Gemeinschaft der Ungewählten - Sabine Hark - E-Book

Gemeinschaft der Ungewählten E-Book

Sabine Hark

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Beschreibung

Frei ist, wer an der sozialen Praxis einer Gemeinschaft teilhat und sich als Teil eines »Wir« verstehen kann. Ein in unserer Gegenwart vielfach bestrittenes Menschenrecht. Doch ein gutes Leben ist nur das mit anderen geteilte Leben.

In diesem Essay erzählt Sabine Hark die Geschichte von Zugehörigkeit und Gleichheit ausgehend von den Leben jener, deren Gemeinschaften mit Gewalt zertrennt werden, deren Hoffnungen auf ein gutes Leben an den Grenzzäunen der Macht zerschellen, deren Stimmen unerhört bleiben und deren Gleichheit mit Füßen getreten wird. Hark entwirft in einer zwischen Theorie und Dichtung oszillierenden Sprache ein machtsensibles politisches Ethos für ein plurales, demokratisches Zusammenleben, das Räume zum Atmen für die Vielen entstehen lässt.

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Titel

3Sabine Hark

Gemeinschaft der Ungewählten

Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation

Ein Essay

Suhrkamp

Widmung

5#SayTheirNamesHanau | 19. Februar 2020

Gökhan GültektinSedat GürbüzSaid Nesar HashemiMercedes KierpaczHamza KurtovićVili Viorel PăunFatih SaraçoğluFerhat UnvarKaloyan Velkov

Motto

9Komm her zu mir, Du freier Bürger der Welt, dessen Leben durch menschliche Moral gesichert ist und dessen Existenz durch ein Gesetz garantiert wird, und ich werde Dir erzählen, wie die modernen Verbrecher und gemeinen Banditen die Lebensmoral zertreten und die Gesetze der Existenz vernichtet haben.

Salmen Gradowski, 2019

Assoziation ist kein Luxus, sondern gehört zu den ureigensten Bedingungen und Vorrechten der Freiheit.

Judith Butler, 2009

Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen.

Bertolt Brecht, 2007

Noch fühlen wir. / ​Noch können wir lieben. Noch fühlen wir / ​Mitleid. / ​Es ist ein Glanz in allen Dingen. Ich habe ihn gesehen. / ​Nun sehe ich klarer noch. / ​Ein Glanz. Hab keine Angst.

Mariangela Gualtieri, 2007

Wer hat uns eingeredet, dass es gut und trefflich ist, stets und ständig dazuzugehören? Nur der Fremde versteht die Welt.

Olga Tokarczuk, 2019

Übersicht

Cover

Titel

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

7Inhalt

Cover

Titel

Widmung

Motto

Inhalt

Einleitung

In Gegenwart der Wirklichkeit schreiben

Prolog

Das andrängende Wirkliche

Gekommen, um zu bleiben

Das andrängende Wirkliche

After times

Aus der Welt herausgestoßen

Gemeinschaft neu erfinden

Ohne Standort in der Welt

In Gesellschaft aller Menschen

Die Aufgaben der Kritik

Epistemische Gewalt

Den Geistern folgen

Die Aufgaben der Kritik

Die Ungewählten

Die Verweigerung von Gleichheit

Rohe Bürgerlichkeit

Ungleichheit beschreiben

Die Ungewählten

Uneingelöste Versprechen

Ein stummer Rest der Politik

Differenz regieren

Gemeinschaft

Differenz, Zugehörigkeit, Gemeinschaft

Der neoliberale Angriff auf Gemeinschaft

Ambivalenzen von Gemeinschaftlichkeit

Inside the Barred Room. Ein Zwiegespräch

Assoziation ist kein Luxus

Commons. Was wir brauchen

Ver-Antwort-lichkeit. Was uns gemeinsam ist

Sorge

Sich sorgen

Zärtliche Bürgerlichkeit

Caring democracy

In Gesellschaft aller Menschen

Epilog

Dank

Literatur

Fußnoten

Anmerkungen

Informationen zum Buch

Impressum

Hinweise zum eBook

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11Einleitung

Eine Bemerkung von Audre Lorde begleitete mich beim Schreiben dieses Buches. »Ein Lernprozess ist etwas, das du anstiften, buchstäblich anstiften kannst, wie einen Aufstand«, sagt sie in einem Gespräch mit Adrienne Rich, geführt im Sommer 1979.1 Lorde berichtet von ihrer Erfahrung als Dozentin am John Jay College of Criminal Justice in Manhattan in den frühen 1970er Jahren. Politisch bewegte Jahre in den USA. Post-Civil-Rights-Movement-Jahre. Aufbruchsjahre. Aufständische Jahre. Kriegsjahre. Landesweit protestieren Studierende gegen die Beteiligung der USA am Krieg in Vietnam. Viele Universitäten sind deshalb im Frühjahr 1970 geschlossen. John Jay gehört nicht dazu. In Chicago hat die Polizei im Dezember 1969, wenige Monate bevor Lorde in Manhattan zu unterrichten beginnt, Fred Hampton und Mark Clark, zwei Schwarze Bürgerrechtler und Black-Panther-Aktivisten, im Schlaf erschossen.2 Hampton ist 21 Jahre alt, als die tödlichen Kugeln ihn treffen, Clark 22. Zwei von 40 Black Panthers, die zwischen 1967 und 1970 von Polizei und FBI getötet werden.

