Goschamarie Mofacup - Stefan Mitrenga - E-Book

Goschamarie Mofacup E-Book

Stefan Mitrenga

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Beschreibung

Taldorf fiebert dem ersten Goschamarie Mofacup entgegen. Während die Vorbereitungen laufen, wird im Hinterdorf ein alter Bauer ermordet und Zeitungsausträger Walter nimmt mit seinen Freunden die Ermittlungen auf. Doch auch der Mofacup fordert ein Opfer: am Morgen nach dem Rennen ist einer der Fahrer tot. Die kleine Ermittlergruppe muss sich nun um gleich zwei Fälle kümmern. Trotzdem bleibt Zeit, um abends auf ein Bier bei der Goschamarie vorbeizuschauen. Dann kommt die legendäre Vesperplatte auf den Tisch und die Wirtin spendiert großzügig Schnaps in Sprudelgläsern. Ein amüsanter Dorfkrimi mit launigen Geschichten von der Goschamarie. Schwäbischkenntnisse sind hilfreich.

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Seitenzahl: 444

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Goschamarie

Mofacup

Der vierte Taldorf-Krimi

Impressum

Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2021Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2021Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe

Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, verträumt an vergangene Zeiten zu denken. „Damals war alles noch besser“, hört man dann gerne. So ist es auch mit der legendären Goschamarie. Bis heute schwelgen viele in Erinnerungen an urige Abende in Taldorf mit riesigen Vespertellern und Schnaps aus Sprudelgläsern.Durch ihre kernige Art und ihre zotigen Sprüche war die Wirtin im weiten Umkreis bekannt. Wer zur Goschamarie ging und von ihr nichts zu hören bekam, war fast schon enttäuscht.„Wie, du willsch a Glas … wa bisch du fier an feina Pinkel?“Einer ihrer Klassiker.„Jetzt zahlet ihr mol und ganget, jetzt kommet nämlich räete Gescht!“Für die Betroffenen nicht immer angenehm, aber auf jeden Fall unterhaltsam und wert, es weiter zu erzählen.Auch in diesem Buch hole ich die gute alte Zeit ins Jetzt und Heute. Mit Euro, Smartphone und Hefe-Russ.

Zugleich widme ich dieses Buch einem ganz besonderen Ereignis. 2006 veranstaltete der Musikverein Taldorf, im Rahmen seines alljährlichen Gartenfestes, den ersten Goschamarie Mofacup. Die Resonanz war überwältigend und so fand der Mofacup fortan jedes Jahr statt, bis die Pandemie für eine Zwangspause sorgte.Mit dieser Geschichte findet 2021, wenigstens auf dem Papier, ein Mofacup statt und ich hoffe, dass im nächsten Jahr die Zweitakter wieder durch Taldorf knattern.

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen

und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden

Personen sind rein zufällig!

Vorspiel

Es war einmal …Es war einmal vor langer, langer Zeit ein Bauer, der mit Fleiß und Hingabe seinen Hof führte. Er kümmerte sich liebevoll um seine Tiere und arbeitete unermüdlich. Schon vor dem Morgengrauen verließ er das Haus, erst im Dunklen kehrte er zurück. Seine harte Arbeit zahlte sich aus und sein Reichtum mehrte sich mit jedem Jahr. Doch der

Bauer war nicht glücklich. Seine Eltern waren vor Jahren bei einem Unglück ums Leben gekommen, seitdem war er allein. Er sehnte sich nach Gesellschaft, Liebe und Anerkennung, doch ließ ihm die Arbeit dafür keine Zeit.Eines Morgens erwachte er mit einem seltsamen Ziehen im Bauch und musste sich kurz darauf heftig übergeben. Geschwächt setzte er sich in sein Auto und machte sich auf den Weg zur Creszenz. Der Bauer hegte ein tiefes Misstrauen gegenüber Ärzten und nahm daher gern die Dienste der Gesundbeterin in Anspruch. Er war selten krank, doch bei den wenigen Malen hatte die alte Creszenz ihm immer helfen können. So auch diesmal. Nachdem sie ihm kurz zugehört hatte, griff sie zu ihrem Rosenkranz und murmelte ein kurzes Gebet. Fast Augenblicklich verschwand das Ziehen in seinem Bauch und auch die Übelkeit.Ob es ihm denn sonst gutginge, erkundigte sich die Alte und der Bauer gestand ihr wehmütig seine Sehnsucht nach Gesellschaft. Dafür hatte auch die alte Creszenz keinen Spruch, versprach aber, ihn in ihre Gebete aufzunehmen.Nun muss man wissen, dass Creszenz nicht nur die Begabung zum Gesundbeten besaß, sie hatte oftmals auch sehr lebendige Träume, in denen ihr Dinge angekündigt wurden. Nur wenige Tage nach dem Besuch des Bauern hatte sie einen solchen Traum und suchte ihn auf. „Du musst am Samstag Blumen kaufen“, teilte sie ihm mit. „Kaufe einen Strauß Margeriten und bezahle sie ausschließlich mit Münzgeld.“Der Bauer war verwundert, aber er tat wie ihm geheißen. Er fuhr in den Blumenladen im nächsten Dorf und äußerte seinen Wunsch. „Was für eine ungewöhnliche Wahl“, bemerkte die Gärtnerin. „Da schicken wir die Agnes. Die kümmert sich um die Margeriten.“Als Agnes kurz darauf einen Korb voller langstieliger Margeriten brachte und sie gekonnt zu einem Sträußchen band, konnte der Bauer seinen Blick nicht von ihr abwenden. Noch nie hatte er so eine hübsche Frau gesehen. Ihre blauen Augen strahlten wie Diamanten, umrahmt von einem wunderschönen Gesicht, das mit tausenden Sommersprossen gesprenkelt war. Als er bezahlen wollte, zog er seinen Geldbeutel so ungeschickt aus der Tasche, dass der kleine Druckknopf aufsprang und das Münzgeld klimpernd zu Boden fiel. Er kniete sich hin und grabschte nach den Münzen. Als Agnes ihm helfen wollte, stießen ihre Köpfe aneinander und für einen wundervollen Moment, schien die Zeit still zu stehen. Ohne ein Wort sahen sie sich in die Augen. Der Blick währte ewig, war aber doch viel zu schnell vorbei. Beide spürten, dass in diesem Moment etwas Magisches passiert war. Von diesem Tag an kaufte der Bauer jeden Tag Margeriten, die Agnes ihm liebevoll arrangierte. Es dauerte noch ein paar Wochen bis er ihr seine Liebe gestand und Agnes bat seine Frau zu werden. Es verging nicht mal ein Jahr, bis im Dorf die Hochzeitsglocken läuteten und ein rauschendes Fest gefeiert wurde.Der Bauer war glücklich. Endlich nicht mehr allein, ging ihm die harte Arbeit noch leichter von der Hand. Wenn er abends heim kam, erwartete ihn ein leckeres Essen und eine liebende Frau. So vergingen Wochen, Monate und Jahre. Doch irgendwann wurden beide unruhig, da sich trotz heftiger Bemühungen kein Nachwuchs ankündigte. Sie besuchten die besten Ärzte, aber keiner konnte ihnen helfen. Da erinnerte sich der Bauer an die alte Creszenz. Er erzählte ihr von ihrem Pech und bat um Hilfe. Wenige Tage später kam sie auf seinen Hof und berichtete von einem weiteren Traum: „Wenn ihr beim nächsten Vollmond beieinander liegt, wird das nicht ohne Folgen bleiben.“ Agnes und der Bauer befolgten die Anweisung der Alten und was niemand mehr für möglich gehalten hätte, geschah: Agnes wurde schwanger.Sie gebar ein gesundes Mädchen, Andrea, das auf wunderbare Weise die besten Eigenschaften seiner Eltern in sich trug: die Schönheit und Güte seiner Mutter, sowie die Beharrlichkeit und den Fleiß seines Vaters. Sie wuchs zu einer wunderschönen Frau heran und half ihren Eltern, wann immer sie konnte, auf dem Hof. Als sie älter wurde, besuchte sie die Landwirtschaftsschule und überreichte ihren Eltern eines Tages ihr perfektes Abschlusszeugnis.„Ich werde auf dem Hof bleiben und ihn später auch fortführen, doch möchte ich euch um eines bitten: gebt mich für ein Jahr frei, um die Welt zu entdecken. Danach kehre ich zurück und bleibe für immer.“Schweren Herzens willigte das Bauernpaar ein und ließ seine Tochter ziehen. Ihr Weg führte Andrea in die entferntesten Länder der Welt und mindestens einmal in der Woche schickte sie einen langen Brief in die Heimat. Sie berichtete von den Menschen, den Bauwerken, dem Essen, dem Wetter … und von Steffen, dem deutschen Studenten, den sie kennengelernt hatte. Anders als ihre Eltern benötigte Andrea nicht die Hilfe der alten Creszenz, um schwanger zu werden und so schrieb sie irgendwann in einem ihrer Briefe, dass sie die Liebe ihres Lebens gefunden habe und verheiratet sei.Natürlich waren die Eltern bestürzt und voller Angst, doch als Andrea mit dickem Bauch und frisch angetrautem Ehemann endlich heimkehrte, war die Freude groß. Der unerwartete Schwiegersohn wurde herzlich in die Familie aufgenommen und überraschte alle durch sein Geschick in der Landwirtschaft. Er hatte Jura studiert, nahm aber nur eine Teilzeitstelle in einer Kanzlei an, so dass er in der freien Zeit auf dem Hof helfen konnte. Auf das erste Kind, eine Tochter, folgte schnell ein Sohn und bescherte dem Hof einen zukünftigen Erben. Der alte Bauer war überglücklich und verbrachte viel Zeit mit seinen heranwachsenden Enkeln. Doch Glück ist ein vergängliches Gut. Eines Tages klagte seine Frau über Schmerzen und ging zum Arzt, der keine guten Nachrichten hatte. Auch die alte Creszenc vermochte nicht zu helfen und so läuteten wenige Wochen später die Kirchenglocken, als Agnes zu ihrer letzten Ruhe gebettet wurde.Der Bauer verfiel in tiefe Trauer und kam Wochenlang nicht aus seinem Zimmer. Erst seine Enkel, die sich immer wieder heimlich zu ihm schlichen, holten ihn zurück ins Leben. Er spielte mit ihnen und machte mit ihnen Ausflüge in den Wald. Besonders liebten die Kinder seine Schatzsuchen, die er mit viel Aufwand für sie plante. Er trauerte noch immer um seine große Liebe, doch er entschied sich für das Leben und seine Familie. Der Bauer kümmerte sich liebevoll um die Kleinen, während Andrea mit ihrem Mann Steffen den Hof umtrieb. Abends war der alte Bauer so müde, dass er häufig in seinem Sessel vor dem Kamin einschlief. Es machte ihm nichts aus, da in seinem Bett niemand auf ihn wartete. Und wieder verging die Zeit und mit ihr verging auch seine Trauer. Eines Morgens stand der Bauer auf dem Balkon und beobachtete seine Enkel, die im Garten herumtollten. Er lächelte. Er war tief zufrieden und bereit das Leben, das vor ihm lag, anzunehmen. Sie alle waren glücklich.Ein Märchen würde an dieser Stelle mit den Worten enden: „… und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.“ Doch leider ist diese Geschichte alles andere als ein Märchen.

