Gesammelte politische Werke - Erich Mühsam - E-Book

Gesammelte politische Werke E-Book

Erich Mühsam

0,0
1,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

In "Gesammelte politische Werke" bietet Erich Mühsam einen umfassenden Einblick in seine politischen Überzeugungen, die von Anarchismus, Sozialismus und einer leidenschaftlichen Menschlichkeit geprägt sind. Der Band versammelt Essays, Gedichte und politische Pamphlete, die nicht nur die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts reflektieren, sondern auch die gesellschaftlichen Umbrüche und die Repression, denen Mühsam und seine Ideale ausgesetzt waren. Literarisch zeichnet sich das Werk durch eine eindringliche Sprache aus, die sowohl polemisch als auch poetisch ist, und damit den Leser auf eine emotionale und intellektuelle Reise mitnimmt. Erich Mühsam, geboren 1878 in München, war nicht nur ein bedeutender Schriftsteller, sondern auch ein aktiver Politiker und Akteur in der deutschen Reformbewegung. Sein Leben war geprägt von Widerstand gegen autoritäre Systeme, was ihn zur Zielscheibe politischer Verfolgung machte. Mühsams Erfahrungen als Gefangener während des Ersten Weltkriegs und seine kritische Auseinandersetzung mit dem aufkommenden Nationalsozialismus spiegeln sich in seinen Arbeiten wider und verleihen seiner Stimme eine außergewöhnliche Authentizität und Dringlichkeit. Dieses Werk ist für jeden Leser von Bedeutung, der sich mit den Wurzeln demokratischen und revolutionären Denkens auseinandersetzen möchte. Anhand von Mühsams Schriften wird die Relevanz seiner Gedanken für aktuelle gesellschaftliche Debatten deutlich. "Gesammelte politische Werke" ist somit nicht nur eine historische Sammlung, sondern auch ein zeitgemäßer Aufruf zur Reflexion über Freiheit, Gerechtigkeit und die Herausforderungen, die die Menschheit stets begleiten. In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen: - Eine umfassende Einführung skizziert die verbindenden Merkmale, Themen oder stilistischen Entwicklungen dieser ausgewählten Werke. - Ein Abschnitt zum historischen Kontext verortet die Werke in ihrer Epoche – soziale Strömungen, kulturelle Trends und Schlüsselerlebnisse, die ihrer Entstehung zugrunde liegen. - Eine knappe Synopsis (Auswahl) gibt einen zugänglichen Überblick über die enthaltenen Texte und hilft dabei, Handlungsverläufe und Hauptideen zu erfassen, ohne wichtige Wendepunkte zu verraten. - Eine vereinheitlichende Analyse untersucht wiederkehrende Motive und charakteristische Stilmittel in der Sammlung, verbindet die Erzählungen miteinander und beleuchtet zugleich die individuellen Stärken der einzelnen Werke. - Reflexionsfragen regen zu einer tieferen Auseinandersetzung mit der übergreifenden Botschaft des Autors an und laden dazu ein, Bezüge zwischen den verschiedenen Texten herzustellen sowie sie in einen modernen Kontext zu setzen. - Abschließend fassen unsere handverlesenen unvergesslichen Zitate zentrale Aussagen und Wendepunkte zusammen und verdeutlichen so die Kernthemen der gesamten Sammlung.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Erich Mühsam

Gesammelte politische Werke

Bereicherte Ausgabe. Parlamentarischer Kretenismus + Die Anarchisten + Tagebuch aus dem Gefängnis + Appell an den Geist + Anarchie + Kulturfaschismus und mehr
In dieser bereicherten Ausgabe haben wir mit großer Sorgfalt zusätzlichen Mehrwert für Ihr Leseerlebnis geschaffen
Bearbeitet und veröffentlicht von Good Press, 2023
EAN 8596547800439

Inhaltsverzeichnis

Einführung
Historischer Kontext
Synopsis (Auswahl)
Gesammelte politische Werke: Parlamentarischer Kretenismus + Die Anarchisten + Tagebuch aus dem Gefängnis + Appell an den Geist + Anarchie + Kulturfaschismus und mehr
Analyse
Reflexion
Unvergessliche Zitate

Einführung

Inhaltsverzeichnis

Diese Ausgabe versammelt unter dem Titel eine breite Auswahl der politischen Schriften Erich Mühsams und stellt sie in ihrem Zusammenhang vor. Von Parlamentarischer Kretenismus über Die Anarchisten und Tagebuch aus dem Gefängnis bis zu Appell an den Geist, Anarchie und Kulturfaschismus bietet der Band einen konzentrierten Zugang zu seinen zentralen Einsprüchen gegen Staat, Partei und Konvention. Ziel der Zusammenstellung ist es, die in Zeitungsartikeln, Broschüren, Reden und dramatischen Arbeiten verstreuten Texte in einer verlässlichen Lektüre greifbar zu machen und die programmatische Spannweite dieses Werkes sichtbar zu halten, ohne editorisch zu überformen oder interpretativ vorzugreifen.

Ihre Textsortenvielfalt reicht von polemischen Essays und Glossen über programmatische Aufsätze und Reden bis hin zu einem Drama und tagebuchartigen Aufzeichnungen. Die Anarchisten eröffnet die theatrale Perspektive auf Konflikte und Debatten innerhalb revolutionärer Milieus. Parlamentarischer Kretenismus, Humbug der Wahlen oder Vom politischen Kasperltheater bündeln Wahl- und Institutionskritik in essayistischer Form. Das Tagebuch aus dem Gefängnis führt die Stimme des Autors in die Bedingungen der Haft und der Selbstprüfung. Erinnernde und porträtierende Stücke wie Gustav Landauer und Im Geiste Bakunins verbinden politisches Denken mit intellektuellen Bezugspunkten und kollektiver Erinnerung und historischer Verortung.

