Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen - Frithjof Schuon - E-Book

Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen E-Book

Frithjof Schuon

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Beschreibung

»Die Erkenntnis erlöst nur unter der Bedingung, dass sie all das in Anspruch nimmt, was wir sind: wenn sie ein Weg ist, der unsere Natur bearbeitet und umwandelt und verwundet, wie der Pflug die Erde verwundet.« Metaphysische Erkenntnis und geistige Verwandlung des Menschen sind die Hauptthemen dieses Buches, das eine von Frithjof Schuon selbst zusammengestellte Sammlung verschiedener kurzer Texte ist, die dem Leser gleichsam einen Blick in die Werkstatt dieses Denkers ermöglicht. Viele Aphorismen laden zum besinnlichen Mitvollzug ein. Frithjof Schuon (1907-1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis (»immerwährende Weisheit«) genannt wird, und welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrunde liegen. »Wenn ich Schuon lese, habe ich den Eindruck, dass ich ihm zustimmen kann, und immer wieder kann ich sehen, was das, was er sagt, mit meiner eigenen Tradition und Erfahrung zu tun hat… Ich denke, dass er die Dinge genau richtig sieht… Ich schätze ihn immer mehr.« (Thomas Merton) »›Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen‹ besteht aus Betrachtungen über die Überlieferung und über die moderne Zivilisation, über Kunst, das geistige Leben, Metaphysik und die Tugenden. Besonders wichtig sind Schuons ausführliche Erörterungen der geistigen Tugenden sowie ein meisterhafter Vergleich von Sufitum und Vedânta.« (Seyyed Hossein Nasr, Professor an der George Washington University, Autor von »Die Erkenntnis und das Heilige«) »In Schuons Schriften finden wir die Abgeklärtheit dessen, der das sieht, ›was von Ewigkeit her existiert, was wirklich und unwandelbar ist‹. Sein Werk strahlt tiefe Ruhe und große Klarheit aus.« (Kathleen Raine) »Schuon ist der wichtigste religiöse Denker des zwanzigsten Jahrhunderts.« (Huston Smith, Autor von »Die sieben großen Religionen der Welt«)

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Seitenzahl: 405

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Deutschsprachige Bücher von Frithjof Schuon

Philosophische Werke

Leitgedanken zur Urbesinnung. Zürich 1935; Freiburg 1989, 2009

Das Ewige im Vergänglichen. Weilheim 1970; München 1984

Von der inneren Einheit der Religionen. Interlaken 1981; Freiburg 2007

Den Islam verstehen. München 1988, 1991, 2002. Freiburg 1993

Schätze des Buddhismus. Norderstedt 2007

Esoterik als Grundsatz und als Weg. Hamburg 2012

Metaphysik und Esoterik im Überblick. Hamburg 2012

Logik und Transzendenz. Hamburg 2013

Gedichte

Sulamith. Bern 1947

Tage- und Nächtebuch. Bern 1947

Glück. Freiburg 1997

Leben. Freiburg 1997

Liebe. Freiburg 1997

Sinn. Freiburg 1997

Perlen des Pilgers. Düsseldorf 2000

Sinngedichte. Bd. 1 – 10. Sottens 2001 – 2005

Frithjof Schuon

Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen

Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von

Wolf Burbat

WEISHEIT DER WELT

© World Wisdom Books

Titel des französischen Originales: Perspectives spirituelles et faits humains, L’Âge d’Homme, 2001

Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von Wolf Burbat

Umschlagbild: »Den Wasserfall beobachten«, Hängerolle von Xia Kui aus Qiantang, 15. Jahrhundert, Ming-Dynastie

WEISHEIT DER WELT ist das deutschsprachige Imprint von

World Wisdom, Inc.,

P.O. Box 2682, Bloomington, Indiana 47402-2682

www.worldwisdom.com

Verlag: tredition GmbH

ISBN: 978-3-8495-7965-4

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung des Übersetzers

Geleitwort

I DENKEN UND ZIVILISATION

II ÄSTHETIK UND SINNBILDLICHKEIT IN KUNST UND NATUR

III UMRISSE DES GEISTES

IV VEDÂNTA

V ERKENNTNIS UND LIEBE

VI VON DEN GEISTIGEN TUGENDEN

ANHANG

Anmerkungen des Übersetzers

Glossar

Index

Frithjof Schuon

Vorbemerkung des Übersetzers

Wir freuen uns, mit diesem Buch die vierte einer Reihe von geplanten Übersetzungen von Werken Frithjof Schuons in deutscher Sprache vorlegen zu können. Der in Deutschland noch wenig bekannte Schuon (1907–1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er besaß einen außerordentlichen Überblick über die religiösen Überlieferungen der Menschheit, konnte die Vielfalt der Erscheinungen bis in ihre Tiefe durchdringen und seine Erkenntnisse in meisterhafter, oft dichterischer Sprache ausdrücken. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis, Philosophia perennis oder Religio perennis – also immerwährende Weisheit, immerwährende Philosophie oder immerwährende Religion – genannt wird, welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrunde liegen.

Das vorliegende Buch ist das dritte von Schuons Hauptwerken; die französische Originalausgabe erschien zuerst 1953; diese Übersetzung entspricht der französischen Ausgabe von 2001.

Das Buch enthält – im Unterschied zu den meisten anderen Werken Schuons – eine von ihm selbst zusammengestellte Sammlung verschiedener kurzer Texte, die dem Leser gleichsam einen Blick in die Werkstatt dieses Denkers ermöglicht. Viele Aphorismen laden zum besinnlichen Mitvollzug ein.

Schuon benutzt wichtige Schlüsselbegriffe in ihrem ursprünglichen Sinn und nicht so, wie er sich im Laufe der Zeit verändert hat. So werden etwa heute die – im Buchtitel vorkommenden – Begriffe Geist, geistig (frz. spirituel) mit Denkfunktionen des menschlichen Verstandes gleichgesetzt. Demgegenüber geht der Verfasser – im Gefolge von Denkern wie Platon, Plotin und Meister Eckhart – von der klassischen Dreiteilung des Menschen in Corpus, Anima und Spiritus, (Leib, Seele und Geist) aus. Dabei enthält die Seele das (emotionale) Gefühl, den Willen und auch den schlussfolgernden Verstand. Demgegenüber ist der Geist, der Intellekt, zur unmittelbaren Schau, zur »Einsicht« fähig. Der Geist enthält in seiner Spitze das Göttliche im Menschen, mit den Worten von Meister Eckhart: Aliquid quod est increatum et increabile … et hoc est intellectus (»etwas, was unerschaffen und unerschaffbar ist … und das ist der Intellekt«). Bedeutsam ist hier, dass der Intellekt als göttlich angesehen wird, er ist überpersönlich und überrational; er gehört nicht dem einzelnen Menschen, vielmehr hat dieser grundsätzlich Zugang zu ihm.

Das geistige oder »spirituelle« Leben besteht demzufolge weder aus einer rein gedanklichen Philosophie oder Theologie noch aus einem rein emotionalen »Fühlen«. Durch den überpersönlichen und überrationalen Intellekt vollzieht sich die metaphysische Erkenntnis, der Geist verwirklicht diese Erkenntnis, indem er den ganzen Menschen dementsprechend verwandelt.

Obwohl Deutsch seine erste Muttersprache war, hat Schuon seine metaphysischen Werke auf Französisch verfasst, einer Sprache, die sich aufgrund ihres lateinischen Ursprungs und ihres unzweideutigen Wortschatzes hierfür besonders gut eignet. Schuon liebte die deutsche Sprache sehr und bestand darauf, sie weitgehend von Fremdwörtern freizuhalten. Dem haben wir in der vorliegenden Übersetzung Rechnung zu tragen versucht; so wird der Leser einige mittlerweile selten gewordene Wörter wie »Geistigkeit« statt »Spiritualität«, »Anblick« oder »Gesichtspunkt« statt »Aspekt«, »Sammlung« statt »Konzentration« und dergleichen mehr finden. Als Muster hat uns hierbei Schuons eigene Übertragung seines ersten Hauptwerkes De l’unité transcendante des religions (1948) ins Deutsche gedient.1

Andererseits war es unumgänglich, eine Reihe von Fremdwörtern zu benutzen, seien es philosophische Fachausdrücke oder Begriffe aus einer Vielzahl von Überlieferungen; diese Begriffe aus dem Sanskrit, dem Griechischen, dem Lateinischen und dem Arabischen wurden in einem Glossar im Anhang des Buches zusammengestellt, übersetzt und erklärt.