1

„Jetzt komm schon Walter … stell dich nicht so an!“Walter starrte auf den Löffel, der vor seiner Nase schwebte und presste die Lippen zusammen.„Ach bitte, nur noch diesen einen Löffel.“Walter drehte demonstrativ den Kopf weg und ruderte mit den Armen.„Jetzt werd ich aber gleich böse … los jetzt: mach den Mund auf!“Der Löffel kam nun bedrohlich nahe, doch Walter konnte nicht weiter ausweichen, da sein Kopf hinten schon an die Stuhllehne stieß. Dann berührte der Löffel auch noch seine Lippen und versuchte gewaltsam in seinen Mund einzudringen. Walter zog eine Schnute und ließ seine Arme kreisen, doch der Angreifer blieb hartnäckig.„Los. Verdammt nochmal! Mund auf!“Walter lief rot an, presste die Augen zu und öffnete endlich den Mund.„Buuuhääää! Buuuuuuuhäääää!“, brüllte er und dicke Krokodiltränen liefen ihm übers Gesicht.„Elmar, was machst du denn mit unserem kleinen Walter?“Anne stürmte ins Zimmer und hob den schreienden Walter aus dem Kinderstuhl. Sofort hörte er auf zu schreien und kuschelte sich schluchzend an den Hals seiner Mutter.„Er will einfach nicht essen“, verteidigte sich Elmar. „Der Arzt hat doch gesagt, dass er etwas zu wenig wiegt, aber wie soll er zunehmen, wenn er nichts isst?“Anne streichelte Walter den Hinterkopf und wiegte ihn sanft hin und her.„Dann probieren wir es in ein paar Minuten eben nochmal. Wenn der kleine Mann gerade keinen Hunger hat, kann man das doch nicht erzwingen.“Walter war jetzt acht Monate alt. Er war am Dreikönigstag zur Welt gekommen und erlebte gerade seinen ersten Sommer. Er konnte stundenlang in seinem Laufstall auf der Terrasse sitzen und die Vögel beobachten, die in den angrenzenden Büschen herumhüpften. Die ersten Wochen hatte er seinen Eltern das Leben zur Hölle gemacht und war alle drei Stunden aufgewacht. Erst seit einem Monat schlief er die Nacht durch.Elmar fuhr sich entnervt durch die Haare. „Das musst du dann aber übernehmen. Ich muss gleich los zum Zeltaufbau. Bin eh schon zu spät dran.“„Die anderen haben sicher Verständnis für einen jungen Vater. Da läuft eben nicht immer alles nach Plan.“ Anne legte den gehäuften Löffel auf das Tischchen an Walters Kinderstuhl und zog ihn sanft von ihrer Schulter weg. Sie drehte ihn herum und setzte ihn auf ihren Schoß, so dass er Elmar gegenübersaß. Sofort zog er die kleine Stirn in Falten.„Ich glaube, er mag mich heute nicht“, resignierte Elmar. „Ich gehe besser, bevor er wieder heult!“Elmar nahm sein Handy vom Tisch und war im Begriff aufzustehen, als Walter seine Arme hochriss und mit einem Juchzer wieder fallen ließ. Mit der Präzision eines Scharfschützen traf er den Stiel des Plastiklöffels, der seine breiige Füllung wie ein Katapult auf Elmars Hose schleuderte.„Ja so eine Scheiße“, rief Elmar und sprang auf.„Keine bösen Wörter vor unserem Kind“, tadelte ihn Anne. „Das hat er doch nicht mit Absicht gemacht.“ Elmar hätte ihr gern geglaubt, doch das fröhliche Lachen auf Walters Gesicht ließ ihn etwas anderes vermuten.„Bamm! Bamm!“, lautmalte Walter und wiederholte die Armbewegungen, die ihm gerade so viel Freude bereitet hatten. Kopfschüttelnd ging Elmar ins Schlafzimmer und fischte eine frische Hose aus dem Kleiderschrank.„Weißt du bis wann du wieder da bist?“, erkundigte sich Anne.„Das dauert schon ein bisschen. Und hinterher … ähm … also …“„Du willst noch in die Wirtschaft“, vollendete Anne den Satz. „Ist schon okay. Ich wollte heute sowieso noch eine alte Folge vom Bergdoktor anschauen.“Elmar verzog das Gesicht. Er mochte die Filme nicht.„Sag allen liebe Grüße von mir“, rief Anne ihm hinterher. „Und wenn du schon in der Wirtschaft bist, bring ein Rauchfleisch mit. Ich hatte schon lange keins mehr.“

Die Tür fiel ins Schloss und Anne hob Walter zurück in den Kinderstuhl. „Dann probieren wir beide das nochmal …“ Sie füllte Brei auf den Plastiklöffel. „Da kommt was Leckeres für unseren kleinen Walter …“ Der Löffel näherte sich und Walter riss begierig den Mund auf. Eine Ladung nach der anderen verschwand ohne Kleckern.„Na also. Geht doch.“