Die thematische Klammer bildet Mühsams konsequente Staatskritik und sein Eintreten für Selbstorganisation, Gemeinsinn und Rätedemokratie. Texte wie Alle Macht den Räten!, Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip, Staatsverneinung oder Betrachtungen über den Staat entfalten die Grundlinien seiner politischen Ethik. Daneben stehen Analysen und Anklagen gegen Krieg, Justiz und Repression in Das große Morden, Justiz, Die Todesstrafe oder Polizeidiktatur, gegen Klerikalismus in Staat und Kirche, gegen Zensur in Wider die Zensur!. Beiträge zu Kultur, Geschlechterverhältnissen und Sozialpolitik – etwa Kultur und Frauenbewegung, Frauenrecht oder Die Bergarbeiter – erweitern den Horizont über institutionelle Fragen hinaus.

Stilistisch verbinden sich argumentative Klarheit, satirische Schärfe und ein ausgeprägter Sinn für sprachliche Verdichtung. Mühsam arbeitet mit Zuspitzung, Kontrast und wiederkehrenden Leitbegriffen, ohne den moralischen Kern seiner Position preiszugeben. Polemische Pointen in Bismarxismus, Patrioten oder Zur Naturgeschichte des Wählers stehen neben nachdenklicheren Passagen in Menschlichkeit oder Anarchistisches Bekenntnis. Die Texte sind aufs Publikum hin formuliert, zielen auf Verständlichkeit und Wirkung, vermeiden jedoch Vereinfachungen dort, wo begriffliche Genauigkeit nötig ist. Diese Verbindung aus Agitation, Analyse und literarischer Form verleiht dem Gesamtwerk seine eigentümliche Spannkraft. Ironische Brechungen, rhythmische Reihungen und prägnante Alltagsbezüge stabilisieren den Ton, ohne die Komplexität zu schmälern.

Die hier gebündelten Schriften reflektieren Konflikte einer sich modernisierenden Gesellschaft: Militarisierung, Bürokratisierung, Parteiverfestigung, soziale Ungleichheit und kulturelle Reaktion. Ihre Aktualität zeigt sich in der Kritik am autoritären Reflex, in der Verteidigung von Meinungsfreiheit und in der Suche nach demokratischen Praktiken jenseits bloßer Stellvertretung. Bezugnahmen auf die libertäre Tradition – sichtbar in Im Geiste Bakunins – und die Auseinandersetzung mit Zeitgenossen – greifbar in Gustav Landauer – verorten das Denken in einem offenen, dialogischen Feld. Der Band macht nachvollziehbar, wie Mühsam politisches Engagement als ethische Verpflichtung und kulturelle Aufgabe versteht, heute.

Der Aufbau der Sammlung eröffnet unterschiedliche Lektürezugänge. Wer programmatische Klarheit sucht, findet sie in Anarchie, Appell an den Geist oder Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip. Wer die Auseinandersetzung mit Institutionen vorzieht, wird in Parlamentarismus, Parlamentarischer Kretenismus und Humbug der Wahlen fündig. Wer den Erfahrungsraum benötigt, kann das Tagebuch aus dem Gefängnis heranziehen. Zusammengenommen zeigen die Texte Argumentketten, die von Grundsatzfragen zu tagespolitischen Interventionen führen, und wieder zurück. Querverbindungen zwischen kulturkritischen Stücken wie Kulturfaschismus und sozialpolitischen Beiträgen wie Der fünfte Stand lassen die innere Konsistenz des Denkens erkennen. So entsteht eine Landschaft, die sowohl Einstieg als auch Vertiefung ermöglicht.

Diese Werksammlung verfolgt kein antiquarisches Interesse, sondern stellt ein Werkzeug für Gegenwartslektüren bereit. Sie bietet eine verlässliche Textbasis, die die zeitgenössische Sprachgestalt bewahrt und zugleich den Überblick erleichtert. Leserinnen und Leser können die zentralen Motive – Freiheit, Verantwortung, Solidarität, Widerständigkeit – im Spannungsfeld von Theorie und Praxis verfolgen und eigene Schlüsse ziehen. Indem die Ausgabe programmatische Texte, dramatische Gestaltung und dokumentarische Notate zusammenführt, zeigt sie die Weite eines politischen Werkes, das Debatten eröffnet statt sie zu schließen, und dessen Impulse im öffentlichen Gespräch produktiv bleiben. Damit knüpft sie an die Lese- und Streitkultur an, die Mühsams Arbeiten stets voraussetzen.

Historischer Kontext

Inhaltsverzeichnis

Erich Mühsams politische Schriften entspringen der Umbruchzeit zwischen Kaiserreich, Revolution und Weimar. 1878 in Berlin geboren und in Lübeck politisiert, wurde er 1900 wegen sozialistischer Agitation relegiert; seit 1909 lebte er im Münchner Schwabing, zwischen Bohème, Kabarett und anarchistischen Zirkeln. Prägungen durch Gustav Landauer und die lebensreformerische Kolonie Monte Verità bei Ascona (ab 1904) schärften sein Verständnis von Anarchie als sozialethischem Prinzip. Diese Erfahrungen spiegeln sich in Texten wie Anarchie, Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip, Anarchistisches Bekenntnis und Im Geiste Bakunins. Bereits hier verbinden sich Kulturkritik und Politik: die Ablehnung hierarchischer Institutionen, die Idee rätedemokratischer Selbstverwaltung und die Suche nach gemeinschaftlicher Lebenspraxis.

Vor dem Ersten Weltkrieg agitierte Mühsam gegen Militarismus und staatliche Bevormundung. Mit der Zeitschrift Kain. Zeitschrift für Menschlichkeit (1911–1914) machte er antimilitaristische, antiklerikale und sexualreformerische Positionen publik. Der Kriegsbeginn 1914 brachte Zensur, Ausnahmezustand und die Burgfriedenspolitik der SPD, gegen die er opponierte. Diese Konstellation erklärt die Schärfe von Wider die Zensur!, Staat und Kirche und Justiz. Der Konflikt zwischen individueller Freiheit und obrigkeitlicher Ordnung erscheint als wiederkehrendes Motiv, das sich auch gegen den säkularen Autoritarismus der Behörden richtet. Mühsams frühe Kriegsgegnerhaltung isolierte ihn zunächst, verlieh seinen späteren Diagnosen von Polizeidiktatur und Humbug der Wahlen eine besondere Glaubwürdigkeit.

