Goschamarie   Zwergenaufstand - Stefan Mitrenga - E-Book

Goschamarie Zwergenaufstand E-Book

Stefan Mitrenga

0,0

Beschreibung

Walter und Liesl sind gerade erst von ihrer Hochzeitsreis zurück, als nach einem gemütlichen Abend bei der Goschamarie zwei Männer spurlos verschwinden. Tage später werden ihre Leichen gefunden. Taldorf ist verunsichert: geht ein unheimlicher Serienmörder um? Walter und seine Freunde tun sich bei den Ermittlungen schwer, da es so gut wie keine Hinweise gibt. Die Toten sind natürlich auch Thema am Stammtisch bei der Goschamarie, wo wieder ordentlich gegessen und getrunken wird Ein amüsanter Dorfkrimi mit launigen Geschichten von der Goschamarie. Schwäbischkenntnisse sind hilfreich.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 350

Veröffentlichungsjahr: 2024

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Goschamarie

Zwergenaufstand

Der siebte Taldorf-Krimi

Impressum

Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2024Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2024Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe

Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]

Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Vorwort

Als ich 2018 mein erstes Buch „Goschamarie - alte Geschichten neue Freunde“ geschrieben habe, dachte ich nicht mal an eine Fortsetzung. Und nun gehen wir schon in die siebte Runde. Herzlichen Dank an alle, die von Anfang an dabei sind.

Und nach wie vor ist der Name „Goschamarie“ weit über die Grenzen des Landkreises Ravensburg hinaus bekannt, obwohl die Wirtschaft „Zur Traube“ seit Mitte der 90er Jahre geschlossen ist.

Die Älteren erzählen am Stammtisch bis heute die Geschichten der legendären Wirtin, die Jüngeren verbinden mit dem Namen den Goschamarie Mofacup, der seit 2006 in Taldorf stattfindet und jedes Jahr mehrere Tausend Besucher anlockt.

Vielleicht haben Sie „Goschamarie - Feuer, Eis & Breedla“ gelesen?

Da gab es am Ende einen Heiratsantrag. Doch ich muss Sie enttäuschen: wir werden in dieser Geschichte nicht bei der Hochzeit dabei sein. Dafür begleiten wir Walter und Liesl auf ihrer Hochzeitsreise ins wunderschöne Siena.

Aber keine Angst: sie kehren natürlich zurück und dann gibt es wieder urige Geschichten von der Goschamarie.

In der Wirtschaft beginnen diesmal auch die Fälle, die Walter und die kleine Ermittlergruppe lösen müssen. Nach einem Besuch bei der Goschamarie verschwinden gleich zwei Gäste. Beide werden wenig später tot aufgefunden.

Was steckt dahinter? Wer ist der Mörder?

Ich wünsche viel Spaß mit meinem siebten Taldorf-Krimi!

In liebevoller Erinnerung an Rita.

Goschamarie,

eigentlich „Marie“, die schlagfertige Wirtin im Gasthaus„Zur Traube“.

Walter,

der Zeitungsausträger in Taldorf und Umgebung.

Liesl,

Walters Freundin. Ist erst vor ein paar Jahren in das Haus neben Walter gezogen.

Balu,

Walters treuer Wolfsspitz.

Kitty,

beste Freundin von Balu. Die Tigerkatze gehört eigentlich zur Wirtschaft.

Eglon,

Liesls mürrischer, roter Kater.

Eugen,

Gymnasiallehrer im Ruhestand. Ewiger Besserwisser.

Jussuf,

sympathischer Türke, liefert Walter jeden Morgen die Zeitungen.

Theo, Elmar, Max und Peter,

Stammtischfreunde von Walter.

Faxe,

Kfz-Mechaniker mit faszinierender Ausstrahlung.

Kripo-Hubert, Manni, Streifenkollege Hans und Anne,

gehören zu Walters Ermittlergruppe. Anne ist außerdem mit Elmar zusammen.

Klein-Walter,

der kleine Sohn von Anne und Elmar.

Georg,

mürrischer Landwirt und Walters Freund. Seit kurzem erfolgreicher Romanautor.

Chiara und Fred,

die Hunde von Georg. Chiara ist Balus Freundin, Fred ihr gemeinsamer Sohn.

Bimbo,

ein alter, mürrischer Haflingerwallach im Vorderdorf.

Ulf,

Eugens Schildkröter. Hat eine unglaublich tiefe Stimme.

Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.

Vorspiel

Zartes Vogelgezwitscher drang vom Garten herein und Walter öffnete widerstrebend die Augen. Wie an den Tagen zuvor musste er sich erst orientieren: die beigefarbenen Wände, die schweren, dunklen Möbel, Schlagläden, die - obwohl sie geschlossen waren - den Raum nicht komplett verdunkelten. Die Fenster standen weit offen, um die kühle Nachtluft ins Schlafzimmer zu lassen. Doch schon jetzt mit den ersten Sonnenstrahlen kehrte die Hitze des toskanischen Sommers zurück. In ein bis zwei Stunden würde das Thermometer wieder die dreißig Grad Marke erreichen.

Seufzend schlug Walter das dünne Laken zurück und kroch vorsichtig aus dem Bett. Liesl schlief noch und drehte sich mit einem Grunzen auf die andere Seite. Nur mit der Unterhose bekleidet, verließ Walter das Schlafzimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Die Terrakottafliesen fühlten sich unter seinen nackten Füßen kühl an, als er in der Küche Wasser in die Espresso-Kanne füllte. Nachdem er Kaffeepulver in die kleine Schale gedrückt hatte, stellte er sie auf den Herd und drehte das Gas auf. Erst beim dritten Versuch zündete die Flamme und Walter vergewisserte sich, dass sie auch wirklich brannte. Er hatte großen Respekt vor dem Gasherd. Nicht auszudenken was passieren konnte, wenn das Gas unverbrannt ausströmte.

Er ließ den Kaffee vor sich hin köcheln und ging zur Terrassentür, drückte den Hebel nach unten und schob sie weit auf. Sofort erfüllte der Duft von Millionen blühender Kräuter den Raum. Walter hätte nicht sagen können, welche Pflanzen es genau waren, doch in der Summe roch es wie eine penetrante italienische Gewürzmischung. Die leichte Feuchtigkeit der Nacht verstärkte den Effekt noch und gab der Luft eine fast schlierige Konsistenz.

Er trat hinaus und stellte sich breitbeinig an den Rand der Terrasse. Noch immer trug er nur seine Unterhose und genoss die Wärme der aufgehenden Sonne auf seiner Haut. Er schloss die Augen und breitete die Arme aus. Was für ein herrliches Gefühl.

Ihr Ferienhaus war Teil einer Anlage mit insgesamt sieben Wohneinheiten, die alle um den großen Pool im Zentrum herum angeordnet waren. Trotzdem war man vor den Blicken der Nachbarn gut geschützt: riesige Oleanderhecken trennten die einzelnen Grundstücke voneinander, lediglich ein schmaler, gepflasterter Weg brach sich durch die grüne Wand.

