Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Bei Baggerarbeiten zum Bau des neuen Musikheims in Taldorf werden menschliche Knochen gefunden. Schnell wird klar, dass die Überreste dort schon mehrere Jahre im Boden lagen. Doch: niemand wird vermisst und die Identifizierung der Leiche scheint unmöglich. Zeitungsausträger Walter und seine Freunde von der Polizei brauchen viel Geduld um den Mord aufzuklären. Auch bei der Goschamarie läuft nicht alles rund: die Behörden bemängeln ihre Sanitären Anlagen im Lokal. Findet sie nicht schnell eine Lösung droht die Schließung. Doch bis es soweit kommt trifft sich das ganze Dorf weiterhin in der verrauchten Gaststube und feiert mit viel Bier, Schnaps aus Sprudelgläsern und der legendären Vesperplatte. Auch der dritte Taldorfkrimi bietet viele Schmunzelmomente und neue Anekdoten von der Goschamarie. Außerdem geht es auf eine Zeitreise in die Frühzeit des Dorfes.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 407
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Goschamarie
Der letzte Abend
Der dritte Taldorf-Krimi
Impressum
Texte: © Copyright by Stefan Mitrenga 2020Umschlaggestaltung: © Copyright by Stefan Mitrenga 2020Korrektur: Claudia Kufeld, Kierspe
Verlag:Stefan MitrengaBodenseestraße 1488213 [email protected]
Vorwort
Taldorf - am westlichen Rand des Landkreises Ravensburg. Ein Dorf wie viele andere in Oberschwaben. Wirklich wie viele andere? Heute schon, doch bis in die Neunziger strömten die Menschen von überall her, um im Gasthof „Zur Traube“ in Taldorf einzukehren – bei der Goschamarie. Angelockt von uriger Gemütlichkeit und riesigen Vespertellern erlebten die Gäste dort manch spaßigen Abend. Bis heute kursieren die Geschichten rund um die schlagfertige Wirtin. Wie schön wäre es, wenn es sie heute noch gäbe? In diesem Buch (wie auch schon in den zwei vorangegangenen) stelle ich mir genau das vor: die Goschamarie im Heute und Jetzt. Mit Euro und Handy, mit Radler-Süß-Sauer und Aperol Spritz. Aber immer noch mit der Herrentoilette am Bach und Schnaps aus Sprudelgläsern. Leider nur eine Fantasie, aber eine sehr schöne.Diesmal haben es Walter und seine Freunde besonders schwer: bei Baggerarbeiten für das neue Musikheim wird eine Leiche gefunden. Aber: es wird niemand vermisst. Wer lag da jahrelang unentdeckt in der Wiese begraben? Und: wer ist dafür verantwortlich?Das Ermittlerteam rund um Zeitungsausträger Walter braucht in diesem Fall viel Geduld und gute Ideen. Und die hat man häufig bei einer kalten Flasche Bier. Ein guter Grund öfter mal bei der Goschamarie einzukehren.Kommen Sie doch mit! Stellen Sie sich vor wie Marie ihnen zuruft: „Komm halt rei! Fier oin wie di find i immer a Plätzle!“
Die nachfolgende Geschichte ist frei erfunden, auch die Personen und ihre Handlungen. Eventuelle Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind rein zufällig.
Warnhinweis:Achtung! Diese Geschichte enthält verdammt viel Bier!
Vorspiel
Der perfekte Tag. Strahlend blauer Himmel, fast dreißig Grad. Die Wellen brachen unaufgeregt auf den Strand. Er spielte mit seinen Zehen im Sand, um seine Nervosität zu überspielen. Die meisten Gäste waren schon da, nur die Hauptperson fehlte noch: die Braut.Festliche Musik setzte ein, dann wurde sie von ihrem Vater zwischen den Stuhlreihen hindurchgeführt. Ein Schleier verhüllte ihr Gesicht, das enganliegende Kleid endete auf Höhe der Knie. Ihre zierlichen Füße schienen den warmen Sand kaum zu berühren. Elfengleich.Als sie neben ihm am Altar stand, übergab ihm ihr Vater ihre Hand. Dann verstummte die Musik und die Zeremonie begann.Dies war der schönste Moment seines Lebens. Er hatte nicht mehr daran geglaubt, die Frau fürs Leben zu finden, doch nun stand er hier und war bereit die magischen Worte zu sagen: „Ja, ich will.“Das Blut rauschte in seinen Ohren und er nahm die Worte des Pfarrers kaum war. Er drückte ihre Hand, um sicher zu gehen, dass dies alles real war.Als der Moment gekommen war, wandten sie sich einander zu und er lüftete ihren Schleier. Das schönste Gesicht der Welt blickte ihm entgegen. Sie sahen sich in die Augen und wiederholten die Sätze, die der Pfarrer ihnen vorsprach.Sie tauschten die Ringe und küssten sich, ringsherum klickten Kameras.Wieder setzte Musik ein, jetzt rhythmisch und modern.
Serviermädchen eilten mit Tabletts umher und verteilten Sektgläser. Alle kamen zum Brautpaar, um auf dessen Wohl anzustoßen. Lachende Gesichter, unendlich viele Umarmungen. Der Bräutigam befreite sich von seinem Jackett, das unter den Armen bereits Schweißringe zeigte und gesellte sich zu einer Gruppe junger Männer. Er beobachtete ein paar Kinder am Ufer, die ihre Kleider in den Sand warfen, und sich splitternackt in die Wellen stürzten. Sie kreischten vor Freude und bespritzten sich gegenseitig. Etwas abseits saß die Großmutter der Braut auf einem Campingstuhl. Sie versuchte nicht einmal fröhlich zu wirken. Sie war von Anfang an gegen diese Verbindung gewesen. Ihre Blicke trafen sich für den Bruchteil einer Sekunde. Der Bräutigam war irritiert: war da der Ansatz eines Lächelns gewesen? Als er erneut hinsah, schaute die alte Dame in eine andere Richtung.Die Braut war in ein Gespräch mit ihren Geschwistern vertieft. Sie lachte laut und fröhlich und ihre Brüder und Schwestern stimmten ein. Der Bräutigam wollte sich zu ihnen gesellen, doch erneut wurden ihm Sektgläser entgegenstreckt. Eine Tante der Braut, mit den Maßen einer üppigen Buddhafigur, nahm ihn so fest in den Arm, dass ihm die Luft weg blieb. Hilfesuchend blickte er sich nach seiner Frau um, doch die blieb bei ihren Geschwistern stehen. Sie sah lächelnd zu, wie er versuchte sich aus den Fängen der Tante zu lösen. Doch ihr Lächeln hatte sich verändert. Es war ein kaltes Siegerlächeln.
1
„Scheißndreckn“, fluchte Walter, als er den kleinen Fleck auf seiner Anzughose bemerkte. Er zog seinen Pullover bis über den Handballen und rubbelte an der Stelle herum. Ohne Erfolg. Er war kein Spezialist, wenn es um die Reinigung von Anzughosen ging, doch er wusste, wen er fragen konnte.„Liesl, ich brauche deine Hilfe“, sagte Walter, als er die Treppe vom Schlafzimmer hinunterkam. „Kriegst du den Fleck hier weg?“Liesl betrachtete die Hose und verzog das Gesicht. „Der Fleck ist kein Problem, aber du wirst diese Hose nicht anziehen!“„Aber warum denn nicht?“, fragte Walter überrascht. „Das ist die Hose von meinem schwarzen Anzug. Ich brauche sie.“Liesl stemmte die Arme in die Hüften. „Du wirst den schwarzen Anzug schön im Schrank hängen lassen. Jeder weiß, dass das dein Beerdigungsanzug ist. Den kannst du zu einem freudigen Ereignis wie heute nicht anziehen.“„Was soll denn daran freudig sein“, knurrte Walter. „Für mich ist das tatsächlich ein Grund zu trauern. Deshalb hab ich den Anzug ja rausgesucht.“„Nicht – dieser – Anzug!“, sagte Liesl bestimmt und beendete damit die Diskussion.Walter seufzte resigniert und ging zurück ins Schlafzimmer.