Die Revolution von 1918/19 eröffnete den Horizont der Rätebewegung, den Mühsam als Alternative zum Parteienstaat begriff. In München arbeitete er neben Gustav Landauer mit Arbeiter- und Soldatenräten; nach der Ermordung des USPD-Ministerpräsidenten Kurt Eisner (Februar 1919) unterstützte er die Ausrufung der Bayerischen Räterepublik (April 1919). Der blutige Einmarsch von Reichswehr und Freikorps beendete das Experiment. Aus dieser Erfahrung speisen sich Alle Macht den Räten!, Parlamentarismus, Parlamentarischer Kretenismus und Vom politischen Kasperltheater: Sie verwerfen Wahlrituale und Fraktionszwang zugunsten direktdemokratischer Selbstverwaltung. Zugleich verdichten sich antistaatliche und antiklerikale Argumente in Betrachtungen über den Staat, Staatsverneinung und Staat und Kirche.

Die Niederschlagung der Räterepublik hatte für Mühsam unmittelbare Folgen: Verhaftet im Mai 1919, wurde er zu langen Festungsjahren verurteilt und in Ansbach sowie im bayerischen Zuchthaus Niederschönenfeld inhaftiert. Tagebuch aus dem Gefängnis dokumentiert Alltag, Solidarität und politische Reflexionen unter Repression. Damit verzahnen sich Analysen der Klassenjustiz in Justiz, Die Todesstrafe und Verbrecher und Gesellschaft. Die Organisierung politischer Hilfe beleuchtet Absage an die Rote Hilfe, worin er parteikommunistische Instrumentalisierung kritisiert und anarchistische Unabhängigkeit verteidigt. Die 1924 erfolgte Amnestie entließ ihn in eine Republik, deren Freiheitsversprechen bereits von Notverordnungen und Strafverfolgung politischer Minderheiten unterminiert wurden.

Nach der Entlassung beteiligte sich Mühsam an Bündnissen der libertären Linken und veröffentlichte seit 1926 die Zeitschrift Fanal. Seine Auseinandersetzungen mit SPD, USPD und KPD verdichten sich in Bismarxismus, Die proletarische Linke und Parteitagsrede: ein Angriff auf disziplinierte Parteiapparate, die revolutionäre Energien absorbierten. In Zur Naturgeschichte des Wählers, Humbug der Wahlen und Parlamentarischer Kretenismus geißelt er den Parlamentarismus als Selbstzweck. Im Geiste Bakunins, Die Anarchisten und Anarchistisches Bekenntnis positionieren Anarchie als ethisches, föderalistisches Gegenmodell. Zugleich verbindet er soziale Fragen – Bergarbeiter, Der fünfte Stand, Frauenrecht – mit einer Kulturkritik, die Fortschritt an Autonomie und Solidarität misst.

Die kulturellen Auseinandersetzungen der Weimarer Jahre bilden einen zweiten Strang. Zwischen Avantgarde, Neuen Medien und konservativer Revolte radikalisierten sich Werte- und Geschlechterdebatten. Mühsam intervenierte mit Kultur und Frauenbewegung, Frauenrecht und Kindersegen zugunsten sexueller Selbstbestimmung und gegen bürgerliche Moral. Kulturfaschismus kritisiert autoritäre, nationalistische Kulturpolitik, die seit Mussolinis Machtergreifung 1922 europaweit Auftrieb erhielt und in Deutschland Resonanz fand. Texte wie Menschlichkeit und Appell an den Geist insistieren auf Empathie und Vernunft als politische Leitwerte. Das satirische Panorama von Korruption und Heuchelei – etwa in Panama, Patrioten und Vom politischen Kasperltheater – richtet sich gegen Elitenmythen und massenmediale Hysterien.

Mit der Weltwirtschaftskrise ab 1929 verschärften sich soziale Not und politische Radikalisierung. Präsidialkabinette regierten mit Artikel-48-Notverordnungen; Polizei und Justiz agierten zunehmend politisch. Mühsams Polizeidiktatur, Wider die Zensur! und Justiz reagieren auf Demonstrationsverbote, Zeitungsbeschlagnahmen und parteiische Urteile, die rechte Gewalt oft schonten. In Staat und Kirche, Die Monarchie und Betrachtungen über den Staat entwickelt er eine säkulare, antiautoritäre Staatskritik, die sowohl klerikale als auch monarchistische Restaurationsträume zurückweist. Gleichzeitig verknüpfen Das große Morden und Die Bergarbeiter Antimilitarismus mit sozialer Frage, indem sie Krieg, Rüstung und Klassenherrschaft als zusammenhängende Gewaltverhältnisse analysieren. Sie benennen auch Streiks.

Der Aufstieg des Nationalsozialismus bestimmte die späteste Rezeption. Nach dem Reichstagsbrand wurde Mühsam am 28. Februar 1933 verhaftet, über Sonnenburg und Brandenburg nach Oranienburg verschleppt und dort am 10. Juli 1934 ermordet; seine Bücher verbrannte man bereits im Mai 1933. Diese Gewalt bestätigt die Warnungen von Kulturfaschismus, Patrioten und Polizeidiktatur. Zugleich halten Appell an den Geist, Anarchie und Aus Ascona an einer humanistischen, gemeinschaftlichen Alternative fest, während der Essay Gustav Landauer den 1919 von Freikorps ermordeten Freund als geistige Bezugsperson würdigt. So erscheint die Sammlung als Chronik eines Jahrhunderts der Revolten – und der Reaktionen, die sie bekämpften.

Synopsis (Auswahl)

Inhaltsverzeichnis

Rätebewegung und proletarische Selbstverwaltung (Alle Macht den Räten!; Die proletarische Linke; Der fünfte Stand)

Diese Texte propagieren die Selbstorganisation der Produzierenden und fordern rätedemokratische Strukturen jenseits parteipolitischer Stellvertretung.

Agitatorisch und programmatisch betonen sie Autonomie, Solidarität und direkte Aktion als wiederkehrende Leitmotive.

