Logik und Transzendenz - Frithjof Schuon - E-Book

Logik und Transzendenz E-Book

Frithjof Schuon

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Beschreibung

"Den Menschen umgibt die schwindelerregende Vielzahl der Erscheinungen; das vollkommene Erkenntnisvermögen besteht darin, die Einheitlichkeit und die Äußerlichkeit dieser Erscheinungen in Bezug auf eine alles übersteigende Einheit und eine geeinte Innerlichkeit wahrzunehmen." Frithjof Schuon zeigt in diesem Werk, dass das "Denken des Herzens" den Horizont des menschlichen Erkenntnisvermögens erweitern kann - einerseits den des Rationalismus und Irrationalismus der Neuzeit, andererseits den einer theologischen Argumentationsweise, die aus Sorge um das volle Mysterium des Glaubens dem menschlichen Denken grundsätzlich misstraut. Frithjof Schuon (1907-1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis ("immerwährende Weisheit") genannt wird, und welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrunde liegen. "Logik und Transzendenz werden allzu oft als Gegensätze angesehen, wobei man die Logik dem Rationalismus zuordnet, die Transzendenz der Mystik. In diesem Buch, das zu seinen philosophisch strengsten gehört, beweist Schuon, dass das religiöse Leben nicht unlogisch sein muss. Im Gegenteil muss das klare Denken zunächst die Infralogik falscher Philosophien durchschauen, bevor es sich angesichts des Überrationalen auflöst." (James S. Cutsinger, Professor an University of South Carolina, Autor von Advice to the Serious Seeker: Meditations on the Teaching of Frithjof Schuon) "Dieses Werk ist eine regelrechte Hymne des Intellekts auf den Intellekt. Es durchschaut auf unnachahmliche Weise das Labyrinth des philosophischen Denkens der Moderne und bietet Lösungen für unlösbar erscheinende Probleme. Schuon zeigt, dass diese in den meisten Fällen das Ergebnis von falsch gestellten Fragen sind. Er beseitigt die Unklarheit des modernen Rationalismus und Irrationalismus wie die Morgensonne, die durch ihr bloßes Erscheinen den Nebel auflöst. Dieses Buch gehört zu Schuons größten Meisterwerken und ist eins der wichtigsten philosophischen Werke des 20. Jahrhunderts - wenn man unter Philosophie dem Wortsinn gemäß ›Liebe der Weisheit‹ versteht." (Seyyed Hossein Nasr, Professor an der George Washington University, Autor von Die Erkenntnis und das Heilige)

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Seitenzahl: 521

Veröffentlichungsjahr: 2013

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Deutschsprachige Bücher von Frithjof Schuon

Philosophische Werke

Leitgedanken zur Urbesinnung. Zürich 1935; Freiburg 1989, 2009

Das Ewige im Vergänglichen. Weilheim 1970; München 1984

Von der inneren Einheit der Religionen. Interlaken 1981; Freiburg 2007

Den Islam verstehen. München 1988, 1991, 2002. Freiburg 1993

Schätze des Buddhismus. Norderstedt 2007

Esoterik als Grundsatz und als Weg. Hamburg 2012

Metaphysik und Esoterik im Überblick. Hamburg 2012

Gedichte

Sulamith. Bern 1947

Tage- und Nächtebuch. Bern 1947

Glück. Freiburg 1997

Leben. Freiburg 1997

Liebe. Freiburg 1997

Sinn. Freiburg 1997

Perlen des Pilgers. Düsseldorf 2000

Sinngedichte. Bd. 1 – 10. Sottens 2001 – 2005

Frithjof Schuon

Logik und Transzendenz

Übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von

Wolf Burbat

WEISHEIT DER WELT

© World Wisdom Books

Titel des französischen Originales: Logique et Transcendance, Éditions Traditionnelles, 1970

Aus dem Französischen übersetzt, mit Anmerkungen und einem Glossar versehen von Wolf Burbat

Umschlagbild: Traditionelles persisches Muster

WEISHEIT DER WELT ist das deutschsprachige Imprint von

World Wisdom, Inc.,

P.O. Box 2682, Bloomington, Indiana 47402-2682

www.worldwisdom.com

Verlag: tredition GmbH

ISBN: 978-3-8495-4451-5

www.tredition.de

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Vorbemerkung des Übersetzers

Einführung

Der Widerspruch des Relativismus

Der Missbrauch der Begriffe des Konkreten und des Abstrakten

Wirklicher und scheinbarer Rationalismus

Von den Gottesbeweisen

Das Argument der Substanz

Offenkundigkeit und Mysterium

Die morgenländische Argumentationsweise und ihre Verwurzelung im Glauben

Der Demiurg in der nordamerikanischen Mythologie

Alchemie der Gefühle

Die Sinnbildlichkeit der Sanduhr

Die Frage der geistigen Befähigung

Was mit der Gottesliebe einhergeht

Verstehen und Glauben

Der Knecht und die Einung

Wesen und Amt des geistigen Meisters

Der Befreite und das göttliche Bildnis

Wahrheiten und Irrtümer über die Schönheit

Das Gelübde des Dharmakâra

Der Mensch und die Gewissheit

ANHANG

Anmerkungen des Übersetzers

Glossar

Index

Frithjof Schuon

Vorbemerkung des Übersetzers

Wir freuen uns, mit diesem Buch die dritte einer Reihe von geplanten Übersetzungen von Werken Frithjof Schuons in deutscher Sprache vorlegen zu können. Der in Deutschland noch wenig bekannte Schuon (1907–1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er besaß einen außerordentlichen Überblick über die religiösen Überlieferungen der Menschheit, konnte die Vielfalt der Erscheinungen bis in ihre Tiefe durchdringen und seine Erkenntnisse in meisterhafter, oft dichterischer Sprache ausdrücken. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis, Philosophia perennis oder Religio perennis – also immerwährende Weisheit, immerwährende Philosophie oder immerwährende Religion – genannt wird, welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschieden Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrunde liegen.

Das vorliegende Werk ist Schuons zehntes Buch; die französische Originalausgabe erschien 1970.

In diesem Buch setzt sich Schuon unter anderem mit Fragen der Erkenntnistheorie auseinander. Dabei grenzt er sich einerseits von neuzeitlichen Denkern wie Kant ab, die das menschliche Erkenntnisvermögen auf das schlussfolgernde Denken des Verstandes beschränken, andererseits von Theologen – gleich welcher Konfession –, die ein Misstrauen dem menschlichen Denken gegenüber hegen aus der Sorge, dieses könne den Glauben gefährden.

Ein bedeutsamer Begriff für Schuons Denken in diesem Zusammenhang ist der des »Intellekts«. Um diesen und andere Schlüsselbegriffe richtig zu verstehen, ist es wichtig, sie in ihrem ursprünglichen Sinn zu begreifen und nicht so, wie er sich im Laufe der Zeit verändert hat. So sind etwa im modernen Sprachgebrauch die Worte »Intellekt« und »Verstand« gleichbedeutend. Demgegenüber unterscheidet der Verfasser – im Gefolge von Denkern wie Platon, Plotin und Meister Eckhart – das verstandesmäßige, sich durch gedankliche Schlüsse vollziehende Erkennen von der sich in »geistiger Schau« vollziehenden intellektuellen oder – wie es manchmal heißt – »reingeistigen« Erkenntnis: »Die beschauliche Kraft, die Empfänglichkeit dem ungeschaffenen Licht gegenüber, das Öffnen des Auges des Herzens, all das unterscheidet das übernatürliche Erkenntnisvermögen vom Verstand. Dieser erkennt das Allgemeine und schreitet mit gedanklichen Schritten voran, während der Intellekt das Grundsätzliche – das Metaphysische – erkennt und intuitiv fortschreitet.«1 Gern führt der Autor den folgenden, Meister Eckhart zugesprochenen Satz an: Aliquid est in anima quod est increatum et increabile … et hoc est Intellectus (»Es ist etwas in der Seele, was unerschaffen und unerschaffbar ist … und das ist der Intellekt«). Bedeutsam ist hier, dass der Intellekt als göttlich angesehen wird, er ist überpersönlich und überrational; er gehört nicht dem einzelnen Menschen, vielmehr hat dieser grundsätzlich Zugang zu ihm.

Während sich die Philosophie im modernen Sinne dieses Wortes des individuellen, schlussfolgernden Verstandesdenkens bedient, vollzieht sich die metaphysische Erkenntnis durch den überpersönlichen und überrationalen Intellekt.

Obwohl Deutsch seine erste Muttersprache war, hat Schuon seine metaphysischen Werke auf Französisch verfasst, einer Sprache, die sich aufgrund ihres lateinischen Ursprungs und ihres unzweideutigen Wortschatzes hierfür besonders gut eignet. Schuon liebte die deutsche Sprache sehr und bestand darauf, sie weitgehend von Fremdwörtern freizuhalten. Dem haben wir in der vorliegenden Übersetzung Rechnung zu tragen versucht; so wird der Leser einige mittlerweile selten gewordene Wörter wie »Geistigkeit« statt »Spiritualität«, »Anblick« oder »Gesichtspunkt« statt »Aspekt«, »Sammlung« statt »Konzentration« und dergleichen mehr finden. Als Muster hat uns hierbei Schuons eigene Übertragung seines ersten Hauptwerkes De l’unité transcendante des religions (1948) ins Deutsche gedient.2

Andererseits war es unumgänglich, eine Reihe von Fremdwörtern zu benutzen, seien es philosophische Fachausdrücke oder Begriffe aus einer Vielzahl von Überlieferungen; diese Begriffe aus dem Sanskrit, dem Griechischen, dem Lateinischen und dem Arabischen wurden in einem Glossar im Anhang des Buches zusammengestellt, übersetzt und erklärt.

Weiterhin haben wir im Anhang nach Seitenzahl geordnete »Anmerkungen des Übersetzers« zusammengestellt, in denen im Text auftretende Anspielungen auf überlieferte theologische Lehren, wichtige Philosophen oder geistige Meister sowie heilige Schriften der Weltreligionen erläutert werden.