Walter und Liesl waren sich in den letzten Monaten näher gekommen. Viel näher. Also ganz nah. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über Walters Gesicht. Der Nachteil war jedoch, dass sie sich auch mehr in sein Leben einmischte. Seine verstorbene Frau Anita hatte es nie gewagt, ihm vorzuschreiben, was er anziehen sollte. Resigniert hängte er den schwarzen Anzug zurück in den Schrank.Er hatte ihn bewusst gewählt, um zu zeigen, dass er mit der neuen Baustelle nicht ganz einverstanden war. Als der Alte, wie der Vorstand des Musikvereins genannt wurde (obwohl er eigentlich Alex hieß), ihn vor ein paar Wochen angesprochen hatte, hatte Walter dem Neubau des Musikheims natürlich zugestimmt. Wie hätte er sich da querstellen können. Aber das bedeutete jetzt Baustellenlärm und Dreck für bestimmt ein halbes Jahr. Warum mussten sie auch direkt neben seinem Grundstück bauen? Taldorf war groß und viele Flächen wären geeignet gewesen, aber nein: direkt neben ihm. Der einzige Trost war, dass man ihm zugesichert hatte, im Rahmen der Möglichkeiten, auf seine besonderen Arbeitszeiten Rücksicht zu nehmen.Walter trug seit einigen Jahren die Zeitungen in Taldorf, Wernsreute, Alberskirch und Dürnast aus. Da jeder seine Zeitung zum Frühstück im Briefkasten haben wollte, stand er nachts um halb drei auf. Nach dem Ende seiner Runde ging er wieder ins Bett und schlief für gewöhnlich bis um elf Uhr.Schon als Liesl ihr Haus renoviert hatte, hatten ihn die Bauarbeiten um den Schlaf gebracht. Es war nur der Findigkeit des damaligen Vorarbeiters zu verdanken gewesen, dass sie einen Weg gefunden hatten, seine Schlafzeiten zu berücksichtigten.
Walter nahm seine anderen Hosen aus dem Schrank. Jeans? Zu leger. Cordhose? Einfach out. Die Sommerleinenhose? Zu versnobt. Blieb nur noch seine neue Lederhose. Er liebte diese Hose, die er immer zur Goschamarie anzog. Da machte es nichts, dass sie nur dreiviertel lang war. In der Wirtschaft war immer gut geheizt. Doch heute musste er einige Zeit im Freien verbringen und die Temperaturen waren, der Jahreszeit entsprechend, kühl. Mit einem Schulterzucken verwarf er alle Bedenken und legte die Lederhose aufs Bett.
„Na also“, sagte Liesl kurz darauf zufrieden, nachdem sie Walter sorgefältig gemustert hatte. „Wird vielleicht ein bisschen kühl untenrum, aber du bist ja nicht so ein Verfrorener.“Sie gab ihm einen schnellen Kuss und ging durch die Küchentür hinaus.„Ich mach mich dann auch mal fertig“, rief sie über die Schulter. „Bin gleich wieder da!“
„Was für ein Theater wegen einem Spatenstich“, knurrte Balu, Walters Wolfspitz, aus seinem Hundekorb heraus. Seine Freundin Kitty, die Tigerkatze, die eigentlich zur Wirtschaft gehörte, tretelte genüsslich in seinem Fell.„Lass sie doch. Menschen lieben sowas. Hauptsache, es gibt einen Grund zu feiern.“„Mir ist gar nicht nach feiern. Da bin ich ganz Walters Meinung“, raunte Balu. „Schon wieder Baustelle. Lärm, Dreck … alles vor der Haustür.“„Na ja“, beruhigte Kitty, „diesmal gibt es wenigstens keine neuen Nachbarn.“
Es klingelte an der Haustür.Balu bellte zweimal und Walter beeilte sich zu öffnen.„Hallo, mein Lieber. Sind Sie bereit? Ich dachte, ich hole Sie ab.“ Vor der Tür stand Eugen Heesterkamp. Der ehemalige Gymnasiallehrer (Oberstudienrat AD, Fächer: Biologie und Sport) hatte sich in einen schicken Anzug gequetscht, der ihm aber kaum mehr passte.„Da sprengt es ja gleich die Knöpfe weg“, feixte Walter und zeigte grinsend auf Eugens Bauch.Noch vor kurzem hatte Eugen keine Gelegenheit ausgelassen auf Walters Fülle hinzuweisen, doch nun hatte sich das Blatt gewendet. Walter vermutete, dass der ehemalige Lehrer um die zehn Kilo zugelegt hatte.„Was soll ich denn machen?“, jammerte Eugen. „Nach dem Achillessehnenriss konnte ich ein halbes Jahr keinen Sport machen und habe jeden Monat zwei Kilo zugenommen. Fürchterlich!“Walter grinste zufrieden. „Ja ja, das ist schon ein dickes Ding.“Bevor Eugen etwas erwidern konnte, kam Liesl zur Küchentür herein.„Hallo Eugen“, begrüßte sie ihn. „Uiuiui … Ihr Anzug ist im Schrank wohl eingelaufen …“Eugen richtete sich auf und zog den Bauch ein. So gut es eben ging. „Bitte, fangen Sie nicht auch noch an.“„Alles gut“, besänftigte Liesl und umarmte ihn kurz. „Können wir dann los?“Eugen nickte und ging nach draußen. „Es sind schon viele Leute da. Beeilen wir uns, damit wir nicht die Letzten sind.“
Das Festkomitee hatte ganze Arbeit geleistet. Zwei kleine Pavillons boten den prominenten Gästen Schutz vor eventuellen Wetterkapriolen, das normale Volk musste hinter einem rot-weißen Absperrband bleiben. Ein etwas kleinerer Pavillon stand über der Stelle, an der der erste Spatenstich erfolgen sollte. Die Schaufel stand schon bereit.Die Musikkapelle war in voller Besetzung aufmarschiert und ordnete sich in Reihe und Glied. Bei Sekt und Häppchen plauderte der Orts-Vincenz mit dem Landrat. Die Amtszeit des Taldorfer Ortsvorstehers war bald zu Ende und er befand sich sozusagen auf Abschiedstour. Walter hatte die Befürchtung, dass die Rede, die er halten würde, eher durch Quantität als Qualität überzeugen würde.
Die Kapelle begann zu spielen und die Offiziellen versammelten sich um die Stelle des ersten Spatenstichs. Ein kühler Wind kam auf und ließ Walter frösteln. Schon bereute er, sich für die dreiviertellange Lederhose entschieden zu haben. Er hoffte auf ein schnelles Ende der Veranstaltung, vermutete aber das Gegenteil.Der Alte sagte im Namen des Musikvereins ein paar Worte zur Begrüßung, dann übergab er das Mikrofon an den Orts-Vincenz. Wie befürchtet präsentierte dieser ein Best-Off aus seinen Reden der letzten zwanzig Jahren. Er begann fast bei Adam und Eva und arbeitete sich gemütlich bis in die Neuzeit vor. Ohne Skrupel spickte er seine Rede mit prominenten Zitaten und sogar Liedtexten. Während die Worte von Altkanzler Schmidt, Schopenhauer und Freud ganz gut passten, wurde es bei Liedzeilen von Helene Fischer und Costa Cordalis bedenklich. Zum Schluss griff er noch auf Xavier Naidoo zurück: „Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer.“ Na, wenn das mal kein Zeichen ist, grinste Walter und fröstelte erneut.Die Temperatur war weiter gefallen und hinzu kamen dunkle Wolken, die sich von Westen her am Himmel auftürmten.