Anarchistische Prinzipien und Bekenntnisse (Anarchie; Anarchistisches Bekenntnis; Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip; Im Geiste Bakunins; Appell an den Geist)

Grundsätzliche Entwürfe von Freiheit als sozialem Prinzip verbinden Ethik, Vernunft und die Tradition des libertären Denkens.

Deklarativer, werbender Ton und eine klare Absage an Herrschaft strukturieren diese Selbstverständigung des Anarchismus.

Staatskritik und Antiklerikalismus (Staatsverneinung; Betrachtungen über den Staat; Staat und Kirche; Die Monarchie)

Der Staat erscheint als institutionalisiertes Herrschaftsverhältnis, das durch Kirche und monarchische Formen ideologisch stabilisiert wird.

Historische Betrachtung und polemische Zuspitzung verbinden sich zu einer konsequenten Demontage politischer Autorität.

Anti‑Parlamentarismus und Wahlkritik (Parlamentarismus; Parlamentarischer Kretenismus; Humbug der Wahlen; Zur Naturgeschichte des Wählers; Vom politischen Kasperltheater; Panama)

Parlament und Wahlrituale werden als Scheinpartizipation entlarvt, die reale Emanzipation verdeckt und Korruption strukturell begünstigt.

Mit beißender Satire und Theatermetaphorik zielen die Texte auf Entzauberung politischer Inszenierungen.

Justiz und Strafe (Justiz; Die Todesstrafe; Verbrecher und Gesellschaft)

Die Strafjustiz wird als systemstützende Gewalt kritisiert, die soziale Ursachen von Kriminalität verschleiert.

Moralische Empörung und sozialanalytische Argumente stützen den Ruf nach Humanität und Abschaffung tödlicher Strafen.

Repression und Zensur (Polizeidiktatur; Wider die Zensur!)

Staatliche Kontrollapparate und Zensur erscheinen als zentrale Instrumente zur Disziplinierung abweichender Stimmen.

Warnend und mobilisierend verteidigen die Texte Rede‑ und Versammlungsfreiheit als unverzichtbare Voraussetzungen von Emanzipation.

Krieg, Patriotismus und Gewalt (Das große Morden; Patrioten)

Militarismus und nationaler Taumel werden als ideologische Motoren massenhaften Tötens angeklagt.

Zwischen elegischem Ton und Polemik entsteht eine eindringliche pazifistische Gegenposition.

Kultur, Geschlecht und Gesellschaft (Kulturfaschismus; Kultur und Frauenbewegung; Frauenrecht; Kindersegen; Menschlichkeit)

Autoritäre Tendenzen in Kultur und Moral werden kritisiert, während Fragen von Frauenrechten, Familie und sozialer Ethik entfaltet werden.

Analytische Schärfe verbindet sich mit emanzipatorischem Pathos; Gleichheit, Selbstbestimmung und Antimoralismus kehren als Motive wieder.

Arbeit und soziale Frage (Die Bergarbeiter)

Der Text zeichnet Härte, Gefährdung und Zusammenhalt der Arbeitenden als Brennspiegel sozialer Ungleichheit.

Empathische Darstellung und klassenkämpferische Perspektive untermauern die Forderung nach Selbstermächtigung.

Bewegungskritik und Abgrenzungen innerhalb der Linken (Bismarxismus; Absage an die Rote Hilfe; Parteitagsrede)

Hier werden autoritäre Strategien, Staatsnähe und opportunistische Tendenzen innerhalb der Linken zurückgewiesen.

Der Ton ist streitbar und selbstkritisch; Integrität, Unabhängigkeit und klare Strategie sind wiederkehrende Bezugspunkte.

Die Anarchisten

Eine literarisch‑satirische Annäherung an anarchistische Milieus, die Ideale, Widersprüche und Praxisalltag ausleuchtet.

Spielerische Zuspitzung und Figurenstudien entromantisieren Politik, ohne den utopischen Kern preiszugeben.

Tagebuch aus dem Gefängnis

Aufzeichnungen aus der Haft verbinden persönliche Erfahrungen mit politischer Reflexion über Repression und Standhaftigkeit.

Nüchterne Intimität betont die Kosten von Überzeugung und die Bedeutung von Solidarität.

Porträts und Orte der Bewegung (Gustav Landauer; Aus Ascona)

Ein intellektuelles Porträt und Ortsbilder eines libertären Rückzugsraums verdichten Geschichte, Freundschaft und Praxis.

Reflexiver, zugewandter Ton zeigt Netzwerke, Experimente und kulturelle Erneuerung als Teil politischer Arbeit.

Gesammelte politische Werke: Parlamentarischer Kretenismus + Die Anarchisten + Tagebuch aus dem Gefängnis + Appell an den Geist + Anarchie + Kulturfaschismus und mehr

Hauptinhaltsverzeichnis
Anarchistische Schriften:
Alle Macht den Räten!
Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip
Kulturfaschismus
Absage an die Rote Hilfe
Parlamentarismus
Bismarxismus
Die Anarchisten
Staat und Kirche
Staatsverneinung
Die proletarische Linke
Parlamentarischer Kretenismus
Im Geiste Bakunins
Wider die Zensur!
Das große Morden
Patrioten
Kultur und Frauenbewegung
Polizeidiktatur
Kindersegen
Parteitagsrede
Die Monarchie
Panama
Humbug der Wahlen
Vom politischen Kasperltheater
Anarchistisches Bekenntnis
Verbrecher und Gesellschaft
Anarchie
Justiz
Die Todesstrafe
Die Bergarbeiter
Menschlichkeit
Der fünfte Stand
Frauenrecht
Tagebuch aus dem Gefängnis
Zur Naturgeschichte des Wählers
Appell an den Geist
Aus Ascona
Betrachtungen über den Staat
Gustav Landauer

Anarchistische Schriften:

Inhaltsverzeichnis

Alle Macht den Räten!