„Buongiorno, Signore“, hörte Walter eine Frauenstimme.

Schlagartig wurde Walter sich seiner Nacktheit bewusst und griff panisch nach einem Badehandtuch, das zum Trocknen über einer Stuhllehne hing.

„Äh … si … äh … buongiorno, Simona“, stammelte er und grinste verlegen.

Simona war die Verwalterin der Ferienhäuser. Walter schätzte sie auf Mitte dreißig. Mit ihrem dunklen Teint, den langen, fast schwarzen Haaren und ihrer kurvenreichen Figur, entsprach sie zu hundert Prozent Walters Vorstellung einer heißblütigen Italienerin.

„Ich habe gebracht … pane?“, sagte sie unsicher und lächelte Walter mit strahlend weißen Zähnen an.

„Du meinst Brot“, korrigierte Walter und zeigte auf das geflochtene Körbchen in ihren Händen, in dem vier Brötchen lagen.

„Brot“, sagte er noch einmal und hielt eines der Brötchen hoch.

„Ah, si … Brot!“ Simona nickte. Sie hatte das Wort mit einem kurzen „o“ ausgesprochen, als würde man es mit zwei „t“ schreiben. Walter fand ihren Akzent bezaubernd.

„Das …“, Simona zeigte auf das Handtuch, das Walter sich um die Hüfte gewickelt hatte, „…das … molto … äh … HA HA.“

Walter runzelte die Stirn. Was sollte „HA HA“ denn nun wieder bedeuten? Er sah an sich herunter. Das große Badehandtuch war ein Werbegeschenk einer Ravensburger Brauerei gewesen, die ihr Bier mit dem Slogan „Immer ein Treffer“ anpries. Um die Aussage zu illustrieren, war eine Dartscheibe abgebildet, mit einem Pfeil im Bullseye. Es sah aus, als stecke er direkt in Walters besten Teilen.

„Das … HA HA“, lachte Simona erneut und Walter verstand, dass sie das lustig fand.

„Ja … HA HA“, nuschelte er und schob das Handtuch an seiner Hüfte weiter, bis die Dartscheibe nach hinten verschwunden war. Kurz fragte er sich, ob es nun so aussah, als würde ihm der Pfeil im Hintern stecken. Er beschloss, sich auf keinen Fall umzudrehen. Er brauchte kein weiteres „HA HA“.

Immer noch lachend, drückte ihm Simona das Brotkörbchen in die Hand und verabschiedete sich. Als sie zwischen den Oleander verschwunden war, tauschte Walter das Badehandtuch sofort gegen seine Shorts und ein ärmelloses T-Shirt.

Walter deckte den Frühstückstisch. Zu den frischen Brötchen, gab es italienische Salami, Käse und Marmelade, alles vom Wochenmarkt in Siena, den sie gestern besucht hatten. Sie waren nun schon drei Tage hier. Sie waren mit dem Zug über München nach Florenz gefahren und hatten dort einen zweitägigen Zwischenstopp eingelegt, um die Stadt zu besichtigen. Dann waren sie, wieder mit dem Zug, nach Siena gefahren. Es war ihre Hochzeitsreise, die Liesl ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, nachdem er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte. Ihr Hauptziel war das Palio, das weltberühmte Pferderennen, das zweimal im Jahr im Zentrum Sienas stattfand. Heute war es endlich soweit. Sie wollten so früh wie möglich aufbrechen und den ganzen Tag in der Stadt verbringen.

„Guten Morgen“, säuselte Liesl, als sie gähnend aus dem Schlafzimmer kam.

„Rieche ich da etwa Kaffee?“

Walter gab ihr einen Kuss. „Ist gerade fertig. Und Brötchen gibt es auch schon. Simona hat sie gerade vorbeigebracht.“ Die Einzelheiten seiner Begegnung mit der Verwalterin behielt er für sich.

Sie schnitten die Brötchen auf und belegten sie mit Salami und Käse. Eigentlich bevorzugte Walter dunkleres Brot, doch das war hier nicht zu bekommen.

Als er weitere Rädchen von der Salami schnitt, meldete sein Handy mit einem „Ping“ den Eingang einer neuen Nachricht. Er wusste genau, wer ihm zu dieser Uhrzeit schrieb. Trotzdem öffnete er die Nachricht und tippte auf das angehängte Foto. Als er Balu, Chiara und Fred auf Georgs Sofa sah, wurde ihm warm ums Herz. Als klar gewesen war, dass sie verreisen würden, hatte seine größte Sorge Balu gegolten. Den Reisestress hatte er ihm nicht zumuten wollen, doch wo sollte er während seiner Abwesenheit bleiben? Seine Sorgen waren unbegründet gewesen. Georg hatte sofort zugesagt, sich um den Wolfsspitz zu kümmern. Um Walter zu beruhigen, schickte er jeden Morgen ein neues Foto.

„Geht es Balu gut?“, wollte Liesl wissen und Walter nickte.

„Schau mal … findest du nicht auch, dass er lächelt?“

Walter hielt ihr das Handy hin.

„Du spinnst ja“, lachte Liesl. „Hunde können nicht lächeln. Aber ich muss zugeben … ja … er sieht glücklich aus.“

Beruhigt steckte Walter sein Handy weg und widmete sich wieder der Salami.

Ping.

Erneut war eine Nachricht eingegangen und Walter schaute auf sein Handy.

„Komisch - keine Nachricht“, murmelte er.

„Dann war das wohl meins“, vermutete Liesl und kontrollierte ihre WhatsApp-Nachrichten.

„Die ist von Andrea und Hannes. Sie sind schon auf dem Weg und fragen, ob wir gemeinsam Mittagessen sollen?“

Sie hatten das Ehepaar aus Bad Tölz schon in Florenz kennengelernt und festgestellt, dass sie die gleiche Reiseplanung hatten. Anscheinend wollte jeder zum Palio.

„Perfekt“, freute sich Walter, der die beiden auf Anhieb gemocht hatte. „Mach einen Treffpunkt aus, sonst finden wir uns nie!“

Nur Sekunden später erhielt sie eine Nachricht mit den Koordinaten. Dank der Karten-App auf dem Handy, konnten sie später in Siena die Navigation verwenden.

Eine knappe Stunde später stiegen sie in den Shuttle-Bus. Zum Glück war er klimatisiert, denn die Sonne brannte erbarmungslos von einem wolkenlosen Himmel herab. Entlang der Straße hielten sich die Sträucher an den Straßengräben ganz gut, doch nur wenige Meter weiter waren Gras und Büsche braun. Der Bus wirbelte hinter sich eine Staubwolke auf, die sekundenlang in der Luft stand. Der Fahrer schien es eilig zu haben und fuhr für Walters Geschmack viel zu schnell. Immer wieder überholte er, nicht ohne vorher mehrmals auf die Hupe zu drücken. Walters Hände krampften sich um die Rückenlehne seines Vordermanns.