Ein Raunen der Erleichterung ging durch die Menge, als der Orts-Vincenz das Mikrofon endlich an den Landrat übergab. Während dieser seine Notizen sortierte, stimmte die Musikkapelle eine fröhliche Polka an. Wegen der Lautstärke der fast siebzig Musikanten hörte niemand den Traktor, der sich vom Dorf her genähert hatte und im Rücken der Kapelle auf das zukünftige Baustellengelände gefahren war.Kuse. Die Taldorfer Widerstandsbewegung. Seit der Ankündigung waren alle mit dem Bau des Musikheims einverstanden gewesen. Nur Kuse nicht. Er hatte die Wiese, zu der auch der Bauplatz gehörte, seit über dreißig Jahren gepachtet. Man hatte ihm rechtzeitig gekündigt, doch er wollte sich nicht damit abfinden. Er kämpfte für die zwei Reihen Hochstämme, die er erst vor wenigen Jahren gepflanzt hatte. Er hatte jede Entschädigungszahlung abgelehnt und seine Anwälte vorgeschickt. Doch die hatten nichts ausrichten können.Nach schwedischem Vorbild hatte er mit seinem Traktor wochenlang freitags auf der Wiese demonstriert, doch er war allein geblieben. Nicht jeder kann Greta.
„Weg da!“, rief Walter und zog den Landrat am Ärmel aus dem kleinen Pavillon, als Kuse mit seinem Traktor auf sie zuhielt. Der Orts-Vincenz stolperte ihnen hinterher und ließ den auf Hochglanz polierten Spaten fallen. Auch die Musiker liefen auseinander und suchten Schutz hinter den Obstbäumen. Die Vertreter der Presse und die Schaulustigen, die hinter der Absperrung gewartet hatten, flüchteten in die Einfahrt vor Walters Garage.„Was hat der denn vor?“, kreischte Liesl und rannte mit Walter und Eugen in Walters Garten.
Wild hupend tuckerte Kuse über die Wiese. Er drehte zwei Runden um den kleinen Pavillon, bevor er ihn direkt anvisierte. Er fuhr mitten hindurch. Die Zeltstangen sprangen krachend auseinander und die Plane verfing sich an der Ackerschiene des Traktors und wurde wie ein übergroßer Brautschleier mitgeschleift.Niemand hatte in dem Trubel bemerkt, dass die dunklen Wolken sich bedrohlich über Taldorf aufgebaut hatten. Von der einen Sekunde auf die andere fielen dicke feuchte Märzschneeflocken vom Himmel und man sah kaum die Hand vor Augen. Doch so schnell der Schneeschauer gekommen war, so schnell war er auch vorbei. Zurück blieb ein Bild der Verwüstung. Die Stangen des Pavillons lagen noch auf der Wiese wie ein vergessenes Mikadospiel. Kuse, sein Traktor und die Plane waren verschwunden. Und auch der Spaten.
2
„Und wie ging’s dann weiter?“, erkundigte sich Max wenig später am Stammtisch bei der Goschamarie.„Ich hab meinen alten Spaten geholt“, antwortete Walter. „Der andere war ja weg. Die haben die Reste vom Pavillon weggeräumt und den Landrat seinen ersten Spatenstich machen lassen. Musste ja sein … wegen der Presse.“„Jetzt dräht r dänn total am Rädle“, schnauzte Marie als sie die zwei Bier für Walter brachte. Beide Flaschen waren schon geöffnet. „Het nie dänkt, dass dr Kuse so durchknallt isch.“Walter zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe es auch nicht. Man sieht ihn zwar kaum im Dorf, aber ich dachte, er ist ganz zufrieden da oben auf seinem Hof.“Kuse lebte auf einem Bauernhof am oberen Rand von Taldorf. Wie eine Burg thronte das freistehende Gebäude über dem Tal. Bis heute fragte sich jeder, wer diesen Bau genehmigt hatte.„Der war früher ganz normal“, warf Max ein und schnitt das hintere Ende seiner Zigarre ab. „Er war sogar im Musikverein. Flügelhorn, wenn ich mich recht erinnere.“Marie stellte Max den großen Aschenbecher mit der besonders tiefen Ablage für Zigarren auf den Tisch.„Isch halt au oiner, där lang aloi war. Do kriagetse dänn gärn amol d’Bohlekrankett.“Max und Walter nickten. Sie kannten das Phänomen: wenn Männer in die Jahre kamen ohne zu heiraten, entwickelten sie oft seltsame Angewohnheiten.
Die Tür zur Gaststube öffnete sich und der Vorstand des Musikvereins kam herein.„Ist noch was frei?“, fragte der Alte und zeigte auf den Stammtisch.„Hock di nah“, befahl Marie. „Wa magsch trinka?“Der Alte sah neidisch auf die Biere vor Walter und Max, schüttelte aber den Kopf. Er hatte sich an Silvester vorgenommen im neuen Jahr gesünder zu leben. Er hatte die guten Vorsätze bereits mehr als einmal bereut.„Nur ein Wasser bitte. Aus der Leitung, wenn’s geht.“Marie stemmte die Arme in die Hüften. „Woisch, Kerle. Wänn jeder blos a Wasser trinka dät, dänn kennt i bald zua macha. Und immer dra denka: im Wasser veegelet d‘Fisch!“Der Alte machte sich nichts aus Maries Neckerei und hängte seinen Mantel über die Stuhllehne.„So ein Theater beim Spatenstich. Weiß von euch einer, was den Kuse geritten hat?“„Er war von Anfang an dagegen“, sagte Walter, „aber jetzt hat er es wohl etwas übertrieben.“„Das hat er ganz bestimmt“, knurrte der Alte. „Der Landrat wollte sofort die Polizei holen, aber ich habe ihm erklärt, dass wir das in Taldorf anders regeln. Zum Glück wurde niemand verletzt. Aber den Pavillon wird er bezahlen müssen. Der war neu. Zweihundertfünfzig Euro.“Marie brachte dem Alten angewidert das Glas Wasser.„Magsch dänn no was Ässa?“Der Alte überlegte. „Vielleicht was glutenfreies … ohne Zucker und Milchprodukte … wenig Fett … was kannst du mir da empfehlen?“„A andre Wirtschaft“, fauchte Marie und verschwand hinter dem Tresen.„Musste das sein?“, fragte Walter, der Mitleid mit der Wirtin hatte.„Ach was“, winkte der Alte ab, „ich ärgere sie doch nur ein bisschen.“Walter grinste. „Pass auf, dass du dich am Ende nicht ärgerst.“
Vom Gang her waren Stimmen zu hören und kurz darauf betraten zahlreiche Musikanten die Gaststube. Auch Elmar war dabei und steuerte zielsicher seinen Platz am Stammtisch an.„Grüß Gott, ihr Herren. Da hattet ihr es natürlich wieder einfacher. Wir Musikanten mussten erst mal unsere Instrumente verräumen und uns umziehen. In der Zeit hattet ihr schon die ersten zwei Bier.“Er ließ sich lachend auf den Stuhl zwischen Max und Walter fallen und winkte Marie zu.„Magsch du au blos a Leitungswasser?“, fragte sie grimmig, als sie an den Stammtisch kam.Elmar wich bestürzt zurück. „Mach dich nicht lächerlich, Marie! Wasser ist zum Waschen da und damit basta. Bier bitte … und ein Vesper!“„Ohne des Gluten? Unds Fätt au no wäglassa?“, fragte sie langsam und sah den Alten dabei böse an.„Was ist denn mit dir heute Los?“, fragte Elmar besorgt. „Bitte ganz normales Vesper. Wie immer.“„Kommt glei“, sagte Marie und an den Alten gewandt: „S’gibt oifache Gescht und it so oifache. Und dänn au no gaaaanz schwierige!“