1 Gnosis: Divine Wisdom. A New Translation with Selected Letters. Bloomington 2006, S. 36.

2 Deutsch: Von der inneren Einheit der Religionen. Freiburg i. Br. 2007.

Einführung

Schriften, die nicht zur Naturwissenschaft oder zur modernen Philosophie gehören, führen zu meistens unangemessenen Gedankenverknüpfungen; die allgemeine Meinung reiht sie nämlich sogleich in Sparten ein, die man zu Recht oder zu Unrecht als minderwertig ansieht, wie den »Okkultismus«, den »Synkretismus«, den »Gnostizismus«, den »Intellektualismus« oder die »Esoterik«.

Was den ersten dieser Begriffe anbelangt, erinnern wir zunächst daran, dass der Ausdruck »okkult« seinen Ursprung aus den vires occultae ableitet, also den unsichtbaren Naturkräften, und aus den occulta, den Geheimnissen, die sich auf die alten Mysterien beziehen; in Wirklichkeit beschränkt sich der moderne Okkultismus grosso modo auf die Untersuchung außersinnlicher Erscheinungen, eine Untersuchung, die aufgrund ihres rein empirischen Charakters und somit wegen des Fehlens einer jeglichen grundlegenden Lehre ganz von Zufälligkeiten abhängt. Der Okkultismus reicht vom bloßen Experimentieren bis hin zu pseudoreligiösen Spekulationen und Praktiken; von da ist es nur noch ein Schritt, bis man aus jeder echten esoterischen Lehre oder Methode einen »Okkultismus« macht, ein Schritt, der aus Unwissenheit, Gleichgültigkeit oder Nachlässigkeit – dazu ohne Scham und Skrupel – von denen unternommen worden ist, für die eine solche Abwertung von Bedeutung ist. Es ist so, als würde man die wahren Mystiker als Okkultisten bezeichnen unter dem Vorwand, dass auch sie sich mit dem Unsichtbaren beschäftigten.

Ähnliche Bemerkungen lassen sich zum Begriff des »Gnostizismus« machen; es möge genügen, hier an den Unterschied zwischen der Gnosis an sich und dem geschichtlichen und ketzerischen Gnostizismus zu erinnern, insbesondere an den des Valentinus. Dass es im Herzen einer jeden Religion eine Gnosis gibt – grundsätzlich oder tatsächlich, und unabhängig davon, wie weit entfaltet diese sein mag –, liegt in der Natur der Dinge und kann daher nicht infrage gestellt werden, als handelte es sich um menschliche Erfindungen oder um geschichtliche Zufälligkeiten. Die Gnosis und die »Esoterik« stimmen miteinander überein, allerdings mit dem Unterschied, dass Letztere auch einen Bereich der willensmäßigen und gefühlshaften Mystik in der Art der hinduistischen Bhakti umfasst. Nur die Stufe der Gnosis verkörpert eine gewissermaßen unbedingte Esoterik; die Stufe der Liebe ist eine verhältnismäßige und bedingte Esoterik – insofern es sich um die Methode handelt, denn die Liebe an sich ist ebenfalls, wie die Schönheit, ein Bereich der Erkenntnis –, und diese Stufe bildet eine Art Brücke zwischen der Gnosis und der allgemeinen religiösen Gläubigkeit, der Exoterik. Das Christentum hat das Gesetz der Vorschriften und mit ihm den Messianismus selbst auf die innerliche Ebene verlegt, daher das grundlegende Missverständnis zwischen der jüdischen und der christlichen Religion; das Christentum widersetzte sich in seiner Entstehungszeit dem auf Gesetz und Form ausgerichteten Judentum – nicht jedoch dem Essenertum –, wie sich der »Geist« gegebenenfalls und in gewisser Beziehung dem »Buchstaben« widersetzt, oder wie sich das Wesen der Form widersetzen kann. Indem diese Botschaft den formellen Rahmen des Mosaismus im Namen des Urgehalts sprengte, übernahm sie die Rolle der Esoterik, aber einer Esoterik der Liebe, welche ihrerseits tatsächlich zu einer Exoterik werden konnte, ohne deswegen ihre esoterischen Möglichkeiten, einschließlich jene der Gnosis, verlieren zu müssen noch verlieren zu können.

Die Wörter »Mystik« und »Mystizismus«, die wir hier nicht stillschweigend übergehen können, gehören zu denen, die man häufig missbräuchlich verwendet, indem man sie auf alles Innerliche und Intuitive anwendet, gleich auf welcher Stufe. In Wirklichkeit bezeichnen diese Ausdrücke jegliche innere, nicht ausschließlich verstandesmäßige Verbindung mit den mittelbar oder unmittelbar göttlichen Wirklichkeiten; und es ist normal, dass diese Begriffe vor allem an eine Geistigkeit der Liebe denken lassen, da sie ja europäisch sind und Europa christlich ist. Die Gedankenverknüpfung mit dem »Irrationalen« ist offensichtlich ungerechtfertigt; die geistige Intuition ist nicht vernunftwidrig, sondern übervernünftig. Wie dem auch sei, der einzig richtige Gebrauch des Wortes »Mystik« scheint uns einesteils derjenige zu sein, den die Theologie üblicherweise von ihm macht, und andernteils derjenige, der sich im weiteren Sinne oder vielmehr durch Rückgriff auf die Etymologie aufdrängt, auf die wir oben hingewiesen haben; dieser Gebrauch steht offensichtlich in keiner Beziehung zu böswilligen Absichten oder zu schlichtem Missbrauch der Sprache.

Wir haben weiter oben den Begriff des »Synkretismus« erwähnt, den man unüberlegt auf jegliches geistige Wissen anwendet, das im Lichte der unmittelbar erfassten Wahrheit Begriffe darlegt, die zu verschiedenen Überlieferungen gehören; nun ist es eine Sache, eine Lehre zurechtzuzimmern, indem man unzusammenhängende Vorstellungen recht und schlecht miteinander verbindet, und eine andere, die eine Wahrheit in den verschiedenen Lehren auf der Grundlage dessen, was wir gerne als Sophia perennis bezeichnen, zu erkennen. Nahe verwandt mit der Bezichtigung des Synkretismus ist der Vorwurf, fremde und anscheinend wenig bekannte Begriffe im Lichte bekannter Begriffe auszulegen, etwa fernöstliche Vorstellungen in europäische oder semitische Denkmuster hereinzunehmen; offensichtlich kann dieser Vorwurf in manchen Fällen berechtigt sein, aber er ist es nicht zwangsläufig in jedem Fall, wo ein fremder Begriff mit Hilfe eines vertrauten Begriffes erklärt wird, denn es gibt nur eine Wahrheit und gleichfalls nur eine Menschheit. Zuzugeben, dass eine bestimmte mongolische Vorstellung im Denken der Weißen keine genaue Entsprechung findet, läuft keineswegs auf die Behauptung hinaus, dass sie ihnen unzugänglich sei, oder dass sie sich, im umgekehrten Fall, nicht mit Ausdrücken des Sanskrit, des Griechischen oder einer semitischen Sprache beschreiben ließe. Zweifellos gibt es kein europäisches Wort, um die Idee der nordamerikanischen Indianer Wakan, Manito oder Orenda angemessen wiederzugeben; das heißt aber noch lange nicht, dass ein Europäer sie nicht begreifen oder sie gar in seiner eigenen Sprache nicht beschreiben könnte: Wie geheimnisvoll dieser Begriff zunächst auch sein mag – wie das ihm fast genau entsprechende japanische Kami –, so genügt doch eine Reihe von übereinstimmenden Zeugnissen, um zu sehen, dass das Wakan eine Art mehr oder weniger mittelbarer Theophanie ist, die Kundgebung eines bestimmten zugleich kosmischen und überkosmischen »Genius«; und wenn man diesen, metaphysisch gesehen »pantheistischen«, Standpunkt einnimmt – wobei »pantheistisch« hier im positiven Sinne zu verstehen ist –, so wird man schließlich dahin kommen, in den Erscheinungen den »Genius« zu sehen, der ihre Akzidentalität übersteigt und durch sie hindurch ein Zeuge des Himmels ist. Es kann uns doch niemand erzählen, dass unser »weißes« Gehirn nicht zum Verständnis der Rothäute oder der Japaner fähig sei; denn die Menschheit ist auf erschreckende Weise eine; und wenn dessen ungeachtet die Denkweisen voneinander abweichen – allerdings nicht völlig! –, sind die Leidenschaften und Schwächen von entmutigender Gleichförmigkeit.

Was den Vorwurf des »Intellektualismus« betrifft, so besagt er, dass jegliche Auslegung, die Symbolen einen Sinn beilegt, genau in dem Maße künstlich sei, wie dieser Sinn tief ist, was auf die Behauptung hinausläuft, jede Religion sei ursprünglich auf äußerst grobe Begriffe beschränkt gewesen, und der Begriff der Sinnbildlichkeit selbst sei »intellektualistisch« oder »spiritualistisch« und folglich unecht und künstlich. Es erübrigt sich, auf die Nichtigkeit dieser als Gewissheit hingestellten Hypothese einzugehen; es genügt, sie hier zu erwähnen.

Um zum Begriff der »Esoterik« zurückzukehren, fügen wir hinzu, dass er ganz äußerlicher Art ist und dem Nicht-Esoteriker zwangsläufig immer verdächtig erscheint; es ist ein Begriff pro domo, und wenn sich die Exoterik – die Religion des Buchstabenglaubens und des Ausschließlichkeitsanspruchs – schwer tut, das Vorhandensein und die Berechtigung eines derartigen Bereichs anzuerkennen, so ist das aus verschiedenen Gründen verständlich. In dem Zeitalter des kosmischen Kreislaufs, in dem wir leben, ist jedoch die Lage der Welt derart, dass der ausschließende Dogmatismus – wir sprechen nicht vom Dogmatismus an sich, denn die Dogmen sind notwendig als unwandelbare Grundlagen, haben aber eben innere und einschließende Dimensionen –, Mühe hat, sich zu halten, und wohl oder übel gewisser esoterischer Elemente bedarf, auch auf die Gefahr hin, sich Irrtümern zu öffnen, die weitaus fragwürdiger sind als die Gnosis. Unglücklicherweise ist diese falsche Wahl getroffen worden: Man sucht den Ausweg aus gewissen Sackgassen nicht auf Seiten der Esoterik, sondern auf Seiten der verkehrtesten und verderblichsten philosophischen und wissenschaftsgläubigen Ideologien, und man ersetzt den geistigen Universalismus, dessen Wirklichkeit nur verschwommen wahrgenommen wird, durch einen sogenannten »Ökumenismus«, der nichts als Seichtheit und Sentimentalismus ist und der unterschiedslos alles gelten lässt.

