Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Eine Einbruchserie verunsichert die Taldorfer Bürger. Als dann bei einem Einbruch auch noch der Hausbesitzer ermordet wird, sind alle verängstigt. Walter und seine Freunde machen sich auf die Suche nach dem Täter. Doch am Tatort tauchen verwirrende Beweise auf, die es ihnen nicht leichter machen. Trotzdem bleibt Zeit, um abends auf ein Bier bei der Goschamarie vorbeizuschauen. Dann kommt die legendäre Vesperplatte auf den Tisch und die Wirtin spendiert großzügig Schnaps in Sprudelgläsern. Ein amüsanter Dorfkrimi mit launigen Geschichten von der Goschamarie. Schwäbischkenntnisse sind hilfreich.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 278
Veröffentlichungsjahr: 2022
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Goschamarie
Keine Ahnung
Der fünfte Taldorf-Krimi
Impressum
Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2022Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2022Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe
Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Vorwort
Taldorf. Ein Dorf, zwölf Kilometer westlich von Ravensburg. Es gibt keine Einkaufsläden, keine Tankstelle, keinen Arzt. Und bald leider auch keine Grundschule mehr. Mit ihrer Schließung geht eine Ära zu Ende. Generationen von Taldorfern haben dort Lesen und Schreiben gelernt, Rechnen und Zeichnen. Es werden nur Erinnerungen bleiben und viele Geschichten aus einer behüteten Schulzeit in einer wunderschönen Dorfschule.Schon lange gibt es in Taldorf auch keine Wirtschaft mehr. Mitte der Neunziger wurde im Gasthof „Zur Traube“ der Zapfhahn endgültig zugedreht. Eine urige Dorfkneipe, die durch ihre Wirtin zur Legende wurde: die Goschamarie. Bis heute, ist dieser Name im weiten Umkreis ein Begriff. Darauf angesprochen, erzählen viele verträumt von der „guten alten Zeit“.Wer bei der Goschamarie einkehrte, bekam für kleines Geld riesige Portionen. Dazu gutes Bier und Schnaps in Sprudelgläsern. Doch bekannt wurde die Wirtin durch ihre Schlagfertigkeit.„Du willsch a kaltes Bier? Dänn musch im Winter komma!“„Wofier brauchsch du a Glas? Bisch du so an feina Pinkel?“Als Gast musste man schon mal was einstecken, dafür erlebte man aber auch etwas. Viele erinnern sich heute gerne an die Geschichten von damals.
Meine Taldorf-Krimis spielen aber nicht in der Vergangenheit, sondern im Jetzt und Heute. Ich stelle mir einfach vor, die Wirtschaft wäre immer noch jeden Tag geöffnet und die Gäste kommen von weit her, um einen schönen Abend zu erleben. Es gibt Handys, bezahlt wird in Euro und Nachrichten schickt man natürlich über Whatsapp.
Diesmal wird das Dorf durch ein grausames Verbrechen schockiert: bei einem Einbruch wird ein Mann in seiner Wohnung brutal erschlagen. Doch der Täter hinterlässt Spuren. Zeitungsausträger Walter und seine Freunde gehen auf Einbrecherjagd. Abends trifft man sich dann auf ein Bier bei der Goschamarie.
Sie wollen dabei sein?„Kommet rei! S’isch offa. Fier eich hon i immr a Plätzle!“
Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebendenPersonen sind rein zufällig!
Goschamarie,
eigentlich „Marie“, die schlagfertige Wirtin im Gasthaus„Zur Traube“.
Walter,
der Zeitungsausträger in Taldorf und Umgebung.
Liesl,
Walters Freundin. Ist erst vor ein paar Jahren in das Haus neben Walter gezogen.
Balu,
Walters treuer Wolfsspitz.
Kitty,
beste Freundin von Balu. Die Tigerkatze gehört eigentlich zur Wirtschaft.
Eglon,
Liesls mürrischer, roter Kater.
Eugen,
Gymnasiallehrer im Ruhestand. Ewiger Besserwisser.
Ulf,
Eugens Schildkröter. Er verbringt das halbe Jahr im Kühlschrank.
Jussuf,
sympathischer Türke, liefert Walter jeden Morgen die Zeitungen.
Theo, Elmar, Max und Peter,
Stammtischfreunde von Walter.
Faxe,
Kfz-Mechaniker mit faszinierender Ausstrahlung.
Kripo-Hubert, Manni, Streifenkollege Hans und Anne,
gehören zu Walters Ermittlergruppe. Anne ist außerdem mit Elmar zusammen.
Klein-Walter,
der kleine Sohn von Anne und Elmar.
Georg,
mürrischer Landwirt und Walters Freund.
Chiara und Fred,
die Hunde von Georg. Chiara ist Balus Freundin, Fred ihr gemeinsamer Sohn.
Bimbo,
ein alter, mürrischer Haflingerwallach im Vorderdorf.
S’Dieterle,
gilt im Dorf als verrückt, war aber früher einer der besten Anwälte des Landes.