In New York hatte John Jay sich im Rahmen des »Open Admissions«-Programms der City University für alle ortsansässigen High-School-Absolvent_in12nen[1]  geöffnet, unabhängig von Testergebnissen, Noten oder ähnlichen traditionellen Leistungskriterien. Binnen weniger Jahre vervierfachte sich dadurch die Zahl der Studierenden am College und auch der Anteil Schwarzer und of Color Student_innen stieg deutlich an. Lorde hatte den Rektor der Hochschule davon überzeugen können, dass Seminare zu Rassismus angeboten werden müssten. Ihre Studierenden – mehrheitlich männlich, weiß, Schwarz, puerto-ricanisch, etliche davon auch im Seminarraum waffentragend, aber auch einige Schwarze Frauen, fast alle aus Lower Manhattan, working-class background – seien affiziert und agitiert gewesen von den politischen Ereignissen und Veränderungen auf dem Campus und darüber hinaus, berichtet Lorde. In ihren Seminaren sei es ihr vor diesem Hintergrund daher eher darum gegangen, Denkprozesse in Gang zu setzen, als »ganze Stöße von Informationen« weiterzugeben. Confrontation teaching nennt Lorde das – »Konfrontationsunterricht«.

Zu einem Aufstand anstiften, der ein Lernen ist. Zu einem Lernprozess anstiften, der ein Aufstand ist. Das Bild bleibt – bei mir – hängen. Weniger, weil wir jeden Aufstand gutheißen können oder gar sollten, im Ge13genteil. Nicht jeder Aufstand ist ein demokratischer Aufstand. Auch nicht, weil ein Aufstand wild und verwegen ist, weil er den Geschmack von Freiheit und Abenteuer ahnen lässt – er ist und tut auch all das –, sondern weil das Bild des Lernprozesses, der ein Aufstand ist, darauf aufmerksam macht, dass ein Aufstand Ausdauer und Beharrlichkeit erfordernde Arbeit an der Freiheit ist. Aufbrechen-Können mag die »ursprünglichste Gebärde des Frei-seins« sein, wie Hannah Arendt 1959 in Hamburg in ihrer Rede anlässlich der Verleihung des Lessing-Preises feststellt.3 Aufstehen und gehen und neue Fluchtlinien bahnen ist dennoch nur der erste Schritt. Schon dieser erste Schritt ist alles andere als einfach. Nicht alle können aufstehen und gehen. Bereits diesem ersten Schritt geht also voraus, dass wir etwas zu tun haben, es etwas zu lernen gibt: über die Bedingungen und Verhältnisse, die uns daran hindern, aufzustehen und zu gehen. Lorde hatte ihre Schwarzen Student_innen vor Augen, die sie befähigen wollte, ihre Situation in einer rassistischen, heterosexistischen und von rassifizierter sozialer Ungleichheit geprägten Gesellschaft zu begreifen – damit sie Verhältnisse würden verlassen können, die sie erniedrigen und verletzen, damit sie überleben. Survival skills. Für weiß positionierte und als ›einheimisch‹ eingeordnete Personen, die, wie ich selbst, in männlich dominierten, mehrheitlich weißen Institutionen lehren und schreiben, an diesen Orten aber als Subjekte nicht vorgesehen sind (weil ›weiblich‹ positioniert, weil geschlechtlich uneindeutig gelesen, weil lesbisch 14lebend, weil als ›Bildungsaufsteiger_in‹ und Klassenwechsler_in, weil …), stellt sich die Aufgabe heute etwas anders dar. Denn neben die Aufgabe, das Erlernen solcher survival skills zu ermöglichen – skills, die wir brauchen, um die Verhältnisse der Verhinderung verstehen und verlassen zu können –, tritt die komplexe und komplizierte Aufgabe, zu vermitteln, wie wir je unterschiedlich in Dominanzkultur und in Verhältnisse von Über- und Unterordnung verwickelt sind. Wie Dominanzkultur also die einen privilegiert und schützt, während sie die anderen relegiert und ihre Existenz bedroht. Anstiften zum Verlernen von Dominanzkultur, zu undoing dominance, ist, mit anderen Worten, das Programm. Und das heißt: intersektional organisierte Verhältnisse der Unter- und Überordnung erkennen und verstehen lernen, uns mit ihnen konfrontieren und sie konfrontieren und ihnen die Loyalität verweigern. Das ist, was von uns verlangt ist. Dass wir dazu fähig sind, ist nur eine der Lektionen, die von Audre Lorde zu lernen ist. Dismantle the master’s house.