Der umgekehrte Standpunkt, der der streng buchstabengetreuen Gläubigen, ist geistig immer möglich in einem geschlossenen System, das die anderen überlieferungstreuen Welten nicht kennt, doch ist er in einer Welt wie der heutigen, in der alles allem begegnet und sich wechselseitig durchdringt, auf die Dauer unhaltbar und gefährlich; einige Stimmen haben auf sehr missbräuchliche Weise geltend gemacht, dass nach dem hl. Paulus »jeglicher Dienst an einem anderen Gott ein Dienst an Satan ist«, dabei aber einerseits vergessen, dass Paulus von wirklich heidnischen Religionen sprach, von denen es im Mittelmeerraum wimmelte und die er kannte, und andererseits, dass man in Kenntnis der morgenländischen Überlieferungen und Menschen unmöglich annehmen kann, dass sie alle dem Teufel verfallen seien; dass beispielsweise die Millionen von Muslimen, die sich täglich vor Gott niederwerfen, dies völlig vergeblich tun, und zwar seit Jahrhunderten. Zwar räumt die christliche Theologie ein, dass jede Seele insgeheim durch die allgegenwärtige Gnade Christi gerettet werden kann, und sie wendet das Pauluswort nicht ausdrücklich auf die mohammedanischen Monotheisten an, verhindert aber auch nicht, dass es angewandt wird; und es geschieht gerade von Seiten derer, die zwar zu Recht einen blinden und zersetzenden Ökumenismus verabscheuen, sich aber dabei nur umso stärker auf ihren an sich entschuldbaren, in unserer Zeit der kulturellen Berührungen aber tatsächlich gefährlichen und wirklichkeitsfremden Ausschließlichkeitsanspruch versteifen. Es ist unmöglich geworden, eine einzige Religion dadurch wirksam gegen alle anderen zu verteidigen, dass man diese allesamt und rückhaltlos mit dem Bann belegt; sich darauf zu versteifen – wenn man nicht in einer noch mittelalterlichen Gesellschaft lebt, in welchem Fall sich die Frage nicht stellt –, läuft fast darauf hinaus, gegen die Offensichtlichkeit der überprüften und überprüfbaren astronomischen Tatsachen am ptolemäischen System festhalten zu wollen. Wir glauben im Übrigen nicht, dass der notwendig gewordene geistige Zusammenhalt ein vollkommenes gegenseitiges Verstehen mit sich bringen könne oder müsse; es kann auf halbem Wege stehenbleiben, zumindest für den Durchschnitt der Menschen, zumal es immer möglich ist, Fragen auszuklammern, die man nicht entscheiden kann oder nicht entscheiden will. Was wir – wir betonen es nochmals – vor allem im Auge haben, ist nicht die – letztlich widersprüchliche – Vorstellung eines verallgemeinerten metaphysischen und auf das Wesentliche abzielenden Verständnisses, sondern einzig die Möglichkeit eines hinreichenden Verständnisses, das es einerseits gestattet, das religiöse Erbe vor den Versuchungen der allgegenwärtigen Wissenschaftsgläubigkeit zu schützen, und andererseits ein vollkommen folgerichtiges und nicht sentimentales Zusammenstehen all derer zu verwirklichen, die überlieferungsgemäß die Transzendenz und die Unsterblichkeit anerkennen.

Um Missverständnissen vorzubeugen, zu denen Begriffe wie »Schule« oder »Richtung« Anlass geben können, und infolge gewisser Erfahrungen, glauben wir, den Leser darauf hinweisen zu müssen, dass wir nicht unbedingt jede Einschätzung, Schlussfolgerung oder Theorie teilen, die im Namen der metaphysischen, esoterischen oder allgemein überlieferungsmäßigen Grundsätze geäußert worden ist; anders gesagt, übernehmen wir keinerlei Behauptung, nur weil sie zu dieser oder jener Schule gehört, und wir wollen nur für das verantwortlich gemacht werden, was wir selbst schreiben. Diese Frage der »Schule« erinnert uns im Übrigen an eine andere Bezeichnung einer Gruppe, jene des »Traditionalismus«: Wie jene der »Esoterik« hat sie gewiss nichts Abwertendes an sich, sie ist sogar weniger anfechtbar und jedenfalls viel umfassender als die zweitgenannte, aber nichtsdestoweniger ruft sie tatsächlich, und zwar aufgrund einer ganz besonders abscheulichen Willkür, eine Vorstellung wach, die auf die Entwertung ihres Gehaltes abzielt, nämlich jene der »Sehnsucht nach der Vergangenheit«; und es ist kaum zu glauben, dass man sich häufig dieses dummen und unredlichen Winkelzuges als Argument gegen streng lehrhafte oder einfach logische Standpunkte bedient. Jenen, die sich nach einer bestimmten Vergangenheit sehnen, weil sie lebenswichtige Werte besaß, wirft man vor, an diesen Werten zu hängen, weil sie zur Vergangenheit gehören, oder weil man möchte, dass sie auf »nicht rückgängig zu machende« Weise dort blieben; ebenso gut könnte man sagen, dass die Annahme einer arithmetischen Offensichtlichkeit nicht die normale Tätigkeit des Verstandes beweise, sondern eine krankhafte Leidenschaft für Zahlen. Wenn die Anerkennung des Wahren und Rechten eine »Sehnsucht nach der Vergangenheit« ist, dann ist es zweifelsohne ein Verbrechen oder eine Schande, diese Sehnsucht nicht zu empfinden.

Ebenso verhält es sich mit anderen Beschuldigungen, zu denen der Begriff der »Tradition« Anlass gibt, wie »Romantik«, »Ästhetizismus« und »Folklore«; weit davon entfernt, unsere Wesensverwandtschaft mit diesen Dingen abzustreiten, bekennen wir uns im Gegenteil zu ihnen, in genau dem Maße, wie sie eine Beziehung entweder zur Überlieferung oder zur unberührten Natur haben, und indem wir ihnen folglich ihre rechtmäßige und zumindest unschuldige Bedeutung zurückgeben. Denn »die Schönheit ist der Glanz des Wahren«; und da man fähig sein kann, dies zu sehen, ohne es – gelinde gesagt – an »Ernsthaftigkeit« fehlen zu lassen, haben wir uns nicht dafür zu entschuldigen, dass wir für diesen Anblick der Wirklichkeit besonders empfänglich sind.

Der Widerspruch des Relativismus

Der Relativismus beschränkt alles, was den Charakter der Absolutheit besitzt, auf die Relativität und macht dabei eine völlig unlogische Ausnahme bei dieser Beschränkung selbst. Er besteht alles in allem in der Behauptung, es sei wahr, dass es keine Wahrheit gebe, oder es sei absolut wahr, dass es nur relativ Wahres gebe; ebenso gut könnte man sagen, es gebe keine Sprache, oder schreiben, es gebe keine Schrift. Kurz, jegliche Idee wird auf eine psychologische, eine geschichtliche oder eine gesellschaftliche Relativität zurückgeführt und beschränkt; diese Behauptung hebt sich selbst auf, da sie sich ihrerseits selbst als eine psychologische, geschichtliche, gesellschaftliche oder beliebige andere Relativität herausstellt. Die Behauptung hebt sich auf, wenn sie wahr ist, und dadurch, dass sie sich logisch selbst aufhebt, beweist sie, dass sie falsch ist; der Widersinn, von dem sie ausgeht, besteht in der stillschweigenden Anmaßung, sie allein könne, wie durch Zauberei, einer Relativität entrinnen, die sie als einzige Möglichkeit erklärt hatte.

Das Axiom des Relativismus lautet: »Man kann nie dem menschlich Subjektiven entgehen«; wenn das zuträfe, hätte diese Behauptung ebenfalls keinerlei objektiven Wert, sie fiele ihrem eigenen Urteil zum Opfer. Es ist allzu offensichtlich, dass der Mensch völlig aus dem Subjektiven heraustreten kann, sonst wäre er nicht Mensch; und der Beweis dafür liegt darin, dass wir uns sowohl das Subjektive als auch dessen Überschreitung vorstellen können. Für den ganz in seiner Subjektivität eingeschlossenen Menschen wäre diese nicht einmal vorstellbar; das Tier lebt in seiner Subjektivität, hat aber keine Vorstellung von ihr, da es nicht wie der Mensch die Gabe der Objektivität besitzt.

Der soziale Relativismus wird nicht danach fragen, ob es stimmt, dass zwei und zwei vier sind, er wird bloß fragen, aus was für einem sozialen Umfeld derjenige kommt, der das behauptet; und dies, ohne sich klar zu machen, dass ja das soziale Umfeld, wenn es schon das Denken bestimmt und Vorrang vor der Wahrheit hat, dies in allen Fällen gilt, das heißt, dass dann jegliches Umfeld das Denken bestimmt und jegliches Denken von irgendeinem Umfeld abhängt. Wenn man uns entgegenhielte, dass ein bestimmtes Umfeld das Erfassen der Wahrheit begünstige, könnten wir den Spieß leicht umdrehen, indem wir uns auf eine andere Wertordnung bezögen, was beweist, dass besagtes Argument nichts anderes ist als eine Petitio Principii oder im besten Falle eine Wahrscheinlichkeitsrechnung ohne besondere Tragweite. Dasselbe gilt für den geschichtlichen Relativismus: Da jeder menschliche Gedanke zwangsläufig zu einem gegebenen Zeitpunkt gedacht wird – nicht hinsichtlich des Inhaltes, wohl aber hinsichtlich des Denkvorgangs –, hätte jeder Gedanke nur einen verhältnismäßigen Wert, er wäre von Anfang an »veraltet« und »überholt«; es würde sich demnach überhaupt nicht mehr lohnen zu denken, da der Mensch ja nicht aus der Dauer heraustreten kann.