2

„Jetzt komm schon Walter … stell dich nicht so an!“Walter starrte auf den Löffel, der vor seiner Nase schwebte, und presste die Lippen zusammen.„Ach bitte, nur noch diesen einen Löffel.“Walter drehte demonstrativ den Kopf weg und ruderte mit den Armen.„Jetzt werd ich aber gleich böse … los jetzt: mach den Mund auf!“Walter überlegte verzweifelt, wie er dieser Attacke auf seine Geschmacksnerven entgehen konnte. Was Essen anging, war er bestimmt nicht heikel, aber alles hatte seine Grenzen.„Ich hasse dieses Zeug“, brachte er hervor und verzog das Gesicht. „Ich weiß nicht, wer sich sowas ausgedacht hat. Sicher jemand, dem der Geschmackssinn abhandengekommen ist.“Liesl zog den Löffel zurück und machte einen Schmollmund.„Also gut … wer nicht will, der hat schon.“Übertrieben genüsslich schob sie das Stück Sushi in den Mund und brummte zufrieden. „Glaubst du wirklich, über einhundertzwanzig Millionen Japaner leiden an Geschmacksverirrung?“Ja, genau das glaubte Walter. Was war toll daran, rohen Fisch in pappigen Reis zu drücken und in ein Algenblatt einzurollen? Es schmeckte bestenfalls nach gar nichts, meist aber etwas fischelig nach Brackwasser. Pfui.„Geschmäcker sind halt verschieden“, erwiderte Walter diplomatisch und scharrte unauffällig mit dem Fuß, um das vorherige Stück Sushi, das er in der Hoffnung, dass Balu es fressen würde, unter den Tisch hatte fallen lassen. Der Wolfsspitz hatte nur kurz daran geschnüffelt und sich beleidigt auf die Terrasse verzogen.„Und so gesund kann das gar nicht sein. Überleg doch mal, warum die Japaner alle so klein sind … das könnte doch auch von diesem Zeug hier kommen.“„Jetzt redest du aber Blödsinn“, lachte Liesl. „Gib mir deins rüber. Ich mache dir den Rest Spaghetti von gestern warm.“Es war einer ihrer Versuche gewesen, Walters kulinarische Welt zu erweitern. Nicht, dass er sich schlecht ernährte, aber sie fand, dass Rauchfleisch, Braten und Spätzle nicht der Sockel der Ernährungspyramide sein sollten. Bei Salat und Gemüse hatte sie Walter bekehren können, wenn sie auch geschickt mit Dressings und Saucen hantieren musste, um es ihm schmackhaft zu machen.Liesl hatte vor einiger Zeit das kleine Haus am Rand von Taldorf von ihrer Tante geerbt. Nach einer gründlichen Sanierung war sie eingezogen und hatte Walter kennengelernt. Schnell waren sie von Nachbarn zu Freunden geworden und irgendwann auch ein Paar. Ihre Häuser lagen dicht beieinander und sie verbrachten viel Zeit miteinander, doch die Idee zusammenzuziehen und eines der Häuser zu vermieten, war nie aufgekommen. Beide genossen die Rückzugsmöglichkeit in den eigenen vier Wänden. Unter der Woche, wenn Walter mitten in der Nacht aufstehen musste, um die Zeitungen im Dorf auszutragen, schliefen sie getrennt, um so mehr freuten sie sich auf die Wochenenden.Liesl rührte in den Spaghetti und trug den dampfenden Topf zum Tisch. „Sie stellen nachher das Zelt auf. Schauen wir uns das an?“„Natürlich“, sagte Walter mampfend und verbrannte sich die Zunge an der heißen Sauce. „Das kann ich mir doch nicht entgehen lassen, wenn hier schon mal was los ist.“Mit dem Neubau des Musikheims neben Walters Haus, zog auch das Taldorfer Gartenfest ins Hinterdorf um. Dort war mehr Platz und die Verantwortlichen versprachen sich mehr Besucher und dadurch höhere Einnahmen. Die Hauptattraktion sollte ein Mofarennen am Samstagabend werden. Man hatte sich bewusst gegen einen fröhlichen Tanzabend entschieden, da selbst die guten Partybands überall mit rückläufigen Besucherzahlen kämpfen mussten. Das Planungsteam hatte die ruhige Zeit des Corona-Lockdowns genutzt und ein perfektes Motorsportevent geplant, bis hin zu einem ausgeklügelten Regelwerk und einer strengen Kontrolle der teilnehmenden Fahrzeuge. Walter hatte seine Bedenken was die Besucherzahlen anging. Wer hatte Interesse an stinkenden Zweitaktmaschinen, die in beschaulichem Tempo zwei Stunden im Kreis fuhren? Am nächsten Wochenende würde diese Frage beantwortet werden.

Walter und Liesl liefen die wenigen Meter bis zum neuen Festplatz. Ein LKW parkte auf der Straße. Auf seiner Ladefläche waren Aluelemente verzurrt, die, nachdem sie zusammengesetzt waren, das Gerippe des Zeltes bilden würden. Über fünfzig Musikanten standen in Arbeitskleidung bereit, um beim Aufbau zu helfen.„Das sieht aber nicht nach Arbeitskleidung aus“, rief der Alte (wie der Vorstand des Musikvereins genannt wurde, obwohl er eigentlich Alex hieß).„Ich wusste nicht, dass ich … ähm … also, dass ich …“, stammelte Walter, wurde aber vom Vorstand unterbrochen. „War doch nur ein Scherz. Wir haben mehr Helfer, als wir brauchen. Das geht ganz fix. Das da hinten ist der Zeltmeister.“ Der Alte zeigte auf einen hageren Mann in zerschlissenen Arbeitshosen, der gestikulierend eine Gruppe Musiker in ihre Aufgaben einwies. „Ich geh da auch mal hin“, verabschiedete sich der Vorstand und gesellte sich zu den anderen Freiwilligen.„Es gibt einen Zeltmeister … uuuuh“, lästerte Liesl und kicherte. „Wo verdient der sonst sein Geld? Auf einem Campingplatz?“„Das wird schon seinen Grund haben“, sagte Walter mit einem Blick auf die Alustangen, die jetzt abgeladen wurden. Sie waren länger, als er es sich vorgestellt hatte. Der Aufbau war wohl doch aufwendiger als bei einem gewöhnlichen Zwei-Mann-Zelt.Die ersten Segmente wurden unter Anleitung des Zeltmeisters verbunden und schnell bekam man eine Vorstellung von der Größe des fertigen Zeltes.„Das wird riesig“, sagte eine Stimme hinter Walter, der sich umdrehte und den alten Mann begrüßte, der mit seinem Stock auf ihn zu humpelte. „Panky! Schön dich zu sehen. Mit sowas kann man dich also von deinem Hof runterlocken?“Pankratz Wagner, der von allen nur „Panky“ genannt wurde, war der Altbauer eines Hofes im Hinterdorf. Seine Tochter und ihr Mann bewirtschafteten den Hof, doch Panky half noch immer, wo er konnte. Seine siebenundsiebzig Jahre sah man ihm nicht an. Es gab fünfzigjährige, die schlechter aussahen. Der Stock an dem er ging, war einer Arthrose im rechten Knie geschuldet. Die Ärzte hätten ihm gerne ein neues Gelenk eingesetzt, doch Panky hatte wenig Vertrauen in die „Herren in weiß“, wie er sie nannte.„Ich bin mehr unterwegs, als du denkst“, reagierte er auf Walters Anspielung. „Nur weil ich nicht jeden Abend bei der Goschamarie sitze, bin ich noch lange kein Einsiedler.“„Das ist übrigens meine Freundin“, stellte Walter Liesl vor, da die beiden sich noch nicht kannten.Liesl streckte die Hand aus. „Es freut mich Sie kennenzulernen“, sagte sie freundlich. „Ich bin die Liesl!“Der alte Mann hielt ihre Hand fest umklammert und zog sie näher an sich. „Freut mich! Ich bin Panky und nenn mich bitte auch so. Und das „Sie“ kannst du auch gleich vergessen.“„Okay, Panky. Dann freut es mich noch mehr, dich kennenzulernen.“Bevor sie sich weiter unterhalten konnten, wurden sie von Elmars Fliesenlegerbus von der Straße gehupt. „Sorry, bin spät dran“, rief er zum geöffneten Fenster hinaus und schleuderte eine halbgerauchte Lord ins Gras. „Walter hat mich mal wieder aufgehalten. Wollte einfach nicht essen, der kleine Sturkopf.“Walter grinste. Er liebte den kleinen Kerl, dessen Namensgeber er war. „Tja, mit den Walters ist es nicht immer einfach.“Elmar blickte ihn grimmig an.„Du hast da übrigens was“, wies ihn Walter auf ein paar orangefarbene Punkte auf seiner Stirn hin. Elmar wischte mit seinem Ärmel darüber und seufzte. „Spritzer vom Babybrei, den ich nicht in ihn reinbekommen habe. Für sein Alter weiß er schon sehr gut, wie er sich wehren muss.“Der Vorstand hatte Elmar entdeckt und winkte ihn zu sich.„Da geh ich jetzt besser hin. Ach Walter – ich gehe nachher noch zur Goschamarie. Kommst du auch?“Walter antwortete mit einem gereckten Daumen und nahm Liesl in den Arm. „Sollen wir uns den Rest vom Garten aus anschauen? Ohne Schatten wird es mir jetzt doch zu heiß.“Es war das erste Augustwochenende und die Sonne brannte unbarmherzig auf sie herab.„Wenn du ein Bier ausgibst, folge ich dir überall hin“, flötete Liesl und hakte sich bei Walter unter. Sie verabschiedeten sich von Panky, der das Geschehen weiter beobachtete und gingen in Walters Garten. Unter dem großen Sonnenschirm öffneten sie zwei Flaschen Bier und sahen zu, wie die Giebelseite des Festzeltes aufgerichtet wurde.