Weiterhin haben wir im Anhang nach Seitenzahl geordnete »Anmerkungen des Übersetzers« zusammengestellt, in denen Textstellen erläutert werden, die auf überlieferte theologische Lehren, wichtige Philosophen oder geistige Meister sowie heilige Schriften der Weltreligionen anspielen.

1 Deutsch: Von der inneren Einheit der Religionen. Freiburg i. Br. 2007.

[1]Geleitwort

Diese Sammlung, geschrieben um die Mitte des 20. Jahrhunderts und damit vor den meisten unserer anderen Bücher, unterscheidet sich von diesen dadurch, dass sie nicht aus Aufsätzen im eigentlichen Sinne besteht, sondern aus Briefauszügen, Anmerkungen zu Gelesenem und Überlegungen ohne besonderen Anlass, die nachträglich in die Form von Kapiteln gebracht wurden. Wie dem auch sei, Geistige Sichtweisen und menschliche Tatsachen enthält Betrachtungen, die wir in unseren späteren Werken nicht wieder aufgenommen haben, namentlich über das Christentum, über den Vedânta, über die Psychologie des geistigen Lebens und nebenbei über die Sinnbildlichkeit der Farben; was diese Psychologie anbelangt, so versteht es sich von selbst, dass die echte Sittlichkeit in ihrer Tiefe betrachtet eine Botschaft darstellt, die zeitlos ist und die eben dadurch eine dringende Botschaft für den Menschen an sich bleibt, für den Menschen aller Zeiten. Auch wenn unsere späteren Werke eine vollständige Lehre enthalten, die Sophia perennis oder, wenn man so will, das unverkürzte Festhalten an der Überlieferung –, scheint es uns, dass die vorliegende Sammlung es verdient, aus den eben genannten Gründen vor dem Vergessen bewahrt zu werden.

Wir könnten vielleicht noch hinzufügen, dass die Wahrheit kein Verdienst sein kann, gehört sie doch keinem allein, sondern allen; sie ist eine uns innewohnende und zugleich auch eine uns übersteigende Gabe. Und erinnern wir daran, aus einem etwas anderen Blickwinkel, dass es einem alten indischen Sinnspruch zufolge »kein größeres Recht gibt als das der Wahrheit«.

F. S.

22. März 1988

[2][3]I

DENKEN UND ZIVILISATION

[4][5]1

Metaphysische Erkenntnis ist Eines, ihre Verwirklichung im Geiste etwas Anderes. Alles Wissen, welches das Gehirn fassen kann, ist nichts angesichts der Wahrheit, auch wenn dieses Wissen vom Standpunkt des Menschen her einen unermesslichen Reichtum darstellt. Die metaphysische Erkenntnis ist wie ein göttlicher Keim im Herzen; die Gedanken sind nur ein winzig kleiner Lichtschimmer von ihr. Der Einfall des göttlichen Lichtes in die menschliche Finsternis, der Übergang vom Unendlichen zum Endlichen, die Berührung des Unbedingten mit dem Bedingten, all das ist das Mysterium der geistigen Schau, der Offenbarung, des Avatâra.

Ein Beweis überzeugt nicht deshalb, weil er absolut ist – denn das kann er nicht sein –, sondern weil er im Geiste eine Offenkundigkeit vergegenwärtigt.

Ein Beweis ist nur möglich auf der Grundlage von bereits vorhandenem Wissen. Nur ein ganz und gar künstliches, von seinem transzendenten Grundsatz abgeschnittenes Denken kann einen Beweis auf den luftleeren Raum stützen wollen; es ist, als wollte man in der Zeit den Ursprung der Ewigkeit suchen.

Es ist ungerechtfertigt, einen »Gottesbeweis« nur deshalb abzulehnen, weil man die unausgesprochenen Voraussetzungen nicht kennt, die für den Verfasser des Beweises offenkundig sind.

Das Unbedingte zu beweisen ist entweder das Leichteste oder das Schwerste, je nach den geistigen Bedingungen der Umgebung.

[6]✵

Jeder Beweis wird durch ein Element ergänzt, das sich dem Determinismus der schlichten Logik entzieht und das entweder eine Intuition oder eine Gnade ist; dieses Element aber ist alles. Im geistigen Bereich ist der logische Beweis lediglich eine ganz vorübergehende Kristallisation der Intuition, deren Erscheinungsweisen aufgrund der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit unberechenbar sind.

Man kann gewiss jede Wahrheit beweisen; aber nicht jeder Beweis erschließt sich jedem Geist. Nichts ist willkürlicher als die Ablehnung der klassischen Gottesbeweise, denn jeder ist stichhaltig für ein bestimmtes Ursächlichkeitsbedürfnis. Dieses Ursächlichkeitsbedürfnis wächst nicht entsprechend der Erkenntnis, sondern entsprechend der Unwissenheit. Für den Weisen beweist jeder Stern, jede Blume metaphysisch das Unendliche.

Der »theologische Fortschritt« besteht darin, das genauer auszuführen, was die Vorfahren zu sagen nicht für notwendig erachtet haben, oder die Dinge auf eine bestimmte Stufe des Fassungsvermögens zu beschränken. Die Scholastik wäre – da, wo sie einschränkend ist – nicht entstanden ohne ein mangelhaftes Verständnis der griechischen Kirchenväter, und die moderne Philosophie nicht ohne ein mangelndes Verständnis der Scholastik.

Etwas Ähnliches gibt es bei der Häresie, die mit viel Getöse offene Türen einrennt, um besser ihre grundlegenden Mängel verbergen zu können; hier handelt es sich allerdings nicht um[7] die »geringere Wahrheit«, auch nicht um eine begrenzte Beweisführung, sondern ganz einfach um Irrtum.

Verstandesmenschen sind besessen von »Gedanken«; sie sehen Begriffe, nicht »Dinge«, daher ihre verfehlte Kritik inspirierter und überlieferter Lehren. Sie sehen weder die Wirklichkeiten, von denen diese Lehren sprechen, noch das nicht Ausgedrückte, das für sie selbstverständlich ist. Wie Juristen kritisieren sie das, was ihre Denkgewohnheiten in Erstaunen versetzt; da sie die »Dinge« nicht erreichen können, höhlen sie die »Worte« aus; es ist die Eigenart der Philosophen, ihre Begrenztheiten zu objektivieren.

Eine metaphysische Lehre ist die gedankliche Verkörperung einer allgültigen Wahrheit.

Ein philosophisches System ist der verstandesmäßige Versuch, gewisse Fragen zu lösen, die man sich selbst stellt. Ein Begriff ist lediglich ein »Problem« aufgrund einer bestimmten Unwissenheit.

Um die Wahrheit erreichen zu können, ist es notwendig, in sich – wenn das möglich ist – die reingeistige Fähigkeit zu erwecken und sich nicht zu befleißigen, mit dem Verstand Wirklichkeiten »zu erklären«, die man nicht »sieht«; nun gehen die meisten Philosophien von einer Art axiomatischer Blindheit aus, von daher ihre Hypothesen, ihre Berechnungen, ihre Schlussfolgerungen, alles Dinge, die in der reinen Metaphysik, deren Überzeugungskunst vor allem auf Ähnlichkeitsentsprechungen und Sinnbildlichkeiten fußt, mehr oder weniger unbekannt sind.