Inhaltsverzeichnis

Die Auflockerung aller gesellschaftlichen Bindungen in dieser Zeit des Überganges, in der nichts feststeht als die Tatsache, dass nichts feststeht, macht den Anarchisten die ernste Auseinandersetzung darüber zur Pflicht, was für neue politische und wirtschaftliche Beziehungen sie als Inhalt der durch die soziale Revolution ermöglichten Ordnung des öffentlichen Lebens herbeiführen wollen. Solche Erörterungen sind viel wichtiger als das unfruchtbare Orakeln über den Zeitpunkt, wann unser aufbauendes Eingreifen nötig werden konnte. Es ist selbstverständlich damit zu rechnen, dass vorher ganz andre Kräfte zur Entfaltung kommen können als solche, die eine freiheitliche Gestaltung des Lebens anstreben. Gegen sie werden wir wie gegen alles Unsoziale und Gegenrevolutionäre die Mittel des unmittelbaren revolutionären Kampfes anzuwenden haben. Wir müssen aber auch, mögen wir diesen Verlauf für wahrscheinlich halten oder nicht, den günstigsten Fall in Betracht ziehen, dass der ja jetzt schon vor aller Augen liegende Bankrott der Demokratie in Deutschland weder von einer halbkonstitutionellen Industriellen- und Militärdiktatur abgelöst wird, wie sie Pilsudski in Polen und Starhemberg in Österreich versucht und wie Hugenberg und der Stahlhelm sie haben möchten, noch von einer rein faschistischen Tyrannis nach Mussolinischem Muster, noch auch von (einer Parteidespotie der Stalin-Kommunisten, sondern dass das revolutionäre Proletariat sich im Aufschwung seiner Kraft auf Selbständigkeit und Selbstverantwortung besinnt und daher den Kampf gegen jede Art Staat lenkt. Dann helfen uns keine Schlagwörter und keine roten und schwarzen Fahnen, dann müssen wir durch Rat und Zugriff praktisch bewahren, dass Anarchie ein wirklichkeitsträchtiger Daseinsbegriff ist und dass sich eine soziale Gesellschaft aufbauen lässt, die anders aussieht und anders handelt als ein Staat.

Nach mancherlei zweifelndem Schwanken hat sich in den Bewegungen des kommunistischen Anarchismus und des Anarchosyndikalismus das Bekenntnis zur Räterepublik als der freiheitlichen Gesellschaftsform des Sozialismus ziemlich allgemein durchgesetzt. Die Losung "Alle Macht den Räten", unter der die russische Revolution 1917 ihren Oktobersieg errang, erwies sich als so erschöpfender Ausdruck des wahren Willens der gesamten revolutionären Arbeiterschaft in allen Ländern, dass auch die entschiedensten Autoritären, die Bolschewiken, sie aufnahmen, da sie sonst einfach den Anschluss an die Massen verpasst und keine Gelegenheit gefunden hätten, sich nach dem Siege der Revolution zu demaskieren, sie waren, wie es den Menschewiken erging, schon vorher als Staatssozialisten erkannt und zu keiner Teilnahme an der Neuordnung der Verhältnisse zugelassen worden. Nachdem die Dinge in Russland nun leider den Verlauf genommen haben, den jede jacobinische Revolutionsverfälschung nehmen muss: von einer Massenerhebung über Klüngeldiktatur und Direktorium zum Bonapartismus - der gegenwärtige Zustand entspricht einer Zwischenstation zwischen Robespierre und Barras, aber die Konturen des Konsulates überschatten schon den Hintergrund -, zwingt die lärmende Anpreisung eines "Sowjet-Deutschland", das dem Vorbild des heutigen Russland genau nachgeahmt werden soll, zur klarsten Herausstellung des Gegensatzes zwischen einem Sowjetstaat und einer Räterepublik.

Eine Darstellung dessen, was sich in Russland als "Diktatur des Proletariates" ausgibt, erübrigt sich in diesem Zusammenhang. Es genügt, daran zu erinnern, dass die Verfolgungen und Brutalisierungen gegen alle Proletarier, die sich noch heute zu den gemeinsamen Parolen von 1917 bekennen, dauernd gesteigert werden und dass die Moskauer Machthaber sich noch nie bewogen gefühlt haben, dem Protest der proletarischen Revolutionäre aller Länder, die nicht ihre gefügigen Parteigänger sind, auch nur einen Teil der Beachtung zu schenken, die sie den Protesten empfindsamer Intellektueller zuwenden, wenn sich ihr revolutionärer Eifer wirklich einmal statt gegen Anarchisten und linke Kommunisten gegen Saboteure, Weißgardisten und Pfaffen richtet. Dass west-europäische Kapitalisten des Außenhandelsmonopols wegen in Russland Wirtschaftssabotage finanzieren und dass die ganze gottgefällige Empörung über die Unterdrückung klerikaler Einwirkungen auf Politik und Wirtschaft nichts ist als anfeuernde Begleitmusik zu dieser Sabotage, kann gar nicht zweifelhaft sein. Die Erschießung der 48 Leute, welche von der GPU beschuldigt wurden, unter der Maske treuer Mitarbeit am Aufbauwerke des sozialistischen russischen Staates jahrelang organisierte Zerstörungsarbeit eben an diesem Werke betrieben, Nahrungsmittelfälschungen, Warenverderb und Betriebsstörungen größten Umfanges organisiert zu haben, kann Bedenken in uns erwecken, ob man mit diesen Personen wirklich die richtigen erwischt hat, da hier nicht wie im Schachty-Prozeß öffentlich verhandelt wurde, sondern nachträglich verlangt wurde, wir sollen an das Eingeständnis der Schandtaten bei allen 48 geheim Verurteilten glauben, aber die Radikalmaßnahme an und für sich, wenn es sich wirklich um eine derartig wirksame und bösartige Schädigung der arbeitenden Massen handelt, brauchte uns wahrhaftig nicht zum Haarausraufen zu veranlassen. Von den 42 deutschen Schöngeistern, die ihrem Entsetzen über die Hinrichtungen Ausdruck gegeben haben, hat nicht ein einziger seinen Namen damals unter den Aufruf gesetzt, den wir linken Revolutionäre vor drei Jahren gegen die Drangsalierung der Oktoberkämpfer in Russland in die Welt hinaussandten. Sie haben sich auch bei sehr dringlichen Anlassen in Deutschland selbst, wie den Berliner Maimorden, alle mögliche Zurückhaltung auferlegt, müssen sich also den Vorwurf gefallen lassen, dass ihnen das Schicksal Unrecht leidender Proletarier niemals so wichtig ist wie das von Klassenfeinden des Proletariates, deren Unschuld zu bestätigen sie stets allzu bereit scheinen.

