Oberkörper kerzengerade langsam nach unten sinken. Als seine Hände fast den Boden berührten, zeigte sein knochiges Hinterteil steil nach oben und durch den dünnen Stoff der Laufhose zeichnete sich deutlich seine Männlichkeit ab. Walter drehte sich erschreckt zur Seite und hielt sich eine Hand vor die Augen. „Ja Scheißendrecken! So was aber auch!“ Da Eugen sich selbst von hinten nicht sehen konnte, bezog er den Ausruf auf seine Absage zum Baumschneiden. „Also, wenn Sie doch jemanden brauchen, ist das kein Problem. Sie gehen natürlich vor.“ Walter bekam Panik. Warum er wirklich so erschrocken war, konnte er ja nicht sagen. „Nein. Das war nicht wegen Ihnen das war … das war … wegen dem Igel da! Ja Scheißndrecken – ist der schon wach?“ Seppi blickte erschreckt hoch und machte sich auf seinen kurzen Beinen so schnell es ging davon. „Balu! Hilfe! Balu! Die wollen mich fressen!“ Der Wolfsspitz, der gerade einer alten Fuchsspur nachgeschnuppert hatte, kam sofort angerannt. „Aber Seppi, der Walter würde dir nie was tun. Und der Eugen, naja, vielleicht labert er solange bis du einschläfst, mehr aber auch nicht.“ Der ängstliche Igel beruhigte sich etwas, machte aber trotzdem kehrt und trippelte zurück zu seinem Winterquartier. Balu schaute ihm noch zu, wie er sich im Heu verkroch und den Eingang mit seinen kleinen Pfoten von innen mit Heu und Blättern verschloss, dann gesellte er sich zu Walter, der sich gerade von Eugen verabschiedete. „Ich muss dann jetzt auch. Machen Sie es gut. Ich komme alleine klar.“ Eugen hüpfte ein paarmal albern auf der Stelle, bevor er sich wieder in Bewegung setzte. „Na dann: viel Erfolg! Und wenn Sie doch Hilfe brauchen – Sie haben ja meine Handynummer! Tschüß!“ Und schon trabte er davon. Walter holte seine Baumschere aus dem kleinen Geräteschuppen und machte sich an die Arbeit. Seppi hatte sich von seinem Schrecken erholt und schlief schon wieder tief, und Balu lag auf der Terrasse und ließ sich von der Märzsonne das Fell wärmen. Was für ein wunderschöner Tag.
5
Der Sonntag ist der Tag des Herrn. Pfarrer Sailer hielt sich bis heute daran. Eigentlich war er im Ruhestand, doch der Priestermangel in der katholischen Kirche wirkte sich in den ländlichen Regionen am verheerendsten aus. Der aktuelle Pfarrer war für gleich drei Gemeinden verantwortlich, so dass im günstigsten Fall alle drei Wochen ein Gottesdienst in Taldorf stattfand. Da Pfarrer Sailer zwar pensioniert, aber immer noch geweihter Priester war, las er einmal im Monat aushilfsweise die Messe. Nicht in der großen St. Petrus Kirche in Taldorf, sondern in der kleinen Kapelle in Alberskirch. Sie entsprach genau seiner Vorstellung einer Dorfkirche: nicht zu groß, geschmackvoll geschmückt und heimelig. Hier hatte er immer das Gefühl seiner Gemeinde besonders nah zu sein. Oft ging er sonntagfrüh vor dem Gottesdienst allein in der Kirche umher und genoss in aller Ruhe die unglaubliche Würde des Gebäudes. Es erfüllte ihn mit Ehrfurcht, wenn er daran dachte, dass diese Mauern gut 660 Jahre alt waren. 