[8]✵

Wenn die Philosophie dem Ursächlichkeitsbedürfnis des Denkenden Rechnung trägt, an den sich die Weisheit normalerweise wendet, beschränkt sie sich nicht darauf, etwas »darzulegen«, sondern sie will auf eine nahezu absolute Weise »erklären«; das heißt, indem sie auf ein übertriebenes, künstliches und »weltliches« Ursächlichkeitsbedürfnis abzielt und indem sie ihre äußerlichen Erklärungen für wesentliche Bestandteile der Wahrheit hält, objektiviert sie, was nur subjektiv ist, und sie zieht die Wahrheit mit sich in ihr eigenes Scheitern hinein.

Etwas davon – mit bedeutenden Unterschieden hinsichtlich Stufe und Qualität – hat jedes menschliche Denken an sich aufgrund des Missverhältnisses von Inhalt und Gefäß und aufgrund der Verhältnismäßigkeit des Letzteren.

Vom Denken leben heißt, endlos Begriffe durch andere Begriffe zu ersetzen. Im Verstandesdenken nutzen sich die Begriffe ab, ohne dass sie jemals auf dieser Ebene durch etwas Besseres ersetzt werden könnten. Nichts ist schädlicher als diese gedankliche Abnutzung einer Wahrheit; man möchte meinen, dass sich die wahren Ideen an dem rächen, der sich darauf beschränkt, über sie nachzudenken.

Wer zu ausschließlich im Denken verankert ist, wer alles im Gedanklichen verwirklichen möchte und wer es nur so weit bringt, alles erdenkliche Wissen auszuschöpfen, der wird schließlich in den Irrtum abgleiten, wenn er sich nicht schon dort befunden hat, so wie sich der aufsteigende Bogen eines Kreises unmerklich in einen absteigenden Bogen verwandelt. Ungeachtet gewisser Schwankungen, die täuschen können, ist das das ganze Drama der Philosophie.

[9]Das menschliche Denken ist offen für alle Richtungen und für alle Anregungen; der Mensch kann sogar den Abscheu und das Nichts denken.

Denkerische Virtuosität, die endlos mit Begriffen spielt, ohne jemals zu einem abschließenden Ergebnis kommen zu können oder zu wollen, hat überhaupt nichts mit dem spekulativen Genius zu tun, dessen Formulierungen im Übrigen besagter Virtuosität »naiv« erscheinen werden; diese stellt sich zudem gegen die reingeistige Intuition wie Luzifer sich gegen Gott stellt.

»Der Wind weht, wo er will« (spiritus ubi vult spirat); das kann nicht bedeuten, dass er überall wehen muss.

Der moderne Mensch sammelt Schlüssel, ohne zu wissen, wie man eine Tür öffnet; als Skeptiker schlägt er sich mit Begriffen herum, ohne eine Ahnung von ihrem eigentlichen Wert und ihrer Wirkungskraft zu haben: Er »klassifiziert« Ideen auf der Oberfläche des Denkens und er »verwirklicht« keine in ihrer Tiefe. Er leistet sich den Luxus der Verzweiflung, die widersinnigste Form der Behaglichkeit; er glaubt, Erfahrungen gemacht zu haben, wohingegen er bloß die vermeidet, die sich ihm aufdrängen und die zu machen er nicht einmal die geistige Möglichkeit hat; seine Erfahrung ist die eines Kindes, das sich verbrannt hat und nun das Feuer abschaffen will.

Das beschauliche Denken ist ein »Sehen«; es ist kein »Tun« wie das leidenschaftliche Denken. Seine nach außen gewandte Logik hängt von seinem inneren Sehen ab, wohingegen im leidenschaftlichen Denken der logische Vorgang gleichsam[10] blind ist: Er »beschreibt« nicht unmittelbar wahrgenommene Wirklichkeiten, sondern er »konstruiert« gedankliche Rechtfertigungen aufgrund von vorgefassten Vorstellungen, die wahr sein können, die aber eher »anerkannt« als »verstanden« werden.

Das Wort »Denker« bedeutet gleichzeitig, dass man der Erkenntnis eine individuelle Tätigkeit zuschreibt, was bezeichnend ist. Was den »Beschaulichen« betrifft, so vermag er es, nicht zu »denken«: Der Akt der Beschauung betrifft das Grundsätzliche, was bedeutet, dass ihre Tätigkeit in ihrem Wesen liegt, nicht in ihren Vorgängen.

Das schlussfolgernde Denken kann in der Erkenntnis keine andere Rolle spielen als die einer gelegentlichen Ursache der Geistesschau; diese ereignet sich auf unvermittelte Art – und nicht stetig oder fortschreitend –, sobald der Denkvorgang, der seinerseits durch eine geistige Intuition geformt ist, die Beschaffenheit besitzt, die ihn zum reinen Sinnbild macht. Wenn die durch das Reiben zweier Hölzer – oder durch eine Linse, die einen Sonnenstrahl einfängt – erzeugte Hitze genau den Grad erreicht hat, der ihr Höhepunkt ist, entsteht plötzlich das Feuer; genauso überlagert sich die Geistesschau, sobald der Denkvorgang imstande ist, eine geeignete Unterstützung zu bieten, dieser Unterstützung. So kommt es, dass sich die menschliche Intelligenz ihren allumfassenden Urgehalt aneignet dank einer Art Wechselbeziehung zwischen Denken und göttlicher Wirklichkeit. Der Rationalismus wird dagegen den Höhepunkt des Erkenntnisvorgangs auf seiner eigenen Ebene suchen; er versucht, die metaphysische Wahrheit »aufzulösen«, als gäbe es hier ein Problem zu lösen; anders gesagt: Er sucht die Wahrheit im Bereich gedanklicher Formulierungen und weist a priori die Möglichkeit einer Erkenntnis zurück, die jenseits[11] dieser Formulierungen zugänglich ist und die sich folglich -in einem gewissen Maße zumindest – dem Mittel der menschlichen Sprache entzieht; ebenso gut könnte man nach einem Wort suchen, das ganz das ist, was es bezeichnet! Dieser grundsätzliche Widerspruch ist es, aus dem die Unfähigkeit herrührt, erstens gedankliche Formen bereitzustellen, die als Träger für die geistige Intuition und mithin für die Wahrheit geeignet sind – denn schlecht gestellte Fragen ziehen das Licht genauso wenig an wie sie von ihm herkommen –, und zweitens die geistigen Dimensionen wahrzunehmen, an welche diese oder jene Formulierung, selbst wenn sie Mängel aufweist, praktisch heranreicht; der Rationalismus geht wie ein Mensch vor, der versucht, den geometrischen Punkt zu zeichnen, indem er sich bemüht, diesen so klein wie möglich zu machen, oder der auf irgendeiner geschaffenen Ebene eine absolute Vollkommenheit erreichen will, indem er die notwendige Unvollkommenheit dieser Ebene einerseits und die Transzendenz der reinen Vollkommenheit andererseits leugnet.

Nun ist aber eine lehrmäßige Formulierung nicht deshalb vollkommen, weil sie die unendliche Wahrheit auf der Ebene der gedanklichen Wahrheit ausschöpft, was unmöglich ist, sondern weil sie eine geistige Form verwirklicht, die dazu imstande ist, demjenigen einen Strahl dieser Wahrheit mitzuteilen, der geistig in der Lage ist, ihn zu empfangen; dies erklärt, warum überlieferte Lehren immer »naiv« zu sein scheinen, zumindest vom Standpunkt solcher Menschen aus, die nicht verstehen, dass der zureichende Grund der Weisheit nicht auf der Ebene seiner formellen Behauptung liegt, und dass es kein gemeinsames Maß und keinen ununterbrochenen Zusammenhang zwischen dem Denken – dessen Entwicklungen letztlich nur einen symbolischen Wert haben – und der reinen Wahrheit gibt, die dem gleicht, was »ist«, und die aufgrund dessen den umfasst, der denkt.