„Scheißndreckn“, murmelte er, als der Bus, trotz Gegenverkehr, erneut zu einem Überholmanöver ansetzte. Walter lief der Schweiß den Rücken hinunter. Dann kam endlich die Stadt in Sicht. Walter löste seinen Blick vom Fahrer und der Straße und sah den Hügel hinauf, wo die ersten Gebäude zu sehen waren. Sie schienen am Hang zu kleben, aus der Entfernung waren zwischen den Häusern keine Wege oder Straßen zu erkennen. Walter wusste, dass es sie gab, doch sie waren so schmal, dass man sie nur mit einem Roller oder Motorrad befahren konnte. Selbst die charakteristischen italienischen Dreiräder der Firma Piaggio waren für viele der Durchfahrten zu breit.

„Dieser Anblick überwältigt mich immer wieder“, säuselte Liesl und zeigte auf einen Turm, der die gesamte Stadt überragte. Der Duomo di Siena war das Wahrzeichen der Stadt. Neben dem Turm glänzte die Kuppel des Doms golden in der Sonne. Die Häuser drumherum, schienen sich an ihn zu schmiegen.

Die vorherrschende Farbe war ein helles Braun, in dem nahezu alle Häuserfassaden erstrahlten, wobei doch jedes einzelne um Nuancen abwich, wodurch eine seltsame Buntheit entstand. Walter erinnerte sich an den Wasserfarbkasten, den er als Kind im Kunstunterricht benutzt hatte. Eine der Farben darin hatte die Bezeichnung „Gebrannte Siena“ gehabt. Was er damals nicht verstanden hatte, leuchtete ihm nun vollkommen ein.

Am Fuß des Hügels, auf dem sich die Stadt auftürmte, war für den privaten Verkehr Schluss. Nur mit einer Sondergenehmigung durfte man weiterfahren. Auf dem Parkplatz glitzerten tausende Autodächer in der Sonne. Auch die Seitenstreifen waren zugeparkt. Eine endlose Schlange von Besuchern quälte sich schwitzend die steile Straße den Berg hinauf. Zum Glück hatten die offiziellen Shuttle-Busse die Erlaubnis bis an den Stadtrand zu fahren. Doch dort war dann auch für sie Schluss: sie mussten wenden und wieder hinunterfahren.

Die Menschenströme machten es dem Busfahrer nicht leicht. Immer wieder drückte er auf die Hupe und gestikulierte wild, damit sie den Weg freigaben. Meist schimpften sie und fuchtelten verärgert mit den Armen, manche winkten aber auch und wollten mitgenommen werden. Für den letzten Kilometer brauchten sie fast so lang, wie für die gesamte Anfahrt. Als sich die Bustüren endlich zischend öffneten, raubte ihnen die heiße Luft den Atem. Der Fahrer plapperte beim Aussteigen fröhlich auf sie ein, doch Walter verstand kein Wort. Das rote T-Shirt des Mannes hatte unter den Achseln ausladende Schweißflecken, in der Mitte prangte das Logo von Ferrari. Das erklärt den Fahrstil, dachte Walter.

„Ich hätte nicht gedacht, dass es noch voller werden könnte“, seufzte Liesl beim Anblick der Menschenmassen. An den vergangen zwei Tagen hatten sie sich die Stadt angeschaut. Schon da hatte es bei den Sehenswürdigkeiten kein Durchkommen gegeben. Sie waren auch zu einem der Proberennen auf die Piazza del Campo gegangen, hatten aber nur einen schlechten Platz ergattern können und kaum etwas vom Rennen mitbekommen. Heute würde das anders sein. Sie hatten reservierte Plätze auf einer der Tribünen außerhalb der Rennstrecke. Walter wollte gar nicht wissen, was Liesl dafür ausgegeben hatte.

„Wir müssen hier entlang“, rief Liesl mit Blick auf ihr Handy, das den kürzesten Weg zu ihrem Treffpunkt mit Andrea und Hannes anzeigte.

Teils liefen sie im Strom der Massen mit, manchmal dirigierte sie die App aber auch in Gassen, die so schmal waren, dass sie hintereinander laufen mussten. Einmal hatte Walter das Gefühl, einen privaten Innenhof zu durchqueren, doch die Menschen, denen sie begegneten, nickten ihnen freundlich zu.

Schon nach ein paar Abzweigungen hatte Walter die Orientierung verloren und verließ sich blind auf Liesls Navigations-App. Immer wieder bogen sie in neue Seitenstraßen ein, bis sich plötzlich ein kleiner Platz vor ihnen auftat. Im Schatten der Häuser standen Andrea und Hannes und winkten ihnen zu.

„Da seid ihr ja endlich“, begrüßte sie Andrea. „Wir hatten schon Angst, ihr schafft es nicht mehr.“

Walter wischte sich mit seinem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn.

„Bei den Menschenmassen kommt man kaum mehr durch. Wie sieht‘s bei euch aus? Ich könnte ein kühles Bierchen vertragen.“

Alle nickten, nur Hannes schüttelte frustriert den Kopf.

„Ich denke, das wird schwierig“, sagte er mit seinem Bad Tölzer Dialekt. „Jede Kneipe, an der wir vorbeigekommen sind, war voll.“

Walter und Liesl hatten die gleiche Beobachtung gemacht.

„Ja Herrgott … hier wird es doch wohl irgendwo ein kaltes Bier geben?“

Eine grelle Fahrradklingel ließ Walter herumfahren. Aus einer der Gassen fuhr ein Lastenfahrrad auf den Platz. Auf der großen Box vor dem Lenker stand „Gelatti & Birra Moretti“.

„Dein Gebet wurde erhört“, lachte Liesl. „Die Wege des Herrn sind … naja … einfallsreich.“

„Ich mache das“, preschte Walter vor. „Jeder ein Bier?“

Alle nickten.

Als Walter vor dem Verkäufer stand, überlegte er, wie er ihm klarmachen konnte, was er wollte. Liesl hatte sich vor ihrer Reise mit Hilfe einer App ein paar Grundlagen der italienischen Sprache angeeignet. Walter hatte ihr oft zugehört. Dabei hatte er das Gefühl gehabt, dass es in vielen Fällen reichte, einfach ein „o“ oder ein „a“ an ein deutsches Wort zu hängen. Der Beweis für seine Theorie stand auf der Box des Lastenfahrrads: „Birra“. Man nehme „Bier“ und hänge ein „a“ an. Zwar war die Schreibweise nicht korrekt, doch wen interessierte das?

Die Zahlen von eins bis zehn konnte Walter, auch wenn er nicht wusste woher.

