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In Taldorf laufen die Weihnachtsvorbereitungen, als in einem zugefrorenen Tümpel eine Leiche entdeckt wird. Doch der Fund gibt Rätsel auf, denn der Tote ist schon vor über fünf Jahren gestorben. Walter und seine Freunde müssen nicht nur den Mord aufklären, sondern auch die Geschichte um den Mann, der zwei Mal gestorben ist. Der Tote im Eis ist natürlich auch Thema am Stammtisch bei der Goschamarie, wo wieder ordentlich gegessen und getrunken wird. Ein amüsanter Dorfkrimi mit launigen Geschichten von der Goschamarie. Schwäbischkenntnisse sind hilfreich.
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Seitenzahl: 351
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Goschamarie
Eis, Feuer & Breedla
Der sechste Taldorf-Krimi
Impressum
Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2023Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2023Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe
Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Taldorf - am westlichen Rand des Landkreises Ravensburg. Ein Dorf wie viele andere in Oberschwaben. Doch bis in die Neunziger strömten die Menschen von überall her, um im Gasthof „Zur Traube“ in Taldorf einzukehren – bei der Goschamarie. Angelockt von uriger Gemütlichkeit und riesigen Vespertellern erlebten die Gäste dort spaßige Abende. Bis heute kursieren die Geschichten rund um die schlagfertige Wirtin. Mit meiner Buchreihe hole ich diese Wirtschaft ins Jetzt und Heute. Mit Euro und Handy und Radler-Süß-Sauer. Aber immer noch mit der Herrentoilette am Bach und Schnaps aus Sprudelgläsern.
Diesmal ist es eine Weihnachtsepisode und es tauchen viele alte Bekannte aus den vorhergehenden Romanen auf. Es hilft, die anderen Bände vorher gelesen zu haben, ist aber nicht zwingend notwendig.
Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.
Goschamarie,
eigentlich „Marie“, die schlagfertige Wirtin im Gasthaus„Zur Traube“.
Walter,
der Zeitungsausträger in Taldorf und Umgebung.
Liesl,
Walters Freundin. Ist erst vor ein paar Jahren in das Haus neben Walter gezogen.
Balu,
Walters treuer Wolfsspitz.
Kitty,
beste Freundin von Balu. Die Tigerkatze gehört eigentlich zur Wirtschaft.
Eglon,
Liesls mürrischer, roter Kater.
Eugen,
Gymnasiallehrer im Ruhestand. Ewiger Besserwisser.
Jussuf,
sympathischer Türke, liefert Walter jeden Morgen die Zeitungen.
Theo, Elmar, Max und Peter,
Stammtischfreunde von Walter.
Faxe,
Kfz-Mechaniker mit faszinierender Ausstrahlung.
Kripo-Hubert, Manni, Streifenkollege Hans und Anne,
gehören zu Walters Ermittlergruppe. Anne ist außerdem mit Elmar zusammen.
Klein-Walter,
der kleine Sohn von Anne und Elmar.
Georg,
mürrischer Landwirt und Walters Freund.
Chiara und Fred,
die Hunde von Georg. Chiara ist Balus Freundin, Fred ihr gemeinsamer Sohn.
Bimbo,
ein alter, mürrischer Haflingerwallach im Vorderdorf.
S’Dieterle,
gilt im Dorf als verrückt, war aber früher einer der besten Anwälte des Landes.
Vorspiel
März 2014
Es war wie verhext. Walter war eh schon spät dran und nun konnte er den Autoschlüssel nirgends finden.
„Hast du meine Schlüssel gesehen?“, rief er nach oben, während er die Kruschtschale neben der Eingangstür zum dritten Mal durchwühlte.
„Hafft du fon in der Kruftfale nachgesehen?“, rief Anita mit der Zahnbürste im Mund herunter.
„Schon dreimal! Scheißndreckn!“
Er sah auf die Uhr. Allmählich wurde es wirklich Zeit. Vielleicht hatte er ihn ja gestern im Auto stecken lassen. Mit einem Seufzer nahm er seine Jacke vom Haken. Als er hineinschlüpfte, klimperte es. Walter langte in die Tasche und zog den Autoschlüssel heraus.
„Ich hab ihn“, rief er. „Ich muss mich beeilen. Hab einen schönen Tag! Bis heute Abend!“
Anita kam an die Treppe und lugte hinunter.
„Du denkst daran, dass ich nach der Arbeit noch einen Arzttermin habe?“
„Natürlich“, log Walter. Er hatte nicht mehr daran gedacht. Der Vorsorgetermin stand schon seit Wochen im Kalender, doch Walter warf nur selten einen Blick darauf.
„Dann: toi, toi, toi!“
„Danke!“
Er war nur ein paar Minuten später dran als sonst, doch das reichte, um mitten im Berufsverkehrt zu landen. Er brauchte mehrere Minuten bis er auf die Bundesstraße einbiegen konnte, dann schob sich die Autoschlange gemächlich in Richtung Ravensburg. Der Verkehr stockte immer wieder und Walters Finger trommelten nervös auf das Lenkrad.
Die Vorsorgeuntersuchung, schoss es ihm in den Kopf. Das alljährliche Damoklesschwert. Als sie vor zwanzig Jahren geheiratet hatten, waren sie davon ausgegangen, dass Anita schnell schwanger werden würde, doch nach zwei Fehlgeburten und einer Untersuchung durch einen Spezialisten war klar, dass sie keine Kinder haben würden.
„Wir haben da etwas gefunden“, hallten die Worte des Arztes in Walters Gedanken bis heute nach.
Was für eine harmlose Formulierung für etwas, das dein ganzes Leben verändert. Das „Etwas“ war eine Wucherung in Anitas Gebärmutter gewesen, die dann bei einer Routineoperation entfernt worden war. Das „Etwas“ hatte sich zwar als gutartig herausgestellt, doch die Hysterektomie war unumkehrbar.
Seitdem musste Anita einmal im Jahr zur Vorsorgeuntersuchung.
„Nur um sicher zu gehen“, hatte der Arzt gesagt.
Natürlich, verstand Walter, damit man nicht wieder ein „Etwas“ findet. Doch alle Sorgen waren unbegründet gewesen: sämtliche Untersuchungen und Tests waren ohne Befund geblieben. Trotzdem hatte er jedes Mal ein ungutes Gefühl.
Walter zuckte zusammen, als der Wagen hinter ihm hupte. Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, dass sich die Kolonne weiterbewegte. Er lächelte entschuldigend in den Rückspiegel und hob kurz die Hand, bevor er zu seinem Vordermann aufschloss.
Als er endlich am Postgebäude ankam, waren schon alle Parkplätze belegt. Fluchend reihte er sich wieder in den Verkehr ein und fuhr zum Kuppelnauparkplatz. Hier fand er noch eine Lücke und manövrierte seinen Peugeot vorsichtig zwischen zwei protzige BMWs.