Die Angelegenheit der erschossenen Professoren und Spezialisten, danach jetzt wieder die Aufdeckung der Geheimorganisation einer "Industriepartei" in Russland, die die Durchkreuzung der russischen Experimente staatssozialistischer Art bezweckt haben soll, lenken jedoch die Aufmerksamkeit auf Dinge, die uns als Räterevolutionäre in außerordentlichem Maße angehen müssen. Wir haben an die Leiter der russischen Geschicke und an die Verkünder eines Sowjet- Deutschlands nach gleichem Zuschnitt die Frage zu richten: Gibt es eigentlich in Sowjet-Russland noch Sowjets? Was für eine Rolle spielen sie im öffentlichen Leben? Worin bestehen ihre Funktionen im Wirtschaftsbetriebe? Haben sie keine Kontrollrechte mehr in den Fabriken und den Verteilungsstellen? Wie geht es zu, dass klassenfremde Gegenrevolutionäre Jahre hindurch Konserven verunreinigen konnten, ohne dass die Arbeiter etwas gemerkt haben? Wie sind die ganzen Schweinereien, die in der russischen und parteikommunistischen Presse mit allem greuelhaften Beiwerk umständlich geschildert wurden, überhaupt möglich geworden, wenn es zugleich wahr sein soll, dass Russland ein Sowjetland ist und die Arbeiter selber die Herren im Hause ihrer Arbeit sind? Das, nichts sonst, soll von denen erklärt weiden, die die Saboteure anklagen und ihre Schuldbeweise nach vollstrecktem Todesurteil auf das Geständnis der Verurteilten stützen, nicht auf ihre Dingfestmachung durch die kontrollierenden Betriebsräte. Hängt das Geheimverfahren vielleicht zusammen mit der Befürchtung, bei öffentlicher Verhandlung wäre die gänzliche Einflusslosigkeit der Sowjets an den Arbeitsstätten ans Licht gekommen, die bei der geringsten Selbständigkeit und Macht ja schon beim ersten Sabotageversuch hätten aufmerksam werden, beobachten und zugreifen müssen?

Über Russland wird an andrer Stelle dieses Heftes im Anschluss an einige Literaturerzeugnisse mehr gesagt. Über Russland wird, da es ohne Frage das wichtigste Gegenwartsproblem ist - handelt es sich doch um die Frage, ob es uns Vorbild oder Warnung sein soll -, noch oft und ausführlich gesprochen werden müssen. Im Augenblick steht allein die Aufgabe zur Lösung: Wie sieht der gesellschaftliche Zustand aus, der die Forderung "Alle Macht den Räten![1q]" erfüllt? Der Hinweis auf die Möglichkeit jahrelang gelungener konterrevolutionärer Wirtschaftssabotage in Russland, 13 Jahre nach der siegreichen Revolution, aber würde allein zum Beweise genügen, dass der erstrebte Zustand keine Ähnlichkeit haben wird mit dem Gesellschaftsbilde des heutigen Russlands.

Der Rätegedanke ist uralt. Räte sind im eigentlichen Sinne nichts andres als die Vereinigung Gleichberechtigter zur Beratung ihrer eigenen gemeinsamen Angelegenheiten. Diese Bedeutung hatten die Gemeindeversammlungen des Altertums, die Gilden des Mittelalters, die Sektionen der französischen Revolution und der Kommune. Das Rätewesen als Zusammenarbeit von Ratgebern und Ratholern auf Gegenseitigkeit ist über die Bestimmung der Interessenvertretung in sich verbundener Menschengruppen hinaus die natürliche Organisationsform jeder Gesellschaft überhaupt, welche die Leitung der öffentlichen Sachen von einer staatlichen Spitze aus durch die Ordnung von unten herauf, durch Föderation, Bündnis und unmittelbaren Zusammenschluss der Arbeitenden zur Regelung von Arbeit, Verteilung und Verbrauch ersetzt sehn will. Der Anarchismus stellt von jeher diese föderative Gestaltung der gemeinschaftlichen Notwendigkeiten dem zentralistischen Prinzip gegenüber. Die Organisation von den Arbeitsstätten und Arbeitsbeziehungen aus, das ist die politische und wirtschaftliche Gesellschaftsform der Anarchisten, das ist die staatlose, die dem Staat entgegengesetzte Gesellschaftsform der Anarchie. Die Bezeichnung der Organe dieser unmittelbar wirksamen Beeinflussung des Lebens durch die Arbeit als "Räte" wurde zum ersten Male auf dem Baseler Kongress der I. Internationale (5. bis 12. September 1869) laut, und zwar entwickelte der belgische Anarchist Hins in seinem Kommissionsbericht über die künftige Bedeutung der Gewerkschaften den Gedanken, dass in einer sozialistischen Gesellschaft die Vereinigung der Gewerkschaften eines Ortes die Kommune bilden, während die nationalen (regionalen) Verbände die Arbeitervertretung sein würden. Die Staatsregierung würde durch Räte aus den Föderationen der Berufe und durch ein Komitee ihrer Delegierten ersetzt. So würden die Arbeitsbeziehungen die politischen Beziehungen in sich schließen. Jede Industrie werde ein Gemeinwesen für sich sein und auf diese Weise die Rückkehr zum alten Zentralisationsstaat für immer unmöglich gemacht werden. Die alten politischen Systeme würden also ersetzt werden durch die Repräsentation der Arbeit.