„Ähm … also … io … wollo … quattro biera“, bestellte er.

Der junge Mann strahlte ihn an.

„Si Signore, no Problemo!!!“

Na also, kein Problem, freute sich Walter. Erneut fühlte er sich mit seiner Theorie über die italienische Sprache bestätigt.

Der Verkäufer öffnete die Klappe seiner Kühlbox und schob ein paar Dosen beiseite. Walter beobachtete ihn dabei. Da kam ihm der Gedanke, dass dieser pfiffige Italiener bestimmt ein paar besonders kühle Bierdosen für spezielle Kunden bereit hielt. Den normalen Touristen drehte er nur die halb warmen an.

Nicht mit mir, dachte Walter. Er wollte die Premiumware.

„Äh … Momento … io wollo … Biera … kalto …“

Der Verkäufer sah ihn verdutzt an.

„Caldo?“

Walter nickte. „Si si si!“, sagte er bestimmt. „Biera kalto … molto kalto!“

Der junge Mann sah ihn verdutzt an, zuckte dann aber mit den Schultern und öffnete eine andere Klappe. Er hielt zwei Dosen mit unterschiedlicher Aufschrift hoch und sah Walter fragend an. Walter entschied sich für die buntere Dose. Die Biersorte war ihm egal. Hauptsache es war kalt. Der Verkäufer packte vier Dosen in eine dünne Plastiktüte.

„Äh … kosta?“

„Venti Euro“, sagte der Mann und hielt zwei Finger hoch.

Walter war verblüfft: wollte er wirklich nur zwei Euro für die vier Bier? Er schüttelte den Kopf. Bestimmt hatte er ihn falsch verstanden. Er kruschtelte im Münzfach seines Geldbeutels, zog dann aber einen Zwanzigeuroschein heraus.

„Grazie mille“, strahlte der junge Mann und wandte sich von ihm ab, um den nächsten Kunden zu bedienen.

„Scheißendreckn“, knurrte Walter. Fünf Euro für ein Bier? Das grenzte an Raubrittertum. Naja, wenigstens war es kalt. Molto kalto.

Zerknirscht ging er zu den anderen zurück. Er drückte Hannes die Tüte in die Hand.

„War gar nicht so einfach, aber so ein bisschen italienisch kann ich dann ja doch.“

Jeder nahm sich eine Dose aus der Tüte. Nacheinander machten Hannes, Andrea und Liesl ein langes Gesicht. Erst als Walter die letzte Dose herausnahm, verstand er ihre Reaktion.

Das Bier war lauwarm.

„Also das ist jetzt … na … der hat mich beschissen! Fünf Euro hat der mir pro Bier abgenommen und dann kriege ich warme Plörre? Dabei hab ich kaltes bestellt … sogar MOLTO KALTO“, betonte Walter.

Liesl lachte auf. „Das hast du nicht wirklich, oder?“

„Natürlich“, beharrte Walter. Nun lachten auch Andrea und Hannes.

„Caldo … das heißt auf italienisch „warm““, erklärte Andrea. „Und dann noch „molto“ … du hast bei dem Mann sehr warmes Bier bestellt.“

Walter verstand die Welt nicht mehr. „Ja aber … kalt … und dann noch ein „o“ hinten dran … das muss doch …“

Liesl stupste ihn mit dem Ellenbogen in die Seite.

„Das funktioniert leider nicht immer.“ Sie gab ihm einen Kuss. „Aber bei großer Hitze sollen warme Getränke eh gesünder sein.“

Das Bier war so warm, dass keiner von ihnen bemerkte, dass Walter die alkoholfreie Sorte gewählt hatte.

Leider hatten sie auch zum Mittagessen in keinem der Restaurants einen Platz bekommen. Nachdem sie fast eine Stunde gesucht hatten, machten sie an einem Imbiss halt, der Pizzaecken zum Mitnehmen verkaufte. Diesmal bestand Hannes darauf, den Einkauf zu übernehmen. Sie hatten Glück: nur wenige Meter weiter wurde eine Bank frei, auf der sie zu viert Platz hatten. Hungrig aßen sie die Pizza und tranken das eiskalte Bier.

„Zum Glück haben wir für heute Abend reserviert“, raunte Hannes. „Die Trattoria wird euch gefallen. Klein, urig und ein bisschen abseits. Wir waren da gestern schon. Ach ja … es kommt noch ein befreundetes Ehepaar mit. Ich hoffe, das stört euch nicht?“

Liesl schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Ist doch schön, wenn wir noch zwei mehr sind.“

Nachdem sie aufgegessen hatten, blieben sie noch eine Weile sitzen, um sich auszuruhen und beobachteten die Menschenmassen, die an ihnen vorbeizogen. Die meisten trugen bunte Tücher in den Farben ihrer Contrade, manche hatten sogar Fahnen mit den entsprechenden Wappen darauf. Beim Palio treten die einzelnen Stadtteile Sienas gegeneinander an. Aus Platzgründen können aber nur zehn der siebzehn Contraden teilnehmen. Das sind dann die sieben, die beim letzten Rennen aussetzen mussten, plus drei weitere, die per Los ausgewählt werden. Vor dem Rennen gibt es einen historischen Umzug durch die Stadt und der Einzug der Teilnehmer wird am Piazza del Campo von fast hunderttausend Zuschauern gefeiert. Das zieht sich über Stunden hin. Das eigentliche Rennen ist dann recht schnell vorbei: die Reiter absolvieren gerade mal drei Runden. Nach anderthalb Minuten steht der Sieger fest, der dann die ganze Nacht gefeiert wird.

„Die Leute gehen schon Richtung Piazza del Campo“, stellte Liesl fest.

Am Vormittag hatten sich die Menschen in allen Richtungen aneinander vorbeigeschoben, nun hatten sie alle die gleiche Richtung eingeschlagen.

„Wir sollten um fünf auf unseren Plätzen sein, sonst werden sie an andere weitergegeben“, gab Liesl zu bedenken. „Was meinst du, wie lange wir bis zur Piazza brauchen?“

Walter sah nachdenklich auf die langsam vorbeiziehenden Menschen. Da er keine Ahnung hatte, wo sie sich genau befanden, konnte er die Zeit unmöglich abschätzen.

„Zeig mir mal auf dem Handy, wo wir gerade sind“, bat er Liesl.

Als sie die Karte mit ihrem aktuellen Standort aufgerufen hatte, zoomte Walter etwas heraus und versuchte die Distanz zu schätzen. Das erwies sich als kompliziert, da es keinen geraden Weg zur Piazza gab.

„Bei dem Tempo, kann das eine Weile dauern. Vielleicht sollten wir demnächst aufbrechen.“

Andrea und Hannes sahen das genauso. Ihre Plätze lagen in einem ganz anderen Teil der Tribünen. Sie schickten Liesl die Koordinaten der Trattoria, in der sie den Tisch reserviert hatten und machten sich getrennt auf den Weg zur Piazza del Campo.