„Scheißendreckn!“, knurrte er, als er sich wie ein Limbotänzer aus dem Auto zwängte, doch er konnte die Tür nicht weiter öffnen ohne das Nachbarfahrzeug zu berühren.
„Du bist spät dran“, begrüßte ihn Lothar wenig später und warf ihm einen Stapel Akten auf den Schreibtisch.
„Die hier warten schon auf dich.“
Walter erwiderte das falsche Lächeln seines Kollegen und machte sich sofort an die Arbeit. Er hatte so viele Überstunden, dass die Verspätung an sich kein Problem war, doch trotzdem musste die Arbeit bis zum Feierabend erledigt sein.
Während er einen Vorgang nach dem anderen abarbeitete, dachte er sehnsüchtig an seine Anfangszeit bei der Post zurück. Er hatte nach seiner Ausbildung als ganz normaler Austräger begonnen und war erst später in den Innendienst gekommen, dabei hatte er das Austragen geliebt. Damals hatten die Postboten noch keine schicken Elektroautos gehabt, sondern waren mit kleinen Handkarren von Haus zu Haus gezogen. Im ländlichen Bereich waren sie mit Lastenfahrrädern unterwegs gewesen. Sommer wie Winter. Bei Regen und bei Sonne. Er hatte es geliebt. Jeden Tag war er durch seinen Bezirk patrouilliert und hatte sofort mitbekommen, wenn irgendwo gebaut wurde, die Straße repariert wurde oder ein neuer Garten entstand. Mit Leuten, die er kannte, hielt er auch oft ein Schwätzchen, allerdings ohne die Uhr aus dem Blick zu verlieren.
Er freute sich auf die nächsten zwei Wochen, denn wegen Urlaub und Krankheit, durfte er wieder auf die Straße. Andere Kollegen im Innendienst weigerten sich, aushilfsweise als Austräger zu arbeiten, doch Walter tat es gerne.
Dank der vielen Arbeit war der Tag wie im Flug vergangen und Walter freute sich auf zu Hause. Anita war eine begnadete Köchin und verwöhnte ihn täglich mit köstlichem Essen. Sie beherrschte Braten, Gulasch und Kurzgebratenes genauso wie mediterrane Pastagerichte und die asiatische Küche.
„Das schnuppert aber gut“, rief Walter, als er seine Jacke an die Garderobe hängte und den Autoschlüssel in die Kruschtschale warf.
„Lass mich raten …“, er hob den Kopf und weitete die Nasenlöcher, „… es gibt irgendwas mit Wild. Rehgulasch vielleicht?“
Anita stand am Herd und rührte in einem großen Topf. Als er hinter sie trat, drehte sie sich um und umarmte ihn.
„Deine Nase ist einfach zu gut“, lachte sie. „Ich habe eine Rehkeule gemacht. Dazu Spätzle und Rotkohl. In zehn Minuten können wir essen.“
Das war das Schöne am Leben auf dem Land: wenn man mit einem Jäger befreundet war, kam man regelmäßig an frisches Wild. Walter hatte den zweijährigen Bock letzte Woche von seinem Stammtischfreund Theo gekauft.
„Wie war‘s beim Arzt?“, erkundigte sich Walter und belud seinen Teller mit einem Berg selbst gemachter Spätzle.
„Wie immer“, sagte Anita beiläufig. „Er hat mir Blut abgenommen und dann noch eine Mammographie gemacht. Ich kann morgen anrufen, dann bekomme ich die Ergebnisse.“
Walter verzog das Gesicht. Anita hatte ihm einmal erzählt, was bei einer Mammographie gemacht wurde. Wie ihre Brust zwischen zwei Platten gepresst und dann geröntgt wurde. Schmerzhaft. Unangenehm.
„Nächste Woche bin ich im Außendienst“, wechselte er das Thema. „Ich hab schon nachgeschaut: das Wetter ist gut. Ich freue mich darauf.“
Bisher hatte der Frühling noch auf sich warten lassen. Erst vor zwei Wochen, hatte es noch mal geschneit, doch nun verkündeten alle Wetterdienste steigende Temperaturen und viel Sonnenschein.
„Wird auch Zeit“, raunte Anita. „Ich ertrage dieses ewige Grau nicht mehr. Ich will raus und endlich mal wieder etwas im Garten machen.“
Walter schöpfte nach, aber nur noch eine halbe Portion.
„Das wird schon. Pass auf: in ein paar Wochen jammerst du wieder, dass du mit der Gartenarbeit gar nicht mehr hinterherkommst.“
Anita stupste ihn mit dem Zeigefinger an die Schulter.
„Lass mich doch. Wenn es mir zu viel wird, nehme ich gerne deine Hilfe in Anspruch.“
Ist klar, dachte Walter, sagte aber nichts.
Er stand auf und sammelte die Teller und das Besteck ein. Anita trug die Töpfe zum Herd.
„Sag mal, sollen wir uns heute Abend einen Film anschauen?“, fragte Walter. „Ich habe keine Lust auf irgendeine Talkshow oder so ein Casting-Dingsbums.“
„Du hast es vergessen“, sagte Anita vorwurfsvoll und verschränkte die Arme.
„Was vergessen?“
„Na überleg mal …“
Walter sah, dass sie sauer war, konnte sich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, was er vergessen haben könnte.
„Also … das ist jetzt … ähm … schwierig …“
Anita sagte keinen Ton.
„Wollten wir ins Kino gehen?“
Kopfschütteln.
„Hat einer unserer Freunde Geburtstag?“
Kopfschütteln.
Walter fuhr sich durch die Haare. Er hatte keine Ahnung.
„Jetzt sag es halt endlich. Ich komme ja doch nicht drauf!“
„Wir sind eingeladen …“
Walter wollte nicht einfallen, von wem.
„Der neue Taldorfer, der seit einem Monat vorne im alten Schulhaus wohnt … fällt jetzt der Groschen?“
„Scheißndreckn!“, entfuhr es Walter.
Tatsächlich hatten sie vor ein paar Tagen eine Einladung im Briefkasten gefunden. Der Neu-Taldorfer, ein gewisser Eugen Heesterkamp, hatte fast das ganze Dorf zu einer „Kennenlern-Party“ eingeladen. Er war ein ehemaliger Gymnasiallehrer, hatte Walter gehört. Sogar Oberstudienrat. Wenn er sich recht erinnerte für die Fächer Biologie und Sport. Walter hatte bei dem Gedanken an seine eigene Schulzeit gemischte Gefühle und von daher bis heute einen gewissen Vorbehalt gegenüber Lehrern.
„Und das ist heute?“
Anita nickte.
„Und bitte zieh dir was Schickes an. Nicht wieder nur die alte Lederhose!“
„Aber die Lederhose ist doch top in Ordnung“, verteidigte sich Walter, verstummte aber, als er Anitas strengen Blick sah.