„Das ist ja ein riesiges Zelt“, knurrte Balu. Der Wolfsspitz lag mit Kitty, der Tigerkatze, im Schatten der alten Jostabüsche am Rand der Terrasse. Kitty gehörte eigentlich zur Wirtschaft, doch Balu und sie waren beste Freunde und verbrachten viel Zeit miteinander.„Ich bin gespannt, ob wirklich so viele Leute kommen. Wenn ich das Zelt anschaue, sind die Erwartungen wohl recht hoch.“„Ist mir egal“, sagte Balu ärgerlich. „Hauptsache, es ist bald vorbei. Dieses nervige Zweitaktgeschnatter halte ich nicht mehr lange aus.“Als bekannt geworden war, dass beim Gartenfest ein Mofarennen stattfinden sollte, war im weiten Umkreis das Mofafieber ausgebrochen. Wer noch irgendwo eines herumstehen hatte, versuchte es zum Laufen zu bringen, wer keines hatte, versuchte sein Glück bei ebay-Kleinanzeigen. Die Preise für gebrauchte Fahrzeuge gingen durch die Decke, bis am Ende gar keins mehr zu bekommen war. Seitdem verbrachten die stolzen Mofabesitzer viel Zeit damit, ihre Fahrzeuge herzurichten und renntauglich zu machen. Längst verloren geglaubtes Jugendwissen über das „Frisieren“ wurde reaktiviert, was den kleinen Motoren mitunter zu erheblichen Leistungssteigerungen verhalf. Natürlich musste das auch getestet werden und so knatterte zu fast jeder Tages- und Nachtzeit irgendwo ein Mofa durch Taldorf.„Da kommt schon wieder einer!“ Balu zeigte mit der Schnauze auf die Straße, auf der ein viel zu kleines Mofa mit einem viel zu großen Fahrer angerast kam. Der Rahmen war schwarz und die Felgen rot lackiert. Der Motor drehte am Anschlag. Dann ein lauter Knall und plötzliche Stille.„Der hat noch einiges zu tun“, stellte Kitty fest. „Hast du gehört, wie laut der allein schon war? Ich denke, ich werde beim Rennen nächsten Samstag nicht hier sein. Dann sind es fünfundvierzig von diesen Dingern, die Lärm machen. Das halte ich nicht aus.“„Da bin ich ganz deiner Meinung“, pflichtete Balu bei. „Wir könnten die Nacht bei Chiara verbringen und am nächsten Morgen ist alles vorbei.“Chiara war eine hübsche Border Collie Hündin und Balus Freundin. Sie lebte bei Walters Freund Georg nur ein paar Minuten Hundegalopp entfernt.„Ich weiß genau, was du bei Chiara willst“, grinste die Tigerkatze. „Aber mir soll’s recht sein. Hauptsache, wir entgehen dem Trubel. Vielleicht könnt ihr euch ja ein bisschen zurückhalten.“Balu verzichtete auf eine Antwort und beobachtete ein weiteres Mofa, das den Weg von Hütten her ins Tal hinunter raste. Als das Hinterrad blockierte, sah es erst so aus, als könnte der Fahrer das Gleichgewicht halten, doch dann schlingerte das Mofa heftig und der Fahrer wurde in den Graben geschleudert.„Autsch!“, kommentierte Kitty.„Autsch!“, stimmte Balu zu.

3

Wie immer, wenn er in die Wirtschaft ging, hatte Walter seine lederne Trachtenhose angezogen. Dazu nur ein kurzärmeliges Hemd. Eine dünne Strickjacke für den Heimweg trug er locker über dem Arm. Auch wenn die Temperaturen am Tag knapp dreißig Grad erreichten, wurde es in der Nacht kühl, vor allem, wenn der Himmel klar war und keine Wolkendecke die warme Luft zurückhielt.Das Zelt stand fertig aufgebaut neben dem Musikheim. Er war beeindruckt. Als er die Längsseite passierte, machte er Meterschritte, um die Größe abschätzen zu können, was etwas komisch aussah, da seine normale Schrittlänge kürzer war. Fünfunddreißig Meter. Wow! Und die Breite? Etwas weniger. Walter tippte auf fünfundzwanzig Meter. Auf einem Hänger vor dem Zelt waren Holzsegmente gestapelt, die später als Boden verlegt werden sollten. Als Walter die Dorfstraße erreichte, blickte er noch einmal zurück und staunte über die Ausmaße des Zeltes: sein Haus und das von Liesl hätten zusammen gut hinein gepasst, in der Höhe waren sie ungefähr gleich. Was für ein Wahnsinn. Balu schien das nicht zu interessieren. Er trabte locker an Walters Seite und hob gelegentlich ein Bein, um eine Markierung zu setzen. Walter schaute auf die Uhr: kurz nach acht. Und immer noch hell. Das würde sich bald ändern. Er schauderte, als er an die Zeit dachte, wenn es bereits um fünf Uhr dunkel wurde. Doch noch war es nicht soweit. Kurz vor der Wirtschaft kam Walter an einem besonders gepflegten Garten vorbei. Anfang August war für die Kleingärtner die Zeit, um die Ernte einzufahren. Äpfel, Birnen, viele Beeren und natürlich allerlei Gemüsesorten. In den Beeten reckten verschiedene Kohlarten ihre riesigen Köpfe der späten Sonne entgegen, am Rand bogen sich die Äste eines alten Pfirsichbaumes unter der Last der reifen Früchte. Walter sah sich verstohlen um und zupfte einen Pfirsich ab. Er wischte ihn an seinem Ärmel sauber und biss hinein. Der Saft tropfte aus dem überreifen Fruchtfleisch und Walter beugte sich vor, um sich nicht zu bekleckern. Er schmeckte köstlich. Wer einmal einen reifen Pfirsich direkt vom Baum gegessen hatte, verzichtete danach gerne auf die Hochglanzprodukte, die das ganze Jahr über ihren Weg aus den Kühllagern in die Ladenregale fanden.