Gegenstand oder Angriffspunkt des Relativismus ist im Übrigen nicht immer die Wahrheit als solche, es kann irgendeine Ausdrucksform oder irgendeine Erscheinungsweise der Wahrheit sein, namentlich sittliche und ästhetische Werte; man kann jegliche Richtigkeit auf einen beiläufigen und mehr oder weniger unbedeutenden Umstand zurückführen und so jeglicher missbräuchlichen Gleichsetzung, jeglicher Herabwürdigung und jeglicher Betrügerei Tür und Tor öffnen. Auf Sachverhalte der Überlieferung angewendet besteht der Relativismus alles in allem in der fehlerhaften Verwechslung von ruhenden und bewegten Elementen: Man spricht von »Epochen« oder »Stilen«, und man vergisst dabei, dass das, worum es sich handelt, die Kundgabe objektiver und feststehender, auf ihre Weise also endgültiger Gegebenheiten ist. Im Wachstum eines Baumes entspricht eine bestimmte Phase offensichtlich einem bestimmten Zeitabschnitt, was den Stamm nicht hindert, Stamm zu sein, die Äste nicht, Äste zu sein, und die Früchte nicht, Früchte zu sein; der Stamm eines Apfelbaumes ist im Hinblick auf den Apfel nicht bloß ein Zeitabschnitt, noch ist der Apfel ein anderer Zeitabschnitt im Hinblick auf den Stamm oder den Ast. Der als »Gotik« bezeichnete Zeitabschnitt hatte seiner Natur nach das Recht, innerhalb seines Bereiches bis zum Ende der Zeiten zu überdauern, denn die ethnischen Voraussetzungen, die ihn bestimmten, haben sich nicht geändert und können sich auch nicht ändern, es sei denn, die lateinisch-germanische Christenheit würde mongolisch; die gotische oder romanisch-gotische Kultur ist nicht von der »Evolution« überholt worden, sie ist nicht in etwas anderes übergegangen, sondern sie wurde von einer außerchristlichen Macht, dem Neuheidentum der Renaissance, ausgelöscht. Wie dem auch sei, einer der hervorstechendsten Züge des zwanzigsten Jahrhunderts ist die zur Gewohnheit gewordene Verwechslung von Entwicklung und Verfall: Es gibt keinen Verfall, keine Schwächung, keine Fälschung, die man nicht mit dem relativistischen Vorwand der »Evolution« entschuldigen würde, indem man sich dabei auf die unzulässigsten und irrigsten Gleichsetzungen stützt. So kommt es, dass der Relativismus, der öffentlichen Meinung nach allen Regeln der Kunst eingeflößt, einerseits allen Zersetzungen Tür und Tor öffnet und andererseits darüber wacht, dass keine gesunde Gegenwehr dieses Abgleiten ins Niedrige aufhalten kann.

Während Irrtümer, welche das objektive und echte Erkenntnisvermögen zu verneinen trachten, sich selbst zunichtemachen, indem sie etwas behaupten, was durch das bloße Dasein der Behauptung widerlegt wird, beweist die Tatsache, dass es Irrtümer gibt nicht, dass das Erkenntnisvermögen zwangsläufig fehlbar sei; denn der Irrtum entspringt nicht dem Erkenntnisvermögen als solchem, er ist vielmehr die Erscheinung eines Mangels, welche die Tätigkeit des Erkenntnisvermögens durch ein Element der Leidenschaft oder Blindheit fehlleitet, ohne deshalb die eigentliche Natur dieser Erkenntnisfähigkeit außer Kraft setzen zu können.

Ein offenkundiges Beispiel für den klassischen Widerspruch, von dem hier die Rede ist und der das moderne Denken weitgehend kennzeichnet, ist der Existenzialismus, der eine Definition der Welt aufstellt, die unmöglich ist, wenn er selbst möglich ist, denn nur eins von beiden gilt: Entweder ist objektive und auf seine Weise unbedingte Erkenntnis möglich, dann beweist sie, dass der Existenzialismus falsch ist; oder der Existenzialismus ist wahr, aber dann ist seine Verkündung unmöglich, denn es gibt in der Welt des Existenzialismus keinen Raum für eine objektive und beständige reingeistige Erkenntnis.

Wenn alles, was in irgendeiner Hinsicht menschlich ist, rein psychologische Gründe hat, kann und muss alles durch die Psychologie erklärt werden, daher die »Psychologie der Religionen« und die so genannte psychologische Kritik heiliger Schriften; in allen Fällen dieser Art haben wir es mit leeren Gespinsten zu tun, da die unverzichtbaren objektiven Grundlagen fehlen, die aber den willkürlich als normal hingestellten oder missbräuchlich auf alle möglichen Wissensgebiete übertragenen Forschungsmethoden unzugänglich bleiben.

Auf dem unsicheren Boden des Psychologismus ist die Logik des kantischen Kritizismus alles in allem schon »überholt«, insofern als die »Kritik« hier gerne das Gebaren einer »Analyse« annimmt, was bezeichnend ist, denn der Begriff der »Kritik« ist zweifellos noch zu geistig, um den Zerstörern, welche die Psychologisten sein wollen, genehm zu sein; wie sie ja auch die Metaphysik oder selbst die bloße Logik gern auf grammatische Fragen reduzieren. Man will alles »analysieren«, auf eine gleichsam physikalische oder chemische Weise, und man würde, wenn es möglich wäre, sogar Gott analysieren; man tut dies übrigens mittelbar, wenn man den Gottesbegriff oder die gedanklichen und sittlichen Begleitumstände dieses Begriffes oder die – völlig außer Reichweite liegenden – Ausdrucksformen der unmittelbaren Geistesschau angreift.

Wenn die Lehre Freuds behauptet, das vernunftmäßige Denken sei nur die scheinheilige Verkleidung einer verdrängten Tierhaftigkeit, fällt diese – ganz offensichtlich vernunftmäßige – Erklärung demselben Urteil zum Opfer; hätte diese Lehre recht, so wäre sie selbst nichts anderes als eine symbolisierende Denaturierung leiblich-seelischer Triebe. Sicher werden die Psychoanalytiker sagen, in ihrem Falle hinge das Denken nicht von uneingestandenen Verdrängungen ab; aber wir sehen erstens überhaupt nicht ein, weshalb diese Ausnahme auf der Grundlage ihrer eigenen Lehre zulässig sein soll, und zweitens, warum dieses Ausnahmegesetz nur zu ihren Gunsten gelten soll und nicht zugunsten der geistigen Lehren, die sie voller Hass und mit einem zum Himmel schreienden Mangel an Sinn für Ausgewogenheit zurückweisen. Im Übrigen ist nichts so widersinnig wie ein Mensch, der sich zum Ankläger nicht etwa irgendeines psychologischen Einzelfalles, sondern des Menschen als solchem macht; woher kommt denn dieser Halbgott, der anklagt, und woher kommt seine Fähigkeit anzuklagen? Wenn der Ankläger recht hat, dann deshalb, weil der Mensch nicht so schlecht ist, und weil es in ihm eine Fähigkeit gibt, den Dingen gerecht zu werden; sonst müsste man ja annehmen, die Wortführer der Psychoanalyse seien unversehens vom Himmel herabgefallene Götter, was – gelinde gesagt – mehr als unwahrscheinlich ist.

Die Psychoanalyse schaltet zunächst die transzendenten Elemente aus, die zum Wesen des Menschen gehören, und dann ersetzt sie die Minderwertigkeits- oder Frustrationskomplexe durch solche der Ungezwungenheit und der Eigensucht; sie erlaubt es, mit ruhigem Gewissen und selbstsicher zu sündigen und sich selbst ganz gelassen zu verdammen. Wie alle Philosophien der Zerstörung – die von Nietzsche zum Beispiel – verleiht auch die Lehre Freuds einem relativen Umstand unbedingte Tragweite; wie das ganze moderne Denken vermag sie nur von einem Extrem ins andere zu fallen, weil sie unfähig ist, sich darüber klar zu werden, dass die Wahrheit – und die Lösung – im tiefsten Wesen des Menschen beschlossen liegt, dessen Wortführer, Bewahrer und Bürgen eben die Religionen und die überlieferten Weisheitslehren sind.

In Wirklichkeit besteht die von der Psychoanalyse begründete und verbreitete Denkweise darin, das logische und geistige Gespräch – welches allein menschlicher Wesen würdig wäre – zu verweigern und Fragen auf dem Umweg über unverschämte Mutmaßungen zu beantworten; man versucht nicht mehr herauszufinden, ob der Gesprächspartner recht hat oder nicht, sondern fragt danach, wer seine Eltern waren oder wie hoch sein Blutdruck sei – um uns auf ein paar symbolische und noch dazu ziemlich harmlose Beispiele zu beschränken –, als könnten derartige Argumente nicht leicht auf ihre Urheber zurückfallen, oder als wäre es nicht leicht, durch den bloßen Austausch von Argumenten die eine Analyse mit einer anderen zu erwidern. Die Scheinkriterien der Analyse sind vorzugsweise physiologischer oder soziologischer Art, der Manie der Zeit entsprechend; es fiele nicht schwer, Gegenkriterien zu finden und eine ernsthafte Analyse der Scheinanalyse vorzunehmen.