Mit jedem Meter, mit dem sie sich ihrem Ziel näherten, wurde das Gedränge dichter. Walter und Liesl kamen nur noch schrittweise voran, doch endlich erreichten sie den richtigen Eingang. Sie zeigten ihre Karten vor und betraten die Holztribüne, kämpften sich nach oben durch, stiegen über Beine und Rucksäcke, bis sie ihre Plätze erreicht hatten und sich erschöpft hinsetzten. Staunend blickten sie sich um. Es waren wirklich die besten Plätze. Sie überblickten die gesamte Piazza. Unten, im von der Rennbahn eingeschlossenen Feld, standen tausende von Zuschauern dicht gedrängt und es strömten immer noch Massen hinein. Das Gebäude hinter ihrer Tribüne schirmte sie gegen die Sonne ab, trotzdem schien der Platz zu glühen.

Rundum drängten sich die Zuschauer an der Absperrung zur Rennstrecke. Die Tribünen der Contraden leuchteten in den Farben ihres Stadtteils und meterlange Fahnen wurden geschwungen.

„Mal sehen, ob sie pünktlich sind“, murmelte Walter mit einem Blick auf die Uhr, doch schon kurz darauf vernahm er das Trommeln der Prozession. Zwischen den Menschenmassen tat sich eine Schneise auf und der Festzug marschierte auf die Piazza. Vorweg liefen Fahnenträger in historischen Uniformen, gefolgt von den Teilnehmern des Rennens. Jedem ging ein Fahnenträger mit der Flagge seiner Contrade voraus, Stallburschen führten die Pferde am Halfter. Einige tänzelten nervös und brachen immer wieder aus der Reihe aus, so dass die Führer ihre liebe Mühe hatten, sie wieder auf Kurs zu bringen.

Die Prozession lief einmal um die gesamte Rennstrecke. Jeder einzelne Teilnehmer und sein Pferd wurden über die Lautsprecher vorgestellt und jedes Mal ertönte der Applaus der zugehörigen Contrade.

Walter betrachtete die Wappen der Stadtteile auf den Fahnen. Den Adler, den Drachen oder auch das Einhorn fand er für ein Pferderennen ganz passend. Etwas seltsam fand er die Giraffe, die Gans und das Stachelschwein. Die Raupe und die Muschel fand er eher unpassend.

Walter verstand nicht, was der Sprecher in sein Mikrofon rief, doch es musste eine Art Anfeuerung sein, denn immer, wenn er eine kurze Pause machte, grölte das Publikum in voller Lautstärke.

Die Reiter kamen nun mit ihren Pferden in den Start- und Zielbereich, wo ein dickes Seil über die Rennstrecke gespannt war. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern. Walter spürte, wie sein Puls hoch ging und griff nach Liesls Hand. Kurz blickten sie sich in die Augen und küssten sich flüchtig.

„Schönes Palio“, rief Liesl über den Lärm hinweg und sah wieder hinunter.

Die Teilnehmer versammelten sich in einer ungleichmäßigen Reihe vor dem Seil. Mehrmals brach eins der Pferde aus der Formation aus und alle mussten warten, bis es wieder an seinem Platz war. Die Spannung stieg ins Unermessliche. Das spürten auch die Tiere und tänzelten nervös auf der Stelle. Dann befanden sich endlich alle Pferde auf gleicher Höhe und der Rennleiter gab die Bahn frei. Das Seil lag noch nicht am Boden, als die ersten schon im gestreckten Galopp davonpreschten. Das Tempo war atemberaubend. Da die Piazza nicht rund war, sondern eher muschelförmig, hatte die Rennstrecke zwei fast rechtwinklige Kurven und zwei etwas langgezogene. Jedes Mal mussten die Reiter das Tempo zurücknehmen. Schon in der ersten engen Kurve stürzte einer der Teilnehmer von seinem Pferd. Blitzschnell rollte er sich an den Rand der Rennbahn, um von den nachfolgenden Pferden nicht niedergetrampelt zu werden. Sein Pferd schien das nicht weiter zu stören und galoppierte beherzt weiter. Es lag sogar an zweiter Stelle. Die Regeln des Palio besagten, dass ein reiterloses Pferd sogar gewinnen konnte, wenn es als erstes über die Ziellinie kam.

Schon war die erste Runde vorbei und eine Dreiergruppe hatte sich einige Meter abgesetzt. Die Zuschauer tobten, als sie auf der langen Geraden Vollgas gaben und den Abstand weiter vergrößerten. Walter wunderte sich, dass nicht mehr Reiter von ihren Pferden fielen. Beim Palio gab es keine Sättel.

Ein Teilnehmer aus der Nachzüglergruppe wurde plötzlich immer langsamer und lenkte sein Pferd zum Ausgang. Sogar Walter erkannte, dass es lahmte. Doch die anderen ließen sich davon nicht beirren und gingen in die zweite Runde. Ein besonders mutiger Reiter nahm eine der engen Kurven so rasant, dass er mehrere Meter gutmachte und zur Führungsgruppe aufschloss, die nun aus vier Teilnehmern bestand. Auch das reiterlose Pferd war unter ihnen.

Kopf an Kopf überquerten sie die Ziellinie und rasten in die dritte und letzte Runde. Das Publikum wurde nun noch lauter. Sogar Walter und Liesl jubelten den Reitern zu, die nun alles aus ihren Pferden herausholten. Aus einem nicht ersichtlichen Grund verlor das reiterlose Pferd aber plötzlich die Lust an der Raserei und fiel zurück. Dabei versperrte es einem anderen Teilnehmer die Ideallinie, der dadurch den Anschluss zur Führungsgruppe verlor. Nun war es ein Mann gegen Mann Rennen. Die beiden Reiter schossen gleichauf auf die Ziellinie zu, doch der eine schaffte es, dass sich sein Pferd noch etwas streckte und seinen Galopp verstärkte, was ihm die entscheidenden Zentimeter an Vorsprung einbrachte.

Der Sieger stand fest. Während die nachfolgenden Teilnehmer noch unterwegs waren, stürmten schon die ersten Zuschauer auf die Bahn und umringten den Sieger. Sie warfen ihm bunte Schals zu und legten eine riesige Fahne der siegreichen Contrade über den Pferderücken.

Als Walter das Wappentier sah musste er grinsen: es war die Raupe. Wer hätte das gedacht.

Während die meisten Zuschauer nach unten auf die Piazza drängten, kämpften sich Walter und Liesl zum Ausgang durch. So hatten sie einen Vorsprung vor den Massen, die sich dann später auf ganz Siena verteilen würden.