Die Wirtschaft war gut besucht und Walter freute sich, dass Elmar und Max schon am Stammtisch saßen. Während er sich auf seinen Platz setzte, verschwand Balu unter der Eckbank. Nur wenige Sekunden später stellte Marie zwei geöffnete Flaschen Bier vor Walter auf den Tisch. Dadurch sparte sie sich einen Laufweg.„So Walter – schee, dass do bisch! Dätsch no veschpra wella?“„Gerne. Ich nehme das normale Vesper.“ Das „normale Vesper“ unterschied sich nur durch einen riesigen Brocken Rauchfleisch vom „vegetarischen Vesper“. Die anderen Bestandteile, wie Blut- und Leberwurst, waren identisch. Walter hatte beides schon probiert, brauchte aber nach der Sushi-Demütigung vom Mittag das volle Programm.„Ihr wart schnell mit dem Zelt“, lobte er Elmar, der sich gerade eine Lord anzündete.„Ist kein Hexenwerk. Eigentlich wie beim Camping. Nur größer. Montag kommt der Boden rein, dann können wir den Rest aufbauen. Die Bühne, die verschiedenen Theken und natürlich die Bar.“Walter war immer noch skeptisch. „Glaubt ihr wirklich, dass so viele Leute kommen? Ich meine … also … es ist ja nur ein Mofarennen.“Elmar lehnte sich zurück und blies einen wohlgeformten Rauchkringel zur Decke. „Wir haben uns gut vorbereitet und natürlich auch informiert. Ein paar von uns haben sich woanders einige Rennen angeschaut und da Ideen gesammelt. Wieviel Besucher dann wirklich kommen, ist natürlich ein bisschen Glückssache. Stichwort Wetter. Aber allein durch die fünfundvierzig Teams, die am Start sind, können wir mit fünfhundert Leuten rechnen. Die Fahrer kommen ja nicht alleine. Meist sind ein paar Freunde dabei und auch Familie. Manche Teams haben sogar einen kleinen Fanclub, der mit ihnen von Rennen zu Rennen zieht. Und: wir haben ordentlich Werbung gemacht. Plakate, Banner, in der Zeitung kommt noch ein großer Artikel und über Socialmedia geht eh di Post ab.“Walter war mit seinem iPhone mittlerweile auch in der digitalen Welt angekommen, doch seit er eine Mailadresse besaß, ärgerte er sich eigentlich nur über die lästigen Werbemails. Es war ihm schleierhaft wie da „die Post abgehen“ sollte, wie es Elmar genannt hatte.„Und wir haben einen Promi am Start. Allein wegen dem werden viele Zuschauer kommen.“Elmar sprach von Nico Berg. Ein aufgehender Stern am deutschen Rennsporthimmel. Mit gerade mal neunzehn Jahren würde er in der nächsten Saison von der Formel drei in die Formel eins wechseln. Schon jetzt wurde er als der neue Michael Schumacher gefeiert. Er stammte gebürtig aus dem Landkreis Ravensburg und irgendjemand hatte die richtigen Kontakte gehabt, um den Nachwuchsrennfahrer für das Mofarennen zu verpflichten.„Ist der wirklich so gut?“, fragte Walter, der sich für Motorsport ungefähr so viel interessierte, wie für die Bundesligatabelle im Feldhockey.„Der ist spitze“, mischte sich Max ein, der selbst nie ein Formel-Eins-Rennen verpasste. „So ein Talent gab es schon lange nicht mehr. Aber hier wird er sich warm anziehen müssen.“ Max lachte herzhaft und klopfte zwei Häufchen Schnupftabak auf seinen Handrücken. „Wenn der wüsste, was wir für eine Maschine am Start haben, würde er sofort Absagen. Da kann er sich nur blamieren.“Schon als die ersten Gerüchte vom Mofarennen aufgekommen waren, hatte sich Max ein Mofa besorgt. Für ihn war es selbstverständlich, die Ehre des Dorfes mit dem Sieg in diesem Rennen zu verteidigen. Seitdem verbrachte er jede Woche mindestens einen Abend in Faxes Garage in Alberskirch. Gemeinsam schraubten sie an ihrem Mofa und versuchten, das Bestmögliche aus dem kleinen Zweitaktmotor herauszuholen. Im Rennen würden hauptsächlich Faxe und Fibi, ein motorsportbegeisterter Freund von Faxe, auf der Strecke sein. Aber auch Max hatte sich fest vorgenommen, ein paar Runden zu fahren.„So, do isch dei Veschper“, unterbrach Marie und stellte den Teller vor Walter ab. Wie immer war die Portion riesig.„Da hätte die Hälfte auch gereicht“, sagte Walter mehr zu sich selbst, doch Marie hatte ihn gehört.„I woiss it wa des soll: afanga schwätzt jeder vo kloinere Portiona. Bisher hots doch au basst!“Walter räusperte sich und strich über seinen Bauchansatz. „Die Leute leben halt bewusster. Und mal ganz nebenbei: wenn du die Portionen etwas kleiner machst und den gleichen Preis verlangst, dann machst du mehr Gewinn.“Marie runzelte die Stirn. Daran hatte sie offensichtlich noch gar nicht gedacht.„Wenn es dir zu viel ist, dann gib mir was von dem Rauchfleisch ab“, mischte sich Elmar ein. „Anne hat mich gebeten, ein Stück mitzubringen.“Ohne ein Wort schnitt Walter drei Scheiben für sich ab und schob den großen Rest zu Elmar. „Wir wollen ja nicht, dass das Mädel verhungert.“Elmar steckte das Rauchfleisch in die Tüte, die Marie vorsorglich schon dazugelegt hatte. „War übrigens nett, Panky mal wieder zu sehen“, erinnerte er sich an den Nachmittag. „Seit seine Frau gestorben ist, sieht man ihn nirgends mehr.“Walter nickte verständnisvoll. Er wusste, was Panky durchgemacht hatte. Als seine Frau Anita vor ein paar Jahren gestorben war, hatte er sich auch zurückgezogen. Nur ganz allmählich war er in die Dorfgemeinschaft zurückgekehrt und erst Liesl hatte ihn endgültig aus seiner Trauer herausgeholt. Panky war nie ein großer Kneipengänger gewesen, trotzdem war er im Dorf sehr beliebt. Nach allem was Walter wusste, hatte er Halt bei seiner Familie gefunden. Pankys Tochter und ihr Mann waren nicht nur fleißig, sondern auch sehr nett. Die Enkelkinder hatten sicher auch ihren Teil dazu beigetragen.„Hat er eigentlich den Hof schon an die Jungen übergeben?“, fragte Max. „Ist immer besser, wenn so was rechtzeitig geregelt wird.“„Hab keine Ahnung“, gestand Walter und schmierte das letzte Stück Leberwurst auf eine Brotscheibe. „Das ist wohl ein Thema, um das ich mich nie werde kümmern müssen.“Marie brachte Max ein weiteres Bier. „I hon scho älles gschrieba. Wenn i mol nemme bin gibt’s koin Schtreit. Und i muss au it als Gschpenscht zrickkomma, um die bucklig Verwandtschaft zum ärgra!“Elmar lachte. „Du wärst aber sicher ein gutes Gespenst. Wenn ich überlege, wer jetzt schon alles wegen dir zittert …“„Sei vorsichtig, Birschle“, mahnte Marie scherzhaft. „Sonscht iberleg i mirs no und lueg dänn bei dir vorbei.“„Da mach dir mal keine Hoffnungen“, entgegnete Elmar selbstsicher. „Ich weiß ja, dass es keine Geister gibt. Da redet mir auch keiner was ein.“Marie bückte sich zu Elmar hinunter und flüsterte nun fast. „Des hon i au immer dänkt. Aber manchmol bassieret scho komische Sacha. Grad des Häusle do gegenüber, wo jetzt scho a paar Johr koiner me wohnt … da heerschs nachts manchmol wimmra … und i hon au scho an Schatta gsäha …“„Jetzt erzählst du aber Märchen“, unterbrach Elmar, doch Marie streckte warnend einen Finger hoch.„Dänn gosch mol sälber numm. Nachts. Aloi. Dänn wirsch scho säha …“Marie richtete sich wieder auf und stampfte Richtung Tresen davon. Elmar hatte nach ihren letzten Worten tatsächlich eine Gänsehaut. Er rubbelte sich über die Arme und schüttelte sich.„Manchmal übertreibt sie es. Kommt - stoßen wir an!“Ihre Bierflaschen trafen sich und das Klirren vertrieb die düsteren Gedanken. Außer bei Walter, der auf seiner nächtlichen Zeitungstour auch schon das Gefühl gehabt hatte, dass in diesem Haus etwas vor sich ging. Er hatte sich eingeredet, es sei ein Marderpärchen, das in den verlassenen Zimmern umhertollt oder vielleicht auch ein Rudel Ratten. Auch alte Rohre konnten Geräusche machen. An Geister glaubte er nicht. Würde man da jedes Mal einen Exorzisten rufen, hätte die Katholische Kirche eine lukrative Einnahmequelle.Walter hatte eigentlich gehofft, auch Peter und Theo zu treffen, doch sie tauchten an diesem Abend nicht mehr auf. Als Marie bei ihm kassierte, erkundigte sie sich nach der Anzahl seiner verzehrten Brotscheiben und servierte ihm den obligatorischen Schnaps im Sprudelglas.Auf dem Heimweg kam er an dem verlassenen Haus vorbei, von dem Marie erzählt hatte. Er blieb stehen und lauschte in die Nacht. Alles war ruhig. „So ein Blödsinn“, sagte er zu sich selbst und lief leicht schwankend weiter.