***

Gemeinschaft der Ungewählten ist einer Frage gewidmet, die zu den dringlichen Fragen unserer Gegenwart gehört: der in allen Gesellschaften intensiv verhandelten Frage von Differenz und Zugehörigkeit. In der Sprache dieses Buches formuliert: Wem ist es gegeben, zu kommen, um zu bleiben und in Gemeinschaft mit 15anderen zu leben, sich also als Teil eines ›Wir‹ verstehen zu können? Es ist nicht das erste Buch zu dieser Frage und es wird gewiss nicht das letzte sein. Mich beschäftigt sie seit Langem. Bis in die Anfänge meiner wissenschaftlichen und politischen Auseinandersetzung mit der Welt lässt sie sich zurückverfolgen. Wissen wollen, wer Eine ist und wie sie geworden ist, wer zu wem und wozu gehört, wer von hier ist und warum, wer an welchen Orten vorgesehen ist oder nicht, was uns wie verbindet und trennt, wer wem Rechenschaft und Antwort schuldet, also Fragen nach dem Zusammenhang von Identität, Zugehörigkeit und Handeln, von Herkunft und Zukunft, treiben meine Neugier an.4

Wer sich als Teil eines ›Wir‹ verstehen kann, ist dabei eine Frage, die so ziemlich jeden Aspekt berührt, der unser Zusammenleben als endliche Wesen auf einem endlichen, dicht besiedelten und um Atem ringenden Planeten betrifft. Wie wir wirtschaften und haushalten, mit unseren eigenen Kräften und mit denen, die wir uns aneignen. Wie wir wohnen und arbeiten, konsumieren und uns fortbewegen. Wer sich wo ansiedeln kann, wer Zugang zu welcher Infrastruktur hat, vom Zugang zu sauberem Wasser und Brennstoff über den Anschluss an die digitale Infrastruktur und die Müllentsorgung bis hin zur Versorgung bei Krankheit und Pflegebedürftigkeit. Wie wir uns zueinander und füreinander in Beziehung setzen, wie wir für den Planeten, mit dem wir leben, und für die Arten, mit denen wir ihn uns teilen, sorgen. Woran wir glauben, wofür wir politisch streiten und wen wir wertschätzen. Wie 16und wovon wir wissen wollen und welches Wissen wir teilen. Wen und was wir für normal und schützenswert halten. Wie wir leben, lieben und sterben wollen. Kurz: wie wir in der Welt sind und wie wir unser Zusammenleben gestalten. Ich nenne das ein Ethos der Kohabitation, also eine Weise des Zusammenlebens. Erste Umrisse eines solchen Ethos zu zeichnen, ist, was ich mir mit diesem Buch vorgenommen habe.

Seinen Ausgang nimmt dieses Buch von Judith Butlers Ethik der Kohabitation. Während ich einige Implikationen dieser Ethik zu durchdenken suche, möchte ich allerdings auch eine Verschiebung vorschlagen. Indem ich nämlich nicht den Weg der Ethik wähle, sondern mich an den Entwurf eines Ethos wage. Es ist ein Anfang. Nicht mehr, nicht weniger. Angeboten wird keine ausgereifte Theorie, die auf all diese Fragen eine Antwort weiß; darauf, wie Gesellschaften am besten einzurichten wären. Was stattdessen hier auf dem Tisch liegt, ist eine Skizze für eine ganz und gar praktische, machtsensible demokratische Lebensweise. Eine Lebensweise, die auf der Sorge um uns selbst, um andere und um die Welt gründet und die ihre Richtschnur in der letztlich schlichten Einsicht gefunden hat, dass Menschen im Plural die Erde bewohnen, weshalb ausnahmslos allen das gleiche Recht zukommt, in der Welt gedeihen zu können. Je mehr wir freilich diesen Planeten verwüsten, je unwirtlicher wir die Gesellschaften, in denen wir leben, einrichten, je weniger diese ein gedeihliches Unterkommen bieten und je enger wir die Grenze um die Zone des Mensch17lichen und Lebbaren ziehen, umso gefährdeter ist dieses Recht zu gedeihen und umso mehr von uns werden sich – ob freiwillig oder gezwungenermaßen – auf den Weg machen, ihre Not zu wenden und ihr Glück ›anderswo‹ zu suchen. Und je mehr herrschaftliche Politiken der Unterscheidung und Trennung, der Geringschätzung und Missachtung und der Aufspaltung in Nützliche und Überflüssige, Vertraute und Fremde, in Normale und Deviante, Gewählte und Ungewählte an Raum gewinnen, umso mehr von uns werden aufstehen und gehen und alles daransetzen, das ›Wir‹ als etwas anderes neu zu entwerfen – und zwar nicht irgendwo, sondern mitten unter uns. Und wer könnte es uns verwehren?