Wenn der Mensch ein Heuchler ist, kann nur eins von beiden gelten: Entweder ist er dies von Grund auf, und dann kann dies kein Mensch feststellen, ohne selbst auf wunderbare oder göttliche Weise aus der menschlichen Natur herauszutreten; oder aber der Mensch ist nur gelegentlich und bedingt heuchlerisch, und dann wäre es nicht nötig, auf die Psychoanalyse zu warten, um sich darüber klar zu werden, denn die Gesundheit ist tiefer im Wesen des Menschen verankert als die Krankheit, und folglich hat es immer Menschen gegeben, die sich über das Übel und sein Heilmittel klar waren. Oder auch: Wenn der Mensch von Grund auf krank ist, so ist nicht einzusehen, weshalb nur die Psychoanalyse das entdeckt haben sollte und warum ihre völlig willkürliche und tatsächlich zutiefst widernatürliche Erklärung die einzig richtige sein sollte. Man kann für diesen Umstand natürlich die »Evolution« verantwortlich machen, in diesem Fall aber muss man blind sein sowohl für die Tugenden unserer Ahnen als auch für die Laster unserer Zeitgenossen, nicht zu reden von der Unmöglichkeit des Beweises – oder der Unsinnigkeit der Annahme –, dass in einem rein biologischen und quantitativen Ablauf plötzlich eine geistige und sittliche Objektivität auftreten kann.

Denn wenn eine natürliche Entwicklung zu einem sich besinnendem Erkenntnisvermögen führen würde, zu einer Bewusstwerdung, welche die Entwicklung als solche erfassen würde, dann wäre dieses Ergebnis eine Wirklichkeit, die vollständig aus der Ordnung der genannten Entwicklung herausträte, sodass kein gemeinsames Maß mehr bestünde zwischen der Bewusstwerdung und der ganz unwesentlichen Bewegung, die ihr vorausging und die eben deshalb niemals Ursache des betreffenden Bewusstseins werden konnte. Dieser Schluss widerlegt übrigens vollständig die evolutionistische These von der Verwandlung der Arten, also auch die Vorstellung des Menschen als eines »Kettengliedes« oder eines »Zufalls« und damit die ganze Mystik der schöpferischen Materie, der Biosphäre, der Noosphäre, des »Punktes Omega«.1 Der Mensch ist, was er ist, oder er ist nicht; die Fähigkeit des Denkens zur Objektivität und zur Absolutheit beweist die nahezu unbedingte, das heißt die beständige und unersetzliche Eigenart des denkenden Geschöpfes; das ist es, was das biblische Wort ausdrückt: »Geschaffen nach dem Bilde Gottes.«

Diese Fähigkeit zur Objektivität und zur Absolutheit widerlegt von vornherein und daseinsmäßig die Ideologien des Zweifels: Wenn der Mensch zweifeln kann, so deshalb, weil es Gewissheit gibt; schon der Begriff der Täuschung beweist, dass der Mensch Zugang zur Wirklichkeit hat. Folglich gibt es notwendigerweise Menschen, welche die Wirklichkeit erkennen und dadurch über Gewissheit verfügen; und die großen Verkünder dieser Erkenntnis und dieser Gewissheit sind zwangsläufig die besten Menschen. Stünde aber die Wahrheit auf der Seite des Zweifels, dann wäre der Mensch, der zweifelt, nicht nur diesen Verkündern überlegen, die nie zweifelten, sondern auch der Mehrheit der normalen Menschen durch die Jahrtausende menschlichen Daseins hindurch. Wäre der Zweifel dem Wirklichen angemessen, besäße die menschliche Intelligenz keinen zureichenden Grund, und der Mensch wäre weniger als ein Tier, denn die Intelligenz des Tieres zweifelt nicht an dem Wirklichen, dem sie angemessen ist.

Jede Wissenschaft von der Seele müsste eine Wissenschaft von den verschiedenen Arten der Begrenztheit oder der Fehlerhaftigkeit sein; nun sind hier vier wesentliche Arten oder Ordnungen zu beachten, nämlich die allumfassende, die allgemeine, die individuelle und die äußerliche.

Das bedeutet, dass es bei jedem Menschen eine allumfassende Begrenztheit oder »Fehlerhaftigkeit« gibt, aufgrund dessen, dass er Geschöpf und nicht Schöpfer, Kundgebung und nicht Urgrund oder göttliches Sein ist; sodann gibt es bei ihm eine allgemeine Begrenztheit oder »Fehlerhaftigkeit«, da er ein irdischer Mensch und weder ein Engel noch ein Seliger ist; ferner besteht eine individuelle Fehlerhaftigkeit, weil er er selbst und nicht ein anderer ist; und schließlich gibt es eine äußerliche Fehlerhaftigkeit, weil der Mensch unterhalb seiner selbst lebt, es sei denn, er sei vollkommen.

Es gibt keine Wissenschaft von der Seele ohne metaphysische Grundlage und ohne geistige Heilmittel.

Das typisch psychologische Denken überspringt stets einige Stufen; es will dynamisch und wirkungsvoll sein, bevor es wahr ist, will Lösung und Heilmittel sein, bevor es Feststellung ist; es macht überdies gerne Winkelzüge, um sich seiner geistigen Verantwortung zu entziehen. Stellen wir uns vor, jemand sagt, jeder Mensch müsse sterben, und man antwortete ihm, dies sei nicht wahr, weil es schwermütig oder fatalistisch oder verzweifelt mache; genauso denkt der Mensch »unserer Zeit« gerne: Seine Einwände gegen die Wahrheiten, die ihm unangenehm sind, gehen immer an der Frage vorbei, es sind immer Winkelzüge und Verwechslungen verschiedener Wirklichkeitsebenen. Meldet jemand ein Feuer, so verweigert man ihm das Recht, es zu melden, wenn er es nicht auch löschen kann; und wenn jemand behauptet, dass zweimal zwei vier sei und dies gewisse Vorurteile oder Interessen durcheinander bringe, so wird man ihm entgegnen, seine Rechnung beweise nicht etwa die Fähigkeit zu zählen, sondern einen Genauigkeitskomplex, den sich der Betreffende zweifellos durch sein übertriebenes Hängen an der »Vergangenheit« zugezogen habe, und so weiter; Zerrbilder sind diese Metaphern nur durch ihre Einfachheit oder ihre Freimütigkeit, denn allzu oft steht die Wirklichkeit unseren Vereinfachungen in nichts nach. Die Psychoanalyse hat es fertiggebracht, den Verstand zu verderben, indem sie einen »psychoanalytischen Komplex« schuf, der alles zersetzt; wenn es möglich ist, das Absolute auf mancherlei Weise zu leugnen, dann leugnet der psychologistische und existenzialistische Relativismus es in der Intelligenz selbst: Diese setzt sich praktisch an Gottes Stelle, aber auf Kosten all dessen, was ihr eigenes Wesen, ihren Wert und ihre Wirksamkeit ausmacht; die Intelligenz wird »mündig«, indem sie sich selbst zerstört.

Es gibt einen moralistischen Relativismus, der wahrhaft widerwärtig ist: Wenn man sagt, Gott und das Jenseits seien wirklich, so ist man feige oder unehrlich oder kindisch oder beschämend abnorm; sagt man aber, die Religion sei nur Betrug, so ist man mutig, anständig, ehrlich, mündig, völlig normal. Wenn das alles zuträfe, wäre der Mensch nichts, er wäre weder fähig zur Wahrhaftigkeit noch zum Heldentum, und es gäbe nicht einmal jemanden, der das feststellen könnte, denn man macht keinen Helden aus einem Feigling und keinen Weisen aus einem Schwachsinnigen, nicht einmal durch die »Evolution«. Dieser moralistische, je nachdem niederträchtige oder auch nur dumme Winkelzug ist nicht ganz neu: Bevor man ihn auf geistige Einstellungen anwandte, verwandte man ihn dazu, das beschauliche Leben zu verunglimpfen, indem man es als »Flucht« bezeichnete, als hätte der Mensch nicht das Recht, vor Gefahren, die nur ihn etwas angehen, zu fliehen, und vor allem, als wäre das von der Welt abgewandte beschauliche Leben nicht vielmehr eine Pilgerfahrt zu Gott; vor Gott zu fliehen, wie es die weltlich Gesinnten tun, ist unvergleichlich unsinniger und verantwortungsloser, als vor der Welt zu fliehen. Die Flucht vor Gott ist zugleich eine Flucht vor sich selbst; denn wenn der Mensch mit sich allein ist – und sei es inmitten anderer Menschen –, ist er stets mit seinem Schöpfer zusammen, mit ihm, dem er an der Wurzel seines Seins begegnet.

Ganz auf der Linie des alles in Beschlag nehmenden und alles vereinfachenden Psychologismus ist auch die vorgefasste Meinung, die religiösen Haltungen auf Reflexe der Angst und der Unterwürfigkeit, also auf Infantilismus und Erbärmlichkeit zurückzuführen;2 zuerst müsste man beweisen, dass die religiösen Ängste wirklich grundlos sind, und dann den wahren Sinn und die wirklichen inneren Folgen der frommen Seelenhaltungen zu verstehen suchen. Wir sagen zuallererst, dass es keine Erniedrigung bedeutet, sich vor dem Absoluten zu demütigen, und dies weder objektiv noch folglich subjektiv; ferner ist es wichtig, die Frage zu beantworten, »wer« sich niederwirft oder demütigt; ganz offensichtlich ist es nicht unser überpersönlicher Wesenskern, der geheimnisvolle Sitz der innewohnenden göttlichen Gegenwart. In Wirklichkeit geht es für das bedingte Wesen – oder das »Geschöpf«, wenn man so will – nur darum, sich seiner seinsmäßigen Abhängigkeit von dem einen göttlichen Wesen bewusst zu werden, aus dem es stammt und das es auf seine Weise kundgibt; dieses Bewusstwerden sieht, aufgrund des angeborenen Verfalls des Menschen, äußerlich wie eine Demütigung aus, aber dadurch entspricht es um so mehr der Wirklichkeit. Es liegt auf der Hand, dass unsere gottähnliche und unsterbliche Wesenheit etwas Majestätisches an sich hat, das schon in der Gestalt des menschlichen Körpers sichtbar wird; niemand ist mehr darauf bedacht, dies hervorzuheben, als die Religionen, was man ihnen übrigens ebenso wenig verzeiht wie die umgekehrte Haltung; es ist jedoch ebenso klar, dass etwas im Menschen ist, das Beschränkung und Herabsetzung verdient. Es ist unmöglich, dass das Ich, so wie es in seinem menschlich-tierischen Wesen ist, gegen jeglichen Vorwurf des Himmels gefeit ist; das Ungleichgewicht und das Bruchstück schulden dem kosmischen Gleichgewicht und der göttlichen Ganzheit Rechenschaft und nicht umgekehrt. Sich dieser Lage bewusst zu sein, ist die erste Bedingung der menschlichen Würde, die man so schlecht versteht in einer Zeit, da die Demagogie auf allen Ebenen des Denkens zu einem »kategorischen Imperativ« geworden ist.