„Es ist kein Blödsinn“, korrigierte Kitty, nachdem Balu ihr von dem Gespräch am Stammtisch erzählt hatte. „Da tut sich wirklich irgendwas.“ Sie sprang von ihrem Strohballen herunter und begleitete die beiden ein Stück.„Du stehst auf Geistergeschichten?“, fragte Balu überrascht.„Das sage ich ja gar nicht. Aber ich habe da auch schon Geräusche gehört. Und ich weiß eins: das waren keine Tiere!“

4

Nach einem gemütlichen Sonntag, den Walter und Liesl lesend auf der Terrasse und mit einem kleinen Spaziergang verbracht hatten, meldete sich Walters Wecker am Montagmorgen um halb drei mit Nino de Angelos „Jenseits von Eden“. Für Walter war sein Radiowecker ein Orakel: der Song, mit dem er sich einschaltete, entschied über den Verlauf des Tages. Guter Titel, guter Tag. Schlechter Titel, schlechter Tag. Doch in diesem Fall konnte er sich nicht entscheiden und stufte die Tagesvorhersage als „geht so“ ein. Als er die Treppen vom Schlafzimmer herabkam, wurde er von Balu freudig begrüßt. Er legte zwei Buchenscheite in den Holzherd und löffelte Futter in Balus Napf. Wie jeden Morgen füllte er den alten Wasserkessel mit dem Pfeifchen am Ausguss und stellte ihn auf die Herdplatte. Es dauerte ein paar Minuten, dann entwich der heiße Wasserdampf pfeifend aus dem Kessel und Walter goss den Kaffee auf. Zwei Tassen. Eine für ihn und eine für Jussuf. Walter sah auf die Uhr und öffnete die vordere Eingangstür. Kurz darauf wuffte Balu zwei Mal und ein Auto hielt im Hof.„Guten Morgen“, trällerte Jussuf. Er war offensichtlich bester Laune und setzte sich auf den Stuhl, auf dem er immer saß. Balu leckte ihm zur Begrüßung die Hände und wurde mit einer kurzen Streicheleinheit belohnt. Jussuf brachte die Zeitungen von der Druckerei zu den Austrägern und blieb gerne auf eine Tasse Kaffee und ein frühmorgendliches Schwätzchen.„Du strahlst ja richtig“, bemerkte Walter. „Gibt’s irgendwas Besonderes?“Der Türke nippte vorsichtig an seinem dampfenden Kaffee. „Ich freue mich nur. Ich hab draußen das Festzelt gesehen und mich daran erinnert, dass am Samstag das Mofarennen ist.“Walter war überrascht. „Ich wusste nicht, dass du auf sowas stehst. Ist doch eher was für Kinder …“Jussuf schüttelte den Kopf. „Du hast keine Ahnung. Das wird ein Mordsspektakel. Ich war schon bei ein paar Mofarennen. Wahnsinn! Ehrlich. Was die aus diesen kleinen Dingern rausholen, ist unglaublich. Und dann kommt ja auch noch Nico hierher. Bist du schon aufgeregt?“„Warum sollte ich aufgeregt sein?“, wunderte sich Walter. „Nur weil da irgendein Rennfahrer-Promi am Start ist? Also mir ist das schnuppe.“„Aber Walter - das ist doch nicht irgendein Rennfahrer. Nico Berg ist das größte Fahrertalent Deutschlands … wenn nicht sogar der ganzen Welt. Und der kommt hierher. Stell dir vor: der fährt da drüben auf der Wiese beim Rennen mit. Und dann ist er ja sicher auch zur Siegerehrung da. Für ein Autogramm von ihm würde ich töten …“Bei dem Wort „töten“ ließ Balu ein leises Knurren hören. In den letzten zwei Jahren hatte es in Taldorf und Umgebung genug Tote gegeben und Walter hatte die Morde mit seinen Freunden von der Polizei aufgeklärt. Einmal war Walter dabei angefahren worden. Nur Balus beherztes Eingreifen hatte damals Schlimmeres verhindert.„Ich denke, du kommst auch ohne einen Mord an dein Autogramm“, lachte Walter, der Balus Knurren sehr wohl wahrgenommen hatte. „Wenn der Kerl für ein Mofarennen extra nach Taldorf kommt, kann er so verkehrt nicht sein.“Jussuf zuckte mit den Schultern. „Naja, er soll schon ziemliche Starallüren haben.“„Woher weißt du das?“„Aus der Klatschpresse. Meine Frau kauft immer diese Heftchen. Eigentlich totaler Schrott, aber du bist über die Promis auf dem Laufenden.“Walter verzog das Gesicht. Er konnte sich nichts Langweiligeres vorstellen, als Artikel über irgendwelche C-Promis zu lesen. Da könnte er genauso gut das Dschungelcamp anschauen.Trotzdem war seine Neugier geweckt. „Was erzählt man denn über den Kerl?“„So dies und das … viele Partys und vor allem: viele Frauen. Er hat quasi jede Woche ne andere. Er wurde auch mal verhaftet, weil er auf einer Privatparty erwischt wurde auf der Drogen rumgingen. Sie konnten ihm aber nichts nachweisen.“„Gibt’s für Rennfahrer nicht auch Drogentests? Das ist doch heute in jeder Sportart üblich?“„Keine Ahnung“, gab Jussuf zu und stellte seine leere Tasse in die Spüle. „Wahrscheinlich schon. Aber du weißt ja: wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Wenn jemand Drogen nehmen will, dann schafft er das auch. Trotz irgendwelcher Tests.“„Kommst du nur zum Mofarennen, oder auch am Freitag zum Feierabendhock?“, wechselte Walter das Thema.„Freitag kann ich nicht … ich habe von meiner Frau zum Geburtstag wieder einen Kurs geschenkt bekommen … und der ist immer am Freitag.“„Nochmal ein Sprachkurs? Warum das denn? Dein Deutsch ist mittlerweile besser als meins …“„Nein, kein Sprachkurs … ähm …“, druckste Jussuf herum. „Es ist ein Salsakurs.“„Ach du lernst kochen? Salsa … das ist doch diese scharfe Sauce beim Mexikaner …“Jussuf schüttelte den Kopf. „Nicht kochen, Walter, tanzen. Salsa ist ein Tanz.“Walter war fassungslos. „Auf sowas stehst du? Hätte ich nicht von dir gedacht.“Jussuf seufzte. „Ich auch nicht. Ich habe null Rhythmusgefühl und zwei linke Füße.“„Und warum schenkt sie dir dann so einen Kurs?“„Na, weil sie Salsa tanzen möchte.“Jetzt verstand Walter, in welcher Falle sein Freund saß. Er konnte das Geschenk seiner Frau ja schlecht ablehnen, dabei hatte sie es sich eigentlich selber geschenkt. Raffiniert. Tanzkurs, durchfuhr Walter ein Gedanke. Da war doch was. Dann erinnerte er sich: kurz vor der Pandemie hatte Liesl davon gesprochen, einen Tanzkurs machen zu wollen, doch dann wurde ja alles geschlossen. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, hatte er damals zu ihr gesagt. Was, wenn sie sich daran erinnerte? Walter bekam ein flaues Gefühl im Magen.„Na, dann wünsche ich dir viel Spaß“, sagte er und klang dabei gehässiger, als er beabsichtigt hatte. Als sie vor der Tür die Zeitungen in Walters Handkarren verstauten, kam ihm noch ein Gedanke.„Es wäre echt nett von dir, wenn du das mit der Tanzerei nicht erwähnen würdest, wenn Liesl dabei ist. Nicht, dass sie noch auf komische Gedanken kommt.“Jussuf versprach es ihm und fuhr kurz darauf vom Hof. Vier weitere Austräger warteten schon auf seine Lieferung.