Im Angebot sind Übungen im politischen Denken, herumstromernde Reflexionen zu jener dringlichen Frage der Gegenwart, wie wir das – globale – ›Wir‹ leben wollen. Übungen mit Denkgefährt_innen, versammelt in der Absicht, in demokratischen Konstellationen mit ihnen zu denken und zu schreiben. Nicht, um die Lücken in ihrem Denken nachzuweisen, sondern um sich in Beziehung zu setzen und Gemeinschaft mit ihnen zu schaffen. Und das heißt: Möglichkeit zu kreieren, Dissens und Kontroverse eingeschlossen. Manche von ihnen schon vor langem explizit als intellektuelle Gefährt_innen gewählt, andere im Verlauf der Arbeit an diesem Buch mir eher zugefallen, meinen Weg kreuzend, mir manchmal auch ungefragt etwas mitteilend. Eine Versammlung, in der gleichwohl jede Stimme zählt und gehört werden soll. Ein polyphoner Chor 18der Vielen. Die Litanei eines Aufstands, der längst im Gange ist. Auf den öffentlichen Plätzen und Straßen dieser Welt genauso wie im virtuellen Raum und in den mannigfaltigen Behausungen, in denen Menschen sich ein Obdach geschaffen haben, und sei dieses noch so provisorisch. In Hauskollektiven in Leipzig und Konstanz, in Einkaufs- und Kochkollektiven in Accra und Lagos oder in den Küchen feministischer Aktivist_innen in Buenos Aires, Mexiko-Stadt, Barcelona und Warschau; im Seminarraum, an der Werkbank oder auf dem Basketballplatz; im Gemeindegarten, in queeren Pflegenetzwerken und migrantischen Selbstorganisationen; auf Seenotrettungsschiffen, in den Camps für Geflüchtete und den Zufluchtswohnungen für diejenigen, die sexualisierter und häuslicher Gewalt entkommen sind. Überall dort, wo Menschen darauf beharren, dass auch ihre Leben zählen, sie bei ihrem eigenen Namen gerufen werden wollen. Wo sie darauf insistieren, dass sie nicht so, nicht auf diese Weise regiert werden wollen, sie sich selbst regieren wollen. Wo sie aufstehen und fortgehen aus Verhältnissen, die sie ermüden, ihre Kräfte erschöpfen und ihre Phantasie auszehren. Etwas Besseres als den Tod finden wir überall, sagt der Esel zum Hahn, zur Katze, zum Hund.

Gemeinschaft der Ungewählten nimmt den Staffelstab eines vorherigen, gemeinsam mit Paula-Irene Villa verfassten Buches auf. In Unterscheiden und herrschen. Ein Essay über die ambivalenten Verflechtungen von Rassismus, Sexismus und Feminismus in der Gegenwart (2017), hatten wir uns anlässlich der gewalttäti19gen Übergriffe auf der Kölner Domplatte in der Silvesternacht 2015/​16 mit den Politiken rassistischen und sexistischen Unterscheidens, die in den Gesellschaften der Gegenwart noch immer produziert und mobilisiert werden, auseinandergesetzt. Beendet hatten wir Unterscheiden und herrschen mit ersten Überlegungen zu einem Denken in Differenz und mit der Forderung nach der Entwicklung einer Haltung, die gleichermaßen epistemisch wie politisch ist: ein Denken mit der Welt statt über diese, ein horizontales Denken, auf Augenhöhe mit den je anderen. Diese Haltung will dieses Buch weiter entfalten. Angedeutet ist bereits die Richtung, in die ich meine, dass sie entfaltet werden sollte: nämlich als machtsensible, demokratische Lebensweise, gegründet auf Praxen der Sorge – um uns, um andere, um die Welt. Ein politisches Ethos. Eine Politik der Interdependenz. Caring democracy. Zur Charakterisierung dieses Ethos habe ich zwei Begriffstriaden gefunden, die leitmotivisch und in Variationen die hier versammelten Denkübungen durchziehen. Ich nenne sie die drei A – Affinität, Ansteckung und Assoziation – und die drei R – Reziprozität, Rechenschaft und Responsabilität.

Ein weiterer theoretischer Begriff, der, wie bereits in Unterscheiden und herrschen, auch in diesem Buch von Gewicht ist, ist der in sozialwissenschaftlichen Debatten zu Fremdheit, Migration und Einwanderung sowie zu Rassismus, Sexismus und anderen Diskriminierungsverhältnissen einflussreich gewordene Begriff der »Dominanzkultur« der Psychologin und Rassis20musforscherin Birgit Rommelspacher.5 Rommelspacher versteht darunter eine komplexe, durch ein intersektionales Geflecht verschiedener Machtdimensionen strukturierte gesellschaftliche Formation. Diese Formation prägt und organisiert unsere gesamte Lebensweise, unsere Selbstinterpretation sowie die Bilder, die wir vom Anderen entwerfen, in Kategorien der Über- und Unterordnung. Dominanzkultur organisiert das Verhalten, die Einstellungen und Gefühle aller, die in einer Gesellschaft leben. Vor allem aber vermittelt sie zwischen gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Dispositionen. Wenn das Ziel ist, eine demokratische Lebensweise buchstäblich zu erfinden, so scheint mir das der Hebel zu sein, an dem wir ansetzen müssen: an den Relais zwischen Strukturen und Individuen, Verhältnissen und Subjekten, die uns am Platz halten (sollen). Diese Relais verstehen und Dominanzkultur vergehen lassen, ihr Erbe aktiv ausschlagen. Das ist, was jetzt zu tun ist. Reziprok einander antworten und Rechenschaft geben von dem, was wir einander schulden.