Als Elmars Bier kam, hob er die Flasche zur Tischmitte. „Auf geht’s: anstoßen! Auf den ersten Spatenstich unseres neuen Musikheims!“Alle erhoben ihre Flaschen. Auch die Musikanten an den anderen Tischen stimmten mit ein.„War denn schon jemand beim Kuse?“, fragte Elmar den Alten. „Das war ja ein echt peinlicher Auftritt. Ich habe ein bisschen Angst, was morgen in der Zeitung steht.“Der Alte winkte ab. „Hör auf. Das wird wahrscheinlich nicht lustig. Aber du hast Recht: irgendwer muss mit Kuse reden.“Er sah sich in der Runde um.„Walter - du kennst ihn von uns allen doch am besten!“Walter verschluckte sich an seinem Bier.„Ich? Warum denn ich?“„Ich kann mich gut dran erinnern, dass ihr früher zusammen unterwegs wart.“„Ja genau“, stimmte Max zu. „Ihr wart damals mit euren Frauen hin und wieder zusammen in der Landvogtei zum Essen. Du hast erzählt, dass Kuse seiner Frau immer die Speisekarte vorlesen musste, weil ihr Deutsch noch so schlecht war.“Walter stöhnte auf. Als Kuse endlich doch noch geheiratet hatte, hatte er Anschluss gesucht und sie waren mit ihren Ehefrauen ein paar Mal unterwegs gewesen. Doch das lag Jahre zurück. „Da muss es doch jemand geben, der besser geeignet ist“, versuchte er sich herauszureden. „Ich sehe ihn ein oder zwei Mal im Jahr. Seine Frau noch weniger. Also kommt schon: irgendeiner von euch muss doch Kontakt zu ihm haben.“Alle schwiegen.„Ich kenne nur seine Anwälte“, sagte der Alte und hob abwehrend die Hände.Max lehnte sich zurück und zog genüsslich an seiner Zigarre.„Ich bin raus!“Walters letzte Hoffnung war Elmar.„Jetzt schau mich nicht so an. Ich wusste nicht mal, dass er verheiratet ist“, beteuerte der Fliesenleger und zündete sich eine Lord an.„Also gut“, gab Walter auf. „Ich schaue morgen mal bei Kuse vorbei. Aber ich verspreche euch nichts. Ich sage ihm nur, dass er den Pavillon bezahlen muss.“„Mehr erwartet doch auch keiner“, lachte der Alte zufrieden. „Obwohl … wenn du ihm mal ins Gewissen reden könntest, damit er zur Vernunft kommt, wäre das auch nicht schlecht. Ich habe ein bisschen Angst, was er sich noch alles einfallen lässt.“
„Sodele … do hemmer jetzt au die Schpezialbschtellung für dr Herr Vorschtand“, trällerte Marie und stellte dem Alten einen winzigen Teller hin. Darauf lagen zwei ordentlich aufgeschnittene Radieschen, garniert mit einem Zweig Petersilie.„Garandiert glutenfrei, koin Zucker und koi Milch dinna, und a Fätt hots au it!“Der Alte war sprachlos (was nur selten vorkam) und starrte auf das kleine Tellerchen.„Ich hab’s dir ja gesagt“, lachte Walter. „Jetzt bist du der Gelackmeierte!“Der Alte kaute lustlos auf den Radieschen herum, während Elmar neben ihm das saftige Rauchfleisch aufschnitt und die grobe Leberwurst zentimeterdick aufs Brot schmierte. Die Leberwurstschicht war dicker als das Brot, da Marie jede Scheibe mit dreißig Cent extra berechnete.„Wo stecken eigentlich Theo und Peter?“, fragte Max und blies eine dichte Wolke Zigarrenrauchwolke Richtung Decke.„Die sind zusammen auf der Landwirtschaftsmesse in Friedrichshafen“, nuschelte Elmar mit zwei Scheiben Rauchfleisch im Mund. „Wollten sich die neuesten Traktoren anschauen.“Walter lachte. „Da kommt wohl die nächste Wette auf uns zu. Ich bin schon gespannt.“Er leerte sein zweites Bier und hob seinen Geldbeutel hoch. Marie verstand und war kurz darauf bei ihm am Stammtisch. Normalerweise brachte sie beim Kassieren ein halb gefülltes Sprudelglas voll Schnaps. Diesmal war es ganz voll.„Jetzatle. Hosch jo blos dia zwoi Bier kett, Walter. Dänn sinds vier Eiro.“Walter gab fünf Euro und zeigte auf den Schnaps. „Das ist ja heute ein Doppelter!“„Isch doch an bsondra Dag heit. Erschter Schpataschtich. Jetzt loss an dir schmecka.“Walter seufzte und nahm einen kleinen Schluck. Wenn er zu viel auf einmal trank, bekam er Schluckauf.„Ich zahl dann auch gerade“, sagte der Alte und fingerte seinen Geldbeutel aus der Hosentasche.„Macht zeah Eiro“, trällerte Marie und hielt die Hand auf.„Was“, kreischte der Alte und schaute die Wirtin entgeistert an. „Ich hatte ein Glas Leitungswasser und zwei Radieschen!“„Falsch, Biable! Du hosch a Glas Taldorfer Heilwasser kett und an Veschperteller Schpezial. Mit PETERSILIE! Macht zeah Eiro!“Knurrend gab er Marie den Schein, die ihm daraufhin ein volles Sprudelglas hinstellte.„Aber du weißt doch, dass ich zurzeit keinen Schnaps trinke“, schimpfte der Alte.Marie grinste. „Wer sagt dänn, dass des an Schnaps isch. I hon dir nomal a Taldorfer Heilwasser eigschänkt …. goht aufs Haus!“Alle ringsherum lachten und waren insgeheim froh, dass es diesmal den Vorstand erwischt hatte und nicht sie selbst.
„Heute ist sie wieder gut drauf“, lachte Balu, der mit Kitty die ganze Zeit unter der Eckbank gelegen hatte.„Der Alte kann es vertragen“, stimmte die Tigerkatze zu. „Außerdem ist er eh so selten hier, dass er ein kleines Andenken braucht.“„Hast du mitbekommen, wie sie Walter schon wieder eingespannt haben? Mir gefällt das nicht“, brummelte Balu.Kitty stupste ihn versöhnlich in die Flanke. „Hey, er soll doch nur mit einem Freund reden. Da ist doch nichts dabei. Mach dir keine Sorgen: weit und breit ist keine Leiche in Sicht. Walter tut nur ein paar Freunden einen Gefallen.“Balu hatte trotzdem ein komisches Gefühl. „Irgendwie läuft das schon wieder in die falsche Richtung und Walter wird mit reingezogen. Ich werde auf jeden Fall wachsam bleiben.“
Als Walter und der Alte zur Tür gingen, kamen Theo und Peter herein. Beide schwankten durch den Türrahmen und stapften unsicher zum Stammtisch.„Hey, ich dachte ihr wart auf der Landwirtschaftsmesse“, sagte Walter beim Hinausgehen.„Wa-a-ren wir au-auch“, bestätigte Peter. „Und da ga-abs ...an einem Sta-and … Freibier.“Walter grinste. „Und da habt ihr euch zugeschüttet?“„Nee-ee“, lallte Theo. „Das wa-ar Ehrens-sache! Peter hat behau-hauptet, er schafft in ze-ehn Minuten me-ehr Pils als i-ich. Da-as konnte i-ich nicht auf mi-ir sitzen lassen!“„Do bin i ja richtig begaischtert, dass ihr do jetzt no da Rusch säha lassa mund“, fläzte Marie zynisch und schob die beiden zum Stammtisch.Der Alte und Walter verabschiedeten sich mit erhobener Hand.„Machats guat, ziernet nix, kommet wieder!“, rief Marie ihnen hinterher.