1353 wurde die Kirche erstmals als Pfarrkirche erwähnt und war damit einiges älter als die große Kirche in Taldorf.Heute würde er wieder die Messe lesen, doch er schämte sich ein wenig, denn er war keineswegs gut vorbereitet. Freitag und Samstag hatte er fast ausschließlich in den alten Aufzeichnungen der Ärzte recherchiert. Er hatte Stammbäume für die einzelnen Familien angelegt und die Notizen des Arztes hinzugefügt, und so erstaunliche Zusammenhänge gefunden. Körperliche Merkmale die generationenübergreifend immer wieder auftauchten, wie ein Hammerzeh oder ein kurzer Hals, auch Erbkrankheiten wie Herzschwäche oder Demenz. Er war erschrocken, als ihm Annemarie, seine Haushälterin, am Samstagvormittag um kurz nach elf Uhr die gebügelte Wäsche gebracht hatte, so vertieft war er in seine Arbeit gewesen. Sie hatte mit ihm einen Kaffee getrunken und sogar geholfen, einige recht unleserliche Passagen zu entziffern. Als sie gegangen war, hatte er den Gottesdienst vorbereitet, war spazieren gegangen, hatte eine Kleinigkeit zu Abend gegessen und war früh zu Bett gegangen. Doch er war noch lange wach gelegen. Seine Arbeit mit den alten Büchern hatte ihn aufgewühlt und die ziellos umher irrenden Gedanken hielten ihn immer wieder vom Einschlafen ab.Am Sonntagmorgen verspürte er ein undefinierbares Glücksgefühl. Als er sich seinen Kaffee machte, sah er immer wieder verstohlen zu den Büchern hinüber. Draußen wurde es gerade erst hell, doch für Pfarrer Sailer war es der schönste Sonnenaufgang seit langem. Die Vögel begannen zu zwitschern und klangen irgendwie fröhlicher als sonst, und sogar der Kaffee schmeckte um Welten besser. Eglon, sein Kater schien dieses Gefühl nicht zu teilen. Nachdem er ausgiebig gefressen hatte, miaute er abwechselnd vor der Eingangs- und der Hintertür. Immer, wenn Pfarrer Sailer ihm eine Tür öffnete, schaute er kurz hinaus, um dann umzudrehen und an der anderen Tür dasselbe Theater zu machen. Nach fünf Runden gab der alte Pfarrer auf und ließ den Kater vor der geöffneten Hintertür sitzen. Um halb neun machte er sich zu Fuß auf den Weg zur zweihundert Meter entfernten Kirche. Er war voller Tatendrang und bester Laune und pfiff fröhlich vor sich hin. Das würde mit Sicherheit eine schöne Messe werden. Er hoffte, dass auch seine Gemeinde so fühlen und diesen Tag nicht so schnell vergessen würde.
6
Walter ging nicht in die Kirche. In keine Kirche. Das letzte Mal hatte er vor vier Jahren einen Gottesdienst besucht. Es war die Beerdigung seiner Frau Anita gewesen. Danach sah er keinen Sinn mehr darin zu einem Gott zu beten, der ihm das Liebste im Leben genommen hatte. Früher waren er und Anita sonntags regelmäßig gemeinsam zur Messe gegangen und hinterher zur Goschamarie. Walter war jedoch überzeugt, dass man auch ohne Kirchbesuch zum Frühschoppen gehen konnte. Das hatte sogar einen Vorteil: er konnte ein paar Stunden länger schlafen. Balus Fell war frisch gebürstet und Walter trug sein bestes Hemd. Der Frühnebel hatte sich schon verzogen und die Sonne strahlte überraschend kräftig für einen Morgen im März. Walter war früh dran und der Parkplatz vor der Wirtschaft war noch leer. Als er die Gaststube betrat, wurde er von Marie herzlich begrüßt. „Morga Walter. Bischt wieder der Eerscht! Hocksch die schomal nah, i sott no da Ofa schiera.