Und dafür ist es wichtig, auch jene für Dominanzkultur so entscheidende Dimension, die moralische Ökonomie der Affekte nämlich, die das Individuelle und Soziale auf vielfältige und komplexe Weise miteinander verschaltet, in den Blick zu nehmen. Über- und Unterlegenheit sind ja nicht nur in die soziale Struktur unterschiedlicher gesellschaftlicher Felder eingezeichnet und entscheidend dafür, wem welcher Platz im gesellschaftlichen Gefüge zugestanden wird. Unter- und 21Überlegenheit sind auch Empfindungen – Affekte –, die durch soziale Deutungsmuster praktisch wirksam werden. Zentral für die Konstitution eines ›Wir‹, das von einem ›ihr Anderen‹ unterschieden ist, sind beispielsweise Gefühle wie Liebe zum eigenen Land und zur eigenen Gruppe oder Hass, Angst und Abscheu gegenüber jenen, die wir als Fremde wahrnehmen. Gefühle tragen zur Festigung von Kollektiven bei, strukturieren, wovon wir uns affizieren und anstecken lassen, mit wem wir bereit sind, uns zu assoziieren, wen wir als zu uns gehörig an|erkennen und wen nicht.6

Emotionen und Affekte gestalten, anders gesagt, ganz wesentlich, wie wir in der Welt sind und sie mit anderen bewohnen. Was wir mögen oder ablehnen, wer uns nah oder fern, vertraut oder fremd erscheint, was wir fürchten und worauf wir vertrauen, was wir nützlich finden und was wir für schädlich halten, wofür wir uns verantwortlich fühlen und was uns nichts angeht, wird so für uns kenntlich als das, was wir als unser authentisches So-Sein empfinden und eben nicht als gesellschaftlich nahegelegt, als Muster, die wir tagtäglich einüben und in die wir uns einüben. Um diese moralische Ökonomie der Affekte, die Praktiken des Über- und Unterordnens privilegiert, hinter uns lassen zu können und stattdessen eine »Demokratie der Sinne«7 zu befördern, müssen wir diese Ökonomie allerdings kennen und verstehen. Auch von ihr müssen wir Rechenschaft geben und der Tatsache Rechnung tragen, dass sie wirklich ist.

Methodologischer Knotenpunkt des Essay ist die 22Figur der Ungewählten. Ich verstehe sie als theoretische Suchfigur. Eine Schwellenfigur: liminal auf der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, transversal an den Grenzen des Menschlichen, epistemisch an der hierarchisch organisierten Trennung von (mannmenschlichem) Subjekt und (nicht-mannmenschlichem) Objekt. Schwellenfiguren ermöglichen Bewegungen in alle Richtungen und erweitern so unsere Blickwinkel. Die Figur der Ungewählten erlaubt es mir im Wesentlichen, sowohl retrospektiv als auch prospektiv zu arbeiten. Das heißt, die in die Zukunft weisende politische Arbeit der Neu-Erfindung einer demokratischen Lebensweise zu verbinden mit der retrospektiv ausgerichteten Trauerarbeit, die ich als essenziellen Teil des Verlernens von Dominanzkultur verstehe. Also vom Gegebenen ausgehend zu denken und dieses Gegebene zugleich als das in den Blick zu nehmen, was jetzt ist, aber nicht schon immer so war und schon gar nicht immer so sein muss. Die Operation der Kritik: das Gegebene durcharbeiten und es so der Veränderung zuführen.

Die Figur der Ungewählten ist die Figur einer solchen Kritik. Mit ihr können jene drei Aufgaben bearbeitet werden, die Judith Butler unlängst erneut als die Aufgaben der Kritik beschrieben hat: Diagnose – wir müssen beschreiben, was ist; Urteil – das, was ist, müssen wir hinsichtlich dessen, wie es auch sein könnte, beurteilen; Tun – sofern wir zu dem Schluss kommen, dass die Welt anders geordnet werden muss, müssen wir Schneisen für Veränderung schlagen.8 Diesem 23Verständnis von Kritik ist dieses Buch verpflichtet. Es will beitragen zu den Verhandlungen darüber, wie wir das globale ›Wir‹ leben wollen, ohne dabei das Gegebene schlicht zu übernehmen, etwa normative Annahmen gesellschaftlicher Stabilität oder angemessener Bedürfnisse, die in heteronormativer, androzentrischer und auf dem unbegrenzten Recht auf Eigentum gründender weißer, europäischer Bürgerlichkeit verankert sind. Und es will dazu beitragen, die oft nur schemenhaft erkennbaren Verhältnisse der Verhinderung systematisch(er) aufzuschlüsseln. Theoretisch folgt daraus, Vergesellschaftungs- und Denkformen als Teile desselben Herrschaftszusammenhangs zu konzipieren, den es zu entziffern gilt – Herrschaft also auch in den Kategorien aufzuspüren, mit denen wir uns Welt erschließen und sie deuten, und in den Formen, in denen wir Wissen gewinnen und es darstellen. Wissen und Sein sind in komplexen, machtgesättigten und nur schwer zu durchdringenden Verhältnissen ineinander verwoben; Verhältnisse, die zu entwirren wir dennoch gehalten sind. Und das schließt ein, dass wir unsere Sensibilität auch für jene Begriffe schärfen müssen, die wir selbst auf die Welt applizieren, dass die Kritik sich verdinglichenden Denkformen und rassifizierten, sexistischen, misogynen, homo-, trans- und cripfeindlichen Schreibweisen verweigert, sie sich resistent »gegen das ihr Aufgedrängte«9 zeigt.