3
Walter erwachte früh am nächsten Morgen. In seinem Schlafzimmer war es stockdunkel, doch er machte kein Licht, um Liesl nicht zu wecken. Sie übernachteten am Wochenende oft zusammen. Unter der Woche, wenn Walter die Zeitungen austrug, blieb Liesl lieber allein.Er tastete sich bis zur Tür und ließ sie hinter sich leise ins Schloss gleiten. In der Küche wurde er von Balu freudig begrüßt. Er tänzelte um Walter herum und leckte ihm die Hände.„Dann lass es dir schmecken“, sagte Walter und stellte seinem Wolfsspitz einen vollen Napf Hundefutter auf den Boden. Walter sah ihm ein paar Minuten beim Fressen zu und streichelte seinem Hund liebevoll das zottelige Fell.
Balu war nach dem Tod seiner Frau lange Zeit der einzige Begleiter an seiner Seite gewesen. Bis Liesl in das Haus nebenan eingezogen war. Sie hatten sich von Anfang an gut verstanden, und dann, letzten Herbst, war mehr daraus geworden.Zuerst hatte es sich für Walter wie Verrat an seiner Frau angefühlt. Die Gewissensbisse hatten ihn viele Nächte nicht schlafen lassen, bis er eines Morgens auf den Friedhof gegangen war. Er war zu Anitas Grab gegangen und hatte ihr erzählt, was passiert war. Er hatte es laut ausgesprochen, als würden sie sich unterhalten und je mehr er gesprochen hatte, umso leichter war ihm ums Herz geworden. Am Ende hatte er geweint, doch nicht aus Trauer, sondern weil er sich sicher war, dass Anita sich für ihn ein glückliches Leben gewünscht hätte. So, wie er es sich auch für sie gewünscht hätte.Er öffnete für Balu die Tür zum Garten und machte Feuer im Herd. Es war ein schönes Gefühl das Frühstück vorzubereiten, während Liesl oben noch schlief. Die ersten Sonnenstrahlen kamen über den Hummelberg und hüllten Taldorf in warmes Frühlingslicht. Der kurze Schneeschauer gestern hatte Walter daran erinnert, dass der Winter noch nicht vorbei war, doch es würde nicht mehr lange dauern bis die ersten Frühblüher Farbe in die Gärten und Wiesen brachten.Plötzlich erinnerte sich Walter daran, was er dem Alten am Abend zuvor versprochen hatte.„Scheißndreckn!“, fluchte er leise.Er verspürte nicht die geringste Lust sich mit Kuse zu unterhalten, zumal sie nie eng befreundet gewesen waren. Warum hatte er sich nur wieder überreden lassen? Das war eine seiner Schwächen.Er dachte an seine neuen Freunde und ihre kleine Ermittlungsgruppe. Sie hatten ihn nach Pfarrer Sailers Tod überredet bei den Ermittlungen zu helfen. Sie hatten Erfolg gehabt und die Täterin geschnappt, genauso wie den Mörder von Hermann und Karl-Heinz im letzten Herbst.Walter seufzte: diesmal ging es nur um einen zerstörten Pavillon, nicht um Mord. Das sollte eigentlich kein Problem sein. Eigentlich. Trotzdem nahm er sich vor, Balu mitzunehmen. Man konnte nie wissen.
„Na, auch schon wach?“, maunzte Eglon, der dicke Rote Kater, der bei Liesl wohnte, als Balu seine Runde im Garten drehte.„Huh! Schon wieder schlechte Laune?“, fragte Balu, interessierte sich aber nicht wirklich für das Befinden des Katers, da dieser fast ständig schlecht drauf war.„Schlechte Laune, schlechte Laune“, äffte Eglon ihn nach. „Du hast leicht reden. Walter steht früh auf und gibt dir dein Futter. Liesl liegt aber noch bei euch oben im Bett und ich muss auf mein Fressen warten.“„Ist Liesl für dich denn nur eine Serviermaschine?“„Klar! Früher war sie auch noch Türaufmacherin, aber das ist seit der Katzenklappe vorbei.“Balu verstand Eglon nicht. Seine Ansicht über die Freundschaft zu den Menschen war eine ganz andere.„Wenn es dir hilft: Kittys Napf ist noch fast voll.“Obwohl Kitty zur Wirtschaft gehörte, stellte Walter immer frisches Futter für Balus Freundin vor die Tür. Seit Eglon bei Liesl eingezogen war, wanderte ein großer Teil in seinen Magen, wobei er mit Seppi, dem Igel, konkurrierte. Doch der schlummerte noch im Winterschlaf unter Liesls gemauertem Grill.„Das Futter ist ja eiskalt“, schimpfte Eglon nach dem ersten Happen. „Ich mag es lieber in Zimmertemperatur. Ist besser für den Magen!“ Trotzdem fraß er den Napf bis auf den letzten Krümel leer.„Ich gehe mit Walter heute noch hoch zu Kuses Hof“, erwähnte Balu beiläufig.„Warum solltet ihr das tun?“, fragte Eglon und leckte sich über die Barthaare, an denen noch Futterreste klebten.„Hast du nicht mitbekommen, was Kuse gestern beim Spatenstich für eine Show abgezogen hat?“Eglon hatte nicht die geringste Ahnung. „Da hab ich mein Verdauungsschläfchen gehalten.“Balu erzählte ihm was geschehen war und wunderte sich über Eglons Reaktion.„Yippie ah yeah, Schweinebacke“, lachte der Kater. „Endlich mal einer mit Eiern in der Hose. Die sind hier alle sonst so weichgespült, dass mir fast schlecht wird. Cooler Typ, dieser Kuse!“„Kennst du ihn eigentlich?“, fragte Balu.„Nicht wirklich. War ein paar Mal oben auf dem Hof. Er hat zwei heiße Mietzen da rumspringen, aber die sind sterilisiert … was für eine Verschwendung!“„Und sonst? Wie sieht’s da aus?“, hakte Balu nach, da er selbst noch nie dort gewesen war.„Bauernhof halt. Es steht viel rum, viele Traktoren, aber eigentlich ist es ganz ordentlich. Und Kuses Frau ist nett. Sie hat mich immer gestreichelt und hat auch Leckerlies parat. Ist aber keine von hier. Ich glaube sie ist Asimatin oder sowas.“„Du meinst „Asiatin““, verbesserte Balu.„Dann eben das, Schlauberger“, zischte Eglon.„Weißt du aus welchem Land?“, hakte Balu nach.„Nee, keine Ahnung. Ist mir auch egal.“Balu leckte beiläufig an seiner Vorderpfote, damit Eglon sein Grinsen nicht sah. „Du weißt schon, dass in manchen asiatischen Ländern Katzen als Spezialität gelten?“
„Du hast dich also wieder mal überreden lassen“, grinste Liesl und biss von ihrem Honig-Toast ab. Sie war kurz zuvor heruntergekommen und saß Walter im Morgenmantel gegenüber.„Wird schon nicht so schlimm werden. Kuse ist kein schlechter Kerl … nur ein bisschen durchgeknallt. Möchtest du vielleicht mit? Wäre ein schöner Spaziergang da hoch …“Liesl schüttelte den Kopf. „Nein danke! Ich kann mir für einen Sonntag etwas Schöneres vorstellen. Außerdem hab ich noch einen Berg Wäsche, der in die Maschine muss. Bist du zum Mittagessen wieder da?“Walter warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr. „Auf jeden Fall. Was gibt’s denn?“Liesl grinste. Sie wusste, wie sie Walter eine Freude machen konnte.„Och nichts Besonderes. Nur ein Schweinehalsbraten mit Spätzle.“Walter beugte sich vor und gab ihr einen Kuss. „Du bist die Beste!“
Er räumte sein Geschirr ab und ging nach oben, um sich umzuziehen. Er beeilte sich, denn er wollte das Mittagessen auf keinen Fall verpassen.