Vorspiel
München 1972
Als Joey die Augen aufschlug, musste er sich erst orientieren. Die Vorhänge waren zugezogen und er konnte die Möbel im Zimmer nur schemenhaft erkennen. Das lange Sofa, das eine ganze Wand einnahm, drei Stühle, ein kleiner Couchtisch, ein Schrank, der offenstand, da seine Türen nicht mehr schlossen und der Esstisch.Richtig. An diesem Tisch hatten sie bis tief in die Nacht gefeiert. Eine ganze Batterie leerer Flaschen zeugte davon, einige lagen umgekippt auf dem Boden. Er richtete sich auf und zuckte im selben Moment zusammen. Bei der kleinsten Bewegung, schien ein Hammer von innen an seine Schädeldecke zu trommeln. Oh Gott, was hatte er sich nur dabei gedacht. Der Alkohol war nicht das Problem, doch er vertrug die Joints nicht. Trotzdem hatte er zwei dicke Tüten durchgezogen. Steve hatte sie ihm angeboten und er hatte nicht nein sagen können. Wie so oft. Trotzdem erinnerte er sich an den gestrigen Abend. Sie waren in der Münchner Innenstadt unterwegs gewesen und hatten in der Nähe des Hofbräuhauses gegessen. Schon dort hatte er zwei Maß getrunken. Zum Glück war das Bier nicht stark gewesen. Zurück in Steves WG-Zimmer waren sie dann auf Wein umgestiegen. Richtig guten Wein. Joey hatte keine Ahnung, wie sein Freund sich die teuren Flaschen leisten konnte. Nach der dritten Flasche, hatten Kate und Steve angefangen rumzumachen. Völlig ungeniert waren sie sich an die Wäsche gegangen und hatten sich schließlich auf dem Sofa geliebt. Joey hatte es erregt, den beiden zuzusehen. Vor allem Kates vor Lust verzerrtes Gesicht hatte seine Fantasie beflügelt. Immer wieder hatte sie ihn frech angegrinst, während Steve sie von hinten genommen hatte.Danach hatten sich beide nackt an den Tisch gesetzt und geraucht. Einfach so, als wäre nichts gewesen.„Willst du unseren kleinen Joey nicht ein wenig aufmuntern?“, hatte Steve gefragt und seine Freundin dabei angegrinst. „Er sieht so traurig aus.“Kate war näher zu Joey gerückt und hatte ihm die Hand in den Schritt gelegt. Als sie seine Erregung spürte, hatte sie ihm mit einem Ruck Hose und Unterhose heruntergezogen und sich auf ihn gesetzt. Ihm war schwindlig geworden, als sie sich langsam auf ihm bewegt hatte und es hatte nicht lange gedauert bis er zum Höhepunkt gekommen war.Verlegen hatte er seine Hose wieder hochgezogen und sich ein weiteres Glas Wein eingeschenkt. Keiner von beiden sollte merken, dass dies sein erstes Mal gewesen war.
„War ein schöner Abend“, grinste ihn Kate beim Frühstück an. „Sollten wir öfter machen.“ Joey lächelte verlegen und beschäftigte sich mit seinem Toastbrot. Die beiden schienen den Abend wesentlich besser überstanden zu haben, als er. Sie rauchten schon wieder, wenn auch nur normale Zigaretten.„Kein Joint?“, fragte Joey und Steve schüttelte den Kopf.„Ne du. Jetzt nicht. Später vielleicht. Wir müssen heute noch ein bisschen Geld verdienen.“Joey wollte fragen, was sie arbeiteten, doch irgendetwas hielt ihn zurück.Mehrere Minuten kauten sie schweigend auf ihren Toasts.„Du könntest uns eventuell helfen, Joey“, sagte Steve irgendwann, ohne aufzublicken.„Ich halte das für keine gute Idee“, widersprach ihm Kate sofort. „Du solltest ihn in Ruhe lassen.“„Ach, und warum? Er hat unseren Wein gesoffen und unsere Joints geraucht. Da wäre es doch in Ordnung, wenn er auch was für uns tut.“Kate schüttelte energisch den Kopf. „Du weißt genau, was wir ausgemacht haben. Nur wir beide …“„Also für mich wäre das in Ordnung“, unterbrach Joey kleinlaut. „Was soll ich denn für euch tun?“Kate und Steve sahen sich lange an, dann drehte sich Kate kopfschüttelnd weg.„Du hast doch jetzt den Führerschein?“Joey nickte. Erst vor vier Wochen hatte er die Prüfung bestanden. Da er kein eigenes Auto besaß, war er seitdem nicht mehr gefahren.„Mit deinem Käfer komme ich klar. Den gleichen hatte ich in der Fahrschule. Wo soll’s denn hingehen?“„In die Innenstadt. Du müsstest uns absetzen und auf uns warten. Geht nur ein paar Minuten.“Wieder schüttelte Kate den Kopf, sagte aber nichts.„Klingt easy. Das mache ich gern“, willigte Joey ein.Er fragte nicht, was sie vorhatten, aber es musste sich lohnen, denn sie lebten auf großem Fuß. Teurer Wein, Joints und ein nagelneuer VW Käfer – alles Dinge, von denen er selbst nur träumen konnte.Er hatte Steve auf der Landwirtschaftsschule kennengelernt. Er stammte, wie er selbst auch, von einem Bauernhof. Doch nach dem ersten Jahr war Steve nicht mehr zum Unterricht gekommen. Das sei doch nichts für ihn, hatte er gesagt. Es gäbe leichtere Wege, sein Geld zu verdienen.Danach hatten sie sich ein paar Monate nicht gesehen, bis Steve ihn angerufen hatte, um ihn nach München einzuladen. Bei seinem ersten Besuch hatten sie wild gefeiert und waren durch die Kneipen der Stadt gezogen. Und sie hatten Münchens erste Diskothek besucht, wo er seinen ersten Joint geraucht hatte.