Liesl nutzte erneut die Navigations-App auf ihrem Handy und lotste sie in Richtung des Lokals, in dem sie Abendessen wollten. Als sie aus einer schmalen Gasse auf einen Platz einbogen, stießen sie fast mit Andrea und Hannes zusammen.

„Das war der Wahnsinn“, keuchte Andrea. Ihre Augen leuchteten und ihre Wangen glänzten rot. „Ich hätte nicht gedacht, dass mich das Rennen so packt!“

Liesl nickte überschwänglich. „Geht mir genauso. Ich bin total durchgeschwitzt und mein Puls liegt, glaube ich, immer noch bei hundertachtzig.“

Plappernd setzten sie ihren Weg gemeinsam fort.

„Wer hätte gedacht, dass die Raupe gewinnt“, scherzte Walter. „Ich war ja für das Pferd ohne Reiter. Ich finde, es hat seine Sache gut gemacht.“

„Das war das Einhorn“, wusste Hannes. „Es wäre der Hammer gewesen, wenn es gewonnen hätte.“

„Müssen wir wirklich da durch?“, fragte Liesl plötzlich und zeigte auf eine winzige Gasse. Eher nur ein Spalt im Mauerwerk.

Andrea nickte. „Das ist der Zugang von dieser Seite. Auf der anderen Seite gibt es eine breitere Straße, aber das wäre ein Riesenumweg.“

Hintereinander schoben sie sich in die Gasse, die zu beiden Seiten von meterhohen Hausmauern begrenzt wurde. Es war dunkel, nur weit über ihnen war ein schmaler Streifen des Himmels zu sehen. Unbewusst suchte Walter nach einem Lichtschalter.

Zum Glück kam ihnen niemand entgegen. Nach einigen Metern weitete sich die Gasse zu einem hübschen Innenhof. Zu allen Seiten ragten Hauswände im typischen Braunton der Stadt empor. Die Pflastersteine auf dem Boden waren von unzähligen Füßen glattpoliert und glänzten feucht. Offensichtlich hatte man sie vor kurzem abgespritzt. Große Olivenbäume in terrakottafarbenen Töpfen säumten den Weg zum Restaurant.

„Trattoria la Telina“, stand auf dem großen Schild über der Eingangstür.

Als sie eintraten, empfing sie eine angenehme Kühle. Die dicken Natursteinwände des Gebäudes machten eine Klimaanlage unnötig. Die gewölbte Decke wurde von Rundbögen getragen, wie man es eher in einem alten Keller erwartet hätte. Die zahlreichen Tische waren ordentlich eingedeckt und auf jedem stand ein kleines Messingschild: „Riservato“.

Alle Tische waren leer, nur an einem ungedeckten, runden Holztisch im hinteren Bereich saßen zwei alte Männer und rauchten zum geöffneten Fenster hinaus.

Wie aus dem Nichts stand plötzlich eine kleine, rundliche Frau vor ihnen und stemmte die Arme in die Hüften.

„Avete riservato?“, fragte sie mit mürrischem Gesichtsausdruck.

„Sie fragt, ob wir reserviert haben“, übersetzte Liesl leise und Hannes nickte.

„Si, si!“ Er nannte seinen Namen, die Personenanzahl und die Uhrzeit ihrer Reservierung.

Die Wirtin schien mit seinen Angaben zufrieden, wirkte aber immer noch skeptisch. Mit einem Seufzer ging sie voraus und zeigte auf einen Ecktisch.

„Vi sta bene qui?“

„Ob der Tisch in Ordnung ist?“, dolmetschte Liesl wieder.

Alle nickten. Die Wirtin wartete bis sie Platz genommen hatten und baute sich vor ihnen auf.

„Vi porto già qualcosa da bere? Così vengo una volta di meno!“

„Sie will wissen, was wir trinken wollen, damit sie nicht zweimal laufen muss“, erklärte Liesl.

Andrea und Hannes bestellten einen Liter vom Hauswein, Walter und Liesl ein Bier.

Liesl grinste. „Ich habe extra kaltes Bier bestellt. Das heißt dann übrigens „fredo“.“

Noch vor den Getränken brachte die Wirtin die Speisekarte. Eine folierte DIN A 4 Seite mit Soßenflecken und geknickten Ecken.

„Übersichtlich“, bemerkte Walter.

„Strukturiert“, kommentierte Hannes.

„Eher einfach“, murmelte Andrea.

„Genau das Richtige“, freute sich Liesl.

Nur fünf Gerichte standen auf der Karte: Insalata della Maria, Spaghetti della Maria, Pizza della Maria, Tagliatelle della Maria und Medaglioni della Maria.

„Ich kann nur raten, wer diese Maria ist“, lächelte Walter.

„Si. Sono io Maria“, sagte die Wirtin und stellte ihr Tablett auf den Tisch. Die Weinkaraffe stellte sie mit zwei Gläsern vor Hannes und Andrea, Walter und Liesl bekamen das Bier. In der Flasche.

„Ich dachte der Hauswein wäre rot“, sagte Hannes und zeigte auf die Karaffe. „Vino … äh … rosso?“

Die Wirtin lachte. „Tanto quando andrai al bagno non noterai alcuna differenza!“

Liesl wurde rot, als sie übersetzte: „Sie meint, du merkst den Unterschied beim Pinkeln eh nicht mehr!“

Dass sie für das Bier kein Glas bekamen, störte Walter nicht, doch die Flasche war kaum kälter als die Raumtemperatur, weit entfernt von kalt.

„Biera … no … äh … fredo …“, versuchte Walter sich verständlich zu machen und erntete einen frostigen Blick der Wirtin.

„Più fredda di così proprio non va“, sagte sie mit verschränkten Armen. „Se vuoi una bella birra fredda, passa d‘inverno!“

Liesl hielt sich prustend die Hände vor den Mund. Sie brauchte einen Moment, bevor sie übersetzen konnte.

„Sie meint, kälter geht es gerade nicht. Wenn du ein richtig kaltes Bier willst, sollst du im Winter wieder kommen!“

Verdutzt blickte Walter die Wirtin an, die ihn herausfordernd ansah. Ihm wurde warm ums Herz. Er empfand eine wohlige Vertrautheit. Nach dem ganzen Trubel des Tages, spürte er ein Gefühl von Geborgenheit in sich aufsteigen. Ein bisschen wie zu Hause, dachte er, und lächelte glücklich.

„Grazie, Maria“, bedankte er sich ehrlich.

Die Wirtin hatte mit einer anderen Reaktion gerechnet, zuckte aber nur mit den Schultern und nahm die Essensbestellung auf.

„Was ist denn eigentlich mit euren Freunden?“, fragte Liesl. „Zwei Plätze sind noch frei.“

„Sie haben schon gesagt, dass sie etwas später kommen. Sie wollten noch die Siegerehrung anschauen und sich ein wenig unters Volk mischen.“

„Sind das gute Freunde von euch?“

Andrea schüttelte den Kopf.