4
Kuses Hof sah so aus, wie Walter ihn Erinnerung hatte. Als er begonnen hatte, die Zeitungen auszutragen, hatte Kuse noch ein Abo gehabt und Walter musste jeden Morgen den Weg zu ihm hinauflaufen. Das hatte ihn über eine halbe Stunde gekostet, darum war er auch froh gewesen, als Kuse das Abo gekündigt hatte.Vor dem Haus parkten drei Traktoren. Alle in die Jahre gekommen, aber Walter war sich sicher, dass sie noch liefen. Wenn Kuse eines hatte, dann ein Gespür für Maschinen. Er konnte alles reparieren. Meist funktionierten die Geräte dann sogar besser als zuvor.Auf den letzten Metern wurde Walter unsicher. Was sollte er denn jetzt sagen? Er schaute zu Balu, der brav neben ihm lief, ihm aber auch nicht helfen konnte.„Na dann …“, seufzte Walter und drückte auf den Klingelknopf. Es dauerte lange, bis er Geräusche vernahm und die Tür geöffnet wurde.„Ja bitte?“, fragte eine Frauenstimme durch den schmalen Türspalt. Die Sicherungskette war noch eingehängt.„Hallo Somlue, ich bin’s. Walter.“Wenn Walter eine Reaktion erwartet hatte, wurde er enttäuscht. Die zierliche Asiatin blinzelte ihn nur fragend an. Sie war noch genauso hübsch wie Walter sie in Erinnerung hatte. Sogar noch hübscher. Die schiefstehenden Zähne hatten offensichtlich Kontakt mit einem kieferorthopädischen Genie gehabt und strahlten nun in Reihe und Glied.„Du kennst mich ja hoffentlich noch … Walter … der Mann von Anita …“, setzte Walter erneut an.Stummes Blinzeln.„Also, ich würde gerne mit Kuse reden. Geht das?“„Kuse nix da!“, kam die Antwort im typischen Singsang schlecht deutschsprechender Asiaten.„Wann kommt er denn wieder? Kann ich auf ihn warten?“ „Kuse nix da!“Prima, dachte Walter. Die hat immer noch den gleichen Wortschatz wie vor ein paar Jahren. War er etwa den ganzen Weg umsonst hergelaufen?„Wann-Kuse-wieder-da?“, fragte Walter und unterstützte seine Worte instinktiv mit einfachen Gebärden.„Kuse nix da!“, war die erneute Antwort.Walter raufte sich die Haare. „Ja Scheißndreckn. Wo Kuse? Nix hier? Wo ist?“„Kuse nix da!“Anscheinend hatte Kuses Frau nun keine Lust mehr auf die monotone Konversation und schloss die Tür.„Ja geht’s noch“, schimpfte Walter. „Das kann doch jetzt nicht wahr sein …“In diesem Moment hörte er das Motorengeräusch eines Traktors. Balu kam seiner Pflicht nach und bellte zweimal.Der Traktor fuhr auf den Hof und hielt neben den anderen. Jetzt waren es vier.„Kuse jetzt doch da“, murmelte Walter grimmig und ging über den Hof.Kuse kletterte vom Fahrersitz des Traktors und sprang herunter. Er trug einen ölverschmierten Overall, der mindestens eine Nummer zu klein war.„Hallo Walter“, knurrte er. „Kann mir schon denken, warum du da bist.“Kuse zog einen Schraubenschlüssel aus einer Tasche des Overalls und machte sich an der Fronthydraulik des Traktors zu schaffen. Wie bei den meisten Landwirten war auch bei Kuse der Sonntag ein normaler Arbeitstag.„Das war ne ordentliche Show, die du da gestern abgezogen hast“, sagte Walter vorsichtig. Er hatte nicht vor ihn zu provozieren.„Pfff … für nichts und wieder nichts“, knurrte Kuse. „Die machen doch eh was sie wollen. Und unsereiner hat das Nachsehen.“„Sind es die paar Hochstämme wirklich wert?“Kuse hielt inne und sah Walter an. Er wirkte müde und niedergeschlagen.„Es geht doch gar nicht um die Bäume, sondern um die Art, wie sie mit mir umspringen. Die Wiese habe ich seit Ewigkeiten gepachtet und von heute auf morgen heißt es: verschwinde! Ich hatte die Bäume erst ein paar Tage davor geschnitten und jetzt kommen sie alle weg, dabei hätte ich dieses Jahr zum ersten Mal ernten können. Eine Schande!“Walter spürte, dass Kuse es ernst meinte. Er konnte seinen Frust verstehen, doch solche Dinge passieren eben.„Das mit dem Pavillon gestern …“, Walter überlegte was er sagen sollte, „… also … der Vorstand vom Musikverein konnte den Landrat überzeugen, nicht die Polizei zu holen, aber du sollst den Schaden bezahlen.“„Ach ja? Und wer kümmert sich um meinen Schaden?“, blaffte Kuse zurück.„Kuse … bitte“, beschwichtigte Walter, „sie wollen ja nur das Geld für den Pavillon.“Kuse legte den Schraubenschlüssel auf das Vorderrad des Traktors und wischte seine ölverschmierten Hände an einem Lumpen ab.„Und was soll das Ding gekostet haben?“„Zweihundertfünfzig.“Kuse wühlte in den Taschen seines Overalls und zog ein Bündel Geldscheine hervor.„Hier“, er hielt Walter drei Hunderteuroscheine hin, „liefer das beim Vorstand ab. Für die übrigen fünfzig Euro sollen sie sich zwei Kästen Bier holen.“Walter steckte die Scheine in die Hosentasche.„Das ist sehr großzügig von dir.“„Mmmmh …“, brummte Kuse. „Aber es ist noch nicht vorbei.“„Dann kann der Musikverein nichts tun, was dich friedlich stimmen würde?“, startete Walter einen letzten Versuch.„Doch, natürlich. Die sollen woanders bauen! Dann bin ich zufrieden!“„Na, dann gehe ich mal das Geld abliefern“, sagte Walter und sah sich nach Balu um. Hier kämpfte er auf verlorenem Posten. Warum noch länger bleiben.„Sag Somlue liebe Grüße von mir!“Kuse brummelte etwas Unverständliches, hob aber kurz die Hand zum Gruß, bevor er sich wieder ganz seinem Traktor widmete.„Ach halt“, Walter schlug sich die Hand an die Stirn, „da fehlt noch was!“„Was denn noch?“, grummelte Kuse ohne aufzuschauen.„Der Spaten!“Mit dem Spaten in der Hand machte sich Walter auf den Heimweg. Er hatte die Befürchtung, dass Kuse nicht klein beigeben würde. Außerdem hatte ihn irgendetwas bei diesem Besuch gestört. Es war nur ein Gefühl, das tief in seinem Unterbewusstsein nagte, doch er kam nicht darauf.