Gemeinschaft der Ungewählten sucht dieser Verflechtung von Vergesellschaftungs- und Denkformen und den damit verbundenen methodologischen und 24poetologischen Herausforderungen in mehrfacher Hinsicht Rechnung zu tragen: Im Verlauf werde ich zum einen immer wieder sowohl die Aufgaben und die Funktion kritischer Theorie heute reflektieren als auch die Frage erörtern, wie Schreibweisen beschaffen sein müssen, die von Herrschaft sprechen, ohne diese zu wiederholen. Zum anderen bringe ich theoretisch-kritische Reflexion und soziologische Gegenwartsdiagnostik in einen Dialog mit den Stimmen von Dichter_innen und Schriftsteller_innen, weil ich davon überzeugt bin, dass Dichtung und Literatur uns auf andere Weise als Theorie dabei helfen können, den in der Geschichte so unheilvoll wirksam gewordenen Nexus von Macht, Wissen, Sein zu durchdringen und der aufständischen Arbeit an der Freiheit Gestalt zu geben. Von den Dichter_innen »erwarten wir Wahrheit«, hat Hannah Arendt einmal gesagt, nicht aber »von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten«.10 Anders als das philosophische, begriffliche Denken vermöge das dichterische Denken auch die verbliebenen Trümmer wieder zusammenzufügen. Erlösendes Schreiben. Alle Sorgen, zitiert Arendt die Schriftstellerin Isak Dinesen an anderer Stelle, seien dann zu ertragen, wenn wir »sie in eine Geschichte packen oder eine Geschichte über sie erzählen« können.11 Dass wir von Dichtung Wahrheit und Erlösung erwarten dürfen, ist ein Gedanke, der auch in einem Satz der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Toni Morrison aufscheint. »Die Kunst«, schreibt Morrison in einem Essay mit dem Titel »Der Preis des Wohl25stands und die Kosten des Gemeinwohls«, »nimmt uns mit auf eine Reise, die über Kosten und Nutzen hinausgeht, die uns zur Zeugenschaft aufruft für die Welt, wie sie ist und wie sie sein sollte.«12

Dieses Buch bringt daher nicht nur bislang weitgehend getrennt verlaufende Debatten der internationalen und intersektionalen feministischen Theorie, des post- und dekolonialen Denkens und der Critical Race Studies sowie der politischen Theorie, der philosophischen Ethik und der soziologischen Gesellschaftstheorie zusammen, es verwickelt auch unterschiedliche Wissensformen – wissenschaftliches Wissen, aktivistisches Wissen, literarisches Wissen – in dieses Gespräch.

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Zu meinen nachdrücklichen Erinnerungen an Audre Lorde gehört, wie sie Gespräche eröffnete. »Ich habe meine Arbeit getan. Und was ist deine Aufgabe?« oder »Hast du deine Arbeit getan?«, pflegte sie zu fragen, wenn wir sie nach ihren Lesungen oder Vorträgen mit Fragen bestürmten, immer noch mehr von ihr hören wollten. Der jungen Student_in, die ich damals war, fiel es schwer, auf diese Frage zu antworten. Wahrscheinlich blieb ich die Antwort schuldig. Geblieben aber ist die Frage. Und was ist deine Aufgabe? Antworten würde ich ihr heute mit diesem Buch. Mit dem ich dazu beitragen will, Wege zu finden, wie wir uns von unseren herrschaftlichen Gewissheiten und Gesten lösen können und wie wir lernen, sie zu verlernen.

27In Gegenwart der Wirklichkeit schreiben

Prolog

»Wenn ich Sie also bitte, Geld zu verdienen und ein eigenes Zimmer zu haben, so bitte ich Sie, in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben, ein allem Anschein nach kraftspendendes Leben, ob man es mitteilen kann oder nicht.«1 Mit diesen Worten wendet sich die Schriftstellerin und Essayistin Virginia Woolf am Ende ihres berühmten Essays »Ein eigenes Zimmer« direkt an die Absolventinnen der women’s colleges der Universität Cambridge. Es ist das Jahr 1928. Ausführlich hat Woolf zuvor davon gesprochen, wie vielgestaltig, unberechenbar und unzuverlässig das sei, was wir »Wirklichkeit« nennen. Doch egal, in welchen Gestalten diese Wirklichkeit auch in Erscheinung trete, immer mache sie das, was sie berühre, »fest und dauerhaft«. Woolf sieht die Aufgabe der Schriftsteller_in daher darin, die Entstehungsgeschichte dieser Festigkeit zu erzählen. Weil sie vielleicht mehr als andere die Möglichkeit habe, in Gegenwart der Wirklichkeit zu leben, müsse sie davon berichten, wie diese wirklich wird. Indem sie Wirklichkeit suche, sie sammle und uns Übrigen mitteile, könnten wir so die Welt, derart »von ihrer Umhüllung befreit«, deutlicher und intensiver wahrnehmen. »Denken Sie nach über die Dinge als 28solche«, fordert Woolf ihre Zuhörerinnen daher mit großer Dringlichkeit auf. Mit »den eigenen Worten und auf die eigene Weise« müsse eine schreiben, was sie denkt, erklärt sie in »Drei Guineen«.2 Möglicherweise vorgebrachte Gründe, der Wirklichkeit auszuweichen, lässt Woolf nicht gelten. Ausreden seien das, nichts anderes als Ausdruck von Bequemlichkeit.