Das war vor zwei Monaten gewesen. Damals war Kate noch nicht dabei gewesen. Steve hatte nicht erzählt, wo er sie kennengelernt hatte, aber sie gefiel Joey. Sie war zwei oder drei Jahre älter und genoss das Leben in vollen Zügen. Der letzte Abend hatte das aufs Neue bewiesen.Joey wusste nicht einmal, wie sie wirklich hieß. Ihr Name war sicher nicht Kate, genauso wenig wie seiner Joey war und Steve als Stefan geboren worden war. Doch diese amerikanischen Namen klangen einfach viel besser. Cooler. Und Joey wollte cool sein.
Um kurz nach vier am Nachmittag packte Steve einen kleinen Rucksack. Er stopfte einige dunkle Kleidungsstücke hinein und einen Gegenstand, den Joey nicht richtig erkannte.„War das ne Knarre?“, fragte er vorsichtig.Steve lächelte schief. „Das ist nur zur Sicherheit. Wir haben sie noch nie benutzt.“„Was arbeitet ihr? Seid ihr bei einem Wachdienst oder einem Kurierservice?“„So etwas in der Richtung“, sagte Steve nach kurzem Zögern. „Wir befördern Dinge von einem Ort zum anderen.“„Was für Dinge?“, hakte Joey nach, doch Steve schüttelte den Kopf. „So dies und das … mehr brauchst du nicht zu wissen. Schau mal - das ist für dich!“Er warf Joey ein Baseballcap zu. „Cleveland Indians“ war auf den Schirm gestickt.„Und die solltest du auch anziehen.“ Er hielt ein Paar dunkler Handschuhe hoch.„Was soll ich damit? Es ist August. Da brauche ich keine Handschuhe.“„Das gehört zu deinem Job als Fahrer. Und du willst doch alles richtig machen?“Joey war plötzlich nicht mehr wohl bei der ganzen Sache. Erst die Pistole, jetzt Handschuhe und ein Cappy.„Weißt du, vielleicht bin ich doch nicht der Richtige dafür?“Steve boxte ihn auf den Oberarm und nahm ihn freundschaftlich in den Schwitzkasten.„Das packst du schon. Ist doch nix dabei. Du musst nur im Auto auf uns warten.“Während ihr was macht?, überlegte Joey.Es klopfte an der Tür und Steve ließ Kate herein, die nervös an ihren Haaren herumfummelte. Sie trug eine enge Jeans und ein schwarzes, enganliegendes Shirt. Joey fand, sie sah umwerfend aus. Kate bemerkte seine Blicke, die über ihren Körper wanderten.„Wenn du deinen Job gut machst, bist du heute als erster dran“, sagte sie mit einem Augenzwinkern. „Aber jetzt müssen wir los. Wir müssen um halb sechs dort sein.“
Joey setzte sich ans Steuer des VW Käfer. Kate rutschte auf den Beifahrersitz, während Steve es sich auf der Rücksitzbank bequem machte. Schon an der ersten Ampel, würgte er den Motor ab. Kate blickte ihn skeptisch an.„Ich dachte, du hattest einen Käfer in der Fahrschule?“Joey wurde heiß, Schweißtropfen wurden vom Band seines Cappys aufgesaugt.„Wenig Übung“, murmelte er und startete den Motor neu. Er fuhr jetzt mit etwas mehr Gas an, wodurch der Motor unangenehm hochdrehte. Dafür starb er aber nicht mehr ab.
Steve lotste ihn durch die Münchner Innenstadt und schließlich in eine Seitenstraße in der Nähe des Stachus. Sie fanden einen Parkplatz am Straßenrand und Joey manövrierte den Wagen perfekt rückwärts in die Lücke.„Geht doch“, lobte ihn Kate. „Aber lass nach vorne noch etwas mehr Platz. Es kann sein, dass wir nachher schnell losmüssen. Ewiges rangieren wäre dann … blöd.“Sie wirkte nervös und warf Steve einen unsicheren Blick zu, der versuchte, den Beifahrersitz vorzuklappen.„Hilft mir mal jemand? Das blöde Ding will nicht!“Joey entriegelte den Hebel und klappte den Sitz nach vorne. Steve krabbelte umständlich heraus.„Lass den Sitz einfach vorne. Wir sind gleich wieder da.“Während die beiden auf einen Durchgang zwischen zwei Häusern zuhielten, kurbelte Joey das Fenster herunter. Er sah noch, wie Steve etwas aus schwarzem Stoff aus dem Rucksack holte, dann waren sie weg.Joey hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Seine Finger wurden feucht und er rieb sie an seiner Jeans ab. Obwohl er wenig rauchte, überkam ihn ein überwältigendes Verlangen nach einer Zigarette. Er drehte am Knopf des Handschuhfachs und durchsuchte es. Tatsächlich fand er eine fast leere Schachtel Reval ohne Filter. Er zog eine der vertrockneten Zigaretten heraus und zündete sie an. Der Rauch brannte auf seiner Zunge, doch sofort spürte er die entspannende Wirkung des Nikotins. Er legte seinen Arm auf den Rahmen des geöffneten Fensters und blies den Rauch ins Freie. Es war fast windstill und er konnte die kleinen Rauchgebilde einige Meter weit beobachten, bevor