5
Das Orakel hatte einen guten Tag prophezeit. Für Walter war der erste Song des Tages, der um zwei Uhr dreißig aus seinem Radiowecker erklang, entscheidend für dessen Verlauf. Gefiel ihm der Song, würde es ein guter Tag werden, wenn nicht, dann ein schlechter. Heute hatte S4 Bodenseeradio eine alte Nummer von Truckstop aufgelegt: „Ich möcht so gern Dave Dudley hörn“, eine leichte deutsche Country-Nummer, die durchaus Ohrwurmqualitäten hatte.Balu bellte zwei Mal, als Walter gerade den Kaffee abpresste. Er öffnete die Tür und stellte die beiden dampfenden Tassen auf den Tisch.„Morgen, Walter“, grüßte Jussuf fröhlich und knuddelte Balu, der aufgeregt um ihn herumsprang.„Heute geht es mit der Baustelle los“, wusste Jussuf. „Bist du aufgeregt?“„Warum sollte ich aufgeregt sein?“, entgegnete Walter schroff. „Ist ja nicht meine Baustelle.“„Ah, du bist immer noch nicht ganz überzeugt davon“, grinste der Türke und ließ zwei Stück Zucker in seinen Kaffee plumpsen.Walter kannte Jussuf, seit er die Zeitungen austrug. Der Türke brachte die aktuelle Ausgabe jeden Morgen von der Druckerei zu den Austrägern. Walter mochte ihn und freute sich über die gemeinsame Tasse Kaffee am frühen Morgen und ein kurzes Gespräch.„Sagen wir es so: meine Vorfreude hält sich in Grenzen“, knurrte Walter. „Vielleicht hätte ich auch rechtzeitig etwas dagegen unternehmen sollen … jetzt ist es wohl zu spät. Aber hast du mitbekommen, was Kuse am Samstag gemacht hat?“Jussuf, der Kuse nicht kannte, hatte keine Ahnung, dabei hatte er die Zeitungen, die im Ravensburger Lokalteil mit der Geschichte aufmachten, hinten in seinem Transporter liegen. „Dieser Kuse scheint wirklich Eier zu haben“, grinste Jussuf, nachdem Walter die Geschehnisse beim ersten Spatenstich zusammengefasst hatte, „aber damit erreicht er doch auch nichts.“Walter war wiedermal beeindruckt, wie sehr sich Jussufs Deutsch verbessert hatte. Seine Frau hatte ihm zum Geburtstag einen Kurs geschenkt, in dem das Deutschlernen durch Sprichwörter und Liedtexte unterstützt wurde. Was am Anfang noch für viele Lacher gesorgt hatte, hatte letztendlich Erfolg gehabt.„Sag mal Jussuf: wie schwer ist es eigentlich deutsch zu lernen?“Jussuf nippte nachdenklich an seinem Kaffee. „Sagen wir es so: es gibt zwei Stufen. Die erste ist recht einfach. Du lernst Vokabeln und versuchst sie sinngemäß aneinanderzureihen. Dabei sind dir Zeitformen, Artikel und sämtliche Grammatikregeln egal. Damit kommst du durch … hast du ja bei mir gesehen. Stufe zwei ist dann leider nicht mehr so leicht. Da gilt es dann, alles richtig zu machen. Außerdem eignest du dir die gängigsten Redewendungen an. Unter dem Strich musst du einfach ein Gefühl für die Sprache entwickeln. Warum interessiert dich das? Dein Deutsch ist doch gar nicht so schlecht.“„Doch nicht wegen mir“, lachte Walter. „Ich hab Somlue, die Frau von Kuse, seit langem mal wieder gesehen. Sie ist Thailänderin. Sie konnte am Anfang so gut wie gar kein Deutsch, aber in den letzten Jahren ist es nicht besser geworden. Das finde ich schon komisch.“Jussuf nickte. „Das kommt davon, wenn man nicht unter Leute geht. Manche meiner türkischen Landsleute haben das gleiche Problem. Die sitzen nur mit Freunden und Familie zusammen. Natürlich wird da nur türkisch gesprochen. Da lernst du überhaupt nichts dazu.“„Bei dir hat es aber hervorragend geklappt“, lobte Walter und stellte die leeren Tassen in die Spüle.„Da dank isch disch“, feixte Jussuf und ging zusammen mit Walter und Balu zur Tür.Gemeinsam beluden sie Walters Handkarren mit den Zeitungen und machten sich auf den Weg. Vier weitere Austräger warteten schon auf Jussufs Lieferung.
Walter liebte die nächtliche Ruhe im Dorf. Der Himmel war sternenklar und die Temperaturen entsprechend kalt. Nur drei oder vier Grad, schätzte Walter. Seine Atemluft verwandelte sich in kleine Kondenswölkchen, die sekundenlang in der Luft verharrten, ehe sie sich auflösten.Sein Weg führte ihn auf die Höh, dann nach Wernsreute und Alberskirch. In den Häusern war alles noch dunkel, nur die Straßenlaternen sorgten für mattes Licht. Außer in Alberskirch. Hier war nachts die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet. Irgendein Bürokrat war wohl der Meinung, damit ein paar Cent sparen zu können. Vielleicht würde sich das bald ändern, denn auch hier war ein Neubaugebiet in Planung. Gut möglich, dass nicht jeder der Alberskircher Neubürger mit der nächtlichen Verdunklung einverstanden war.Baustellen. Überall wurde gebaut, dachte Walter kopfschüttelnd. Und ab heute auch direkt neben seinem Haus. Im Sommer sollte der Rohbau des neuen Musikheims fertig sein. Über den Herbst war der Innenausbau dran. Für den neunundzwanzigsten Dezember war in den neuen Räumen ein Kameradschaftsabend angekündigt. Eine sehr optimistische Planung, fand Walter.
Er war mit seiner Runde fast am Ende und erreichte das alte Schulhaus, in dem Eugen wohnte. Am Eingang hatte der ehemalige Lehrer extra ein Rohr für die Zeitung angebracht, doch Walter klemmte sie grinsend in den Briefkastenschlitz in der Haustür. Dadurch blieb die Klappe offen und ließ die kalte Luft in Eugens Hausgang strömen. Frische Luft ist ja so gesund.
Balu nutzte ihre nächtliche Runde regelmäßig um Bimbo einen Besuch abzustatten. Der Haflingerwallach war, nach Eugens Schildkröte, das älteste Tier im Dorf und fast immer schlecht gelaunt.Balu bellte einmal leise an Bimbos Stalltür, deren obere Hälfte offen stand.„Na? Süße Träume gehabt?“, stichelte Balu.„In der Tat“, überraschte der Wallach seinen Freund gut gelaunt. „Wenn ich recht informiert bin, beginnen sie doch heute mit den Bauarbeiten fürs Musikheim … da steht euch jede Menge Lärm und Dreck bevor.“ „Wenigstens ist bei uns was los“, wiegelte Balu ab. „Es ging schon am Samstag beim Spatenstich mit Kuses Amokfahrt los. Ich bin gespannt, was noch kommt!“„Was denn für eine Amokfahrt?“, fragte Bimbo neugierig und Balu fasste zusammen, was passiert war.„Na, da wäre ich wirklich gern dabei gewesen“, lachte der Wallach. „Hätte ich dem Kuse gar nicht zugetraut. Er kommt ja kaum mehr von seinem Hof da oben runter. Und jetzt macht er so einen Aufstand wegen ein paar Bäumen?“„Ich verstehe es auch nicht“, sagte Balu. „Aber er scheint sich da in irgendwas reinzusteigern.“„Vielleicht hat er in der Wiese ja den Familienschatz vergraben?“, flüsterte Bimbo verschwörerisch. Balu lachte. „Wenn Kuse irgendeinen Schatz besäße, wüssten wir das. Er ist doch ständig knapp bei Kasse und spart, wo er nur kann. Ich glaube, da steckt irgendwas anderes dahinter.“„Halt mich auf dem Laufenden“, rief Bimbo Balu hinterher, der mit Walter weiter Richtung Hinterdorf lief.
Walter klemmte seine letzte Zeitung hinter den Türgriff bei der Goschamarie und tastete auf dem Fenstersimsen nach dem kleinen Gläschen. Er setzte sich auf die oberste Treppenstufe vor dem Eingang und genoss den Obstler. In Gedanken bedankte er sich bei Marie und prostete ihr zu. Feierabend. Jetzt ab ins Bett. Er hoffte, dass die Arbeiten am Musikheim erst gegen Mittag begannen, so dass er noch genügend Schlaf abbekam. Er stellte das leere Schnapsglas zurück und machte sich auf den Heimweg.