“ Der große Kachelofen war die einzige Heizung in der Gaststube und musste regelmäßig befeuert werden. Es war kühl und Walter fröstelte leicht, als er sich an den Stammtisch setzte. Es roch streng nach kaltem Zigarettenrauch und schalem Bier, aber Walter widerstand dem Wunsch alle Fenster aufzureißen, da es sonst noch kälter geworden wäre. Balu unter der Eckbank spitzte die Ohren, als von draußen Stimmen zu hören waren. Mehrere Autotüren wurden geöffnet und wieder zu geschlagen. Dann kam einer nach dem anderen herein. In nur zwei Minuten füllte sich die gesamte Gaststube und der Lärmpegel stieg durch die vielen Gespräche fast ins Unerträgliche. Elmar kam mit seinem Bruder Theo, Max und Peter kamen alleine. Auch Otto und Manne, zwei ältere Taldorfer, setzten sich verfroren an den Stammtisch. In der Kirche war es kalt gewesen. Otto legte die Hände zusammen und pustete durch die Finger, um sie aufzuwärmen. „Warum kann man eigentlich eine Kirche nicht vernünftig heizen? Das würde doch dem Gottesdienst nicht schaden, oder?“ Manne stimmte ihm zu. „Vielleicht gehört es ja dazu, dass man am Ende die Zehen und Finger nicht mehr spürt.“ Als Marie die Getränke brachte wurde lautstark angestoßen, dann wurden die Gespräche leiser. Elmar zündete sich gierig eine Zigarette an. „Was war denn heute mit dem alten Pfarrer Sailer los? Der hat ja Feuer gehabt wie ein Zwanzigjähriger!“ Alle lachten, mussten aber zugeben, dass der Pfarrer heute wirklich recht aufgedreht gewesen war. „Gepredigt hat er wie ein Politiker im Bundestagswahlkampf. Richtig mit Feuer und Leidenschaft. Sonst muss ich bei ihm immer aufpassen, dass mir die Augen nicht zu fallen.“ Marie hatte zugehört. „Woisch Elmar, dätsch du samschtags a wäng frier Hoim ganga hetsch au sonntags koine Probleem mit deine Auga, Kerle!“ Elmar blickte schuldbewusst auf seine Zigarette. „Du hast vielleicht Recht. Schaut mal, mir zittern sogar die Finger. War gestern wohl das ein oder andere Bierchen zu viel.“ Tatsächlich vibrierte die Lord zwischen seinen Fingern, und auch der Wechsel in die linke Hand brachte nichts. „Das muss heute am Wetter liegen“, raunte Max. „Da schau, bei mir ist es das Gleiche, und ich war gestern um zehn im Bett.“ Auch Max konnte seine Hände nicht ruhig halten. Jetzt streckten alle die Arme aus und beobachteten, wie ihnen die Hände zitterten. Außer Walters. Der schaute sich erst seine Hände an, dann die der anderen. Da begriff er: die anderen wollten ihn hier ordentlich verarschen. Nett. Walter lachte. „Das liegt daran, dass ihr alle Alkoholiker seid! Ihr hattet noch keinen Stoff und deshalb zittern eure Hände. Aber zum Glück ist ja „Doktor Walter“ bei euch. Jetzt kuriere ich euch mal schnell. Auf geht’s - zum Wohl!“ Alle nahmen einen ordentlichen Schluck Bier, der tatsächlich zu helfen schien. Ein neutraler Beobachter hätte aber doch festgestellt, dass alle heute etwas zappeliger und fahriger waren als sonst.Mittlerweile tauchten auch die ersten fremden Gäste auf. Ein anscheinend kälteresistentes Pärchen kam in kurzer Radlermontur mit klappernden Biker-Schuhen in die Gaststube gestakst. Als sie die Tür öffneten, flitzte Kitty geschickt an ihnen vorbei und kroch sofort zu Balu unter die Eckbank. „Hi Balu! Was hab ich verpasst?