Diese Ausführungen, mit denen Hins vor 61 Jahren die moderne syndikalistische Bewegung aus der Taufe hob, haben eine geschichtliche Bedeutsamkeit, deren Umfang und Tiefe erst in unsern Tagen, da der Rätegedanke zur befruchtenden Idee der revolutionären Arbeiterschaft aller Länder geworden ist und schon jetzt durch seine Verfälschungen in der Praxis diskreditiert zu werden droht, klar zu erkennen ist. Hierbei kommt es gar nicht darauf an, dass der Ausbau der kapitalistischen Industrialisierung die revolutionäre Gestaltung der Räte nicht mehr von Berufs- oder Industrieverbänden, sondern unmittelbar von den Belegscharten der einzelnen Betriebe und ihrer örtlichen und regionalen Verbindungen erwarten lässt. Es kommt allein darauf an, dass auf dem Baseler Kongress bereits der Sinn der Forderung "Alle Macht den Räten !" mit unzweideutiger Klarheit festgestellt worden ist, auf jenem in jeder Hinsicht denkwürdigen Kongress, von dem Max Nettlau sagt, er sei "bis heute die einzige große Versammlung geblichen, in der Sozialisten und Anarchisten aller Richtungen, in natürlichen Proportionen vertreten, ruhig diskutierten, sich über manches verständigten, in anderem differierten und friedlich auseinandergingen". Wir wissen, was die fernere Zusammenarbeit der verschieden gerichteten revolutionären Arbeiterorganisationen verhindert hat: der Glaube an das Heil der Zentralgewalt, der seine Verkünder zwangsläufig zu der Auffassung führt, dass nur sie sie ausüben dürfen; folglich der Widerstand aller Stolzen und Freien innerhalb der Arbeiterbewegung gegen die Zumutung, anstelle der Staatsautorität die Autorität von sich selbst ernannter Befehlsgeber des Proletariates ertragen zu sollen; dann die inneren Kämpfe zwischen den Führerschaften, die sich als Kommandeure und Nutznießer der proletarischen Klassenbewegung bereits als Beamte der künftigen Zeit fühlen und im Gegenwartsstaat einüben, endlich die Umbiegung aller revolutionären Begriffe zu Werkzeugen der Macht Weniger über die Gesamtheit. Hierfür ist Russland das schlimme Beispiel geworden, wo die Revolution unter der gemeinsamen Forderung "Alle Macht den Räten!" den herrlichsten Sieg erkämpfte und wo es Autoritären gelang, alle Macht in ihre eigenen Hände zu bringen, die Räte zu regierungsergebenen Staatsorganen zu machen, ihre Wahl von der Zugehörigkeit oder mindestens Billigung einer jede Kritik unterbindenden, die Freiheit des Proletariats schlimmer als die der Kapitalisten unterdrückenden Partei abhängig zu halten und in der Welt die Meinung zu verbreiten, Russland sei eine Sowjetrepublik, aus seinem Boden wachse "Sowjetgetreide", aus seinen Naphthaquellen fließe "Sowjetöl" und in den Einkerkerungen, Verbannungen, Verfolgungen, Beschimpfungen und Verleumdungen aller, die den Losungen von 1917 die Treue gehalten haben, erweise sich die wahre Erfüllung des Sowjetsystems: Alle Macht den Räten!

Wie stellen wir uns die "Repräsentation der Arbeit" vor, die Hins als Trägerin der Zukunft anstelle des in Russland bevorzugten staatskapitalistischen Systems verkündete? Wir nehmen den Ruf "Alle Macht den Räten" wörtlich. Wir dulden keine Macht, die sich über den Räten festsetzen will. Wir verstehen mit Bakunin unter der Errichtung der Räterepublik "die vollständige Liquidation des politischen, juridischen, finanziellen und verwaltenden Staates, den öffentlichen und privaten Bankrott, die Auflösung aller Macht, Dienste, Funktionen und Gewalten des Staates, die Verbrennung aller Dokumente, der öffentlichen und privaten Akten". In unsrer Revolution wird sich das Proletariat beeilen, "sich so gut es geht, revolutionär zu organisieren, nachdem die in Assoziationen vereinigten Arbeiter die Hand auf alle Arbeitswerkzeuge, Kapital jeder Art und die Gebäude gelegt, sich bewaffnet und nach Straßen oder Vierteln organisiert haben". Die Kommunen der verschiedenen Orte werden sich dann föderieren, "zur gemeinsamen Organisation der nötigen Leistungen und Beziehungen für Produktion und Austausch, für die Aufstellung der Verfassungsurkunde der Gleichheit, der Grundlage jeder Freiheit, einer absolut negativ gearteten Charte, die mehr festsetzt, was für immer abgeschafft werden muss, als die positiven Formen des lokalen Lebens, die nur durch die lebendige Praxis jeder Örtlichkeit geschaffen werden können; ferner für die Organisation einer gemeinsamen Verteidigung gegen die Feinde der Revolution und für Propaganda, Bewaffnung der Revolution nebst praktischer revolutionärer Solidarität mit den Freunden in allen Ländern gegen die Feinde in allen Ländern". (Brief Bakunins an Albert Richard vom i. April 1870 über die Aufgaben der Pariser Kommune).