Vom Gegebenen her denken. So hat die Schriftstellerin und Dichterin Ingeborg Bachmann auch das Denken der Philosophin Simone Weil charakterisiert.3 Denken »stellt eine Kraft dar«, notiert die erst 25-jährige Weil im Herbst 1934, nur wenige Jahre nach Woolf, aber schon in einer gänzlich anderen Welt zuhause, in ihrem ersten Denkheft, einem schlichten cahier. Das Denken, fährt Weil fort, habe allerdings nur dann eine Berechtigung, wenn es sich der Wirklichkeit annimmt und »ins materielle Leben eingreift«.4 Ein Gedanke, den sie in Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung bekräftigt, jener Schrift, die ebenfalls im Herbst 1934 entsteht. Eine Kraft, argumentiert Weil hier, könne das Denken »nur dann sein, wenn es materiell notwendig ist«.5 Dringlichkeit auch in Weils Tonlage. Bequemlichkeit lässt auch sie nicht gelten. Flucht vor der Wirklichkeit ist keine Option – allen voran für sie selbst – angesichts der den Menschen und seine Freiheit genauso wie die Erde und ihre Stoffe auslaugenden kapitalistischen Produktionsweise, wie sie so luzide in Ursachen analysiert, aber auch angesichts der stetig stärker werdenden, weltvernichtenden und Gesellschaft wie Ge29meinschaft zerstörenden Kräfte von Faschismus und Stalinismus. Einen zweiten Weltkrieg hält Weil schon 1934 für unabwendbar. Totalitäre Regime, fürchtet sie, würden sich schon bald alle Gesellschaften untertan machen.

»Wirklich leben heisst, diese Gegenwart zu realisieren – ein Mittel unter vielen das Nie-Vergessen – und sie sich nicht in Vergangenheit und Zukunft auseinander schlagen lassen«, notiert Hannah Arendt im Juli 1950 im vierten Eintrag des ersten von insgesamt 28 Heften ihres Denktagebuchs.6 Simone Weils Befürchtungen sind eingetroffen. Der Zweite Weltkrieg ist Wirklichkeit geworden – und hat eine Gewalt entfesselt, die wohl auch das Vorstellungsvermögen von Weil gesprengt hätte. In Auschwitz-Birkenau, Sobibor und Stutthof, in Babi Jar, Vilnius und Simferopol, in Ravensbrück, Hinzert und Hadamar, in Schmargendorf, Bad Kreuznach und Dessau hat der deutsche Faschismus die Welt vernichtet. Arendt ist wenige Wochen bevor sie diese Zeilen schreibt von ihrem ersten Besuch (West-)Deutschlands in die neue Heimat USA zurückgekehrt. Hinter ihr liegt eine Reise ins Land ihrer Herkunft und Vertreibung, eine Reise »nach dem Weltenbrand«. Im Auftrag der Organisation Jewish Cultural Reconstruction hat Arendt die US-amerikanische und britische Besatzungszone bereist, um die von den Nazis in ganz Europa geraubten jüdischen Archive, Handschriften, Bibliotheken und Kunstgegenstände aufzuspüren und zu restituieren. Erinnerungsarbeit am Material. Die junge BRD hat sie 30als tief gespalten erlebt. Gleichermaßen besessen vom Wiederaufbau wie davon, von der Katastrophe des Nationalsozialismus, der eigenen Schuld und Verantwortung nichts wissen zu wollen. Von einer Lebenslüge und von der Dummheit würden sie leben, diese Deutschen. Das schreibt Arendt an ihren in New York zurückgebliebenen Ehemann, den Philosophen Heinrich Blücher.7 Eine »Unfähigkeit, nachträglich dem zu begegnen, was Wirklichkeit war«, attestiert sie ihnen 1959 in ihrer Rede anlässlich der Entgegennahme des Lessing-Preises in Hamburg. Was die Deutschen, das Wirkliche verleugnend, bloß das »Negative« nennen würden, konstatiert Arendt vor dem anwesenden Publikum, wollten sie »vergessen« und noch das Furchtbare würden sie »ins Sentimentale verfälschen«.8

Arendt hatte Nazideutschland schon 1933 verlassen. Dass ein Bleiben im Land der Schlächter und Henker ihr nicht möglich sein würde, hatten dessen Schergen sie schnell gelehrt. Es folgten bald zwei Jahrzehnte auf der Flucht und als Staatenlose zunächst im französischen und dann im US-amerikanischen Exil, bis sie 1951 Staatsbürgerin der USA wird. Wie es gelingen kann, sich »durch das andrängende Wirkliche verstören zu lassen«9 und zu dem zu machen, was uns angeht, also eine ›erweiterte Denkungsart‹ zu praktizieren, ist nur eine der Herausforderungen, der Arendt sich wieder und wieder gestellt hat – und an der auch sie ein ums andere Mal scheiterte. Zeit ihres Denkens würde sie zudem darum ringen, wie ein – auch politischer – Neuanfang möglich ist, nachdem das radikal 31Böse wirklich geworden, nachdem das passiert war, »was nicht hätte passieren dürfen […] womit man sich nicht versöhnen kann, was man als Schickung unter keinen Umständen akzeptieren kann, und das, woran man auch nicht schweigend vorübergehen darf«.10 Eine ›Stunde Null‹ hat es nicht gegeben und kann es nicht geben. Neu beginnen aber können und müssen wir – eingedenk der Vergangenheit, aber nicht an diese gekettet, und ohne Gegenwart und Zukunft von ihr beherrschen zu lassen. Erinnern, trauern und von neuem beginnen: reparatives Tun.