Hand in Hand liefen sie auf der Straße ins Vorderdorf. Anita schaute immer wieder zu Walter und schüttelte den Kopf. Tatsächlich hatte er auf die Lederhose verzichtet, trug aber stattdessen seinen Beerdigungsanzug.
„Das weiß dieser Eugen doch nicht“, hatte er argumentiert, doch Anita war trotzdem nicht begeistert.
Auf den letzten Metern stießen Manne und Otto, die beiden weißhaarigen Rentner aus dem Vorderdorf, zu ihnen.
„Ihr geht auch auf die Kennenlern-Party?“, erkundigte sich Otto.
Anita nickte. „Ja. Wir wollen unseren neuen Dorfbewohner herzlich begrüßen.“
Otto und Manne nickten, Walter verzog das Gesicht. Er mochte keine Veränderungen und ein neuer im Dorf war ganz bestimmt eine Veränderung. Walter hatte nichts gegen Fremde - außer sie tauchten in seinem Dorf auf.
Schon von weitem sahen sie die Menschentraube, die sich vor dem alten Schulhaus gebildet hatte. Die Garage stand offen und diente als Bar. Mehrere Stehtische waren in der Einfahrt verteilt. Auf der rechten Seite bildeten zwei Biertische ein vier Meter langes Buffet, das mit unzähligen vollgepackten Tellern belegt war.
Als der Neu-Taldorfer sie erblickte, schossen seine Mundwinkel nach oben und er kam mit ausgebreiteten Armen auf sie zu.
„Es freut mich ja so, dass Sie es einrichten konnten! Ich bin der Neue. Eugen, Eugen Heesterkamp.“
Er umarmte Anita, Walter gab er nur die Hand.
„Herzlich willkommen bei meiner kleinen Party. Ich hoffe, Sie fühlen sich wohl. Hinten in der Garage stehen die Getränke, da drüben am Buffet gibt es Snacks. Bitte bedienen Sie sich!“
Und schon war der Gastgeber wieder weg, um weitere Gäste zu begrüßen. Walter und Anita schoben sich zu den Getränken durch und betrachteten das Angebot.
„Das falsche Bier“, knurrte Walter und erntete dafür einen bösen Blick seiner Frau. Also nahm er eine Flasche und öffnete sie, doch schon beim ersten Schluck verzog er das Gesicht.
„Bäh - lauwarm! Das geht ja gar nicht!“
Anita zischte ihm ein leises „Stell dich nicht so an!“ zu, als Marie sich zu ihnen gesellte.
„Du bist auch eingeladen?“, wunderte sich Walter, der nicht mit der Wirtin gerechnet hatte, da sie nur selten zu irgendwelchen Feierlichkeiten erschien.
„Muss doch mol luaga, wa des fier an Kerle isch. Außerdem isch do älles umsonscht. Du glaubsch doch it, dass i des ausloss.“
Gemeinsam standen sie vor dem Buffet und betrachteten ratlos die überquellenden Teller.
„Ah, Sie haben Hunger“, freute sich der Gastgeber und zeigte auf das Buffet.
„Das da kann ich sehr empfehlen: selbst gemachte Guacamole auf Pumpernickeltaler.“
Walter und Marie beugten sich vor, um die Häppchen genauer zu betrachten. Auf pechschwarzen Brotstückchen schimmerte eine fettige, grüne Creme. Schon aus der Ferne konnte man den Knoblauch riechen.
„Ich glaube, ich nehme was anderes“, sagte Walter und zeigte auf den nächsten Teller. „Das sieht doch gut aus. Mit einem Fleischbällchen kann man nichts falsch machen!“
Er schnappte sich eine Frikadelle und schob sie in den Mund. Er kaute ein paar Mal, dann weiteten sich seine Augen.
„Lecker, gell?“, freute sich Eugen. „Das ist mein eigenes Rezept: Grünkernbratling mit Auberginenstücken.
„Hmmm … hmpf …“, würgte Walter hervor.
Er kaute weiter, doch der Brei in seinem Mund schien immer mehr zu werden. Der Geschmack erinnerte an schimmeliges Gemüse mit einem Hauch ranzigem Fett.
Eugen beobachtete ihn lächelnd und Walter reckte einen Daumen hoch.
„Isch … wirklisch … schuper …“, nuschelte er und suchte verzweifelt nach einem Weg, den Brei loszuwerden.
„Und wa hosch do fier Breckala?“, lenkte Marie Eugens Aufmerksamkeit auf sich und Walter nutzte die Gelegenheit, um den Brei in sein Taschentuch zu spucken.
„Das ist geräucherter Tofu auf glutenfreiem Maisbrot. Toll für Allergiker. Man kann ja nie wissen.“
Marie schüttelte den Kopf.
„Hosch du nix räats do? A Rauchfloisch, an Schinka … oder wenigschtens an Kääs?“
Eugen lächelte gezwungen. „Aber bitte, da ist doch überall tierisches Protein drin. Das braucht man doch gar nicht. Aber wenn sie unbedingt wollen: auf dem letzten Teller da hinten sind ein paar Vollkornschnitten mit Putenschinken.“
Marie rollte mit den Augen und nahm eins der Häppchen. Sie schob es in den Mund, während Eugen sie gespannt beobachtete. Sie ließ sich Zeit beim Kauen und zog bei jedem Schlucken eine Grimasse. Nach einer gefühlten Ewigkeit war ihr Mund leer.
„Und, wie war es?“, fragte Eugen.
Marie zuckte mit den Schultern.
„Gut war‘s it, aber wenigschtens it viel!“
Sie drehte sich zu Walter um.
„I pack‘s dänn au wieder. D‘Wirtschaft treibt sich it vo alloi um! Bleibet ihr ruhig no a wäng do … s‘isch jo gnuag zum Ässa do! Machet ses guat Eigen!“
Sie machte auf dem Absatz kehrt und stapfte in Richtung Hinterdorf davon.
„Hat es Ihnen denn wenigstens geschmeckt?“, fragte Eugen hoffnungsvoll, doch bevor Walter etwas sagen konnte, langte Anita nach einem der Schnittchen und biss hinein.
„Hmm … die sind ja köstlich“, lobte sie. „Und Sie haben die Guacamole wirklich selber gemacht?“
Eugen strahlte.
„Selbstverständlich. Nach einem Rezept eines befreundeten Sternekochs. Das gibt er eigentlich nicht weiter.“
„Dann sollten Sie sein Geheimnis bei Gelegenheit mit mir teilen.“ Anita zwinkerte Eugen zu. „Ich verrate es auch nicht ihrem Freund.“
Walter würgte den letzten Schluck des warmen Bieres hinunter und knallte die Flasche auf einen der Stehtische.