sie sich auflösten.Als die Zigarette fast seine Finger verbrannte, schnippte er sie im hohen Bogen auf die andere Straßenseite. Zwei Tauben hofften auf etwas Essbares und tuckerten neugierig auf den Zigarettenstummel zu. Doch irgendetwas störte sie und sie flogen davon, bevor sie ihr Ziel erreicht hatten.Joey hörte Schritte und sah sich um. Kate taumelte aus dem Durchgang zwischen den zwei Häusern. Mit der einen Hand umklammerte sie einen kleinen Beutel, die andere presste sie auf ihren Bauch. Ihr Gesicht war schmerzverzerrt und Joey fürchtete, sie würde es nicht bis zum Wagen schaffen. Er stieg aus und wollte ihr helfen, doch sie schüttelte den Kopf und warf ihm den Beutel zu.„Steig wieder ein“, keuchte sie. „Wir müssen sofort los. Und pass auf den Beutel auf!“Stöhnend rutschte sie über den Beifahrersitz hinweg auf die Rücksitzbank.„Jetzt fahr schon, Joey, fahr endlich!!!“Joey ließ den Käfer an und fuhr mit viel zu viel Gas an. Die Hinterreifen drehten kurz durch, dann machte der Wagen einen Satz nach vorne. Mit dem rechten Kotflügel streifte er dabei das Fahrzeug vor ihnen. Verwirrt trat Joey auf die Bremse.„Scheiß drauf“, schrie Kate von hinten. „Fahr! Bitte … fahr!“Joey lenkte den Käfer auf die Straße.„Wohin soll ich denn fahren?“„Ganz egal. Nur raus aus der Stadt. Fahr einfach immer geradeaus.“Er konzentrierte sich auf den Verkehr und folgte dem Verlauf der Straße. Er hatte keine Ahnung, wo sie sich befanden, doch endlich lichteten sich die Häuser am Straßenrand und sie fuhren über freies Land. Kate hatte seitdem nichts mehr gesagt, doch Joey ahnte, dass sie große Schmerzen hatte. Immer wieder stöhnte sie leise und atmete gepresst.Als sie durch einen Wald kamen, bog Joey spontan rechts ab und lenkte den Käfer auf einen Forstweg. Er fuhr ein paar Meter weiter, bis er sich sicher war, dass man das Auto von der Straße aus nicht mehr sehen konnte.„Was tust du? Du musst weiterfahren“, rief Kate.Doch Joey machte den Motor aus und kletterte zu ihr auf die Rücksitzbank. In dem niedrigen Wagen, stieß er mit dem Kopf an den Himmel. Sein Cappy fiel ihm vom Kopf und verschwand unter dem umgeklappten Beifahrersitz.„Verdammt, du bist verletzt. Was ist passiert?“„Dieses verdammte Arschloch hatte eine Pistole!“ Kate presste die Worte mit zusammengebissenen Zähnen hervor. Ihr Gesicht war schweißnass und sie hatte die Augen geschlossen.„Wer hatte eine Pistole?“„Der Juwelier. Er muss sie unter dem Verkaufstresen gehabt haben. Wir haben uns den Laden vorher ein paar Mal angesehen. Da war nie eine Waffe. Nie!“Plötzlich verstand Joey, was passiert war. Seine Freunde hatten einen Juwelierladen überfallen und das war schief gegangen. Kate stöhnte erneut auf und krümmte sich vor Schmerz. Ihr Blut lief über den Kunststoffbezug der Rücksitzbank.„Wo ist Steve?“, fragte er leise.Kate öffnete die Augen einen Spalt und deutete ein Kopfschütteln an.„Er hat es nicht geschafft. Der Kerl hat ihn in die Brust getroffen. Aber Steve hat auch noch geschossen und ihn übel erwischt. Deshalb hat er mich auch nur im Bauch erwischt, bevor er umgekippt ist. Sonst wäre ich schon tot.“Immer mehr Blut strömte aus Kates Wunde und ihre Atmung wurde flach. Joey wusste, dass sie es ohne einen Arzt nicht schaffen würde.„Ich bringe dich in ein Krankenhaus. Du brauchst sofort Hilfe!“Kates blutverschmierte Hand griff nach seinem Arm.„Dafür ist es zu spät.“ Ihr Atem wurde ruhiger und sie sah ihm in die Augen. „Nimm den Beutel …“, sie atmete tief ein, „… nimm den Beutel mit der Beute und geh zurück in dein kleines Dorf, mein kleiner Joey … und … bitte denk hin und wieder an mich … ich …“Ihre Stimme versagte. Ihr Blick wurde starr und ihr Unterkiefer sackte herunter. Kates Hand rutschte von Joeys Arm und klatschte neben ihrem Körper auf den blutigen Sitz.Joey kletterte zurück auf den Vordersitz, ohne sie aus den Augen zu lassen. Doch so lange er auch hin sah, Kate bewegte sich nicht. Er nahm den Beutel und stolperte aus dem Wagen. Er schaute ein letztes Mal zurück und begann zu laufen. Weiter, immer weiter. Er wusste nicht, wo er war und auch nicht, wo er hinwollte. Seine Gedanken kreisten um seine Freunde, um den gestrigen Abend. Wie er mit Kate geschlafen hatte, wie er zugesagt hatte, ihnen zu helfen. Er hatte ihnen geholfen, einen Laden zu überfallen und nun waren Steve und Kate tot.