“„Ich soll dich von Seppi grüßen. Der ist gestern schon unterwegs gewesen, um zu fressen. Ich hab ihm gesagt, dass er was von deinem Nassfutter auf der Terrasse haben kann. Ich hoffe, das war in Ordnung?“Kitty mochte den schüchternen Igel sehr und freute sich, dass es ihm gut ging. „Aber klar doch. Der wird ganz schön Hunger haben nach seinem Winterschlaf. Hast du die beiden da drüben gesehen? Das sind die ersten Radfahrer dieses Jahr. Und in diesen kurzen Klamotten … die müssen verrückt sein!“Gerade kam Marie an den Tisch der Radler und musterte sie skeptisch. Das hautenge Radlershirt der Frau betonte ihre üppige Oberweite. „Jo Mädle! Hosch du koi Angscht, dass deine Duttla verfrierat? Mir hend doch no it Sommer!“ Die Angesprochene lief rot an und zog die Arme vor den Körper, um ihre Brüste zu verstecken, sagte aber nichts. Ihr Begleiter schmunzelte. „Das Geheimnis ist Thermounterwäsche, Frau Wirtin. Da gibt es wirklich tolle Sachen heutzutage“, erklärte er. „Kann ich bei Ihnen denn gleich bestellen?“ Marie schaute ihm herausfordernd in die Augen. „I woiss it, ob du des kasch. An Kerle, der über Underwesch schwätzt, ka wahrscheinlich it sooo viel!“ „Wir hätten gerne zwei Radler.“ „Radler hon i it. Du kasch a Bier und a Flasch Schprudel hon.“ „Dann nehme ich das.“ Der Radler schaute irritiert, als Marie ihm kurz darauf eine Flasche Bier und eine Flasche Sprudel auf den Tisch knallte. „Ähm … wir bräuchten noch zwei Gläser zum Mischen …“ Marie rollte die Augen und ging maulend Richtung Theke. „So an feina Pinkel! Gläser mecht er hon. Und i schtand nochher wieder a Stund beim Spiala!“ Rundum wurde gelacht. Derartige Szenen gab es öfter, vor allem wenn Fremde kamen.Durch die vielen Menschen wurde es in der Gaststube schnell wärmer. Auch der Zigarettenrauch waberte schon wieder in einer dichten Wolke über den Köpfen, doch trotzdem war es einfach gemütlich. Überall wurde geredet, diskutiert und gelacht. Plötzlich wurde die Tür mit einem Knall aufgestoßen. Im Rahmen stand Karle aus Alberskirch, schwer atmend und mit hochrotem Kopf. Alle starrten ihn an, während er nach Luft rang. Dann endlich hatte er sich etwas beruhigt und konnte wieder sprechen. „Pfarrer Sailer ist tot!“
7
Walter war an diesem Montagmorgen schlecht gelaunt. Sein Radiowecker hatte ihm Andrea Berg entgegen geplärrt. Seine Gedanken kreisten immer noch um den Frühschoppen, der so seltsam verlaufen war. Die Nachricht vom Tod des Pfarrers, die Gespräche und Mutmaßungen über die Todesursache und die Traurigkeit, die sich ausbreitete, nachdem der erste Schreck vergangen war. Alle glaubten, dass es ein Herzinfarkt gewesen war, schließlich hatte Pfarrer Sailer schon einmal einen überlebt. Da er nach dem Gottesdienst allein in der Kirche gewesen war, als es passierte, konnte das aber niemand mit Sicherheit sagen. Karle aus Alberskirch hatte ihn gefunden und den Notarzt angerufen, der aber nur noch den Tod festgestellt hatte. Auch die Polizei war gekommen, angeblich Routine, wenn eine Person tot aufgefunden wird. Einer der Polizisten hatte gesagt, es werde eine Obduktion