„Also ich wäre bereit für den Heimweg.“
Eugens schien enttäuscht.
„Haben Sie denn noch was vor?“
„Ja … was anderes …“
Walter hatte kaum ausgesprochen, da spürte er schon Anitas Ellbogen in seinen Rippen. Sie sah ihn vorwurfsvoll an.
„Wir kommen gerne ein andermal wieder vorbei“, versprach sie. „Aber für heute ist es wirklich genug. Danke für die Einladung!“
Eugen umarmte Anita zum Abschied, Walter gab er erneut nur die Hand. Als Walter sich umdrehte, stieß er mit Pfarrer Sailer zusammen, der auf einem Teller unzählige Häppchen zu einem der Stehtische balancierte.
„Da hat aber jemand Hunger“, begrüßte Walter den Geistlichen und zeigte auf die Schnittchenpyramide. „Dann geht es Ihnen also wieder gut?“
Pfarrer Sailer hatte vor ein paar Wochen einen Herzinfarkt gehabt und einige Tage im Krankenhaus verbracht. Die ganze Gemeinde hatte sich Sorgen um ihn gemacht.
„Es geht soweit. Ich muss jeden Tag eine ganze Schüssel Tabletten einnehmen, aber mein Herz tut wieder, was es soll. Natürlich muss ich auch auf meine Ernährung achten und mit dem Alkohol vorsichtig sein, aber da hatte ich ja noch nie ein Problem.“
Walter sah auf den vollgepackten Teller und beobachtete den Pfarrer dabei, wie er ein großes Glas Rotwein einschenkte. Er musste den Geistlichen unbedingt nach dem Namen seines Arztes fragen. Sollte er irgendwann mal gesundheitliche Probleme bekommen, wollte er genau die gleiche Beratung.
Anita war auf dem Heimweg ein wenig verstimmt gewesen, doch Walter hatte sie mit einer Folge Bergdoktor besänftigt, die er vor einiger Zeit auf Video aufgenommen hatte.
Am nächsten Morgen hatten sie sich nur kurz gesehen. Diesmal war Walter wieder rechtzeitig dran gewesen und war der Hauptwelle des Berufsverkehrs entgangen. Erneut verging der Tag wegen der vielen Arbeit wie im Flug. Er hatte gerade den letzten Ordner abgearbeitet, als sein Telefon klingelte. Das passierte selten, da kaum jemand wusste, dass er ein Handy besaß.
„Jaaaa …“, meldete er sich, wie immer ohne seinen Namen zu nennen.
„Ich … ich bin‘s …“, hörte er Anita schluchzen. Sofort war er besorgt.
„Was ist passiert? Geht es dir gut?“
Kurz blieb es still in der Leitung. Dann sprach sie leise weiter. Man hörte, dass sie geweint hatte.
„Ich habe die Ergebnisse der Untersuchung … es ist … also … da ist etwas beim Tumor-Marker-Test …“
Walter wurde schwarz vor Augen. Kraftlos sackte er auf seinem Stuhl zusammen und legte den Kopf in die Hände.
„Was hat der Arzt gesagt?“
„Er will mich sprechen. Ich habe morgen einen Termin.“
„Ich komme sofort nach Hause …“, setzte Walter an, doch Anita unterbrach ihn.
„Nichts überstürzen, Walter. Heute passiert eh nichts mehr. Und morgen sehen wir dann weiter.“
Als das Gespräch beendet war, blieb Walter zusammengesunken sitzen. Da war es wieder, dieses „Etwas“. Scheißndreckn! All die Jahre nichts und nun begannen die Sorgen und Ängste von Neuem. Die ganzen unangenehmen Untersuchungen. MRT, CT und wie sie alle hießen, diese monströsen Maschinen. Und immer wieder Termine beim Arzt, beim Onkologen. Diagnosen mit vielen „Wenns“ und „Abers“ und ständig die Hoffnung, dass alles gut wird. Irgendwie.
Doch es wurde nicht gut.
Sechs Monate später - September 2014
Walter war gerade aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Er hängte seine Jacke über einen der Küchenstühle und warf die Schlüssel achtlos auf den Tisch. Er setzte sich und stütze den Kopf in die Hände. Er brauchte ein paar Minuten, um wieder klar denken zu können.
Anita hatte bei seinem Besuch schlecht ausgesehen. Die Ärzte hatten ihm versichert, dass sie, dank Morphium, keine Schmerzen hätte, doch dadurch war sie auch abwesend gewesen. Sie hatte ihn nicht erkannt.
Es war alles so verdammt schnell gegangen.
Nach der Diagnose waren sie bei mehreren Spezialisten gewesen, doch keiner der Ärzte hatte gute Nachrichten für sie gehabt. Bauchspeicheldrüsenkrebs sei eine der tödlichsten Krebsarten hatten alle gesagt. Und er hatte bereits gestreut, so dass eine Operation nichts brachte. Sie wurde in eine klinische Studie aufgenommen, die mit einer Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie gegen den Krebs kämpfte, doch selbst diese Studie versprach keine Heilung, sondern nur einen Aufschub des Unvermeidlichen. Ein paar Monate. Vielleicht ein Jahr.
Walter dachte an ihre Hochzeitsreise nach Siena vor zwanzig Jahren. Sie hatten sich vorgenommen noch einmal hinzufahren, um das berühmte Palio - das Pferderennen mitten in der Stadt - mitzuerleben. Er hatte Anita die Reise zum zwanzigsten Hochzeitstag geschenkt, doch an dem Termin im Juli war sie schon nicht mehr dazu in der Lage gewesen. Der Tag war nähergekommen und verstrichen. Walter hatte den Urlaub noch nicht mal storniert. Es war ihm egal gewesen. Wie ihm vieles nun egal war.
Er setzte sich auf und atmete schwer aus. Er musste etwas essen, auch wenn er keinen Hunger hatte und etwas trinken, obwohl er keinen Durst verspürte. Er wusste, dass sein Kühlschrank leer war, da er seit Wochen nicht eingekauft hatte.
Mechanisch stapfte er ins Schlafzimmer und schlüpfte in seine Lederhose. Er trug die Hose immer, wenn er in die Wirtschaft ging.
Das große Sonnenblumenfeld auf dem Acker neben seinem Haus bemerkte er genau sowenig, wie die Apfelbäume, deren Äste sich unter den reifen Früchten bogen. Er erschrak, als ein Feldhase plötzlich zwischen den Sonnenblumen hervorsprang und hakenschlagend über die angrenzende Obstwiese davon hoppelte.
Endlich erreichte er die Wirtschaft und schleppte sich die drei Stufen zur Eingangstür hinauf. Als er die Tür zur Gaststube öffnete, schlug ihm der Geruch von Zigarettenqualm und Bier entgegen.