1
Es ist schon komisch, dachte Walter, dass die schlimmsten Abende immer ohne Vorwarnung passieren. Er hatte sich auf einen gemütlichen Freitag in der Wirtschaft gefreut und es hatte auch ganz harmlos begonnen. Er war der erste am Stammtisch gewesen, dann waren nacheinander Max, Theo, Peter und Elmar dazugekommen. Nachdem alle gevespert hatten, war Marie mit einer Flasche Schnaps an den Tisch gekommen.„Der sott a mol futt. I ziah die Fläsch scho a halbs Johr umanannt. Den hot mr dr Karle irgendwänn mitbrocht. Abr i schänk doch nix aus, wa i it probiert hon. Des machet ihr jetzt fier mi!“Sie hatte fünf Sprudelgläser mit dem Schnaps gefüllt und verteilt.„Saufet des und saget mir dänn, wies gschmeckt hot.“Schon in diesem Moment hatte Walter das Gefühl gehabt, der Abend könnte aus dem Ruder laufen. Jetzt, zwei Schnapsflaschen später, war es soweit.„I-i-ich glaube…de-e-er Schnaps tut m-m-mir nich soooo gu-ut“, lallte Elmar und griff nach seiner Bierflasche. „M-m-muss m-m-mal zwi-ischenschpü-ülen …“Er setzte die Flasche an und trank den letzten Schluck. Er hatte mehr erwartet und spickelte mit einem zusammengekniffenen Auge in den Flaschenhals.„M-m-marie? Bri-i-ing mir no-o-och eins. I-ich hab Du-durst!“Solidarität und Freundschaft wurden am Stammtisch groß geschrieben und darum bestellten die anderen ebenfalls.„Jo herrschaft Soita. Jetzt ka i wäga eich Duppel no hinda numm ganga und s Bier auffilla. Machet blos koin Scheiß wänn i it do bin.“Die Runde am Stammtisch waren die letzten Gäste, daher ging Marie zur Eingangstür und schloss sie ab. So konnten keine Fremden mehr hereinkommen und niemand ohne zu bezahlen nach Hause gehen.Der Schnaps entfaltete bei allen seine Wirkung, doch Elmar vertrug ihn am schlechtesten. Er schwankte jetzt sogar schon im Sitzen.Tok tok.Die Beine seines Stuhls waren ungleich und machten bei jedem seiner Schlenker Geräusche.„Das nervt“, grummelte Max und zog sich eine Brise Schnupftabak in die Nase.Tok tok.„Jetzt hör doch mal auf zu gautschen“, fuhr er Elmar an, doch der hob entschuldigend die Arme.„Ka-a-ann ich do-och nix fü-ür!“Theo sah unter den Tisch und begutachtete den Stuhl seines Bruders.Tok tok.„Das Stuhlbein vorne rechts ist zu lang“, sagte er und griff in die Seitentasche seiner Arbeitshose. „Das haben wir gleich.“Er zog eine klappbare Japansäge aus der Tasche und ließ sie aufschnappen. Elmar wurde mit vereinten Kräften auf Theos Stuhl geschoben.Theo drehte den Stuhl um und sägte ein Stück vom vorderen rechten Bein ab. Dann richtete er ihn wieder auf und setzte sich zur Probe.Tok tok.„War wohl zu viel“, nuschelte er. „Jetzt ist der vorne links zu lang.“Erneut setzte er die Säge an.Tok tok.„Jetzt wieder vorne rechts.“Beim nächsten Test blieb es ruhig. Max legte den Kopf schief und kicherte.„Aber jetzt sind die Vorderbeine viel kürzer als die Hinteren. Auch blöd. Ganz schräg.“Widerwillig kürzte Theo nun auch die hinteren Stuhlbeine und schob den Stuhl wieder an den Tisch. Er stand perfekt. Als er sich hinsetzte reichte seine Brust gerade bis zur Tischkante. Er saß so tief, dass er kaum an sein Bier kam.„Der Tisch ist zu hoch“, stellte Peter fest und begann die Flaschen abzuräumen. Sie legten den Tisch auf den Boden und Theo machte sich mit seiner Säge an den Tischbeinen zu schaffen. Er schaffte es nicht ganz gleichmäßig und musste mehrmals nachbessern, doch schließlich war er zufrieden.Der Tisch passte jetzt perfekt zur Höhe des Stuhls. Doch nur zu diesem einen Stuhl. Die anderen konnte man nicht mehr darunter schieben. Theo zuckte mit den Schultern und nahm sich auch die anderen Stühle vor, bis alle ungefähr die gleiche Höhe hatten. Zufrieden setzte er sich und langte nach seinem Bier, als Marie zurückkam.Als sie den Stammtisch sah, wurden ihre Augen groß und es war einer der seltenen Momente, in denen selbst ihr die Worte fehlten. Elmar, Theo und Peter saßen auf ihren viel zu niedrigen Stühlen, an dem viel zu niedrigen Tisch. Das Bild erinnerte an eine Spielecke im Kindergarten. Dahinter saßen Max und Walter auf der Eckbank, die noch ihre Originalhöhe hatte. Sie stießen mit den Knien an die Tischplatte. Marie knallte den frischen Kasten Bier auf den Tresen und stemmte die Arme in die Hüften.„Jo hot oich oinr ins Hirn gschissa?“, schrie sie. „Des derfet ihr zahla, sonscht hend ihr do hinna koi Plätztle me! Und jetztat machet dass r Hoim kommet!“Alle hatten während ihres Wutausbruchs die Köpfe eingezogen und erhoben sich nun schwankend von ihren Plätzen. Kichernd wankten sie zur Tür und torkelten ins Freie.„Machs gut, zirn nix … mir kommet wiedr“, lallte Elmar, doch Marie knallte die Tür hinter ihm zu und schloss ab.„Das funktioniert nur andersrum“, sinnierte Max und gemeinsam stolperten sie in die Nacht.