[12]2

Eine Philosophie, die nichts anderes als eine Methode sein will, die nur subjektive Mittel und keine objektiven Axiome vorlegt, widerspricht sich selbst a priori, denn allein Axiome können die Mittel rechtfertigen; der Glaube an derartige Mittel der »Forschung« besitzt logisch keine größere Berechtigung als der Glaube an ein bestimmtes Dogma; in beiden Fällen hängt alles von der Intuition ab; die Umstände, welche sie auslösen, werden nicht infrage gestellt. Die Beweisgründe für jede im Kern rechtmäßige Religion sind gänzlich überzeugend, wenn man sich in das vorgesehene Umfeld versetzt; außerhalb dieses geistigen Umfelds kann man alles infrage stellen, denn es gibt kein Argument, das man nicht von außen angreifen könnte; es gibt keine absolute Form.

Erkenntnistheorien übernehmen praktisch die Rolle der Religion, und doch können sie die Frage nach ihrem zureichenden Grund nicht klären und auch nicht, inwieweit sie bindend sind. Warum muss es eine absolute Gewissheit geben? Wenn man die Mittel kennt – oder zu kennen glaubt –, mit denen man sie erlangen kann, warum soll man sie dann tatsächlich anwenden? Allein die überlieferungstreue Metaphysik beantwortet diese Fragen.

Es gibt zweifelsohne philosophische Fragestellungen, welche die gegenwärtige Zeit betreffen; es gibt aber keine Ursächlichkeitsbedürfnisse, die so zu unserer Zeit gehörten, dass sie diejenigen unserer Väter unverständlich machen würden. Der menschliche Geist verändert sich nicht so schnell in seinen Grundlagen, selbst beim besten – oder beim schlechtesten – Willen der Welt. Mit unseren Argumenten richten wir uns[13] zwangsläufig an gewisse unveränderliche Züge der Intelligenz, ohne dass wir dabei alle mehr oder weniger künstlichen Postulate eines sich ständig ändernden Denkens berücksichtigen könnten.

Es gibt zwischen dem Rationalismus und dem Existenzialismus eine Beziehung, die der zwischen dem künstlerischen Naturalismus und dem »Surrealismus« ähnelt: Letzterer ist undenkbar ohne die naturalistischen Irrtümer, und obwohl er vom Naturalismus abweicht, ist er genauso weit entfernt von wahrheitsgetreuer Sinnbildlichkeit wie dieser. Gleichwohl ist es grundsätzlich möglich, dass ein »surrealistisches« Werk zufälligerweise zur sinnbildlichen Kunst zurückkehrt, genauso wie es vorkommen kann, dass eine phantasievolle und »experimentelle« Philosophie an irgendeinem Punkt wie zufällig und ganz unbewusst zur überlieferten Weisheit zurückkehrt. Praktisch sind diese Übereinstimmungen wertlos, in der Philosophie wie in der Kunst; keine Philosophie bringt Heiligkeit hervor.

Es gibt keine metaphysischen oder kosmologischen Gründe dafür, dass die unmittelbare Geistesschau nicht in Ausnahmefällen bei Menschen auftreten kann, die in keinerlei Verbindung zu einer offenbarten Weisheitslehre stehen; auch wenn eine Ausnahme eine Regel bestätigt, so kann sie doch sicherlich keine begründen. Eine so richtige Intuition wie die, welche der deutschen »Phänomenologie« zugrunde liegt, bleibt zwangsläufig bruchstückhaft, fragwürdig und unwirksam, solange es an objektiven geistigen Grundsätzen mangelt. Etwas Zufälliges ersetzt keinen Grundsatz und ein philosophisches Abenteuer keine echte Weisheit; tatsächlich konnte niemand aus dieser »Phänomenologie« etwas herausholen, vom Standpunkt der[14] wirksamen und vollständigen Erkenntnis, jener, welche die Seele bearbeitet und sie verwandelt.

Eine wahre Intuition, sogar eine grundlegende, kann keine entscheidende Rolle spielen in einer so anarchischen Denkweise wie der modernen Philosophie; sie wird immer dazu verdammt sein, lediglich ein wirkungsloser schwacher Lichtschein in der Geschichte eines ganz auf den Menschen bezogenen Denkens zu sein, eines Denkens, welches nicht weiß, dass die wirkliche Erkenntnis keine Geschichte hat.

Jeder lehrmäßige Irrtum wird von einem psychologischen Irrtum begleitet bei denen, die vom lehrmäßigen Irrtum unberührt bleiben: So hält sich der Atheismus beispielsweise gerne für einen moralischen Heroismus; er kann sich keinen Glauben an Gott vorstellen, der von jeglicher Schwachheit, von jeglichem gefühlsbetonten Begehren frei wäre – ein ungerechtfertigter Argwohn, denn aus Gefühlsbetontheit kann man alles gelten lassen, das Nichtvorhandensein Gottes genauso wie das Gegenteil.

Dass der Mensch niemals das »menschlich Subjektive« übersteigen könne, das ist die unbegründetste und auch die widersprüchlichste Annahme, die es gibt: Wer definiert denn diese »menschliche Subjektivität« als solche? Wenn es die menschliche Subjektivität selbst ist, gibt es keine objektive Erkenntnis, somit keine mögliche Definition; wenn es etwas anderes als diese Subjektivität ist, ist es offensichtlich falsch zu behaupten, dass der Mensch sie nicht übersteigen könne. Eine Definition besitzt ganz offensichtlich nur durch ihre Objektivität einen Wert, das heißt durch Fehlerlosigkeit; und andererseits kann man nicht das All in das »menschlich Subjektive«[15] einsperren wollen und gleichzeitig einen Standpunkt gelten lassen, der sich jenseits dieses Subjektiven befindet und der es demzufolge definieren kann.

Der Ausgangspunkt des Existenzialismus ist nicht die Existenz, sondern eine bestimmte Vorstellung von der Existenz. Ameisen existieren auch, und sie sind keine Existenzialisten.

Allein die Existenz, das Dasein, ist absolut gewiss, wird man uns sagen. Ist aber diese Gewissheit nicht etwas anderes als das Dasein? Die Gewissheit ist da, und das Dasein ist gewiss… Wenn das Dasein ein Inhalt der Gewissheit ist, dann hat diese Vorrang vor jenem; zumindest kann man die Dinge so sehen, und das genügt, um das betreffende Axiom zunichte zu machen.

Der Existenzialismus beschränkt immer die Ursache auf die Wirkung, den Urgrund auf die Kundgabe, die Wirklichkeit auf die Tatsache; das Dasein ist für ihn nichts anderes als die Summe der Dinge, die da sind, oder vielmehr, die physisch da sind, denn er ist weit davon entfernt, sich alle Daseinsbereiche vorzustellen. Der Genius eines Menschen ist nach dieser Ansicht nichts anderes als die Summe seiner Werke; in guter Logik müsste man schließen, dass die Intelligenz die Summe der tatsächlich gedachten Gedanken sei und nichts mehr. In einer derartigen Sichtweise gibt es keinen Platz mehr für den Begriff des Möglichen; sie ist die planmäßige Beschränkung jeder Wirklichkeit und jeden Wertes – namentlich auch jeden sittlichen Wertes – auf nackte Tatsachen; die Welt besitzt keine Einheitlichkeit mehr: Sie ist nur noch eine unverständliche Zusammenhanglosigkeit.

[16]Das ist die Weisheit des Kindes, das entdeckt hat, dass das Pflanzenreich die Tomate ist, die es in der Hand hält.

Der Mensch ist sehr oft nur ein Tier, das wie zufällig über ein menschliches Hirn verfügt. Die Kuh ist sich auf ihre Weise darüber im Klaren, dass es sie gibt und dass sie grast, wo sie will; es ist nicht schwer, das in menschlicher Sprache zu sagen; kein Mensch hat es aber vor den Existenzialisten gewagt, die Feststellung, dass es ihn gibt und dass er frei ist, zwischen Äpfeln und Birnen zu wählen, zur Weisheit zu erheben.

Ist es immer »der Mensch, der wählt«? Und wer ist dann dieser »Mensch, der wählt«? Wo ist seine Grenze, seine Mitte? Wenn es der Mensch ist, der sich definiert, welchen objektiven Wert kann dann diese Definition haben? Und wenn es keinen objektiven Wert gibt, keinen transzendenten Maßstab, warum dann denken? Wenn es genügt, Mensch zu sein, um Recht zu haben, warum dann versuchen, menschliche Irrtümer zu widerlegen?