Der Stammtisch war schlecht besucht. Pfarrer Sailer saß auf dem Platz, auf dem Walter eigentlich immer saß. Sofort unterbrach er sein Gespräch mit Max und rutschte einen Stuhl weiter.
„Komm her Walter“, sagte er einladend, „ich hab dir den Platz nur freigehalten.“
Walter nickte und versuchte ein Lächeln. Es gelang ihm nicht. Er setzte sich zwischen Max und den Pfarrer und sah sich nach Marie um, die kurz darauf an den Tisch kam.
„Hoscht an Hunger? Oder bloß an Durscht?“
Eigentlich keins von beidem, dachte Walter.
„Ein Vesper und ein Bier, bitte“, brachte er müde hervor.
Es hatte Zeiten gegeben, da hatte Marie ihm sofort zwei geöffnete Flaschen hingestellt, doch nun kämpfte er schon mit dem einen Bier. Ihm fehlte der Durst und der Appetit, trotzdem aß und trank er. So gut es ging. Nichts schmeckte wirklich.
Wenigstens wussten seine Freunde Bescheid. Am Anfang, als die Nachricht von Anitas Erkrankung die Runde gemacht hatte, waren von überall gut gemeinte Ratschläge auf ihn eingeprasselt. Und ständig die Frage: „Wie geht es ihr denn jetzt?“
Als noch Hoffnung bestanden hatte, hatte er bereitwillig von der Behandlung und den Möglichkeiten erzählt, doch als klar war, dass Anita sterben würde, hatte er nur noch mit den Schultern gezuckt. Es gab nichts mehr zu sagen.
Da hatte die Fragerei aufgehört. Seine Freunde sprachen ihn nicht mehr darauf an, doch nun musste er ihre mitleidigen Blicke ertragen. Wann immer Walter irgendwo dazukam, verstummten die Gespräche. Betretenes Schweigen ersetzte fröhliches Geplapper und Gelächter.
Walter hasste es.
„Dei Veschper und dei Bier.“
Marie stellte den Teller und die Flasche vor ihm ab.
„Loss es dir schmecka!“
Ohne einen weiteren Kommentar ging sie zurück hinter den Tresen. Keine kleine Frotzelei, kein blöder Spruch. Nichts.
Während Walter aß, setzten Max und Pfarrer Sailer ihr Gespräch fort.
„Also ich wüsste keinen Grund, warum er da nicht wohnen sollte“, brummelte Max. „Steht ja eh leer, die alte Hütte. Kann man es denn da das ganze Jahr über aushalten? Im Winter ist das bestimmt nicht lustig.“
„Der kommt schon zurecht“, beschwichtigte Pfarrer Sailer. „Und ich helfe ihm natürlich. Wichtig ist nur, dass wir alle nett zum Dieterle sind. Er tickt zwar irgendwie …“, Pfarrer Sailer suchte nach der richtigen Formulierung, „…er tickt zwar irgendwie … anders, aber er ist ein netter Kerl.“
„Ich vertraue da auf Ihre Menschenkenntnis, Herr Pfarrer“, willigte Max ein. „Was hältst du denn davon, Walter?“
Walter schreckte hoch. „Worum geht‘s?“
„Na, ob dieses Dieterle, dieser Obdachlose, in dem alten Schuppen bleiben kann, oder ob man ihn irgendwo melden sollte?“
Walter war dem Mann bisher nur einmal begegnet. Er hatte einen netten Eindruck gemacht, obwohl er etwas verwirrt zu sein schien. In den wenigen Worten, die sie gewechselt hatten, hatte er von Außerirdischen geschwafelt, die sich im Wald am Hummelberg verstecken würden.
„Wegen mir kann er gern bleiben“, sagte Walter gleichgültig. „Er tut ja niemandem was.“
Er legte sein Besteck auf den Teller und sah sich nach Marie um.
„Ich würde gerne bezahlen!“
Die Wirtin donnerte ihren Geldbeutel auf den Tisch.
„Wänn oiner gern zahlt, sott ma it lang warta. Zwelf Eiro macht‘s!“
Walter zahlte passend und verabschiedete sich von seinen Freunden.
Sein Bier war noch halb voll. Er hatte nur etwas Blut- und Leberwurst gegessen. Das Rauchfleisch war unberührt. Marie hatte ihm die Reste eingepackt und Walter bemerkte gar nicht, dass sie ihm die zwei Scheiben Brot nicht berechnet hatte.
Der elfte September. Der Tag, an dem vor Jahren die Flugzeuge ins World Trade Center gekracht waren. Der Tag, an dem Anita starb. Walter saß an ihrem Bett und hielt ihre Hand. Plötzlich wurde sie unruhig und Walter rief einen Arzt herbei, der die Einstellung des Morphiumtropfs kontrollierte und den Kopf schüttelte.
Dann flatterten Anitas Lider und sie öffnete ein letztes Mal die Augen. Sie schaute sich irritiert um und lächelte, als sie Walter entdeckte. Ihre Lippen bewegten sich tonlos und Walter brachte sein Ohr ganz dicht an ihren Mund.
„Bleib bitte nicht allein. Werde glücklich.“
Dann sackte sie zusammen. Das Gerät, an das sie angeschlossen war, wechselte von kontinuierlichem Piepsen zu einem anhaltenden Ton. Eine Krankenschwester kam ohne Eile ins Zimmer und schaltete den Apparat aus.
Walter wusste nicht, wie lange er noch dagesessen hatte. Minuten. Stunden. Ohne Anlass war er irgendwann aufgestanden und gegangen.
Wie in Trance lenkte er den Peugeot durch den Verkehr. Der durchgehende Ton, der Anitas Herzstillstand angezeigt hatte, hallte in seinen Ohren nach.
„Bing, bing, bing …“
Zuerst nahm Walter das Geräusch gar nicht war, doch es kämpfte sich hartnäckig in sein Bewusstsein. Irritiert sah er sich im Auto um und entdeckte im Armaturenbrett eine rote Zapfsäule, die immer wieder aufleuchtete. Der Tank war so gut wie leer.
„Scheißndreckn!“
Er musste sich erst orientieren. Er war gerade am Gewerbegebiet Erlen vorbeigefahren. Bis zur Tankstelle in Bavendorf würde der Sprit hoffentlich noch reichen. Sind ja nur ein paar Meter.
Als er neben einer freien Zapfsäule hielt, ruckelte der Motor bedrohlich, fing sich aber nochmal. Walter öffnete die Tankklappe und griff nach einem der Zapfhähne. Im letzten Moment fiel ihm auf, dass er einen für Normalbenzin erwischt hatte und hängte ihn zurück. Als er nun den Dieselschlauch herauszog, tat sich an der Säule nichts. Normalerweise brummte sie leise vor sich hin, doch jetzt blieb sie still. Walter sah hilflos zur Kassiererin hinter der Glasscheibe und deutete mit hochgezogenen Schultern auf das schweigende Gerät.