Der Relativismus erzeugt den Geist der Auflehnung und ist zugleich dessen Frucht. Der Geist der Auflehnung ist, anders als der heilige Zorn, kein vorübergehender und gegen irgendeinen irdischen Missbrauch gerichteter Zustand; er ist im Gegenteil eine chronische Krankheit, die gegen den Himmel gerichtet ist und gegen alles, was für ihn steht oder an ihn erinnert. Wenn Lao-Tse sagte: »Am Ende der Zeiten wird der edle Mensch als verachtenswert gelten«, hatte er diesen unser Jahrhundert kennzeichnenden Geist der Auflehnung im Sinn. Für den psychologistischen und existenzialistischen Relativismus aber, der von vornherein stets dem rohen Ich recht gibt, ist dieser Geisteszustand die Norm, während seine Abwesenheit als Krankheit gilt; daher die Abschaffung des Sinns für die Sünde. Der Sinn für die Sünde ist das Wissen um ein Gleichgewicht, das unser persönliches Wollen übersteigt und das, mag es uns auch gelegentlich wehtun, letztlich zum Besten unserer Gesamtpersönlichkeit wie auch zum Besten der Allgemeinheit ist. Dieser Sinn für die Sünde hängt mit dem Sinn für das Heilige zusammen, mit dem Gefühl für dasjenige, was uns übersteigt und das deshalb nicht mit unwissenden und entweihenden Händen angetastet werden darf.

Freilich ist der Gedanke, man könne die Verdammnis verdienen, weil man »die göttliche Majestät beleidigt hat«, nur dann annehmbar, wenn man entweder fühlt oder wirklich versteht, um was es geht: Die Gottheit ist unpersönlich, bevor sie sich im Hinblick auf die menschliche Person als göttliche Person ausprägt, und auf der Ebene der Unpersönlichkeit gibt es zwischen Gott und Mensch nur ein seinsmäßiges und logisches Verhältnis von Ursache und Wirkung; auf dieser Ebene kann nicht von »Güte« die Rede sein, denn die unbedingte Wirklichkeit ist, was sie ist, und die reine Ursächlichkeit hat nichts besonders Moralisches an sich. Auf der Ebene der Offenbarung als göttliche Person aber kann die Barmherzigkeit, dieses wunderbarste aller Geheimnisse, eingreifen; und dieses Eingreifen zeigt gerade, dass das Unbedingte keine blinde Macht ist. Zwar erheben die Menschen in ihrer geistigen Trägheit und in ihrem Mangel an Vorstellungsvermögen gerne eine einfältige Demut zur Vorschrift, doch ist das kein Grund zu glauben, dass Gott selbst eine solche fordere, und dass es nicht möglich wäre, unser Bewusstsein von der Ursächlichkeit und dem Gleichgewicht auf intelligente Weise zum Ausdruck zu bringen; gleichwohl zieht Gott eine einfältige Demut dem intelligenten Hochmut vor, das heißt einem Hochmut, der vom Missbrauch des Verstandes genährt wird.

Der so unleugbar begrenzte und abgesunkene Mensch ist der »Beweis durch das Gegenteil« des göttlichen Urbildes und all dessen, was dieses Urbild beinhaltet und auf den Menschen bezogen bestimmt. Nicht anerkennen, was uns übersteigt, und nicht sich selbst übersteigen wollen: Das ist tatsächlich das ganze Programm des Psychologismus, und es ist genau die Personenbeschreibung Luzifers. Die umgekehrte oder vielmehr die ursprüngliche und maßgebende Haltung ist: Nur denken in Abhängigkeit von dem, was uns übersteigt, und leben, um sich selbst zu übersteigen; die Größe dort suchen, wo sie ist, und nicht auf der Ebene des Einzelnen und seiner sich auflehnenden Kleinkariertheit. Um echte Größe zu erlangen, muss der Mensch zuallererst bereit sein, die Schuld seiner Kleinkariertheit abzutragen und auf der Ebene klein zu sein, wo er nicht anders sein kann als klein; den Sinn für das Objektive einerseits und für das Unbedingte andererseits kann es nicht geben ohne eine gewisse Selbstverleugnung, und eben diese ist es, die uns ermöglicht, der menschlichen Berufung vollkommen treu zu bleiben.

1 Die These von der Verwandlung der Arten (transformistischer Evolutionismus) ist, wie schon gesagt, nichts als ein materialistischer Ersatz für die altüberlieferte Lehre von der gleichzeitig verfestigenden und zergliedernden »Materialisation« eines feinen und übersinnlichen Urstoffes, in welchem alle Möglichkeiten der a posteriori grobstofflichen Welt vorgebildet waren. Die Antwort auf den Evolutionismus ist die Lehre von den Archetypen und von den »Ideen«, wobei diese sich auf das reine Sein – oder den göttlichen Intellekt – beziehen und jene auf den Urstoff, in dem sich die Archetypen durch eine Art von Spiegelung »verkörpern«.

2 Bei dieser Gedankenverbindung zwischen Kindheit und Angst vergisst man übrigens, dass es Furchtempfindungen oder Ängste gibt, die dem Erwachsensein eigen sind; oder umgekehrt, dass es trügerische Sicherheiten gibt, die der Kindheit angehören.

Der Missbrauch der Begriffe des Konkreten

und des Abstrakten

Normalerweise bezeichnet man als »abstrakt« die Allgemeinbegriffe: Wenn man eine Eigenschaft an sich betrachtet, dann »abstrahiert« man von ihren Kundgebungen. Im mittelalterlichen Universalienstreit hatten die Nominalisten nicht unrecht, wenn sie die Allgemeinbegriffe als Abstraktionen ansahen, das heißt als bloße Anhaltspunkte des Denkens, denn vom Standpunkt des Verstandes aus spielen sie wirklich diese Rolle; sie hatten jedoch unrecht, wenn sie den Realisten vorwarfen, in den Universalien konkrete Wirklichkeiten zu sehen, denn hinsichtlich ihrer inneren Natur decken sich die positiven allgemeinen Eigenschaften durchaus mit den »Ideen« oder den Urgründen der Dinge.1

Während aber bei den mittelalterlichen Nominalisten nur die allgemeinen Eigenschaften an sich als abstrakt galten, gibt es im modernen Denken einen bedeutsamen Missbrauch der beiden Begriffe »abstrakt« und »konkret«, die offensichtlich miteinander zusammenhängen: Jede nicht körperlich oder seelisch greifbare – dem reingeistigen Erkennen aber vollkommen zugängliche – Wirklichkeit wird als »abstrakt« angesehen, und das mit einer mehr oder weniger entwertenden Absicht, als ginge es darum, Traum oder gar Lüge vom Wirklichen und von geistiger Gesundheit zu unterscheiden. Die Substanz – das, was aus sich selbst ist – wird für »abstrakt« gehalten, und das Akzidens für »konkret«; man glaubt, dass der Begriff des Übersinnlichen ausschließlich durch Abstraktion erreichbar sei, dadurch, dass man alles Kontingente von ihm abzieht, was zwar auf der Ebene des einfachen logischen Denkens nicht eines gewissen Sinnes entbehrt, auf der Ebene der unmittelbaren geistigen Einsicht aber falsch ist. Unsere Gewissheit des Unbedingten ist nicht das Ergebnis eines gedanklichen Abschälens; sie wohnt dem Kern unserer Intelligenz inne und kann ohne Zuhilfenahme gedanklicher Vorgänge plötzlich in unser Bewusstsein eindringen. Wenn die Intelligenz die Fähigkeit ist, die »Substanzen« durch die »Akzidenzien« hindurch oder auch unabhängig von ihnen zu erkennen, dann ist der »Konkretismus« eine Art philosophischer Kodifizierung der Unintelligenz.

Wenn das Abstrakte das ist, was ein Abziehen von etwas anderem, nämlich von den erfahrungsmäßigen Erscheinungen, voraussetzt, dann sind diese ihrerseits »abstrakt« in dem Sinne, dass es für ihre Betrachtung notwendig ist, von ihrem Wesensgehalt zu abstrahieren; so gesehen spielt das Akzidentelle oder das Erscheinungsmäßige die Rolle der Abstraktion. Die Frage, ob das göttliche Sein eine Abstraktion ist oder nicht, stellt ein künstliches Entweder-oder dar, denn das eine schließt das andere nicht aus: Wenn einerseits das göttliche Sein im Denken und in Bezug auf die Dinge als abstrakt erscheint, so ist es andererseits die objektive und konkrete Wirklichkeit, die, welche den abstrakten Begriff hervorruft oder sagen wir, es ist die konkreteste aller möglichen Wirklichkeiten. Der Begriff des göttlichen Seins ist entweder ein verhältnismäßig unmittelbarer Abglanz dieses Seins im reinen Geist oder dessen mittelbare Spur im Verstand; im letzteren Fall sagen wir, das Sein sei »abstrakt«, weil das denkende Subjekt von den Dingen ausgeht, die »sind«, oder genauer gesagt, die »da sind«, die »existieren«, und weil ohne diese Dinge die Abstraktion undenkbar wäre; für die unmittelbare geistige Einsicht aber, die von der angeborenen und »prälogischen« Gewissheit ausgeht – wobei hier »prälogisch« in einem positiven, »emanatistischen« und nicht evolutionistischen Sinne gemeint ist –,2 ist das Bewusstsein des Seins »etwas vom Sein«, denn es fängt einen Strahl des Seins ein, ist also etwas ganz anderes als ein Denkvorgang. Von diesem Standpunkt aus offenbart sich das Sein als ein »Bewusstsein«, bevor es die Rolle eines »Begriffes« spielt, und es ist nicht zwangsläufig mit einem erfahrungsmäßigen Zusammenhang verbunden; im Spiegel des reinen Geistes ist das göttliche Sein von blendender Offenkundigkeit, vergleichbar zugleich dem geometrischen Punkt und dem unbegrenzten Raum; ein Punkt von unerbittlicher Strenge und ein in seiner Leere seliger Raum. Zusammenfassend können wir sagen, dass das Sein auf zwei Weisen abstrakt ist, insofern es sich erstens hinter den Erscheinungen und zweitens hinter den verstandesmäßigen Schlussfolgerungen verbirgt, dass es aber konkret ist an sich und auch als teilhabende Wahrnehmung des reinen Geistes.