geben, dann wisse man mehr. Mehr hatte Karle nicht erfahren können und so blieb es bei den Vermutungen. Viele waren an diesem Tag länger bei der Goschamarie geblieben und irgendwann hatten sie angefangen alte Geschichten aus Pfarrer Sailers Leben zu erzählen. Zum Beispiel über sein „Geheimnis“, dass er immer den übrigen Messwein trank, oder wie er einmal eine Hochzeit einfach vergessen hatte und den kompletten Gottesdienst improvisiert hatte (viele waren bis heute der Meinung, es sei der schönste Traugottesdienst gewesen, den sie je erlebt hatten), wie er zum Schluss vieler Messen sagte „Denken Sie daran: Scheine machen keinen Lärm!“, um die Kollekte aufzubessern und natürlich wie Pfarrer Sailers Katze in die Kirche gekommen war. Es war gut zwanzig Jahre her, als Pfarrer Sailer eine junge Katze zugelaufen war. Er hätte sich wohl nie ein Haustier zugelegt, aber die kleine Katze hatte sich sein Haus als Bleibe ausgesucht. Und nicht nur das. Sie war so anhänglich, dass Pfarrer Sailer fortan keinen Schritt mehr allein machen konnte. Bei der Gartenarbeit, beim Spazierengehen, bei Arbeiten im Haus – die Katze war dabei. Pfarrer Sailer erinnerte sich damals an eine Stelle in der Bibel, die derartige Treue beschrieb:„Rut antwortete: Dränge mich nicht, dich zu verlassen und umzukehren. Wohin du gehst, dahin gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist mein Volk und dein Gott ist mein Gott. Wo du stirbst, da sterbe auch ich, da will ich begraben sein. Der Herr soll mir dies und das antun - nur der Tod wird mich von dir scheiden.“ (Rut 1,16-17)Und so bekam die Katze ihren Namen: Rut. Es war kurz vor Weihnachten, als Rut beschloss den Pfarrer auch zum Gottesdienst zu begleiten. Irgendwie war sie mit den Besuchern in die Kirche geschlüpft und hatte sich versteckt. Als Pfarrer Sailer dann seine Predigt hielt, kam sie hervor, setzte sich vor ihm auf den Boden, neigte ihr Köpfchen etwas zur Seite und hörte aufmerksam zu. Die ganze Gemeinde tuschelte und kicherte, aber Pfarrer Sailer sagte nur, dass auch Katzen Geschöpfe Gottes seien und fuhr unbeirrt mit seiner Predigt fort. Fortan war sie bei fast jedem Gottesdienst dabei gewesen und war für die Kinder im Dorf der Grund überhaupt in die Kirche zu gehen.
Walter war noch ganz in Gedanken, als Jusuf auf den Hof fuhr. Der Kaffee war noch nicht fertig. „Entschuldige, dass du warten musst, Jusuf. Ich bin heute noch etwas durch den Wind, nachdem was gestern passiert ist.“ Walter erzählte in aller Kürze was geschehen war und machte eilig den Kaffee fertig. „Isch hab Pfarrer nisch gut gekannt. Bin doch Moslem. Aber war glaub isch netter Mann. Hab ihm bei der Kinderfest mal kenne gelernt.“ Er nahm einen großen Schluck Kaffee. „Aber sag mal Walter: brauchscht du dann ein Zeitung weniger, wenn Pfarrer ist nicht mehr da?“ Darüber hatte Walter noch gar nicht nachgedacht, aber Pfarrer Sailers Abonnement war sicher noch nicht gekündigt, also würde er ihm eine Zeitung vor die Tür legen. Bezahlt ist bezahlt. Schwaben sind da eigen. Jusuf stimmte ihm zu, trank seine Tasse leer und machte sich wieder auf den Weg. Walter belud sein Fahrrad mit den Zeitungen und begann seine Tour.