5

Walter arbeitete seine Zeitungsrunde ab, die ihn zuerst über die Höh nach Wernsreute führte, weiter über Alberskirch und Dürnast, und am Ende zurück nach Taldorf. Immer wieder musste er an Jussufs Tanzkurs denken. Wie kommen die Leute nur auf sowas? Gerade wenn sie schon älter sind. Vielleicht war es der Versuch etwas Abwechslung in ihre Beziehung zu bringen, ohne sich gleich einen Liebhaber zuzulegen. Dann wäre ein Tanzkurs so etwas wie eine Therapie zur Bewältigung einer Midlifecrises, zumindest für den weiblichen Teil. Aber was gibt es für die Männer? Bierseminare? Weinproben? Kegelabende? Alles war besser als ein Tanzkurs. „Solche Probleme hast du nicht“, murmelte Walter neidisch, als er Balu dabei beobachtete, wie er einen Laternenpfahl markierte.In Alberskirch machten sie eine kurze Trinkpause. Vor Faxes Garage füllte Walter Wasser für Balu in eine Plastikschale und nahm selbst einen großen Schluck aus der Flasche. In der Werkstatt brannte ein schwaches Licht. Wahrscheinlich hatte Faxe aus Versehen eine Lampe angelassen. Neugierig drückte er ein Auge auf das große Schlüsselloch im Garagentor. Tatsächlich war eine Leuchte an und Walter erkannte Max‘ Rennmofa auf einem Arbeitstisch. Zwischen leeren Bierflaschen lagen Fahrzeugteile, Werkzeug und ölbeschmierte Lumpen. Für Walter sah das Mofa schon recht fertig aus, lediglich am Motor, schien noch etwas zu fehlen. Er hoffte, dass sich die vielen Stunden Arbeit, die Faxe und Max in dieses Projekt steckten, am Ende auszahlten. Es wäre schön, wenn der Sieger aus dem Dorf käme.Auf dem Weg zurück nach Taldorf stand auch das Haus von Eugen Heesterkamp auf Walters Liste. Hier war er immer besonders vorsichtig, da der pensionierte Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) ihn schon mehrfach erschreckt hatte, doch in dieser Nacht war alles ruhig.Balu war schon vorrausgelaufen und unterhielt sich mit Bimbo, einem Haflingerwallach, dessen obere Stalltür immer offenstand. Bimbo war meist schlecht gelaunt und streitlustig, doch im Laufe der Zeit war das Verhältnis zwischen den beiden Tieren besser geworden.„Warum ist eigentlich nur bei euch etwas los?“, meckerte Bimbo. „Bisher war das Gartenfest immer hier im Vorderdorf und jetzt ist das auch noch weg.“Balu wusste, wie neugierig der Wallach war, aber über den Lärm beim Rennen wäre er sicher auch nicht glücklich.„Mecker nicht! Bei dir laufen doch immer noch genug Leute vorbei. Dafür kriegst du von dem Motorenlärm nichts mit.“„Aber ich wäre gern näher dran. Die Ruhe habe ich das ganze Jahr über. Ich brauche einfach mal etwas Abwechslung.“Balu verstand, was er meinte. Der Haflinger stand die meiste Zeit in seinem Stall und konnte nicht, wie Balu, mit seinen Freunden Ausflüge machen oder einfach umherziehen. Auch das schönste Zuhause wurde irgendwann langweilig, wenn man nichts anderes zu sehen bekam.„Ich könnte ja mal wieder deine Stalltür aufmachen“, bot Balu an. Dass er Türen öffnen konnte, war eins der wenigen Geheimnisse, die er vor Walter bewahrte.„Ach lass mal. Die fangen mich ja eh gleich wieder ein. Da verlasse ich mich lieber darauf, dass du mich auf dem Laufenden hältst.“„Ist versprochen“, bellte Balu und galoppierte hinter Walter her.

Die Häuser im Hinterdorf waren die Letzten auf Walters Tour. Der Feierabend war zum Greifen nahe. Auch der Wagnerhof bekam eine Zeitung. Erneut musste er an Panky denken. Es tat ihm leid, dass der alte Landwirt nach dem Tod seiner Frau niemanden mehr kennengelernt hatte. Wenn Walter zurückblickte, war die Zeit, die er allein gelebt hatte, nicht schön gewesen. Heute mit Liesl an seiner Seite konnte er sich das gar nicht mehr vorstellen. Vielleicht sollte er Panky mal besuchen oder auf ein Bier einladen? Ein bisschen Abwechslung würde ihm sicher guttun.Die letzte Zeitung klemmte er unter die Klinke bei der Goschamarie und tastete auf dem Fenstersims vorsichtig nach dem Schnapsglas, das Marie dort für ihn hinstellte. Das war ihre Art, „Danke“ zu sagen. Walter setzte sich auf die oberste Treppenstufe am Eingang und genoss den Obstler in kleinen Schlucken. Wenn er zu viel Schnaps auf einmal trank, bekam er Schluckauf. Über dem Hummelberg breitete sich schon die Morgenröte aus und ließ die Landschaft rot glühen. Wie auf Kommando begannen einige Vögel zu zwitschern, die ihre nächtliche Pause in den Bäumen und Sträuchern beendeten.Das leere Schnapsglas stellte er zurück auf den Simsen und machte sich mit Balu auf den Heimweg. Auf Höhe des verlassenen Hauses fiel ihm Maries Gruselgeschichte wieder ein und er hielt einen Moment inne. War da nicht ein Geräusch? Er sah zu Balu, der seinen Blick gleichgültig erwiderte. Walter erschrak fast zu Tode, als über ihm eine Elster krähte und davonflog. Er schüttelte sich. „Das kommt davon, wenn man sich so einen Blödsinn anhört“, ärgerte er sich und nahm sich vor, das nächste Mal gar nicht mehr hinzuhören.

6

Es war kurz vor elf, als Walter die Augen aufschlug. Ein einzelner Sonnenstrahl zielte genau auf sein Gesicht und blendete ihn. Er hatte am Vorabend den Rollladen nicht richtig heruntergelassen, so dass zwischen zwei Lamellen eine Lücke klaffte.„Scheißndreckn“, fluchte er und drehte sich zur Seite. Er beobachtete winzige Staubpartikel, die von dem Strahl beleuchtet wurden und träge im Raum schwebten. Er blieb noch ein paar Minuten liegen und streckte sich ausgiebig, bevor er sich aus dem Bett schwang und seinen Morgenmantel überwarf.In der Küche wartete Balu vor der Tür zum Garten, die Walter nach einer kurzen Begrüßung öffnete.„Guten Morgen, Langschläfer“, begrüßte ihn Kitty, die sich auf einem der Gartenstühle eingerollt hatte.„Nicht ich bin der Langschläfer, sondern Walter“, verteidigte sich der Wolfsspitz. „Und ich kann ja nicht immer selber die Tür aufmachen, sonst weiß Walter Bescheid. Das hebe ich mir für Notfälle auf.“ Er lief in die Sonne und streckte sich genüsslich: die Vorderpfoten weit nach vorne geschoben und das Hinterteil in die Höhe gereckt. Dann schüttelte er sich so heftig, dass ihn eine Wolke aus Hundehaaren einhüllte.„Wo warst du eigentlich heute Nacht?“, beschwerte sich Balu. „Ich dachte wir sehen uns an der Wirtschaft.“„Ich war mit Eglon unterwegs. Wir haben Seppi besucht.“Eglon war der dicke rote Kater, der jetzt bei Liesl wohnte. Er hatte ursprünglich in Alberskirch bei dem alten Pfarrer gelebt, doch als dieser gestorben war, hatte er eine neue Bleibe gebraucht und war nach Taldorf gekommen. Seppi war der Igel, der zuletzt unten in Liesls gemauertem Grill gewohnt hatte, bis er im vergangenen Frühjahr weiter vor ins Dorf gezogen war. Dort wohnte er in einer kleinen Höhle, aus aufeinandergeschichteten Steinen in direkter Nachbarschaft zu einem Igelweibchen.„Wie geht es ihm denn?“, erkundigte sich Balu.„Eglon?“„Nein. Seppi natürlich.“Kitty grinste. „Er hatte bei dem Weibchen Erfolg. Da gibt es demnächst Nachwuchs.“„Das freut mich wirklich für ihn“, sagte Balu ehrlich. Er mochte den ängstlichen Igel und nahm sich vor, ihn bald selbst einmal zu besuchen.„Und was gibt’s sonst Neues im Dorf?“„Am Morgen war der Notarzt im Hinterdorf“, wusste Kitty. „Ich weiß nicht, was passiert ist, aber ich glaube, er war auf dem Wagner-Hof.“Balu überlegte. „Auf dem Hof wohnen doch nur Andrea, ihr Mann Steffen und der alte Panky. Die Kinder sind ja beim Studieren. Es ist wohl am Wahrscheinlichsten, dass irgendwas mit Panky ist. Wir sollten uns mal umhören.“„Das kann ich euch ersparen“, maunzte Eglon und sprang auf den Gartenstuhl neben Kitty. „Ich komme gerade von dahinten. Es ist tatsächlich Panky. Er ist tot.“Balu war entsetzt. „Was ist denn passiert? Ich habe ihn am Samstag noch gesehen, als er sich den Zeltaufbau angeschaut hat. Da hat er sich auch mit Walter unterhalten. Ich fand nicht, dass er schlecht aussah.“Eglon hatte sich zurückgelehnt und leckte durch sein Bauchfell. „Genau weiß ich es nicht. Ich war nicht im Haus. Aber ich habe seine Tochter mit einer Nachbarin reden hören. Er sei im Schlaf gestorben, hat sie gesagt. Sie hätten ihn heute Morgen tot in seinem Bett gefunden.“„Wie alt war er denn?“, wollte Kitty wissen.„Siebenundsiebzig. Da wären schon noch ein paar Jahre drin gewesen. Aber so ist das halt: wenn deine Uhr abgelaufen ist, kannst du nichts daran ändern.“ Eglon ließ sich von seinem Stuhl rutschen und streckte seinen buschigen roten Schwanz in die Höhe. „Mein Magen knurrt. Ich gehe mal rüber. Da müsste noch ein voller Napf auf mich warten.“Er schlenderte zwischen den Jostabüschen hindurch und verschwand in Liesls Garten.„Mal wieder ein Toter in Taldorf. Das hatten wir schon lange nicht mehr“, sagte Kitty nachdenklich.„Ein alter Mann ist gestorben“, entgegnete Balu. „Sowas passiert eben. Solange niemand ermordet wird, ist alles in Ordnung.“„Woher willst du denn wissen, dass es kein Mord war?“, hakte Kitty nach. „Nur weil er alt war, heißt das noch lange nicht, dass er eines natürlichen Todes gestorben ist.“Balu knurrte verärgert. „Mal nicht den Teufel an die Wand. Wem sollte Pankys Tod denn etwas bringen?“Die Tigerkatze legte den Kopf schief. „Tja, das ist die Frage, um die es immer geht.“