„Wir haben Tatjana und Sven im Hotel kennengelernt. Sie sind ganz nett und haben nach Anschluss gesucht, da haben wir in der Hotelbar was zusammen getrunken.“

Plötzlich knuffte Andrea ihrem Mann den Ellbogen in die Rippen.

„Verkneif dir dieses dümmliche Grinsen“, zischte sie. Als sie Liesls fragenden Blick sah, hob sie entschuldigend die Hände.

„Man muss vielleicht dazu sagen, dass Tatjana eine etwas … nun ja … außergewöhnliche Frau ist.“

Sie sah zu Hannes, der eifrig nickte. Andreas Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Sogar mein lieber Mann ist ihr sofort verfallen.“

Sie hatte zwar „mein lieber Mann“ gesagt, doch man hörte deutlich, dass sie es nicht lieb gemeint hatte.

War da Eifersucht im Spiel?, überlegte Walter.

„Aber das werdet ihr ja gleich selber erleben“, sprach Andrea weiter. „Ich glaube, sie kommen gerade.“

Sie drehten die Köpfe und sahen zum Eingang. Eine Gruppe junger Italiener kam herein. Sie trugen Scherpen in den Farben ihrer Contrade und plapperten wild durcheinander. Bei genauerem Hinsehen stellte Walter fest, dass die Männer nicht durcheinander, sondern auf jemanden einredeten. Wie ein Bienenschwarm, der eine Traube um seine Königin bildet, umschwirrten die jungen Männer eine wunderhübsche Frau. Walter schätzte sie auf ungefähr dreißig Jahre. Sie war groß, hatte lange blonde Haare und eine außergewöhnliche Figur, die von ihrem leichten Sommerkleid noch betont wurde. Doch es war vor allem ihre Ausstrahlung, die sie aus der Gruppe herausstrahlen ließ, wie ein Komet am dunklen Nachthimmel. Sie lachte breit mit schneeweißen Zähnen und ihre Augen funkelten ihre Begleiter an. Mal diesen, mal jenen, aber immer mit einem Ausdruck, der Walter sogar auf die Distanz trocken schlucken ließ.

Plötzlich drängte ein kleiner Mann die Horde der Verehrer zur Seite und legte besitzergreifend seinen Arm um die Frau. Er gestikulierte grimmig und bahnte sich einen Weg aus der Gruppe heraus. Obwohl Walter die Männer nicht verstand, hörte er die Enttäuschung in ihren Rufen, als sie sich im Lokal verteilten.

„Da seid ja endlich“, begrüßte Hannes das Paar und umarmte die Frau. Andrea kniff die Augen zusammen und gab beiden die Hand.

„Das sind Tatjana und Sven“, stellte Hannes die beiden vor, als er widerwillig die Umarmung gelöst hatte. „Und das sind Walter und Liesl.“

Tatjana gab Walter die Hand und blickte ihm tief in die Augen. Walter starrte wie gebannt zurück und vergaß zu atmen. Als sich Liesl neben ihm vernehmlich räusperte, zuckte er zurück und ließ Tatjanas Hand los.

„Ähm … es freut mich … also … es freut mich, dich kennenzulernen“, stammelte er und blickte verlegen zur Seite. Liesl schüttelte nur den Kopf. Auch sie gab Tatjana die Hand und wurde von ihrem kräftigen Händedruck überrascht.

„Ich bin Liesl.“ Sie gab auch Sven die Hand, der bei dem Versuch ein freundliches Lächeln zu zeigen, scheiterte. Es wirkte eher gezwungen und aufgesetzt.

„Ich bin Sven. Sehr nett, dass wir uns zu euch gesellen dürfen“, sagte er trotzdem und zog für Tatjana galant einen Stuhl zurück.

Während sie auf ihr Essen warteten, füllte sich die Trattoria. Nach kurzer Zeit waren alle Tische belegt, doch noch immer drängten Gäste herein, die sich einfach irgendwo dazusetzten. Dabei hatte Walter das Gefühl, dass sich alle kannten. Die Wirtschaft schien der Treffpunkt einer bestimmten Contrade zu sein, denn alle trugen Scherpen in derselben Farbe.

„Das sind die mit dem Einhorn auf der Fahne“, erriet Hannes seine Gedanken und zeigte auf einen kleinen Mann, der gerade von zwei Männern auf den Schultern hereingetragen wurde.

„Der Jockey. Obwohl er am Ende nur vierter geworden ist, feiern sie ihn wie einen Sieger.“

„Das Pferd“, korrigierte Walter und Hannes sah ihn fragend an. „Na, das Pferd ist vierter geworden. Der Jockey ist ja gleich am Anfang runtergefallen. Ich hoffe, er hält sich auf den Schultern der beiden besser.“

Kaum hatte Walter es ausgesprochen, da strauchelte einer der Träger und mit einem dumpfen Schlag ging der Jockey zum zweiten Mal an diesem Tag zu Boden.

Walter grinste.“Scheint nicht sein Tag zu sein.“

Trotz des Andrangs servierte Maria schon nach wenigen Minuten das Essen. Walter hatte sich für die Spaghetti della Maria entschieden. Er bekam große Augen, als er den riesigen Berg Nudeln in dem tiefen Teller sah. Es duftete köstlich nach Kräutern und Knoblauch. Erst jetzt erinnerte sich Walter daran, dass auf der Karte gar keine Preise gestanden hatten und bekam ein wenig Angst wegen der Rechnung. Egal, sagte er sich, es ist Urlaub. Er wollte sich wegen ein paar Euro nicht den Appetit verderben lassen.

„Oh köstlich“, schwärmte Liesl neben ihm, als sie die erste Gabel Tagliatelle in den Mund schob.

„Das kriegen sie zu Hause einfach nicht so hin.“

Da Walter den Mund voll hatte, nickte er nur.

Unter großem Jubel betraten drei Männer mit Gitarren die Wirtschaft. Sie durchquerten die gesamte Gaststube und kletterten am anderen Ende auf einen Tisch. Einer rief etwas in die Menge, dann begannen sie zu spielen. Walter hatte das Lied noch nie gehört, doch die Gäste stimmten sofort ein und grölten lauthals mit.

„Ist wohl sowas wie die Hymne ihrer Contrade“, schrie Hannes in Walters Ohr.

Beim letzten Akkord jubelten die Gäste und reckten eine geballte Faust nach oben. Dann der Applaus, und sofort stimmten die drei Musikanten das nächste Lied an.

„Volare, oh oh … cantare oh oh oh …“

Dieses Lied kannte Walter und summte fröhlich mit, während er weiter Spaghetti auf seine Gabel drehte. Wieder sang das ganze Lokal mit. Die Menschen lagen sich in den Armen und schunkelten und tranken ein Glas nach dem anderen. Die Stimmung wurde immer ausgelassener, nur Marias Miene verfinsterte sich zunehmend, da sie mit ihrem Tablett kaum mehr durchkam.