„Hängen Sie den Hahn wieder ein, dann kann ich die Zapfsäule zurücksetzen und freigeben“, rief ihm die Frau von der Tür aus zu und stapfte kopfschüttelnd zurück hinter ihren Tresen.
Als sein Tank gefüllt war, hängte er den Zapfhahn ein und merkte sich die Nummer der Säule. An der Kasse stand er hinter zwei Teenagern, die mit der Kassiererin stritten, ob sie schon alt genug für zwei Dosen Bier waren. Während der Auseinandersetzung blickte Walter teilnahmslos auf den Fußboden.
„Oh“, entfuhr es ihm und er bückte sich.
Eine Euromünze lag halb unter dem Süßigkeitenregal.
„Da haben Sie einen Glückseuro“, lachte die Kassiererin, die die beiden Teenager gerade ohne Bier nach Hause geschickt hatte.
„Mit dem würde ich Lotto spielen!“
Walter sah die Frau fragend an. Er hatte noch nie Lotto gespielt. Er war der festen Überzeugung, dass jeder Cent für Glücksspiel Verschwendung war. Aber für diesen Euro hatte er ja nichts tun müssen. Er war ihm quasi in den Schoß gefallen.
„Wie …?“, fragte er und die Kassiererin gab ihm einen Lottoschein.
„Hier … 6 aus 49 … Sie dürfen in einem Kästchen sechs Zahlen ankreuzen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“
Walter machte willkürlich sechs Kreuze und gab den Schein zurück.
„Das macht genau einen Euro. Außer Sie wollen auch beim Spiel 77 mitmachen?“
Walter schüttelte den Kopf und überreichte den gefundenen Euro.
Die Frau nahm ihn entgegen und tippte auf einem Gerät herum, das kurz darauf einen kleinen Zettel auswarf.
„Ihr Spielbeleg. Nicht verlieren! Der könnte Millionen wert sein!“
Walter faltete das Papier und steckte es hinter die Scheine in seinem Geldbeutel. Er bezahlte mit einem Fünfzigeuroschein den Diesel und machte sich auf den Heimweg.
Die Beerdigung war eine Woche später. Der Taldorfer Friedhof platzte aus allen Nähten. Es dauerte eine Ewigkeit bis der Letzte an das offene Grab trat und Walter sein Beileid bekundete. Er sagte die ganze Zeit kein Wort, nickte nur leicht, wenn jemand ihm die Hand gab.
Gesprächsfetzen drangen leise an sein Ohr:
„Wenigstens musste sie nicht lange leiden!“
„Gut für sie, dass es so schnell ging.“
Als alle weg waren, verabschiedete er sich wortlos von Pfarrer Sailer und lief zu Fuß nach Hause.
Er saß am Küchentisch und wusste nicht, was er tun sollte. Das Haus kam ihm ohne Anita seltsam fremd vor und dass, obwohl es sein Elternhaus war. Natürlich war sie die letzten Wochen, die sie im Krankenhaus verbracht hatte, auch nicht da gewesen, doch die Gewissheit, dass sie nie mehr mit ihm an dem kleinen Tisch in der Küche sitzen würde, veränderte alles. Machte es realer.
„Gut für sie, dass es so schnell ging“, erinnerte Walter sich an die geflüsterten Worte auf der Beerdigung.
Falsch, rief es in seinem Kopf. Das war gar nicht gut. Er wusste, dass er egoistisch war, doch er hätte alles für einen weiteren Tag, eine Stunde oder auch nur eine einzige Minute mit Anita gegeben.
Dann dachte er an den Moment, kurz bevor sie gestorben war.
„Bleib bitte nicht allein. Werde glücklich.“
Wie sollte er das anstellen? Wie sollte er ohne Anita jemals wieder glücklich werden? Natürlich würde er allein bleiben, denn niemand würde sie je ersetzen können.
Walter blieb die nächsten Tage zu Hause. Sein Arzt hatte ihn erst zwei Wochen krankgeschrieben, dann widerwillig noch mal zwei Wochen. Danach hatte er seinen Urlaub und alle Überstunden genommen. Das hatte nochmal für ein paar Wochen gereicht.
Als er danach trotzdem nicht an seinem Arbeitsplatz auftauchte, versuchte sein Vorgesetzter mehrfach ihn telefonisch zu erreichen. Doch Walter ging nicht ans Telefon. Egal wer dran war. Ein paar Tage später stand sein Chef dann persönlich vor der Tür, um mit ihm zu sprechen. Noch in derselben Nacht schrieb Walter seine Kündigung.
Vier Monate waren seit Anitas Tod vergangen, doch Walter verließ das Haus weiterhin nur um einzukaufen oder um etwas Wichtiges zu erledigen. Er unternahm nichts, arbeitete nichts, ging nicht zum Stammtisch.
Dafür kam der Stammtisch zu ihm.
Max, Theo, Peter und noch ein paar andere klingelten an seiner Tür und wollten ihm Gesellschaft leisten. Mit ihm reden. Wen er nicht abwimmeln konnte, bedachte er mit beharrlichem Schweigen. Er hatte nichts zu sagen.
Walter bemerkte die Veränderung in den Fragen seiner Freunde: hatten sie früher immer gefragt, wie es Anita ginge, so wollten sie nun wissen, wie es ihm ging. Doch auch darauf hatte er keine Antwort.
Einmal war sogar Eugen Heesterkamp bei ihm aufgetaucht. Der Neu-Taldorfer. Der pensionierte Lehrer hatte ihn mit unzähligen Tipps überhäuft und einen ganzen Stapel Selbsthilfe-Bücher auf den Küchentisch gepackt. Ständig hatte er auf ihn eingeredet und gar nicht bemerkt, dass Walter während des ganzen Besuches kein einziges Wort gesprochen hatte.
Doch eines Tages änderte sich etwas in Walters Leben: die Zeitung war morgens nicht in seinem Briefkasten. Das war auch früher schon vorgekommen, wenn der Austräger erkrankt oder in Urlaub gewesen war, also wartete Walter ab. Tatsächlich kam sie kurz nach Mittag mit der regulären Post. Walter runzelte die Stirn. Was sollte das denn? Die Zeitung wollte er morgens um sechs am Frühstückstisch lesen, nicht mittags um zwölf. Er wartete eine Woche ab, doch es änderte sich nichts.
Verstimmt rief er bei der Zeitung an. Er wurde mehrmals verbunden, bis eine mürrische Frauenstimme seine Fragen beantwortete.