Zur »Freiheit des Menschen«: Ist er frei zu wählen, ob zwei und zwei vier ist? »Der Mensch, der sich selbst wählt«: Warum wählt der Mensch nichts anderes als was er ist – etwas anderes, als wozu er gewählt worden ist?

Eine der unglückseligsten Verkehrtheiten unseres Zeitalters ist die »historische Methode« mit ihrer »scharfen Kritik« von Schriftstücken und ihrer planmäßigen Missachtung von Quellen, die sich entweder auf Wunder oder sogar auf außergewöhnliches Zusammenfallen von Ereignissen beziehen. Wenn man das Übernatürliche leugnet, ist es nicht klug, Dinge[17] zu erörtern, die ohne dieses keinen Sinn haben, und auch nicht, sich mit der Psychologie derer zu beschäftigen, die es anerkennen.

Die Kritiker, welche das Übernatürliche leugnen, wenden eine künstliche und kleinliche Logik auf Dinge an, die sich ihnen a priori entziehen; das Offensichtliche erscheint ihnen als »naiv«; sie ersetzen die Intelligenz durch eine Art eiskalter Schlauheit, die sich an Verneinungen und Widersinnigkeiten berauscht.

Theoretiker mit untermenschlichen Neigungen verfälschen unsere Wirklichkeit, indem sie diese auf ein künstliches Spiel mechanischer Wahlmöglichkeiten beschränken und indem sie den Menschen so in eine Art Raum ohne Luft und ohne Ausblick einsperren. Sie verstehen beispielsweise nichts von der religiösen Sittlichkeit, von den Unwägbarkeiten ihres inneren Lebens und berücksichtigen offensichtlich überhaupt nicht Eingriffe des Übermenschlichen, seine Berufungen, seine Eingebungen; ihnen zufolge funktioniert die überlieferte Sittlichkeit, wie ihre eigenen bewusst unmenschlichen Systeme, mechanisch und gewissermaßen außerhalb von Gott. Die – im Grunde großmütige – Unbestechlichkeit des Übermenschlichen wird ersetzt durch die Unerbittlichkeit des Unmenschlichen; die Welt ist in ein Zwangssystem von Ameisen verwandelt. Es genügt nicht, an Gott zu glauben, man muss auch an den Teufel glauben. Heutzutage ersetzt der Teufel die Logik durch eine falsche Psychologie und die Psychologie durch eine falsche Logik.

Wenn man sich in Ermangelung geistiger Maßstäbe auf den Weg planmäßigen moralischen Argwohns einlässt, kommt man zu keinem Ende, denn alles lässt sich durch moralischen Geschmack erklären; der bloße Moralismus macht es immer[18] möglich zu beweisen, dass weiß schwarz und dass zwei und zwei fünf ist. Er ist umso weniger wieder gutzumachen, als er Tatsachen einen scheinbaren Zusammenhang verleiht, eine Täuschung, die ihn in seinem Irrtum bestätigt: Den Argwohn kümmert es nämlich nicht, Tatsachen, die überhaupt nichts miteinander zu tun haben, die gleichen vermeintlichen Absichten zu unterschieben; die Natur des moralischen Psychologismus schließt wirkliche Erklärungen aus, da diese ja ihrerseits auf dasselbe Gesetz des Argwohns treffen, der alles herabsetzt und der das Ende der Wahrheit ist.

Psychologische Mutmaßungen verraten immer im Maße ihrer Falschheit die Fehler ihres Urhebers.

Es gibt heutzutage zu viele Menschen, die, wenn sie für sich »Objektivität« beanspruchen, nur eine Sentimentalität durch eine andere ersetzen; diese sogenannte »Objektivität« ist lediglich eine verweichlichte und selbstgefällige Sentimentalität, die viel trügerischer ist als eine durchsichtige »Subjektivität«.

Wahre Objektivität stellt das Kalte und das Heiße nicht einander gegenüber, sondern übersteigt beides: Sie stellt sich wie eine Leere gegen eine falsche Fülle, sei sie heiß oder kalt, oder wie ein Schweigen gegen eine plumpe und unbesonnene Behauptung.

Für allzu viele Menschen ist die »Objektivität« nur die Unfähigkeit, zwischen Wahrheit und Irrtum oder zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit zu unterscheiden. Die spontane Entrüstung des guten Menschen angesichts von Irrtum oder Ungerechtigkeit wird mit einem Mangel an »Objektivität« verwechselt; man vergisst, dass Zorn ein Maßstab für Wahrhaftigkeit und damit für Unparteilichkeit sein kann.

[19]Wenn die gefühlsbetonte »Subjektivität«1 das herabsetzt, was ihr entgegensteht, verrät sie sich weniger durch Zorn als vielmehr durch Hass: durch eine Gier nach irgendwelchen Argumenten, dann durch einen planmäßigen Eifer anzuklagen, und vor allem auch durch die Inanspruchnahme abwertender psychologischer Unterstellungen. Die Gerechtigkeit ist dagegen naturgemäß uneigennützig: Sie gibt sich zufrieden mit den unbedingt notwendigen Gewissheiten; sie verschmäht Vermutungen; die Wahrheit, die ihre Wurzel ist, verpflichtet sie zur Nüchternheit und einer großmütigen Klugheit.

Eine der größten Quellen des Irrtums ist es, das Wahrscheinliche für sicher zu halten und das Unwahrscheinliche für unmöglich.

Beschauliche Intelligenz, überlieferungsgemäße Lehrrichtigkeit, göttliche Eingebung: Dies sind die drei Elemente, die die lehrmäßige Wahrheit ausmachen.

In der modernen Philosophie verbürgt nichts den himmlischen Charakter der Eingebung, um es vorsichtig zu sagen; nichts macht ihn wahrscheinlich; selbst die Erwiderungen auf den Irrtum laufen Gefahr, sogleich selbst Opfer des Irrtums zu werden, oder eher: Es ist unmöglich, dass sie dies nicht werden.

Denker des 19. Jahrhunderts – Comte oder Schopenhauer zum Beispiel – mögen altmodisch oder überholt erscheinen, etwa so wie Maler oder Bühnenschriftsteller der gleichen[20] Zeit; die Wortführer der Philosophia perennis aber, mögen sie vor zweitausend Jahren geschrieben oder an den Grenzen der Erde gelebt haben, werden immer die Frische und die vollkommene Gegenwartsnähe haben, die von der mit Intelligenz ausgedrückten Wahrheit herrührt; die wirkliche Weisheit verblüht nicht, genauso wenig wie die wirkliche Kunst. Der auf Begrifflichkeit beruhende Relativismus schafft die Wahrheit ab, um eine blinde und plumpe rein biologische Scheinwirklichkeit an ihre Stelle zu setzen.

1 Diese darf nicht mit der physischen Subjektivität verwechselt werden, die sinnliche Erscheinungen auf diese oder jene Weise wahrnimmt, und auch nicht mit der Subjektivität des Geistes, der ein bestimmtes Bewusstsein des Wirklichen hat.

[21]3

Corruptio optimi pessima: Überlieferte Einrichtungen, das Königtum zum Beispiel, haben niemals einen derartigen Mangel an »Qualität« gehabt wie in den letzten Jahrhunderten, nicht in sich, aber in den Händen der Menschen und als menschliche Tatsachen. Denn die Menschen sind niemals schwächer gewesen, und sie haben niemals mehr dieser Einrichtungen bedurft als seit ihrer Abschaffung.

Wenn man über Zivilisationen spricht, stellt man gerne bestimmte Teilaspekte heraus, sei es zum Guten oder zum Schlechten: Man vergisst dabei, dass die chinesische Zivilisation nicht in der Verformung der Füße der Frauen besteht, und dass ein Krankenhaus oder eine Straße keine Zivilisation ausmacht.