Ein junger Italiener hatte sich zu Tatjana durchgekämpft und redete auf sie ein. Walter hörte Worte wie „bella Signorina“ und „danza“. Nach seiner Theorie über die italienische Sprache bedeutete das, dass er mit Tatjana tanzen wollte.

„Verschwinde! Lass sie in Ruhe!“, ging Sven sofort dazwischen und drückte den Mann weg, der sich mit einer unverständlichen Schimpftirade abwandte.

Walter schüttelte unmerklich den Kopf. Sven war offensichtlich sehr eifersüchtig. Er fragte sich, ob das bei einer Frau wie Tatjana automatisch kam. Er sah sich um und entdeckte einige Männer, die Tatjana ganz unverhohlen anstarrten. Tatsächlich erwischte er sich selbst dabei, wie er sie immer wieder beobachtete. Sie war bereits im Gespräch mit dem nächsten Verehrer und lachte ihn mit leuchtenden Augen an. Sven wollte gerade dazwischen gehen, als die Musik wieder einsetzte. Es war der Klassiker „Azzurro“, und nachdem einer der Musiker etwas gerufen hatte, fassten sich alle an den Schultern und setzten sich in Bewegung. Walter brauchte einen Moment, bis er begriff, dass es eine Polonaise war, die sich nun durch das Lokal schob. In einem kurzen Moment der Unachtsamkeit, wurde Tatjana von einem jungen Mann mit auffälligem Schnauzbart an den Schultern gepackt und der Polonaise einverleibt.

„Verdammt!“, keifte Sven und hielt nach seiner Frau Ausschau, doch sie war schon in der Menge verschwunden.

„Nicht aufregen“, versuchte Walter ihn zu beruhigen. „Die taucht schon wieder auf.“

„Du hast ja keine Ahnung“, rief Sven. Panik lag in seiner Stimme. Seine Augen durchsuchten hektisch den Raum, doch er konnte Tatjana nicht entdecken.

„Ich muss sie finden“, beschloss er und legte fünfzig Euro auf den Tisch.

„Für das Essen und die Getränke. Falls es länger dauert.“

Und schon war er in der Menge verschwunden.

Nach und nach wurde es in der Trattoria ruhiger. Die Musiker waren weitergezogen und auch die ersten Gäste hatten sich auf den Heimweg gemacht. Tatjana und Sven waren nicht wieder aufgetaucht.

„Was für ein wundervoller Abend“, seufzte Andrea und legte ihren Kopf auf die Schulter ihres Mannes. „Das alles mitzuerleben war so … so …“

„Einzigartig?“, versuchte Walter zu helfen und Andrea nickte.

„Wobei, es war sogar mehr als das. Einzigartig, besonders, beeindruckend … ich werde diesen Urlaub bestimmt nie vergessen.“

Ich auch nicht, dachte Walter und nahm Liesl in den Arm. Mit dieser Reise - ihrer Hochzeitsreise - hatte sie ihm das schönste Geschenk gemacht, dass er sich vorstellen konnte. Er hätte noch stundenlang so sitzen bleiben können, doch ganz allmählich stieg die Müdigkeit in ihm auf. Er sah auf die Uhr.

„Ja Scheißndreckn!“, fluchte er. „Es ist schon halb drei!“

Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal so lang wach geblieben war. Er dachte an den Weg bis zur Bushaltestelle und die Rückfahrt ins Hotel. Wenigstens fuhr der Shuttle-Bus beim Palio bis morgens um vier.

„Ich glaube, wir sollten allmählich mal zahlen.“

Die anderen nickten und Walter winkte die Wirtin herbei. Maria schrieb die einzelnen Posten auf einen Zettel und zeigte mit dem Finger auf den Endbetrag. Walters Augen wurden groß. Er hatte im Kopf grob überschlagen, mit was er rechnen musste, doch die Zahl auf dem Zettel lag bei weniger als der Hälfte. Ungläubig sah er die Wirtin an, die bestätigend nickte und mit dem Finger nochmal auf die Zahl tippte. Walter fischte ein paar Scheine aus seinem Geldbeutel und legte noch fünf Euro Trinkgeld drauf.

„Grazie mille“, entgegnete die Wirtin erfreut und kam kurz darauf mit einem kleinen Tablett zurück. Darauf standen vier Sprudelgläser, die zur Hälfte mit Grappa gefüllt waren.

„Offre la casa“, lächelte sie.

Eine Viertelstunde später verzogen sie die Gesichter, als sie den letzten Schluck nahmen und sich erhoben. Hannes musste Andrea seinen Arm leihen, damit sie sicher zum Stehen kam. Der Grappa hatte unangenehme Auswirkungen auf ihren Gleichgewichtssinn. Auch Walter spürte den Alkohol.

Auf der Türschwelle drehte er sich noch mal um und winkte der Wirtin zu.

Maria lachte. „Tante belle cose, non te la prendere e torna a trovarmi!“

Liesl nuschelte Walter beschwipst die Übersetzung ins Ohr: „Macht es gut, nehmt mir nichts übel und kommt mal wieder!“

Sie hatten bewusst keinen Wecker gestellt, schließlich waren sie ja im Urlaub. Trotzdem schreckte Walter hoch, als er auf die Uhr schaute. Kurz vor halb elf. Das schnelle Aufrichten quittierte sein Kopf mit einem wummernden Schmerz hinter den Schläfen.

„Guten Morgen, Langschläfer“, begrüßte ihn Liesl, als er in die Küche tapste. Doch auch sie klang nicht überzeugend.

„Der Grappa ist schuld“, war sich Walter sicher.

Liesl nickte verhalten. „Ganz bestimmt. Oder eins von den fünf Bieren … oder der Weißwein … oder der Rotwein … könnte auch an dem Aperol-Spritz gelegen haben.“

Walter konnte gar nicht glauben, dass sie das alles getrunken hatten, doch das Kopfweh bestätigte Liesls Aufzählung.

Es war ihr letzter Tag in Siena und sie hatten mit Andrea und Hannes den Besuch einer etruskischen Ausgrabung vereinbart. Hannes hatte dafür extra ein Auto gemietet. Als Walter nun an die rund einstündige Autofahrt dachte, wurde ihm übel. Doch nach dem zweiten Kaffee und einem stattlich belegten Panini, ging es ihm deutlich besser. Sogar die Kopfschmerzen waren weg.

Ein Fiat 500 war der einzige kurzfristig verfügbare Mietwagen gewesen. Ein schickes Auto - keine Frage - aber für vier Erwachsene doch ein bisschen klein. Die unterdimensionierte Klimaanlage kämpfte gegen die zweiunddreißig Grad Außentemperatur.

„Habt ihr Tatjana und Sven nochmal gesehen?“, wollte Liesl wissen.