„Kommst du gegen später rüber“, fragte Balu Kitty, die auf einem alten Heuballen unter dem Vordach der Scheune Mäusen auflauerte.„Natürlich. Das lasse ich mir nicht entgehen“, freute sich die Tigerkatze. „Endlich ist wieder was los in Taldorf!“„Auf unsere Kosten“, grummelte Balu. „Aber wenigstens ist so eine Baustelle nicht gefährlich. Loch schaufeln, Haus rein, gut ist. Da wird niemand erschossen, überfahren oder ertränkt. Das überstehen wir.“„Wer weiß, was noch passiert“, orakelte Kitty und ihre Augen verengten sich zu grün schimmernden Schlitzen. „Man soll das Musikheim nicht vor dem Richtfest loben!“Balu stupste seine Freundin an die Schulter. „Du wieder! Wetten, dass diesmal alles ganz normal abläuft?“Kitty dachte kurz nach. „Also gut: ich halte dagegen. Um was wetten wir?“Balu war überrascht. Seine Frage war rein rhetorisch gewesen. „Ich … also … der Verlierer … der …“„Der muss eine Woche lang sein Futter mit Eglon teilen“, unterbrach ihn Kitty. „Auch wenn wir das ohnehin schon tun.“„Da passiert nichts!“, sagte Balu bestimmt.„Wir werden sehen“, maunzte Kitty.
6
Walter wurde von seiner inneren Uhr geweckt und sah verschlafen auf die Anzeige des Radioweckers. Fünf nach elf. Perfekt. Er streckte sich genüsslich und langte nach seinem Morgenmantel. Erst jetzt fiel ihm die Baustelle ein. Er hielt inne und lauschte. Da war ein dumpfes Wummern, aber so leise, dass es kaum auffiel.Gut gelaunt ging er in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Kurz darauf stand er mit einer dampfenden Tasse auf der Terrasse.
„Walter im Morgenmantel! Wie habe ich diesen Anblick vermisst!“Walter fuhr herum.„Mirco – das gibt’s doch nicht! Schön dich zu sehen!“Mirco war bei Liesls Renovierung der Vorarbeiter gewesen, und offensichtlich auch auf der neuen Baustelle tätig.„Wir haben ja ständig mehrere Baustellen und als ich hörte, dass wir wieder einen Auftrag in Taldorf haben, habe ich mich gleich eingeteilt.“Mirco kam zu Walter auf die Terrasse und die beiden Männer umarmten sich herzlich.„Dann kann ich ja sicher sein, dass es keine Probleme gibt“, freute sich Walter.Mirco wiegte den Kopf hin und her. „Da bin ich mir nicht so sicher. Als wir heute Morgen anfangen wollten, stand da so ein Spinner mit seinem Traktor. Er hatte ein Plakat: Stoppt den Bauwahn in Taldorf. Erst als wir den Traktor mit dem Bagger wegschieben wollten, ist er weggefahren. Hat geschimpft wie ein Rohrspatz.“„Das war Kuse“, erklärte Walter. „Der hatte diese Wiese hier die letzten Jahrzehnte gepachtet und auch die Hochstämme gesetzt. Er will nicht, dass sie rausgerissen werden.“Mircos Blick war besorgt. „Ist der Mann gefährlich?“Walter lachte. „Kuse? Gefährlich? Nein, nein. Er mag es nur nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden und ist deshalb angefressen. Aber der fängt sich schon wieder.“„Falls es ein Trost für diesen Kuse ist: es kommen gar nicht alle Bäume raus. Nur die paar hier vorne“, Mirco zog mit der Hand eine Linie in die Luft. „Die anderen bleiben stehen.“Walter freute sich das zu hören. Auch er fand es schade um jeden Baum, der gefällt werden musste.„Übrigens: danke, dass es auf der Baustelle so leise zugeht. Ich habe bis gerade eben durchgeschlafen.“Mirco hob abwehrend die Hände. „Das ist nicht mein Verdienst.“ Er zeigte auf einen großen Bagger, der dabei war Erdreich abzutragen und auf einen LKW zu kippen.„Die neuen Maschinen sind von sich aus so leise. Kein Vergleich zu den alten Dingern. Und außerdem haben wir hier unseren besten Fahrer am Start. Den musst du kennenlernen!“Mirco ging zum Zaun und signalisierte dem Baggerfahrer mit wilden Gesten sein Fahrzeug abzustellen und rüberzukommen.„Das ist Sabit“, stellte er den jungen Mann kurz darauf vor. „Er vollbringt mit seinem Bagger wahre Wunder.“Walter schüttelte Sabit die Hand und bemerkte seinen skeptischen Blick.„Oh, der Morgenmantel“, lachte Walter. „Keine Angst: ich laufe nicht immer so rum. Ich habe nur etwas andere Arbeitszeiten und bin gerade erst aufgestanden.“„Ischt kei Problem“, lachte Sabit zurück. „Du kasch macha, was du willsch. Isch ja dei Zuhause.“Der Baggerfahrer sprach in einer seltsamen Mischung aus Schwäbisch und einem ausländischen Dialekt.„Sabit kommt aus Albanien“, erklärte Mirco, der Walters fragenden Blick richtig gedeutet hatte. „Aber sein Deutsch wird immer besser!“Sabit freute sich über das Lob und zeigte zu seinem Bagger. „War schee di kennenzulerna, Walter. Aber i mach mal wieder. Weisch ja: Wer baggert da so spät noch am Baggerloch, das ist Sabit mit dem Bagger und der baggert noch.“Walter hatte ein Déjà vu.„Du machst nicht zufällig gerade einen Deutschkurs mit Liedern und Sprichwörtern?“„Woher weisch du?“, grinste Sabit und ging zurück zu seiner Maschine.
Als Mirco sich verabschiedet hatte, war Walter hineingegangen und hatte sich angezogen. Kurz darauf saß er zum Mittagessen an Liesls Tisch.„Hast du gewusst, dass Mirco drüben auf der Baustelle ist?“, versuchte er Liesl zu überraschen.„Natürlich. Du vergisst wohl, dass ich viel früher aufstehe als du. Ich habe schon heute Morgen mit ihm gesprochen.“Walter zog einen Schmollmund. „Und ich dachte, ich könnte dich überraschen …“Liesl nahm ihn in den Arm. „Mach dir nichts draus. Es ist schön ihn wiederzusehen. Ich freue mich schon darauf, hin und wieder ein Feierabendbier mit ihm zu trinken.“„Perfekt. Dann fahre ich nachher noch zum Weißenbacher und hole zwei Kästen. Nur zur Sicherheit.“
Der Getränkeladen in Oberteuringen war Walters erste Wahl, wenn es um Bier ging. Das Sortiment war riesig und verführte ihn immer wieder dazu neue Sorten auszuprobieren. Diesmal entschied er sich für eine kleine bayerische Brauerei, die ihr Bier in 0,33-Liter Flaschen mit Bügelverschluss anbot. Er liebte das „Plopp“ beim Öffnen. An der Kasse stellte er fest, dass sich die Brauerei diese Extravaganz teuer bezahlen ließ, doch es war ihm egal.
Die Bierkästen klapperten bei jeder Unebenheit ungeduldig im Kofferraum von Walters Peugeot 205. Erst vor kurzem hatte er sich von seinem alten Wagen trennen müssen, doch seine Freunde hatten ihm geholfen dieses Schmuckstück zu finden. Zwar war rot nicht seine Lieblingsfarbe, doch dafür war es ein Cabrio und Walter freute sich schon darauf ohne Dach zu fahren, sobald die Temperaturen es zuließen. Immerhin hatte er das Fenster auf der Fahrerseite schon geöffnet und lehnte lässig den Arm auf.In Taldorf fuhr er bewusst langsam und grüßte jeden, den er sah. Heute waren es Manne und Otto, zwei weißhaarige Rentner aus dem Vorderdorf, die passiv fleißig ihren Mährobotern bei der Arbeit zusahen.