Eine Zivilisation ist eine Welt, das heißt eine aus auf Ausgleich beruhende Gesamtheit. Es gibt keinen vielschichtigen Organismus ohne irgendwelche Übel; die Natur ist da, um das zu beweisen.

Die Gemeinschaft als solche kommt grundsätzlich einer Verdickung und Verhärtung gleich: daher die Unmöglichkeit für jedwede Gemeinschaft, Missbräuche rechtmäßiger Ansprüche zu vermeiden. Missbräuche liegen in der Natur des Menschen, vor allem, wenn diese in einer Gemeinschaft offenbar wird; in diesem Fall werden manche Missbräuche zur Gewohnheit, fast zur Norm. Es gibt keine Gemeinschaft, nicht einmal eine religiöse, die nicht irgendeinen Missbrauch beginge; auf eine überlieferungstreue Gemeinschaft verzichten, um die Missbräuche abzuschaffen, hieße, auf die gesellschaftliche Ordnung[22] zu verzichten; es hieße im Übrigen und ganz offensichtlich, um des Schlechteren willen auf das Bessere zu verzichten. Rechte, die beim einzelnen Menschen der Verteidigung dienen, dienen der Gemeinschaft zum Angriff. Es ist dem heiligen Gesetz nicht möglich, das Feststehende der menschlichen Natur zu verändern; es vermag nur, es so weit abzuschwächen, dass die Aufrechterhaltung des geistigen Lebens gewährleistet ist.

Die Gemeinschaft als solche mit einer geistigen Norm zu verwechseln, heißt, die Intelligenz nach und nach zu erdrosseln.

Gleichwohl hat die Gemeinschaft vor allem den Charakter einer natürlichen unbeteiligten Tatsache und dadurch auch den eines verhältnismäßigen Gutes: Sie kann als duldige Trägerin eines himmlischen Willens dienen – vox populi vox Dei –, unter der Bedingung, dass sie a priori durch einen solchen Willen bestimmt wird, das heißt durch ein heiliges Gesetz; sie ist aber nie in einem unmittelbaren Sinne ein geistiges Gut; der Geist liegt ständig im Kampf mit ihr, genauso wie im Menschen der Geist im Kampf liegt mit dem Ich. Die Menge mag in dem der Träger des Geistes sein, was an ihm summarisch ist; doch auf sich allein bezogen macht sie sich zur Wortführerin all dessen, was es im Menschen an Untermenschlichem gibt; sie gleicht der quantitativen und blinden, aber im Grunde unschuldigen Natur.

In einem gewissen äußerlichen Sinne ist das große gesellschaftliche und politische Übel des Abendlandes der Einsatz von Maschinen; die Maschine verursacht am unmittelbarsten die großen Übel, unter denen die heutige Welt leidet. Die Maschine ist grosso modo durch den Gebrauch von Eisen, von Feuer und von unsichtbaren Kräften gekennzeichnet. Nichts ist trügerischer, als vom weisen Gebrauch der Maschinen zu sprechen, von ihrer Unterwerfung unter den menschlichen[23] Geist, denn es liegt in der Natur des Einsatzes von Maschinen, die Menschen zu versklaven und sie vollständig zu verschlingen, ihnen nichts Menschliches zu lassen, nichts, was über das Tierische, das Massenmäßige hinausginge. Die Herrschaft der Maschine ist auf die des Eisens gefolgt, oder vielmehr, sie hat dieser ihren unheimlichsten Ausdruck verliehen: Der Mensch, der die Maschine geschaffen hat, endet damit, das Geschöpf der Maschine zu werden.

Es gibt noch ein anderes großes Übel, das dem ersten verwandt ist: die Hygiene; nicht die Hygiene, die für den Menschen mehr oder weniger natürlich ist, sondern die wissenschaftliche, die aggressive und praktisch unbegrenzte Hygiene. Sie versorgt die Maschinen mit einer Heerschar von Opfern und verwandelt die Menschheit in einen Heuschreckenschwarm.

Der moderne Mensch, der allem Übel entgehen will, stürzt schließlich in alle Übel.

Alle Zivilisationen sind verfallen, aber jeweils auf verschiedene Weise: Der Verfall des Morgenlandes ist duldig, der Verfall des Abendlandes tätig.

Der Fehler des verfallenen Morgenlandes ist, dass es nicht mehr denkt; der des verfallenen Abendlandes, dass es zu viel und falsch denkt.

Das Morgenland schläft auf Wahrheiten; das Abendland lebt in Irrtümern.1

[24]✵

Der Abendländer ist anderen Menschen nur durch seinen erfinderischen Geist überlegen; nun ist dieser aber lediglich eine – durch den Humanismus und seine Folgen bedingte – Abweichung des schöpferischen Geistes, der dem Abendland und Morgenland gemeinsam ist. Das Abendland beweist seine Größe durch seine Dome, nicht durch Maschinen oder andere Erfindungen, die nur irdische Ziele zu erreichen suchen.

Der einzige für den menschlichen Wert ausschlaggebende Maßstab ist aber die Einstellung des Menschen dem Unbedingten gegenüber, und in dieser Hinsicht zumindest kann man sagen, dass der Europäer keinerlei Überlegenheit besitzt.

Man darf außerdem den schöpferischen Geist – und vor allem den erfinderischen Geist – nicht mit dem reinen Erkenntnisvermögen verwechseln und natürlich auch nicht mit dem Adel. Die schwarze Rasse hat zweifellos weder einen Dante noch den Erbauer des Taj Mahal hervorgebracht, wohl aber Heilige,2 und das ist es, was vor Gott zählt.

Außerdem darf man nicht übersehen, dass Völker mit einer sehr »differenzierten« und »verstandesmäßigen« Zivilisation dazu neigen, gewisse Arten der Intelligenz, die ihnen nicht vertraut sind, zu unterschätzen. Es gibt in afrikanischen Rhythmen mehr Intelligenz als in der Mehrzahl psychologischer Romane.

Die Freiheit, welche überlieferungstreue Zivilisationen gewähren, ist qualitativ und realistisch. Die quantitative und idealistische Freiheit der Moderne schließt definitionsgemäß[25] die Freiheit für das Böse mit ein, somit auch die, die ganze Freiheit abzuschaffen.

Die Nächstenliebe geht von der Wahrheit aus, dass der Nächste kein anderer ist als ich selbst, da er ja ein Ich besitzt; dass er vor Gott weder mehr noch weniger »ich selbst« ist als ich; dass das, was dem »Anderen« gegeben wird, »mir selbst« gegeben wird; dass der Nächste, auch er, nach dem Bilde Gottes geschaffen ist; dass er in sich die Möglichkeit der göttlichen Gegenwart trägt, und dass sie in ihm verehrt werden muss; dass das dem Nächsten erwiesene Gute uns vom Trug der Ichheit reinigt und uns praktisch davon befreit, wenn es im Hinblick auf Gott vollzogen wird.

Der – unter Umständen atheistische – philosophische Humanitarismus geht von dem Irrtum aus, dass der Mensch und sein irdisches Wohlbefinden absolute Werte seien; dass der Mensch von Natur aus gut sei, dass es somit keine von Grund auf schlechten Menschen gebe; dass es keine mit dem irdischen Wohlbefinden unverträgliche Werte gebe; dass das, was dem menschlichen Individuum und seiner Bequemlichkeit widerspricht, nicht gut sein könne.

Wahre Nächstenliebe kann manchmal dem unmittelbaren Nutzen der Menschen zuwiderlaufen und auch dem irdischen Wohlbefinden.

Wir hören oft, dass eine Kritik »unfruchtbar« sei, weil sie keine »konstruktiven« Vorschläge enthalte; dies ist so, als hätte man, weil man nicht imstande ist, jemandem den richtigen Weg zu zeigen, nicht das Recht, ihm zu sagen, dass er auf einen Abgrund zu laufe; oder auch: Es ist so, als verböte man uns, Flecken auf der Sonne festzustellen mit der fadenscheinigen[26] Begründung, dass wir keine Sonne ohne Flecken schaffen könnten.