2
„Scheißndreckn“, war Walters erstes Wort an diesem Morgen. Er schielte zu seinem Radiowecker: erst halb acht. Am liebsten wäre er liegen geblieben, doch seine Blase drängte auf einen Toilettenbesuch. Er richtete sich auf und bereute es sofort. Ein wummernder Kopfschmerz tobte in seinem Schädel. Er stützte sich am Bettpfosten ab und kam schwankend auf die Beine. Der Restalkohol wirkte noch immer in seinem Körper und er musste sich am Geländer bis zur Toilette vortasten. Er setzte sich auf die Schüssel und stützte den Kopf in die Hände. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Er hatte kein Problem mit ein paar Bieren, doch er wusste was passierte, wenn er zu viel Schnaps trank. Warum hatte er nicht nein sagen können? Nur dieses eine Mal! Walter schüttelte resigniert den Kopf. Wenigstens musste er heute keine Zeitungen austragen. Die Samstagsausgabe übernahm Stefan, ein Junge aus dem Dorf, der sich damit Geld für einen Mallorca-Urlaub zusammensparte.Samstag. Markttag. Walter seufzte. Er konnte unmöglich Auto fahren. Doch das Treffen mit seinen Freunden war ihm wichtig. Immer noch wackelig auf den Beinen hangelte er sich am Geländer die Treppe hinunter und nahm sein iPhone von der Ladeschale. Er bat Anne in einer kurzen Nachricht, ihn abzuholen. Selbst in den wenigen Zeilen brachte er eine erstaunliche Anzahl von Schreibfehlern unter, doch es war ihm egal. Nur Sekunden später kam Annes Antwort. Vorweg ein tränenlachender Smiley, und dann: „Verstehe! Elmar sieht auch nicht gut aus. Bin um zwanzig vor neun bei dir.“Walter erinnerte sich vage an Elmars Zustand und hielt inne. Da war doch irgendwas passiert? Mit dem Tisch? Mit den Stühlen?„Scheißndreckn“, war auch sein zweites Wort an diesem Morgen, als die Erinnerung langsam zurückkehrte.Er fütterte Balu, der schon die ganze Zeit um ihn herumtänzelte und öffnete ihm die Tür zum Garten. Wenigstens er sollte einen guten Start in den Tag haben.
„Na, war’s nett gestern in der Wirtschaft?“, begrüßte ihn Liesl, als er abfahrtbereit das Haus verließ. Er gab ihr einen flüchtigen Kuss, doch sie zuckte zurück.„Oh oh … da hat aber jemand noch eine ordentliche Schnapsfahne. Kannst du überhaupt schon fahren?“„Besser nicht“, gab Walter zu. „Ich habe Anne geschrieben. Sie holt mich gleich ab.“Liesl kannte Walter mittlerweile gut genug, um zu spüren, wie er sich quälte.„Gab es gestern denn irgendeinen besonderen Anlass?“„Wenn es nur so wäre“, antwortete Walter kleinlaut. „Marie hatte einfach Schnaps übrig und wir haben uns darum gekümmert.“Liesl nahm Walter in den Arm. „Na dann schau, dass du gleich alles bei dir behältst. Du kennst doch Annes Fahrstil.“Zum Abschied gab sie Walter einen Kuss auf die Backe und rief nach Balu, der den Samstagmorgen immer bei ihr verbrachte.
Anne war pünktlich und grinste übers ganze Gesicht, als Walter sich umständlich auf den Beifahrersitz gleiten ließ.„War wohl wieder ein heißer Abend. Ich habe Elmar heute Morgen in voller Montur auf dem Sofa gefunden. Da liegt er immer noch.“„Wer passt dann auf Klein-Walter auf?“„Süß, dass du fragst“, lächelte Anne. „Ich habe ihn gerade bei meiner Mutter abgegeben. Die gehen zusammen nach Reutemühle in den Kleintierzoo.“Anne legte einen Gang ein und beschleunigte. Das Verdeck ihres Mini-Cabrios war offen und der Wind zerzauste ihnen die Haare. Schon nach wenigen Metern spürte Walter wie sein Magen rebellierte.„Geht’s heute ein bisschen gemütlicher?“, bat er. „Ich möchte nicht dein Auto versauen.“Anne warf ihm einen „das hätte ich dir vorher sagen können“-Blick zu, wurde aber langsamer. Trotzdem wurde die Fahrt für Walter zu einer Herausforderung. Seit einigen Wochen wurde in Taldorf gebaut. Um die nötigen Leitungen für das neue Baugebiet legen zu können, war die Dorfstraße aufgerissen worden und bisher nur notdürftig geschottert. Eigentlich war die Durchfahrt verboten, doch niemand hielt sich daran. Der Mini wurde kräftig durchgeschüttelt und Walter hielt bei jedem Schlagloch die Luft an. Schweiß trat ihm auf die Stirn, während sein Gesicht grau wurde.„Nur noch ein paar Meter, dann hast du es geschafft“, flötete Anne, machte sich aber bereit, notfalls sofort anzuhalten, damit Walter, wenn nötig, aussteigen konnte.Sie passierten die Baustelle, danach wurde es besser. Walter atmete tief ein und aus bis er sich etwas besser fühlte.