Ähnliche Bemerkungen ließen sich über andere, ebenfalls als »abstrakt« bezeichnete Begriffe machen, zum Beispiel über den der Freiheit: Was ist die Freiheit, außerhalb von freien Geschöpfen oder außerhalb von einem bestimmten freien Geschöpf? Sie ist das Bewusstsein einer unbeschränkten Vielfalt von Möglichkeiten, und dieses Bewusstsein ist ein Anblick des Seins selbst. Denjenigen, die behaupten, dass nur die Freiheitserfahrung eines bestimmten Vogels konkret sei, nicht aber die Freiheit an sich, welche nur eine gedankliche Abstraktion darstelle, antworten wir – ohne deswegen die Anwesenheit der Abstraktion im Verstand zu leugnen –, dass die Freiheit an sich eine unwandelbare Wesenheit ist, an welcher die Geschöpfe teilhaben können oder nicht, und dass eine bestimmte Freiheitserfahrung nur ein »Akzidens« ist. Positiv ausgedrückt ist die Freiheit die Möglichkeit, sich ganz kundzugeben oder vollkommen man selbst zu sein, und diese Möglichkeit – oder diese Erfahrung – durchdringt das All als eine wirkliche und daher konkrete Glückseligkeit, an welcher die Lebewesen entsprechend ihrer Natur oder ihrer Bestimmung teilhaben; das lebendige All ist ein Wesen, das atmet und das zugleich in sich und in seinen unzähligen zu Einzelwesen gewordenen Bestandteilen lebt; im Innersten von all dem aber gibt es die unaussprechliche Freiheit des Unendlichen. Viele Begriffe, die wir der Einfachheit halber »abstrakt« nennen, weil sie außerhalb unserer unmittelbaren oder alltäglichen Erfahrung liegen, oder die wir vorläufig und um unseres Denkens willen als abstrakt bezeichnen, entsprechen Erfahrungen, die tiefer und wirklicher sind als unsere eigenen, Erfahrungen, die von kosmischen Bewusstseinsträgern erlebt werden, von denen wir nur Veräußerlichungen oder Teilstücke sind.

Der Begriff der Gerechtigkeit ist zugegebenermaßen eine Abstraktion; das allumfassende Gleichgewicht aber, auf das die Gerechtigkeit zurückgeht und das die Werke der Gerechtigkeit kundgeben, ist genauso konkret wie das All selbst. Oder, um auf den Begriff der Freiheit zurückzukommen: Wenn ein Vogel seinem Käfig entflieht, sagen wir, er sei frei; ebenso gut könnten wir sagen, dass die Freiheit in einen Punkt der kosmischen Schale eingedrungen sei, sie sich des Vogels bemächtigt habe, oder auch sich durch dieses Geschöpf oder diese Form hindurch kundgegeben habe; die Befreiung ist das, was wird, die Freiheit aber ist das, was ist, was schon immer gewesen ist und immer sein wird. Die Urform aller Freiheit und die Wirklichkeit, die in jeder besonderen, »akzidentellen« Erscheinung von Freiheit zum Ausdruck kommt, ist die Unbegrenztheit des uranfänglichen oder göttlichen Wirkens oder das »Bewusstsein«, das Gott von seiner Allmöglichkeit hat.

Die göttliche Intelligenz, die göttliche Macht, die göttliche Schönheit sind konkrete Wirklichkeiten, nicht nur, insofern sie Eigenschaften des vollkommenen und unwandelbaren göttlichen Seins sind, sondern auch insofern sie die allheitlichen Wurzeln all jener Erscheinungen sind, die diese Eigenschaften auf bedingte Weise kundgeben und sich zu ihnen etwa wie die Schaumtropfen zum Meer verhalten. Die Gegenstücke der allheitlichen Eigenschaften besitzen keine Wirklichkeit in sich, denn sie sind nur Mängel und haben folglich kein wesensmäßiges Dasein; die »reine« Unvollkommenheit, die Unvollkommenheit »an sich« oder »als solche«, wäre logischerweise das Nichts – logischerweise nur und nicht anders, denn das Nichts ist nicht einmal unvollkommen, es ist in keiner Weise. Auf jeden Fall kann sich der Begriff der Unvollkommenheit oder der einer bestimmten Unvollkommenheit oder eines bestimmten Mangels nicht auf eine Wesenheit beziehen, da die allheitlichen Wesenheiten naturgemäß bejahender Art sind; dieser Begriff bezieht sich auf das Unwesentliche, denn ohne Unwesentliches gibt es auch keinen Mangel. Ist deshalb der Begriff der Unvollkommenheit, der der Hässlichkeit zum Beispiel, eine bloße Abstraktion? In diesem Punkt hat der Nominalismus recht – nicht gegenüber dem Realismus, der ihm in dieser Hinsicht nicht widersprechen würde –, denn die Begriffe, die sich auf einen Mangel beziehen, sind in der Tat lediglich Verallgemeinerungen von Unwesentlichem oder auch, wenn man das vorzieht, von Einschränkungen, jedoch unter dem Vorbehalt, dass die Geister der verschiedenen Übel auf der Stufe der nicht-formhaften Wurzeln unserer formhaften Welt vorhanden sind; es versteht sich von selbst, dass die höllischen Wirklichkeiten nicht auf göttlicher Stufe vorhanden sein können. Die bösen Geister oder die Dämonen sind die – in Richtung des an sich nichtvorhandenen Nichts geworfenen – umgekehrten Schatten der Namen Gottes; der »Sturz der Engel« kennzeichnet die kosmische Kundgabe der Grundsätze der Entfernung, der Umkehrung, des Mangels, der Verneinung und auch der Verdichtung und der Zersplitterung.

Heißt dies, dass der Begriff der Hässlichkeit oder des Lasters seinerseits – wie das für die bejahenden Begriffe oder Ideen zutrifft – eine Teilhabe an der Hässlichkeit oder am Laster ist? Selbstverständlich nicht, da die Begriffsbestimmung des Lasters von der Tugend ausgeht; das Gute ist das Maß des Übels; nicht durch die Dummheit erkennen wir die Dummheit, sondern durch die Intelligenz, die diesen Mangel festzustellen erlaubt. Wenn die geistige Wahrnehmung des Guten eine Teilhabe am Guten ist, so hängt die Wahrnehmung des Übels stets von der gleichen Teilhabe ab, aber im äußerlichen und verneinenden Sinne; nur das Laster selbst – nicht sein Begriff – hat an der kosmischen Wurzel des Lasters teil. Es gibt hier keine Symmetrie, da das Erkenntnisvermögen ein Gut ist; die reine Erkenntnis, deren Gegenstand ein Übel ist, bleibt immer ein Gut, eng mit den bejahenden und unwandelbaren »Ideen« der Dinge verbunden und in ihrem Licht und mit ihrer Hilfe wirkend. Das Erkenntnisvermögen ist da, um das Wesen der Dinge zu spiegeln, und erst in zweiter Linie, um die entsprechenden Mängel und Begrenztheiten festzustellen; nur der durch die Abtrennung vom reinen Erkenntnisvermögen gefallene Wille – oder das verdorbene, ebendiesem Willen ergebene und damit von seiner transzendenten Mitte abgetrennte Erkenntnisvermögen –, nur der Wille also erhält letzten Endes die Laster aufrecht; ein Irrtum hat – in dem Maße, wie er schwerwiegend ist – seine Wurzel im willensmäßigen oder leidenschaftlichen Element, und dieses Element ist so hinterlistig, dass es sich den Anschein der reinen Erkenntnis geben kann.3

Wir machen den modernen »Konkretisten« keinen Vorwurf, wenn sie sagen, man müsse die Umstände berücksichtigen und es genüge nicht, die Grundsätze systematisch und blindlings anzuwenden; wir werfen ihnen aber die Behauptung vor, eine Wahrheit sei nur auf der Ebene des Unwesentlichen, nicht des Wesentlichen gültig, und dabei nicht zu sehen, dass ihr »Konkretes« – das eben nichts als Unwesentliches oder Kontingentes ist – schon a priori in dem, was sie das »Abstrakte« nennen, enthalten ist. Dass nämlich beispielsweise die Idee der »Gerechtigkeit« in ihrer Anwendung manchmal paradoxe Ausführungsweisen und Abstufungen erfordert, bedeutet nicht etwa, dass sich die Anwendung gegen die Idee stellt, sondern vielmehr, dass diese Idee in sich selbst das Vorhandensein der Ausführungsweisen mit enthält, und dass eine Anwendung ohne Ausführungsweisen ganz einfach darauf hinausläuft, die eigentliche Idee der Gerechtigkeit nicht zu verstehen; dass ein Armer, der ein Stück Brot stiehlt, anders behandelt werden muss als ein Verbrecher, der einen Schatz stiehlt, ist eine Offenkundigkeit, die nicht bloß von zufälligen Umständen, sondern von der Idee der Gerechtigkeit selbst abhängt. Wir würden uns nicht die Mühe machen, die »Konkretisten« zu tadeln, die tatsächlich auf der Ebene der Anwendungen ganz richtig handeln können – die sich aber auch hier wegen ihres ungenügenden Verständnisses der Idee irren können –, wenn sie nicht den grundlegenden Hang hätten, sich den Grundsätzen entgegenzustellen und alle Wirksamkeit auf einen am Unwesentlichen haftenden Empirismus zu beschränken, ein Hang, der die geistfeindlichen und oft zutiefst ungerechten Missbräuche dessen erklärt, was man heute unüberlegt als »Psychologie« zu bezeichnen pflegt.