In Wirklichkeit ist jede Wahrheit naturgemäß konstruktiv, denn nur der Irrtum zerstört. Eine Zerstörung zerstören, das ist bereits konstruktiv.

1 Unter »Abendland« verstehen wir hier nicht das überlieferungstreue Christentum, sondern den »Modernismus«, gleich ob christlich oder nicht; zum »Abendland« zählen also auch Morgenländer – und andere NichtEuropäer –, die durch die Psychose des sogenannten Fortschritts verseucht sind.

2 Die schwarze Rasse hat sicherlich große Krieger und Staatsmänner hervorgebracht, deren Namen aber durch das Fehlen schriftlicher Zeugnisse entweder in der Erinnerung vor Ort verblieben oder der Vergessenheit anheimgefallen sind.

[27]II

ÄSTHETIK UND SINNBILDLICHKEIT IN KUNST UND NATUR

[28][29]1

In der Ordnung der geistigen Hilfsmittel hat die Schönheit, die bejahend und barmherzig ist, ihren Platz gewissermaßen am Gegenpol der Askese, die verneinend und unerbittlich ist; die eine enthält indessen immer etwas von der anderen, denn alle beide gehen auf die Wahrheit zurück und verleihen ihr aus verschiedenem Blickwinkel Ausdruck.

Das Trachten nach dem Unangenehmen lässt sich insoweit rechtfertigen, als es eine Form der Askese ist; es darf jedoch nicht so weit gehen, dass es zum Kult des Hässlichen wird, denn dann würde es eine Seite der Wahrheit leugnen. In einer noch ganz von der Überlieferung geprägten Kultur könnte sich die Frage kaum stellen; Hässlichkeit war dort mehr oder weniger zufällig. Nur in der modernen Welt ist sie zu einer Art Norm oder Grundsatz geworden; die Schönheit erscheint dort wie eine Besonderheit, ja sogar als Luxus, daher die häufige Verwechslung auf allen Ebenen zwischen Hässlichkeit und Einfachheit.

In unserer Zeit erhält die Unterscheidung von Formen eine ganz besondere Bedeutung: Der Irrtum tritt in allen Formen auf, die uns umgeben und in denen wir leben; er droht, unser Empfindungsvermögen zu vergiften, sogar unser geistiges, indem er in es eine Art falscher Gleichgültigkeit, Verhärtung und Banalität einführt.

Die wahre Ästhetik1 ist nichts anderes als die Wissenschaft von den Formen; ihr Ziel ist also das Objektive, das Wirkliche, nicht die Subjektivität als solche. Formen und reingeistiges[30] Schauen: Die ganze überlieferungsmäßige Kunst fußt auf dieser Entsprechung. Außerdem kann der Sinn für Formen auch bei der geistigen Spekulation eine wichtige Rolle spielen: Die Richtigkeit – oder die Logik – der Proportionen ist in jedem Bereich, wo formhafte Elemente vorkommen, ein Maßstab für die Wahrheit oder den Irrtum.

Der Widerschein des Über-Formhaften im Formhaften ist nicht das Formlose, sondern im Gegenteil die strenge Form. Das Über-Formhafte verkörpert sich im Formhaften zugleich »logisch« und »großzügig«, somit in der Schönheit.2

Der unwissende und weltliche Ästhetizismus gibt dem Schönen – oder dem, was er in seinem gefühlsbetonten Idealismus dafür hält – einen Platz außerhalb des Wahren, zumindest in der Praxis, und setzt sich so Irrtümern auf seiner eigenen Ebene aus. Selbst wenn der Ästhetizismus der unintelligente Kult des Schönen oder genauer der ästhetischen Empfindung sein mag, bedeutet das keineswegs, dass der Schönheitssinn nur Ästhetizismus wäre.

Das soll nicht heißen, der Mensch hätte keine andere Wahl als die zwischen Ästhetizismus und Ästhetik oder, anders gesagt, zwischen Vergötterung des Schönen und wissenschaftlicher Beschäftigung mit der Schönheit; die Liebe der Schönheit ist etwas, das außerhalb ihrer gefühlsbetonten Abirrungen und ihrer verstandesmäßigen Grundlagen liegt.

Die Schönheit ist ein Widerschein der göttlichen Glückseligkeit; und so wie Gott die Wahrheit ist, so wird der Widerschein[31] seiner Glückseligkeit jene Mischung aus Glück und Wahrheit sein, der wir in jeder Schönheit begegnen.

Formen ermöglichen eine unmittelbare und »plastische« Aufnahme von Wahrheiten – oder Wirklichkeiten – des Geistes. Die Geometrie des Sinnbildes ist von Schönheit durchdrungen, die ihrerseits und auf ihre Weise ein Sinnbild ist. Die vollkommene Form ist jene, in der sich die Wahrheit in der Strenge der sinnbildlichen Formgebung und in der Reinheit und Intelligenz des Stiles verkörpert.

Der Mensch, der den Sinn für Formen besitzt, zieht einen prachtvollen Tempel möglicherweise nicht einer Hütte vor, aber er wird immer eine Hütte einem geschmacklosen Palast vorziehen.

Der von Leidenschaften bestimmte und oberflächliche Ästhet wird immer den prachtvollen Tempel vorziehen und manchmal sogar den geschmacklosen Palast der Hütte.

Das ist der ganze Unterschied.

Die Schönheit ist ein Spiegel des Glücks und der Wahrheit. Ohne das Element »Glück« bleibt nur die nackte, geometrische, rhythmische oder sonstige Form; ohne das Element »Wahrheit« bleibt nur der ganz subjektive Genuss, der Luxus, wenn man so will. Die Schönheit hat ihren Platz zwischen der abstrakten Form und dem blinden Vergnügen, oder sie verbindet sie vielmehr so, dass sie auf die wahrheitsgetreue Form das Vergnügen überträgt und auf das wahrheitsgetreue Vergnügen die Form.

[32]Die Schönheit ist eine Kristallisation eines bestimmten Anblicks der allumfassenden Freude; sie ist eine Unbegrenztheit, die sich mittels einer Grenze ausdrückt.

In gewissem Sinne ist die Schönheit immer mehr als sie gibt, und in einem anderen gibt sie immer mehr als sie ist; gemäß der ersten Bedeutung zeigt sich das Wesen als äußere Erscheinung, und gemäß der zweiten übermittelt die äußere Erscheinung das Wesen.

Die Schönheit ist immer unvergleichlich: Es gibt keine vollkommene Schönheit, die schöner wäre als eine andere vollkommene Schönheit; dass wir eine bestimmte Schönheit einer anderen vorziehen können, ist eine Frage der persönlichen Wesensverwandtschaft oder der wechselseitigen Ergänzung, keine der reinen Ästhetik. Die menschliche Schönheit kann sich innerhalb jeder der großen Rassen zeigen, gewöhnlich aber wird der Mensch einem bestimmten Typus der Schönheit in seiner eigenen Rasse dem einer Schönheit in einer anderen Rasse den Vorzug geben; umgekehrt können sich qualitative und universelle Wesensverwandtschaften zwischen menschlichen Typen zeigen, die stärker sind als Wesensverwandtschaften innerhalb der Rasse.

Die künstlerische Schönheit ist, wie jede andere, objektiv, also durch das Erkenntnisvermögen unterscheidbar, nicht durch den Geschmack; dieser ist in dem Maße berechtigt, wie es die Eigenarten des Individuums sind, das heißt in dem Maße, wie sie positive Seiten eines bestimmten menschlichen Richtmaßes wiedergeben. Die Geschmäcke müssen von der reinen Ästhetik ausgehen; sie müssen gleichwertig sein wie die verschiedenen Blickwinkel des Auges; Kurzsichtigkeit oder Blindheit sind keine Betrachtungsweisen, sondern Sehschwächen.

[33]✵

In der Schönheit »verwirklicht« der Mensch auf duldige – hinsichtlich der Wahrnehmung des Werkes – oder äußerliche – hinsichtlich der Schaffung des Werkes – Weise das, was er auf tätige oder innerliche Weise »sein« sollte.