„Unser bisheriger Austräger in Ihrem Gebiet hat aufgehört. Der Karle. Der war ja jetzt auch schon achtzig. Und wir haben noch keinen neuen.“
„Wie lange wird das denn dauern? Ich hätte die Zeitung schon gerne wieder am Morgen!“
Die Frau lachte verächtlich. „Es gibt vieles, was ich auch gern hätte. Aber ich kann keinen neuen Austräger herbeizaubern. Wir haben bereits Anzeigen geschaltet. Gemeldet hat sich noch niemand.“
Walter überlegte kurz. „Was machen Sie denn früh morgens? Ihre Telefonschicht fängt doch sicher nicht vor neun Uhr an.“
„Da liege ich im Bett. Ich brauche meinen Schönheitsschlaf!“
So, wie Walter sich die Frau vorstellte, konnte er das nachvollziehen.
„Aber wenn Sie es schon ansprechen: wie wär‘s denn mit Ihnen? Wer mitten am Vormittag bei mir anrufen kann, ist wohl nicht gerade überlastet …“
Walter wollte etwas Bissiges erwidern, stutzte aber. Warum eigentlich nicht? Er hatte nichts zu tun und ein kleiner Zuverdienst war auch nicht zu verachten.
„Was verdient man denn so als Zeitungsausträger?“
Die Frau bediente ihn sachlich mit den Zahlen.
„Das grenzt ja an Sklaventreiberei“, empörte sich Walter. „Haben Sie noch nie was vom Mindestlohn gehört?“
„Ich mache die Preise nicht. Aber Sie müssen es ja nicht tun. Ich bin mir nur ziemlich sicher, dass Ihre Zeitung dann noch lange mit der normalen Post kommt. Gegen Mittag.“
Walter knirschte mit den Zähnen. Die Bezahlung war unterirdisch, aber andererseits gefiel ihm die Vorstellung nachts, allein und ungestört, durch die Dörfer zu ziehen. Wie damals, als er noch als Briefträger gearbeitet hatte.
Er bestätigte sein Interesse und die Frau versprach ihm, die Unterlagen und den Vertrag zu schicken.
Walter erwachte wie immer, kurz bevor sein Radiowecker ansprang. Er war gespannt, mit welchem Lied sein Tag beginnen würde. Ein Song, der ihm gefiel, bedeutete einen guten Tag, andernfalls war es ein schlechtes Zeichen. Die Zeitanzeige sprang auf zwei Uhr dreißig und aus dem winzigen Lautsprecher quäkten Boney M ihr „Rivers of Babylon“. Nicht Walters erste Wahl, aber in Ordnung.
Er zog sich an und vergewisserte sich mit einem Blick aus dem Fenster, dass es wirklich nicht regnete. Die Meteorologen hatten kaltes aber trockenes Wetter vorhergesagt, doch Walter traute ihnen nicht. Zu oft hatten sie ihn schon in die Irre geführt.
Er ging in die Küche hinunter und machte in dem kleinen Holzherd Feuer. Er legte noch zwei Buchenscheite nach und ging ins Bad. Als er zurückkehrte, breitete sich bereits wohlige Wärme aus. Walter füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf die Herdplatte, füllte Kaffeepulver für zwei Tassen in seine französische Kaffeemaschine und goss ihn auf, als das kleine Signalpfeifchen Alarm schlug. In diesem Moment hörte er, wie ein Auto vor seinem Haus hielt.
„Ei guta Morga, Walter“, begrüßte ihn Jussuf kurz darauf. „Endlich wird’s Wetta bessa. Isch hab scho lang drauf gwartet!“
Jussuf brachte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern. Walter hatte sich auf Anhieb gut mit dem Türken verstanden.
„Ich freue mich auch. War schon noch mal hässlich in letzter Zeit.“
Walter füllte ihre Tassen und schob eine Jussuf hin. Die Tasse Kaffee um kurz vor drei Uhr morgens war seit einiger Zeit ihr Ritual zur Begrüßung des Tages. Während sie tranken, tratschten sie über dies und das, diesen und jenen. Smalltalk. Doch genau das war es, was Walter gefiel: Jussuf kannte ihn nicht, nicht seine Geschichte. Er fragte nicht nach seinem Befinden und hatte auch keine Ahnung, was mit Anita passiert war. Walter freute sich jeden Tag auf dieses kurze Treffen.
Max, Theo und Peter saßen am Stammtisch. Zwischen ihnen war ein Stuhl frei. Walters Platz.
„Meint ihr, er kommt jemals wieder her?“, fragte Theo nachdenklich. „Ich habe Walter jetzt schon seit Wochen nicht mehr gesehen.“
Max zuckte mit den Schultern. „Wenn die Zeit reif ist, wird er schon wieder auftauchen.“ Er trank einen Schluck Bier. „Ich hab ihn neulich getroffen. Um halb vier morgens. Walter trägt jetzt die Zeitungen bei uns in der Gegend aus.“
Theo blickte auf. „Und ich hab mich schon gewundert, dass sie jetzt wieder morgens im Briefkasten steckt. Als der alte Karle aufgehört hat, kam sie eine Weile lang immer mit der Post, aber mittags brauch ich das Blatt dann auch nicht mehr. So ist es besser.“
Theos Bier war leer und er blickte sich nach Marie um. Er entdeckte sie am Tresen, wo sie mit dem Neu-Taldorfer tuschelte.
„Die haben sich in letzter Zeit recht viel zu erzählen“, sagte Theo misstrauisch. „Haben die vielleicht was miteinander?“
Alle drei drehten ihre Köpfe, wendeten sich dann aber kopfschüttelnd ab.
„Ich glaube, eher gefriert die Hölle zu“, raunte Peter.
Max wiegte den Kopf. „Sag niemals nie. Ich habe schon Verrückteres erlebt.“
In diesem Moment wurde das Gespräch von Marie und Eugen lauter.
„Hund!“
„Katze!“
„Hund!“
„Katze!!!!“
„Hund!!!! Ich hab den idealen gefunden!“
Theo grinste. „Das klingt aber nicht nach einem erotischen Vorspiel!“
Peter nickte. „Und wenn doch, dann will ich gar nicht mehr darüber wissen.“
Irgendwie waren sich Marie und Eugen dann wohl doch einig geworden, denn sie nickten sich zu und der pensionierte Lehrer verließ im Stechschritt die Gaststube.
„Wo die Liebe hinfällt“, flötete Theo grinsend.
Max schüttelte den Kopf. „Vielleicht muss er ja auch nur dringend aufs Klo.“
Der Wetterbericht hatte sich nicht geirrt. Die ganze Woche war es trocken geblieben und allmählich wurde es auch wärmer. An geschützten Stellen sah man sogar schon ein zartes Grün an den Ästen der Laubbäume, trotzdem würde es noch ein paar Wochen dauern, um nachts ohne Jacke unterwegs sein zu können.
Walter öffnete den Reißverschluss. Auf den letzten Metern war er doch etwas ins Schwitzen gekommen. Er tastete auf dem Fenstersims nach dem Schnapsglas und setzte sich auf die Treppe vor der Wirtschaft. Marie hatte ihn vor ein paar Tagen besucht und von dem Schnaps erzählt, der ab jetzt jeden Morgen dort für ihn bereitstehen würde. Auch sie las ihre Zeitung gern morgens und der Schnaps war ihre Art sich zu bedanken.