Die Kierkegaardsche »Existenz« hebt sich mangels eines hinreichenden Grundes selbst auf: Wie kann man sich auf der Ebene des irdischen Menschen, der erklärtermaßen ein denkendes Wesen ist, eine »existenzielle«, das heißt eine »gelebte und nicht gedachte«, also von »Abstraktion« freie Moral vorstellen? Diese Alternative zwischen »Existenz« und »Denken-Abstraktion« ist das grundlegende Missverständnis des Existenzialismus; und dieser ist nur ein besonders abwegiges Beispiel dafür, was wir das abendländische »Entweder-oder-Denken« nennen könnten.4

Der abendländische Geist hat immer in hohem Maße vom Entweder-oder gelebt: Sei es, dass er Denken und Leben in Gegensätze einschloss, die zwar wirklich, aber zu bruchstückhaft sind und die das seelische Gleichgewicht verletzen – Lust und Leiden zum Beispiel –, sei es, dass er in seinem philosophischen »Suchen« und in seinem zerstörerischen Wettrennen um Neuartigkeit und Wechsel falsche Alternativen aufstellte. Eines der bezeichnendsten Beispiele ist eben der Vorwurf eines Kierkegaard gegenüber dem »abstrakten Denker«, der sich »des Widerspruchs schuldig macht, seine Existenz durch sein Denken beweisen zu wollen«: »In dem Maße, wie er abstrakt denkt, abstrahiert er von der Tatsache seines Daseins«, schließt der Philosoph. Nun ist erstens echtes und intelligentes Denken – und nicht das einfache Aneinanderreihen von Bildern und Zirkelschlüssen – naturgemäß »abstraktes Denken«, sonst wäre es auf die Vorstellung beschränkt; und zweitens gibt es keinen grundlegenden Gegensatz zwischen den beiden Polen »Dasein« und »Denken«, denn unser Dasein ist für uns stets eine Weise des Bewusstseins, und unser Denken ist eine Weise des Daseins; einzig der Irrtum – nicht die »Abstraktion«! – entspricht nicht der unbestreitbaren Tatsache des Daseins, und einzig das mineralische Dasein – nicht unser Leben – löst sich völlig von unserem Bewusstsein, ob sich dieses nun als Gedanke verdichtet oder nicht. Gleichwohl enthält der existenzialistische Vorwurf ein Stück Wahrheit in dem Sinne, dass das schlussfolgernde Erkennen durch die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt trennend ist; der Schluss aber, den man daraus zu ziehen hat, ist nicht der, dass dieses Erkennen auf seiner Ebene wertlos oder dass es inhaltlich beschränkt sei, sondern dass es nicht alles mögliche Erkennen umfasst und dass in der reingeistigen, unmittelbaren Erkenntnis das erwähnte Gegenüber von Subjekt und Objekt überstiegen ist.

Wenn sie nicht künstlich verdorben sind, denken und verhalten sich intelligente Menschen auf bestimmte Weise, und dumme auf andere Weise; nun hat der Existenzialismus das Kunststück oder die Ungeheuerlichkeit vollbracht, die gewöhnlichste Dummheit als Klugheit auszugeben und sie als Philosophie zu verkleiden und die Klugheit an den Pranger zu stellen – die Klugheit aller intelligenten Menschen aller Zeiten. Weil »das Ärgernis kommen muss«, war diese Bekundung des Unsinns vorauszusehen, man durfte die Gelegenheit nicht verpassen, wo sie möglich wurde. Und wenn es »originell« ist, den Irrtum zur Wahrheit, das Laster zur Tugend und das Böse zum Guten zu erheben, dann ist es nicht weniger »originell«, die Dummheit als Klugheit hinzustellen und umgekehrt; man musste nur den Einfall dazu haben. Über Jahrtausende hinweg bestand die Philosophie darin, zu denken; es blieb dem 20. Jahrhundert vorbehalten, nicht zu denken und daraus eine Philosophie zu machen.

Wenn ein Denker die Ursache der Erscheinungen entdeckt zu haben glaubt, taucht ein anderer Philosoph auf, der ihm vorwirft, er habe nicht die Ursache der Ursache gefunden, und so weiter ad infinitum; was heißt, dass die zum Selbstzweck gewordene Philosophie das Forschen nach der Ursache der Ursache der Ursache ist, ohne irgendein mögliches Ergebnis und mit völliger gedanklicher Selbsttäuschung, während man in der echten Weisheit von vornherein weiß, dass die umfassende Wahrheit wie der Funke aus dem Feuerstein aus jeder angemessenen Formulierung aufblitzen kann und muss, dass sie aber hinsichtlich ihrer inneren Unendlichkeit niemals mitgeteilt werden kann. Auf der Ebene der Formulierungen die absolute Entsprechung zu suchen, um damit jegliches Ursächlichkeitsbedürfnis zu befriedigen, auch das künstlichste und das unbedachteste, so wie es die modernen Denker tun und wie es einige ihrer Vorläufer unter den Alten getan haben, ist sicherlich das widersprüchlichste und damit auch das eitelste aller Unterfangen; die »Suche« dieser Philosophen hat also nichts mit der Suche der Beschaulichen zu tun, denn schon ihr Grundsatz – die erschöpfende Entsprechung durch Worte – steht jedem befreienden Ergebnis, jedem Überschreiten des Bereiches der Wörter entgegen. Es ist kein Wunder, dass man nach Jahrhunderten eines immer unbefriedigend bleibenden – und grundsätzlich unbefriedigend bleiben müssenden – Verstandesdenkens dahin gekommen ist, dessen, was man zu Recht oder zu Unrecht für »abstrakt« hält, überdrüssig zu sein, und das leider nicht, um sich einem inneren »Konkreten« zuzuwenden, das die alten Weisen und Heiligen immer gekannt haben, sondern im Gegenteil einem äußeren »Konkreten«, das zugleich verhärtet und zerstreut und nichts als Täuschung ist. Die zugleich nihilistischen und »konstruktivistischen« Neuerer wollen auf allen Gebieten »wieder bei null anfangen«, als wäre es dem Menschen möglich, sich selbst neu zu erschaffen, die Intelligenz zu erschaffen, mit der er denkt, und den Willen, mit dem er wünscht und handelt, mit einem Wort, als käme das Dasein des Menschen nicht anderswo her als von unseren Meinungen und unseren Wünschen.

Eine offensichtliche Bekundung des Konkretismus ist das Vorurteil, das Mittelmaß als Norm zu betrachten, beispielsweise unter dem Vorwand, dass die Schönheit mehr oder weniger eine Ausnahme sei, die Mittelmäßigkeit aber nahezu die Regel; man kommt so dahin, den Verfall als Musterfall hinzustellen, weil er verbreitet ist, und dies im Namen der »Wirklichkeit«, also des »Konkreten«. Wir sehen an diesem Beispiel, wie der Konkretismus das Denken und infolgedessen in gewissem Maße auch die Wissenschaft verderben kann; wir sehen auch, wie der Konkretismus der Demokratie zu Hilfe kommt und, ganz allgemein, dem Kult des Mittelmäßigen und des Groben, ja heutzutage sogar des Unnatürlichen und des Gemeinen. Man kommt sogar soweit, das Volk zu verleumden, indem man ihm Mängel andichtet, die man gern als Tugenden ausgäbe, und dabei absichtlich vergisst, dass das Volk in seinem gesunden Zustand Träger von Werten ist, die nichts mit seinen Eigenschaften der Menge, Schwere und Zersplitterung zu tun haben; das Volk ist nicht einfach dasselbe wie die Massen, es besitzt etwas Gehaltvolles, das die Überlieferung – und nur sie – zur Geltung bringen kann.

In diesem Zusammenhang müssen wir eine philosophische These erwähnen, die behauptet, dass alles Übel auf der Ebene der Kultur, der Gesellschaft und der Politik von der Abstraktion herkomme; nun ist es aber unmöglich, in bestimmten Bereichen nicht abstrakt zu denken, das heißt, den Grundsätzen nicht den Vorrang gegenüber den Tatsachen einzuräumen, und es stellt sich dann nicht die Frage, ob das Abstrakte oder das Konkrete zu wählen sei, sondern welchen Wert im jeweiligen Fall das eine oder das andere hat. Es ist eine Tatsache, dass die unbelehrbarsten Verfechter des Konkreten die im schlechten Sinne abstraktesten Politiker sind, das heißt die wirklichkeitsfremdesten und die unmenschlichsten; umgekehrt haben die im guten Sinne abstrakten Köpfe, das heißt diejenigen, die sich der wirklichen Grundsätze bewusst sind, zugleich das größte Verständnis für menschliche Tatsachen, in dem Maße, wie man sie in Betracht ziehen kann und muss.5

Gewisse Einwände gegen das ewige Leben sind ganz und gar bezeichnend für die »konkretistische« Entartung der Verstandes- und Vorstellungskraft: Dasein, so sagt man, bedeute, sich an Grenzen zu messen; es bestehe darin, Widerstände zu überwinden und etwas hervorzubringen. Man kann sich offenbar kein Dasein vorstellen, das in die tätige göttliche Unwandelbarkeit oder in die unwandelbare göttliche Tätigkeit eingegliedert ist und durch sie lebt. Der Prüfstein des Wirklichen ist bei den Materialisten stets die grobe Erfahrung und die mangelnde Vorstellungskraft des »Hylikers«. Auf dieser Stufe vermag man im ewigen Leben nur »Langeweile« zu sehen, was uns an das Selbstgespräch erinnert, das Kant bildlich der göttlichen Person zuschreibt, die sich angesichts ihrer Ewigkeit logischerweise die Frage nach ihrem eigenen Ursprung stellen müsse.

Das Gegenstück des eindeutig materialistischen Konkretismus ist der religiöse Konkretismus, eine besonders unerfreuliche Form der gleichen allgemeinen Denkrichtung: Das Christentum, wird da behauptet, träume nicht von einem fernen Nirvâna,