»Leben lernen in der Gegenwart« verlangt wiederum einige Jahrzehnte später, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, auch die feministische Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr in den 1980er Jahren von ihren Zeitgenoss_innen, die allgegenwärtige Bedrohung durch die ökonomische und militärische Nutzung der Atomkraft vor Augen.11 Alles, »was wir zu tun haben«, erklärt sie, haben wir »jetzt zu tun«, die Bewährungsprobe finde jetzt statt. Diese »ganze verrottete Gegenwart« sei »unsere einzige Gelegenheit«. Nur sie berge »den Stoff, um unsere Kräfte zu entwickeln«. »Lernen, wirklich gegenwärtig zu sein«, fordert noch einmal vierzig Jahre später die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway. Angesichts »gefräßiger Kriege und Extraktivismus und angesichts der Verelendung von Milliarden Menschen und anderen Krittern für etwas, das ›Profit‹ oder ›Macht‹ genannt wird«, müssten wir »unruhig bleiben« und eine Praxis entwickeln, »die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und mit32einander gut zu leben und zu sterben«.12 Stay with the trouble: weicht dem Elend nicht aus und den Elenden nicht von der Seite, fordert sie uns auf.

In Gegenwart der Wirklichkeit leben. Denkend ins materielle Leben eingreifen. Unruhig bleiben, die dichte Gegenwart realisieren und aus ihr den Stoff unserer widerständigen Kräfte gewinnen. Sofern ein Buch selbst ein Ethos haben, das heißt ein Anliegen verfolgen und zu einem reflektierten Tun anstiften kann, hat es in diesen Sätzen seinen Kompass gefunden. Doch mit hehren Worten allein ist es nicht getan. Sie bleiben eitle Geste, wendet sich das Denken nicht auch gegen sich selbst. Kritik ist niemals außerhalb, ist immer immanente Kritik und intimer Teil dessen, was sie kritisiert. Sie lebt von der Gesellschaft, die sie in den Blick nimmt. Wo die Theoretiker_in dies vergisst und die eigene Komplizenschaft mit hegemonialen Mächten und Werten wie auch mit wissenschaftlich generierten kategorialen Klassifikationen und Erkenntnisweisen nicht zu ihrem Gegenstand macht, macht sie sich gemein mit dem, was sie zu dekonstruieren vorgibt. Und wo sich die Theoretiker_in nicht provinzialisiert, sie die gesellschaftlichen Verhältnisse ausblendet, die ihr das Denken ermöglichen, praktiziert sie den »Gottesblick«, ein Denken aus der scheinbar sicheren, geschützten und über den Dingen schwebenden Position aufgeklärter Objektivität über die Welt und ihre Anderen, statt in der Welt und mit der Welt, statt mit anderen.13

Der Gefahr, über die Welt, statt mit der Welt zu 33denken, ist, mit einiger Wahrscheinlichkeit, vielleicht besonders ein gegenwartsdiagnostisches Schreiben ausgesetzt. Ein Schreiben also, das im Moment des Sichereignens versucht, sich auf die Gegenwart einen Reim zu machen. Denn nicht nur ist der Abstand zu dieser Gegenwart besonders gering, sie existiert objektiv auch ›als solche‹ nicht, sondern immer nur als so oder anders gesichtete Ordnung der Dinge, die sich uns als notwendig so seiend aufdrängt. Die Dinge, die Tatsachen, Sichtweisen und Argumente, die einen Sachverhalt ausmachen, ja selbst die Personen, die diese Sichtweisen und Argumente vortragen, sind ja nicht einfach ›da‹, sondern werden so oder so gestiftet. Eine Art von Person, sagt der Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking, tritt zu genau jener Zeit, da diese Art selbst erfunden wird, ins Leben; die Kategorie und die ihr zugeordneten Menschen treten »Hand in Hand« auf.14 Zudem hat an dieser gestifteten Ordnung der Dinge auch die in der Absicht der Kritik angefertigte Beschreibung ihren Anteil. Gegenwart wird uns zu sehen gegeben – und wir geben sie anderen so oder so zu sehen. Gegenwart ist das Ergebnis moralischer und politischer Ökonomien, die unsere Aufmerksamkeit ausrichten. Etwas wird ins Licht gerückt. Das erzeugt einen Schatten, verdunkelt dadurch anderes. »Fragen des Sehens und der Sichtbarkeit«, argumentiert die Medienwissenschaftlerin Johanna Schaffer, lassen sich nicht trennen »von Fragen der Subjektivität und den gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnissen«.15

34›Die‹ Gegenwart unterliegt zudem einer anderen Zeitlichkeit als das Schreiben über sie. Ihre Beobachtung und Beschreibung findet zwar innerhalb dieser Gegenwart statt, ist unhintergehbar in diese verwickelt und trägt selbst dazu bei, wie diese wirklich ist. Beobachtung und Beschreibung hinken den Ereignissen dennoch immer hinterher. Der Reim folgt den Dingen nach. Was der schreibenden Person zu einem gegebenen Zeitpunkt als andrängendes Wirkliches angetragen wird, was sie als Gegenstand ihrer Sorge wahrnimmt, als matter of care,16