„Ihr seid zu spät“, begrüßte sie Manni, als sie endlich Francescos Kaffeestand auf dem Markt erreichten. „Was ist passiert?“Anne lachte. „War gestern wohl ein harter Goschamarie-Abend. Ich musste wegen Walter extra langsam fahren, damit er alles bei sich behält.“Manni, Streifenkollege Hans und Kripo-Hubert sahen Walter mitleidig an.„Das Leben kann grausam sein“, sagte Manni mitfühlend. „Zu viel Bier?“Walter schüttelte den Kopf. „Nein. Schnaps.“Als er das Wort aussprach spürte er erneut eine leichte Übelkeit.„Ich hole dir nen Kaffee“, bot Anne an. „Halt du dich mal schön am Tisch fest.“„War es wieder eine Wette von Theo und Peter?“, wollte Kripo-Hubert wissen. Alle mochten die Geschichten, die Walter ihnen immer von den beiden erzählte.„Diesmal nicht. Es war einfach nur Schnaps übrig und wir haben uns darum gekümmert.“Walter erzählte was im Verlauf des Abends mit dem Tisch und den Stühlen passiert war und alle lachten.Kripo-Hubert legte Walter eine Hand auf die Schulter. „Wenn es dich beruhigt: bis heute früh ist bei uns noch keine Anzeige wegen Sachbeschädigung eingegangen. Das wird Marie mit euch wohl außergerichtlich klären.“Genau die Befürchtung hatte Walter auch. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen, um dem Zorn der Wirtin zu entgehen.Anne brachte Walters Kaffee, an dem er erst nur nippte. Er hatte keine Ahnung, wie sein Magen darauf reagieren würde.„Jetzt erzähl mal Hubert: haben wir mal wieder einen Fall?“, wollte Anne wissen. Seit dem Mofacup und den zwei Morden in Taldorf hatten sie nichts mehr zu tun gehabt.Kripo-Hubert schüttelte den Kopf. „Leider nein … ach warum sage ich „leider“ … ich meine natürlich: zum Glück nein! Es ist ziemlich ruhig zurzeit. Zumindest was Gewaltverbrechen angeht. Dafür wird mehr gestohlen und eingebrochen. Liegt wohl daran, dass gerade alles so teuer wird.“Seit Russland in der Ukraine einmarschiert war, kletterten die Preise in allen Bereichen. Vielen wurde erst jetzt klar, was in der Ukraine alles hergestellt worden war und nun knapp und teuer wurde. Hinzu kam die ständige Drohung Russlands, Europa den Gashahn abzudrehen. An der Tankstelle musste man sich über Benzin unter zwei Euro freuen, der Preis für einen Liter Sonnenblumenöl lag aktuell bei knapp vier Euro.„Da bin ich froh, dass ich auf dem Land und abseits wohne“, lächelte Walter. „Bei uns gibt es sowas nicht.“„Da täuschst du dich“, widersprach Kripo-Hubert. „Bei den aktuellen Fällen waren es hauptsächlich ländliche, freistehende Häuser, in die eingebrochen wurde. Die sind ganz fix. Alles passiert in wenigen Minuten. Schnell rein und schnell wieder raus. Bislang haben wir noch keinen einzigen Einbruch aufgeklärt.“Anne war beunruhigt. „Und in der kurzen Zeit schaffen die Fernseher, Stereoanlagen und Computer aus dem Haus?“Kripo-Hubert schüttelte den Kopf. „Das interessiert die gar nicht. Die sind nur auf Schmuck und Geld aus. Alles, was man in die Hosentasche stecken kann. Meist steigen sie direkt ins Schlafzimmer ein, da die meisten Leute dort ihren Schmuck und das Bargeld verstecken.“Walter sah erschreckt auf. Auch er hatte sein Geld im Schlafzimmer deponiert. Und der Schmuck seiner verstorbenen Frau befand sich in einer kleinen Schatulle im Kleiderschrank. Er schaute in die Runde und sah den anderen an, dass sie ähnliche Gedanken hatten.„Dann werde ich in Zukunft abends lieber nochmal alle Türen und Fenster kontrollieren“, sagte Anne. „Ich will sicher keinen Einbrecher im Haus haben.“„Und was machst du tagsüber?“, fragte Kripo-Hubert provokant.Anne zog die Stirn kraus. „Wieso tagsüber?“„Na, weil drei Viertel aller Einbrüche am helllichten Tag passieren.“Alle sahen Kripo-Hubert ungläubig an.„Glaubt es mir. Die Zielobjekte werden von den Einbrechern ausgespäht. Wenn sie sich sicher sind, dass niemand zu Hause ist, gehen sie rein. Und mal ehrlich: wer von euch hat tagsüber alle Fenster zu?“Streifenkollege Hans machte ein mürrisches Gesicht. „Tagsüber? Da hab ich die meisten Fenster nur gekippt. Offen ist keins. Schon gar nicht, wenn ich nicht da bin.“Kripo-Hubert schüttelte den Kopf. „Ein gekipptes Fenster machen die in fünf Sekunden auf. Da kannst du es gleich ganz auflassen.“„Dann soll ich den ganzen Tag alles zu lassen?“, fragte Anne mürrisch. „Ich muss doch auch mal lüften!“„Mach das, wenn du zu Hause bist. Alles andere ist fahrlässig. Ach übrigens: das sieht eure Versicherung genauso! Ist das Fenster gekippt, zahlt sie nicht.“Eine kurze Pause entstand. Jeder in der Runde überlegte, welche Fenster gerade in diesem Moment zu Hause gekippt waren.„Dann solltest du die Typen schnell schnappen“, sagte Walter bestimmt. „Ich habe keine Lust, mich ständig einzuschließen und zu verbarrikadieren.“„Wir sind dran“, sagte Kripo-Hubert, klang dabei aber nicht optimistisch.