Wie immer trottete Balu ein paar Meter voraus. Als Walter vor Pfarrer Sailers Haus stand, versuchte Balu die Witterung von Eglon aufzunehmen, konnte aber nichts riechen. Auch Walter musste an den Kater denken und lief am Haus vorbei zum Hintereingang. Der Mond schien recht hell und er konnte durch das Fenster in die Küche sehen. „Er ist nicht da“, bellte Balu leise. „Ich kann Eglon nirgends sehen“, sagte Walter und handelte sich damit einen missbilligenden Blick von seinem Wolfsspitz ein. Balu wusste bis heute nicht, ob Walter ihn wirklich nicht verstand oder einfach nicht zuhörte. Balu sprang mit einem eleganten Satz auf einen Haufen Brennholz, der vor dem Fenster aufgestapelt war. In der Küche war alles so wie Pfarrer Sailer es am Sonntagmorgen verlassen hatte. Zwei benutzte Teller standen in der Spüle, auf dem Tisch eine Kaffeetasse. Daneben ein ganzer Stapel alter, ledergebundener Bücher. Die zwei Stühle waren ordentlich unter den Tisch geschoben und die Tür zum Hausgang war halb offen. Walter hatte das Gefühl, der Pfarrer könnte jeden Augenblick durch diese Tür kommen, so normal sah alles aus. Er seufzte, ging zurück zum Vordereingang und schob die Zeitung zwischen Tür und Klinke. Balu versuchte noch an ein paar Stellen Eglons Witterung aufzunehmen, aber der dicke Kater blieb unauffindbar. Er nahm sich vor, sobald wie möglich mit Kitty nach ihm zu suchen.
Am Ende seiner Tour kam Walter wie immer nach Taldorf. Am alten Schulhaus war extra für die Zeitung eine Art Rohr angebracht. Walter rollte das Papier und schob es hinein. „Guten Morgen, Walter!“, platzte eine Stimme aus der Dunkelheit. Walter stolperte rückwärts, verlor das Gleichgewicht und prallte gegen sein Fahrrad, das mit einem lauten Scheppern umfiel. „Ja Scheißndreckn“, fluchte er, während das Hoflicht anging. Sogar Balu war erschrocken und hatte zweimal laut gebellt. „Was für ein herrlicher Morgen. Finden Sie nicht auch?“ Eugen Heesterkamp stand in einem roten Jogginganzug im Türrahmen, in der Hand ein großes Glas mit einer grünen Pampe darin. „Wie können Sie mich denn so erschrecken? Reicht Ihnen ein Herzinfarkt pro Woche nicht?“ Walter versuchte sich zu beruhigen, aber sein Herz schlug immer noch wie wild. Eugen grinste ihn breit an. „Ach mein Lieber, da sind wir wohl etwas schreckhaft, hmmm? Könnte mir nie passieren. Bin immer aufmerksam und vorsichtig. Aber ICH … bin ja auch fit und nicht so unbeholfen und tapsig!“ Walter verstand die Anspielung sofort, ging aber nicht darauf ein. „Hab ich Ihnen doch neulich schon gesagt: das richtige Training und die Pfunde purzeln und man wird auch viel beweglicher. Und auch sonst verbessern sich alle Vitalfunktionen, die Blutwerte, die Leberwerte …“ Walter wollte ihm eigentlich sagen, wo genau er sich sein Training samt Vitalwerten hin stecken konnte, doch er musste an Pfarrer Sailers Herzinfarkt denken - und an seinen Hausarzt, der ihm schon mehrmals geraten hatte, etwas abzunehmen - und an seine Lederhose, die fast nicht mehr passte. „Hmm … was müsste ich denn da machen“, fragte Walter vorsichtig.„Wenn man es richtig machen will, gehört viel Bewegung dazu. Am besten Joggen, aber Radfahren geht natürlich auch. Und ganz wichtig: eine Ernährungsumstellung. Ich kann Ihnen da gerne mal was zusammenstellen. Haben Sie denn passende Sportkleidung? Vor allem gute Laufschuhe sind wichtig!“ Eugen war ganz in seinem Element, aber vielleicht war das ja genau das, was Walter brauchte. „Also ich hab da schon noch einen Trainingsanzug … aus meiner Zeit in der Betriebssportgruppe …“ Eugen schlug die Hände vor der Brust zusammen und lachte.