Wenn er sich mit Unzulänglichkeiten einer vom Grundsatz abgewichenen Kunst umgibt, wie kann er dann noch das »sehen«, was er »sein« soll? Er läuft Gefahr, das zu »sein«, was er »sieht«, sich an die Irrtümer anzugleichen, die sich ihm durch die fehlerhaften Formen, inmitten derer er lebt, aufdrängen.

Der moderne Satanismus zeigt sich – in der zweifelsohne äußerlichsten, aber auch am unmittelbarsten greifbaren und aufdringlichsten Weise – in der geistlosen Hässlichkeit der Formen. »Abstrakte« Geister, die nichts »sehen«, lassen sich nichtsdestoweniger in ihrer allgemeinen Gesinnung von den Formen beeinflussen, die sie umgeben, und denen sie bisweilen mit einer erstaunlichen Oberflächlichkeit jegliche Bedeutung absprechen, als ob die überlieferungstreuen Kulturen nicht einmütig das Gegenteil verkünden würden. Es ist außerdem angebracht, diesbezüglich an die geistige Ästhetik gewisser großer Kontemplativer zu erinnern, was beweist, dass der Sinn für das Schöne sogar in einer Welt richtiger Formen eine besondere geistige Bedeutung übernehmen kann.

Aus dem Blickwinkel der mystischen Askese oder der Buße kann die Schönheit als etwas Weltliches erscheinen, weil dieser Standpunkt dazu neigt, alles mit den Augen des Willens zu betrachten; die Schönheit vermischt sich dann mit dem Begehren. Vom Standpunkt der reingeistigen Erkenntnis – welcher derjenige der Natur der Dinge und nicht der Zweckdienlichkeit ist – ist die Schönheit geisterfüllt, weil sie auf ihre Weise die[34] Wahrheit und die Glückseligkeit zum Ausdruck bringt. Daran liegt es, dass der geborene Beschauliche die Schönheit nicht betrachten oder vernehmen kann, ohne in ihr etwas von Gott wahrzunehmen; dieser göttliche Inhalt ermöglicht es ihm, sich umso leichter vom äußeren Anschein zu lösen. Was den leidenschaftlich bestimmten Menschen betrifft, so sieht er in der Schönheit die Welt, die Verführung, das Ich; sie entfremdet ihn von dem »einen Notwendigen«, zumindest wenn es eine natürliche Schönheit ist, nicht wenn sie zum Bereich der heiligen Kunst gehört, denn dann beherrscht das »Eine Notwendige« das Bedürfnis nach Schönheit angesichts der Frömmigkeit, des Eifers, des Himmels.

Jeder dieser beiden Standpunkte muss der Wahrheit des anderen Rechnung tragen: Der Blickwinkel des Verdienstes kann nicht verhindern, dass die Wahrheit grundsätzlich für alle Menschen zwingend geboten ist, sogar für die schwachen, und genau das ist es, was der heiligen Kunst ihre Allgemeingültigkeit verleiht; der Standpunkt des Intellekts wird nicht verhindern, dass alle Menschen eine verführbare Natur haben, sogar die starken. Man muss nicht nur zwischen Beschaulichen und Leidenschaftsbestimmten unterscheiden, sondern auch zwischen dem Menschen, insofern er beschaulich und insofern er leidenschaftsbestimmt ist.

Die Schönheit zu verleumden kann manchmal nützlich sein, es ist aber immer eine Art Beleidigung.

Die Kunst muss stets einen zugleich menschlichen und göttlichen Wesenszug haben: einen menschlichen in Bezug auf die umgebende Natur, die für die Kunst als Materia prima dient, und einen göttlichen in Bezug auf das unentwickelte und eigenschaftslose Menschliche, auf unser rohes psychologisches Dasein. Im ersten Fall trennt die Kunst das menschliche Werk[35] von der Natur aufgrund der Tatsache, dass sie, weit entfernt davon, lediglich nachgeahmt zu werden, im Gegenteil entsprechend der geistigen und technischen Gesetze ausgedeutet und verwandelt wird; im zweiten Fall erhält die rohe menschliche Natur einen idealen Inhalt, der ihn ordnet, ihn lenkt und ihn entsprechend des zureichenden Grundes unserer Conditio humana über sich selbst hinaus erhebt.

Dies sind die beiden Wesenszüge, welche die Kunst bestimmen und ihr ihren Daseinsgrund geben.

Neben ihren inneren Wesenszügen dienen die Formen der Kunst einem genau umrissenen Zweck: Um sich unbehindert kundgeben zu können, bedürfen die geistigen Einflüsse einer geformten Umgebung, die ihnen entspricht, ohne die sie nicht ausstrahlen können, selbst wenn sie immer gegenwärtig bleiben. Es stimmt zwar, dass sie trotz allem in der Seele eines Heiligen ausstrahlen können, aber nicht jeder ist heilig, und ein Heiligtum ist dazu da, das Mitschwingen des Geistes zu erleichtern, nicht ihm im Wege zu stehen.3

Die heilige Kunst ist dazu da, Träger geistiger Ausstrahlungen zu sein; sie ist gleichzeitig für Gott, für die Engel und für die Menschen da; die weltliche Kunst ist nur für die Menschen da und begeht gerade dadurch Verrat an ihnen.

Die heilige Kunst hilft dem Menschen, seine eigene Mitte zu finden, jenen Kern, der Gott von Natur aus liebt.

Außer ihrer »bewahrenden« und »anregenden« Aufgabe, die die Gemeinschaft und auch, auf unmittelbarere Weise, gewisse Beschauliche betrifft, die sich von ihrer Sinnbildlichkeit[36] anregen lassen und ihre Schönheit in sich aufnehmen, gehört die heilige Kunst zum Bereich der »sinnlichen Tröstungen«; diese können näher zu Gott führen oder von ihm entfernen, je nach den subjektiven Anlagen des Einzelnen und unabhängig vom objektiven Wert der Formen.

Wenn der Beschauliche sich von der Kunst als solcher abwenden »kann«, insoweit er Gott in der Leere sucht, »muss« er andererseits jedoch eine individualistische Kunst ablehnen, die zwangsläufig auf irgendeiner Ebene irreführende Einflüsse ausübt und eine falsche Fülle vortäuscht.

Im Mittelalter konnte der religiöse Mensch in einem Umfeld beten, wo alles von einem einheitlichen Geist wie auch von einem übernatürlich eingegebenen Erkenntnisvermögen zeugte; er konnte auch vor einer leeren Wand beten; er hatte die Wahl zwischen der immer wahrheitsgetreuen Sprache kostbarer Formen und der Stille grober Steine; und es war sein Glück, dass er keine andere Wahl hatte.

In unserem Erkenntnisvermögen gibt es etwas, das ganz in Ruhe leben möchte, etwas, wo das Bewusste und das Unbewusste in einer Art duldiger Regsamkeit aufeinandertreffen, und an dieses Element richtet sich die zugleich gehobene und ungezwungene Sprache der Kunst: gehoben wegen der geistigen Sinnbildlichkeit der Formen und der Erhabenheit des Stils und ungezwungen wegen der Art der ästhetischen Aneignung. Wenn diese Funktion unseres Geistes, diese zwischen dem Natürlichen und Übernatürlichen stehende Einfühlung, deren Schwingungen unberechenbar sind, planmäßig verletzt und irregeleitet wird, wird das außerordentlich schwerwiegende Folgen nach sich ziehen, wenn nicht für jeden Einzelnen, dann zumindest ganz sicher für die Zivilisation.

[37]Möchte ein Kind, dass seine Mutter jeden Tag ein anderes Gesicht hat? Möchte der Mensch jeden Tag seine Wohnung verändern? Ein Heiligtum hat etwas von den ausgebreiteten Armen einer Mutter und der Vertrautheit einer Wohnung an sich: Die Seele und das Erkenntnisvermögen müssen hier ihre Ruhe finden können.