Die Geschichte mit den Einbrechern hatte Walter die Laune verdorben. Auf dem Heimweg schwieg er fast die ganze Zeit. Anne schien es ähnlich zu gehen, auch sie war ungewöhnlich ruhig. Wieder in Taldorf durchquerten sie den Baustellenbereich jetzt in entgegengesetzter Richtung. Sie mussten kurz warten, bis ein riesiger Bagger einen Berg Erde auf einen LKW geladen hatte. Walter wunderte sich, wie viele Arbeiter an einem Samstag auf der Baustelle waren. Er zählte vier Fahrzeuge und zwölf Männer. Sofort als er zu Hause war, ging er ins Schlafzimmer und schaute nach seinem Bargeld. Er ging nur einmal im Monat zur Bank und hob immer ein paar hundert Euro ab. Alles war noch da. Er öffnete Anitas Kleiderschrank und nahm die kleine Schatulle heraus. Zum ersten Mal seit ihrem Tod öffnete er sie. Ihre Lieblingskette mit den kleinen Rubinen lag obenauf, daneben einige Ringe und Ohrstecker. Walter war beruhigt. Nichts fehlte.
3
Walter hatte sich bei Liesl entschuldigt und den Samstagnachmittag auf dem Sofa verbracht. Sein Magen war immer noch in Aufruhr, aber wenigstens hatte die Übelkeit nachgelassen und sein Kreislauf hatte sich stabilisiert. Er erinnerte sich an eine Liedzeile von Udo Jürgens: „Der Teufel hat den Schnaps gemacht …“. Ohne Frage hatte der Sänger irgendwann einmal die gleiche Erfahrung gemacht wie er.Zum Abendessen ging er zu Liesl. Sie hatte Spaghetti gekocht. Der Duft nach Knoblauch und Tomatensauce stieg Walter schon auf seiner Terrasse in die Nase. Erfreut bemerkte er ein Hungergefühl.„Meinst du, du kannst wieder was zu dir nehmen?“Walter nickte. „Es wird wieder. Und bei deinen Spaghetti kann ich eh nicht nein sagen.“Sie setzten sich und Liesl füllte die Teller. Walter erzählte von ihrem Treffen auf dem Markt und von der Einbruchswelle mit der Kripo-Hubert beschäftigt war.„Das klingt ja beängstigend. Da habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Bei mir sind die Fenster im Schlafzimmer immer gekippt. Ist ja im ersten Stock.“„Bei mir doch auch. Aber ich werde das ändern. Hoffe ich.“ Walter wusste, wie vergesslich er bei manchen Dingen war.Liesl lächelte. „Ja … wenn du aus der Wirtschaft heimkommst, vergisst du schon mal was … war’s denn gestern so schlimm?“Walter kniff die Augen zusammen. „Schlimmer. Und dann haben wir auch noch ziemlichen Blödsinn gemacht.“Er erzählte von der Sägeaktion und wie sie geendet hatte. Liesl verschluckte sich an ihren Spaghetti und prustete in eine Serviette.„Da hätte ich gerne Maries Gesicht gesehen!“„Nein“, widersprach Walter, „das hättest du nicht. Es gibt Dinge, da versteht sie keinen Spaß.“„Und was macht ihr, um das wieder hinzubiegen?“„Wir müssen das reparieren lassen.“ Walter kam eine Idee. „Ich glaube, ich rufe gleich noch Uli an. Der soll sich den Schaden mal anschauen. Vielleicht kriegt er das ja hin.“Uli war ein Schreiner aus Dürnast. Walter kannte ihn schon seit vielen Jahren. Von ihm hatte er seine Küche einbauen lassen. Als guter Kunde glaubte Walter, noch einen Gefallen bei ihm gutzuhaben. Er durchstöberte das Adressbuch seines Handys und fand Ulis Nummer unter „S“, wie „Schreiner“.Es klingelte lang, bevor Uli das Gespräch annahm. „Walter hier. Ich hoffe ich störe nicht?“„Welcher Walter“, brummte es aus dem Hörer.„Na hör mal, der Walter aus Taldorf. Hast du mich schon vergessen? Du hast doch neulich meine Küche eingebaut.“„Das war vor achtzehn Jahren. Seitdem warst du nur noch zwei Mal bei mir. Einmal hast du Schleifpapier ausgeliehen, beim anderen Mal zehn Schrauben. Willst du das Zeug jetzt zurückbringen?“