Während Walter an dem Gläschen nippte - nie zu viel auf einmal, da er sonst Schluckauf bekam - schlenderte Maries Tigerkatze Kitty vorbei und reckte freundlich den Schwanz in die Höhe.
„Du bist aber eine Hübsche …“, lobte Walter, doch Kitty sah ihn nur kurz an und verschwand dann in der Scheune. Walter nahm den letzten Schluck und stellte das Glas zurück.
„Feierabend“, freute er sich und machte sich auf den Heimweg. Sein Haus lag nur ein paar hundert Meter entfernt von der Wirtschaft.
Schon aus einiger Entfernung, bemerkte er, dass irgendetwas nicht stimmte. Zwar hatte die Dämmerung noch nicht eingesetzt, doch es war auch nicht mehr stockdunkel. Direkt vor seiner Eingangstür nahm er einen Gegenstand wahr. Falsch: kein Gegenstand - es bewegte sich. Walter blieb stehen und versuchte, in dem diffusen Licht mehr zu erkennen. Doch es blieb undeutlich. Er überlegte, was er als Waffe benutzen konnte, doch er hatte nur sein Fahrrad dabei. Zur Not konnte er es einem Angreifer entgegen schleudern. Aber wer zum Teufel sollte ihm auflauern?
Er atmete tief durch und lief langsam weiter. Nach ein paar Metern erkannte er, dass es sich nicht um eine Person handelte. Dafür war das Objekt zu klein. Aber es bewegte sich. Ein Tier vielleicht? Walter überlegte, welche Tiere ihm gefährlich werden könnten. Er hatte von einem Bekannten gehört, der von einem Marder angegriffen worden war, außerdem hatte Theo erzählt, dass in der Region vereinzelt Waschbären unterwegs waren. Von Bären und Wölfen hatte er hier noch nie gehört.
Noch zehn Meter.
Es war eindeutig ein Tier. Nicht groß. Vielleicht kniehoch. Und es schien gegen irgend etwas anzukämpfen: es wand sich und lief im Kreis, ohne weg zu kommen. Hatte es sich in etwas verfangen?
Walter straffte die Schultern. „Na denn …“, sagte er mutiger als er sich fühlte und ging die letzten Schritte bis zur Tür.
Verblüfft blieb er stehen. Es war ein Hund. Ein kleiner Hund. Vielleicht auch ein junger Hund. Zotteliges Fell, viel zu große Pfoten, buschige Rute. Er war mit einer Leine an seine Haustür gebunden, gegen die er erfolglos ankämpfte. Als er Walter bemerkte, hielt er inne und blickte ihn ängstlich an.
„Wer bist du denn?“, sagte Walter leise und ging vor dem Welpen in die Knie.
„Als ob du mich verstehen würdest, wenn ich mit der Rede“, fiepste das Tier.
Nachdem er kurz innegehalten hatte, begann der Hund erneut an der Leine zu zerren. Walter hatte keine Erfahrung mit Hunden, aber er hatte das Gefühl, dass dieser kleine Kerl freundlich war.
Er näherte sich mit ausgestreckter Hand und entknotete die Leine. Sofort wurde der Hund ruhiger, versuchte aber nun das Halsband abzustreifen.
Walter sah sich um. Weit und breit war niemand zu sehen. Wenn sich hier jemand einen Scherz erlaubte, fand er ihn nicht lustig. Erst jetzt bemerkte er zwei Kartons direkt an der Tür. Er klappte die Deckel auf: der eine enthielt mehrere Dosen Hundefutter, der andere etwas aus Stoff. Walter zog es heraus und las die Aufschrift: „Dogs Dream - Hundebett“
Außerdem fand er eine Karte, die mit sehr ordentlicher Handschrift beschrieben war. Walter kannte niemanden, der so schön schreiben konnte.
„Niemand sollte allein sein. Auch ihr beide nicht. Pass gut auf Balu auf!“
„Scheißndreckn!“, fluchte Walter. Da meinte wirklich jemand, er könne ihm einen Hund anhängen. Er wollte keinen Hund. Er wollte gar nichts, um das er sich kümmern musste. War er zurzeit allein? Ja. Und daran wollte er auch nichts ändern.
„Wuff!“
Der Hund hatte den Kampf mit dem Halsband aufgegeben und hatte sich anständig hingesetzt. Seine Zunge hing aus dem Maul und er hechelte. Seine großen Knopfaugen starrten Walter freundlich an. Unschlüssig, was er tun sollte, kramte Walter seinen Wohnungsschlüssel heraus und öffnete die Tür. Sofort lief der Hund in den Flur und zog Walter an der Leine mit sich.
„Ho - immer langsam … Balu.“
Er streichelte ihm über den Kopf. Es fühlte sich wunderbar flauschig an.
„Heißt du wirklich Balu?“
„Wuff!“
Der kleine Kerl hechelte immer noch mit heraushängender Zunge.
Walter sah sich um und nahm eine flache Schüssel von der Spüle und füllte sie mit Wasser.
„Durst?“
Kaum stand die Schüssel auf dem Boden, schlabberte Balu das kühle Nass. Seine Zunge schien zu rotieren und eine große Pfütze bildete sich um die Schüssel herum.
Walter lehnte sich zurück. „Das war wohl dringend“, lächelte er und streichelte dem Welpen erneut über den Kopf. Einer Eingebung folgend löste er die Leine vom Halsband und legte sie über einen Stuhl. Wo sollte der Hund schon hin?
Als Balus Durst gestillt war, setzte er sich vor Walter auf den Boden.
„Du bist niedlich“, lobte Walter, „trotzdem kannst du nicht hierbleiben. Was soll ich denn mit einem Hund?“
Balu legte den Kopf schief und stellte die Ohren auf. „Wuff!“
„Okay. Aber nur für heute Nacht. Morgen machen wir uns auf die Suche nach deinem Besitzer!“
Walter packte das Hundebett aus und schob es in eine Ecke. Er sah den Welpen an und klopfte mit der flachen Hand auf das Polster.
„Na komm schon! Das ist dein Bett!“
Nach kurzem Zögern betrat Balu das Hundebett und drehte sich ein paarmal unschlüssig um sich selbst. Dann sackte er zusammen und legte den Kopf auf die Vorderläufe.
„Wenn das mal gut geht“, murmelte Walter. Er musste dringend schlafen. Auf der Treppe hinauf zum Schlafzimmer drehte er sich noch einmal um und hob mahnend den Finger: „Stell nichts an!“
„Wuff!“
Als Walter die Augen aufschlug, schüttelte er verwirrt den Kopf.