Walter hatte noch immer seinen Morgenmantel an. Mit einer frischen Tasse Kaffee setzte er sich an das kleine Tischchen auf der Terrasse, musste aber vorher einen ganzen Berg roter Katzenhaare von seinem Stuhl wischen. Er saß kaum, als er Liesls Wagen in der Einfahrt hörte.„Stell dir vor, was passiert ist“, keuchte sie kurz darauf atemlos. „Panky – der Alte, den du mir beim Zeltaufbau vorgestellt hast … er ist tot.“Walter verschluckte sich an seinem Kaffee und stellte die Tasse hustend auf den Tisch. „Was? Wieso? Woher weißt du das?“„Ich war im Lidl in Neuhaus und habe Karle aus Alberskirch getroffen. Der hat es mir erzählt.“Walter konnte es nicht glauben. „Ja aber wie? Was ist passiert? Wusste Karle das auch?“Liesls Atem beruhigte sich etwas und sie zeigte auf Walters Kaffeetasse, der zur Bestätigung nickte. Bevor sie weitersprach, nahm sie einen Schluck.„Es war nichts Außergewöhnliches, meint Karle. Sie haben ihn heute Morgen in seinem Bett gefunden und den Notarzt angerufen. Sein Hausarzt kam dann auch noch, der hat aber nur noch den Tod festgestellt.“„Wie furchtbar für Andrea und Steffen … und für Pankys Enkel. Soviel ich weiß, hatten sie ein sehr gutes Verhältnis.“„Kennst du sie gut?“„Wen? Die Enkel?“„Alle. Die ganze Familie eben.“Walter seufzte. „Mit Panky hab ich mich immer gut verstanden. Auch wenn er sich die letzten Jahre rar gemacht hat, war es immer nett ihn zu treffen. Er hatte so einen ganz besonderen Humor. Ein bisschen schräg, aber lustig. Seine Tochter und ihren Mann kenne ich eigentlich nur vom Sehen. Die sind ja auch einiges jünger als ich. So um die vierzig, schätze ich. Aber auch die waren immer sehr freundlich. Der Steffen hat mal mein Auto mit dem Traktor aus einer sumpfigen Wiese gezogen. Er wollte gar nichts dafür haben. Netter Kerl.“„Jetzt ärgert es mich fast, dass ich Panky nicht besser gekannt habe“, sagte Liesl leise. „Da wohnt man nur ein paar hundert Meter voneinander entfernt und ich habe ihn erst am Samstag kennengelernt.“Walter nickte. „Das lag aber nicht an dir. Als vor ein paar Jahren Pankys Frau gestorben ist, hat er sich total zurückgezogen. So wie ich damals auch.“Liesl verstand. „Nur, dass du eine neue Nachbarin bekommen hast, die dich in den Hintern getreten hat …“„Genau“, lächelte Walter und gab Liesl einen Kuss. „Und dafür bin ich dir bis heute dankbar.“„Was macht man denn bei so einem Anlass im Dorf?“„Da gibt es keine festen Regeln, aber ich werde heute Nachmittag mal rüber gehen und meine Hilfe anbieten. Vielleicht brauchen sie ja irgendwas.“„Das ist eine sehr nette Geste, aber geh bitte allein. Ich kenne die Leute ja gar nicht. Da scheint es mir nicht angemessen.“

Sie blieben noch eine Weile auf der Terrasse sitzen, dann verabschiedete sich Liesl in die Küche. Sie kündigte einen großen Salat mit Putenschnitzel an. Walter ging ins Schlafzimmer und zog sich um. Da der Schrank schon offen stand, inspizierte er seinen schwarzen Anzug, den er immer zu Beerdigungen trug. Demnächst würde er ihn wohl brauchen.

7

Es war kurz nach drei, als Walter mit Balu das Haus verließ. Am Festzelt waren die Seitenplanen hochgerollt und eine kleine Gruppe hatte begonnen, den Zeltboden zu verlegen. Unter ihnen waren auch Manne und Otto, zwei weißhaarige Rentner aus dem Vorderdorf, die Walter mit ihren behandschuhten Händen zuwinkten. Er beschleunigte seine Schritte, um nicht den Eindruck zu erwecken, er hätte zu viel Zeit, sonst könnte ja jemand auf die Idee kommen, ihn für die Arbeiten im Zelt einzuspannen.Er sah absichtlich in die andere Richtung, wo neben der Straße ein tiefer Graben verlief. Er versuchte den Wasserstand auszumachen, doch da war nichts. Bei starken Regenfällen sprudelte hier das Wasser und auch über das Jahr hinweg plätscherte immer ein kleines Rinnsal friedlich vor sich hin, doch nun war der Graben bis auf den Grund ausgetrocknet. Walter erinnerte sich noch gut an die Hitzewelle im letzten Jahr, als sogar das Gießen und Rasensprengen verboten worden war. Sie brauchten dringend Regen, aber wenn man dem Wetterbericht glaubte, blieb es die ganze Woche sonnig und heiß.„Heit bisch aber fria dra“, rief Marie über den Hof, als sie Walter entdeckte. Sie leerte einen Eimer mit Putzwasser in den ausgetrockneten Bach vor der Wirtschaft. „Komm rei, i hon dir au a kalts Bierle aus’m Kiehlschrank. Des brauchsch bei därra Hitz.“Doch Walter lehnte ab. „Danke Marie, aber ich will gar nicht zu dir. Ich schaue mal auf dem Wagner-Hof vorbei …“Marie nickte betroffen. „Jo, do hosch recht. Isch scho traurig, dass dr Panky jetzt nimme isch. Wär hett dänkt, dass des sooo schnell goht?“„Ich komme vielleicht später noch auf dein Angebot zurück“, rief Walter und hob die Hand zum Gruß. Ein kaltes Bier war einfach zu verlockend.

Auf dem Wagner-Hof war alles ruhig. An den meisten Fenstern waren die Rollladen heruntergelassen, die Eingangstür stand einen spaltbreit offen. Walter wollte gerade klingeln, als er Stimmen im Haus hörte.„Das kommt überhaupt nicht in Frage! Das hätte er nie gewollt!“, rief eine verärgerte Frauenstimme.„Jetzt glaub mir halt“, drängte eine Männerstimme, „wir haben in letzter Zeit ein paar Mal darüber gesprochen und er hat mehrmals beteuert, dass er eingeäschert werden möchte.“„Niemals. Du lügst!“„Warum sollte ich lügen? Bringt doch nichts. Er hat seine Meinung eben geändert.“„Nix hat er geändert. Für seine letzte Ruhe hat er sich nichts mehr gewünscht, als neben Mama beerdigt zu werden, in einem schönen Sarg und nicht als Asche in einer kleinen Dose.“