Um schließlich die lebendige Wesenheit der Räte aufzuzeigen, die Form der Delegation, die die Gefahr ausschließt, dass sich Vertreter des Proletariats zu Vorgesetzten ihrer Auftraggeber erheben, wie es im Staat und in allen zentralistischen Organisationen der Fall ist, seien ein paar Sätze wiederholt, die den Standpunkt des FANAL in der ersten überhaupt erschienenen Nummer vom Oktober 1926 deutlich machen sollten. Da hieß es im Artikel "Staatsverneinung": "Die Verwaltung des Gemeinwesens durch die von den Arbeitsstätten aus von unten nach oben wirkende föderative Organisation der Räte, die von den revolutionären Kommunisten aller Schattierungen angestrebte Räterepublik, kann niemals ein Staatsgebilde sein. Staat setzt Regierung voraus, das ist obrigkeitliche Befehlsgewalt und Rangordnung. Die Räterepublik ist charakterisiert in der Forderung ... : Alle Macht den Räten! Räte sind die aus den Produktionsbetrieben unmittelbar entsandten, für jede Einzelfrage nach besonderer Eignung ausgesuchten, stets abberufbaren und auswechselbaren, unter dauernder Kontrolle der Werktätigen nach deren eigenen bindenden Beschlüssen handelnden Delegationen der industriellen und landwirtschaftlichen Betriebsbelegschaften. In den Räten ist also die gesamte städtische und ländliche arbeitende Bevölkerung zur direkten Ausübung aller Verwaltungsfunktionen des Gemeinwesens zusammengeschlossen. Die Leitung der Verwaltungsaufgaben in den gemeinsamen Angelegenheiten weiterer und weitester Bezirke geschieht durch Unterdelegationen dieser Räte zu Kreis-, Provinzial-, Landesräte-Kongressen nach dem gleichen Grundsatz der Verantwortung nach unten, der Abberufbarkeit, des gebundenen Mandats, bis hinauf zu den höchsten Exekutivorganen, dem Zentralexekutivkomitee und dem Rat der Volksbeauftragten, denen keine Legislative, sondern durchaus nur die Ausführung des Willens der im Produktionsprozess unmittelbar Tätigen zusteht und die, stets gewärtig, den Platz im Ganzen oder für einzelne Aufgaben berufeneren Genossen räumen zu müssen, immer nur Beauftragte, nie Auftraggeber sind."

Alle derartigen Versuche, künftige Dinge in Worten und Thesen festzulegen, können der Wirklichkeit immer nur auf die Richtung hinweisen, in der Freiheit und Sozialismus liegt. Finden muss sie die schaffende Menschheit selber. Es ist ja vollkommen gleichgültig, ob sich die Räte ein zentrales Exekutivkomitee und einen Rat der Volksbeauftragten schaffen oder nicht. Tun sie es, so müssen sie achtgeben, dass es in der Tat ausführende Organe bleiben und nicht auf Schleichwegen eine Gesetzgeberei aus ihren Funktionen machen; unterlassen sie es aber, so müssen sie eben ein andres Mittel finden, um die Aufgaben der Gesamtheit wie Beleuchtung der Dörfer und Städte, Verkehrswege, Brückenbauten, Medizinal- und Schulwesen, kurz alle die Dinge zu regeln, die nicht von einem Betriebe oder einem Stadtviertel aus allein geordnet werden können. Tausenderlei Fragen werden sich erst aufwerfen, wenn es ans Handeln geht. Mit dem Höchstmaß von Vertrauen zur Kraft des gemeinsamen Willens und mit dem Mindestmaß von Vertrauen zu jeglicher von oben her zudrängenden Anordnung kann jede Frage im freiheitlichen Geiste gelöst werden. Nur glaube niemand, die Arbeiter könnten die Produktion einfach übernehmen, indem sie die Maschinen, die sie vorfinden, in den gleichen Fabriken wie jetzt in gleicher Menge die gleiche Ware herstellen lassen. Mit der "Sozialisierung" von Fabriken ist gar nichts getan, wenn nicht zugleich der Markt, für den sie Produkte liefern, sozialisiert wird. Alles, was die Revolution vorfindet, ist ausschließlich für die kapitalistische Wirtschaft eingerichtet, das heißt: die Arbeit dient nicht dem nötigen Bedarf, sondern dem Profit; es wird Überflüssiges hergestellt, dringlich Wichtiges für die arbeitenden Massen wird vernachlässigt. Ebenso ist die Verteilung nicht organisiert nach dem Gesichtspunkt, dass jede Ware auf schnellstem Wege vom Produzenten zum Konsumenten gelangt, sondern nach den Gewinnberechnungen des Zwischenhandels, und endlich ist der Verbrauch nicht geordnet nach dem Bedürfnis der Verbrauchenden, sondern nach deren Kaufkraft. Es ist Aufgabe der Räte - und nur, wenn tatsächlich alle Macht in ihren Händen ist, können sie dieser Aufgabe gerecht werden -, vom ersten Tage der Revolution an die kapitalistische Organisation der Wirtschaft radikal aufzulösen und Arbeit, Umlauf und Verbrauch sofort umzustellen auf den Bedarf der Arbeitenden in den Städten und auf dem Lande nach Ernährung, Bekleidung, Behausung und Erholung. Hier erwachsen den die unverfälschte Räterepublik anstrebenden Arbeiter- und Bauernorganisationen schon jetzt wichtige Aufgaben statistischer Art, und es wäre gut, wenn sich Revolutionäre zusammenfänden, um die Erfordernisse einer staatlosen Gesellschaft an Hand der vorhandenen und zu schaffenden Möglichkeiten zur Umstellung von Fabriken, Beschaffung von Rohstoff, gegenseitiger Versorgung und was dazu gehört, zu errechnen.

Endlich aber darf nie aus den Augen schwinden, dass nur dann kein Staat ist, nur dann die Räte wirklich unumschränkt wirken können, wenn alles öffentliche Leben von den Gemeinden ausgeht; dass, was immer innerhalb der Gemeinde ausgetragen werden kann, innerhalb der Gemeinde bleiben muss und dass die expansiven Erfordernisse der Wirtschaft zentrifugal von den Gemeinden aus betrieben werden müssen. Gustav Landauer hat im Februar 1910 im "Sozialist" in zehn Punkten "Leitsätze der Politik" aufgestellt, die, da sie in keines seiner Bücher aufgenommen sind, hier wieder abgedruckt werden sollen. Ein Blick in diese Sätze genügt, um auch hier, obwohl das Wort Räte nicht gesagt wird, die Übereinstimmung mit der Forderung der anarchistischen Räterepublik zu erkennen:

Jeder erwachsene Mann und jede erwachsene Frau ist selbständig in den eigenen Angelegenheiten.

Die Gemeinde erkennt an, welches die eigenen, unanrührbaren Angelegenheiten des Einzelnen in dieser Gemeinschaft sind.

Jede Gemeinde ordnet ihre eigenen Angelegenheiten selbständig.

Die Träger der Gemeindepolitik sind die permanent lagernden Berufsverbände, die zeitweilig in Gesamtheit zu allgemeinen Volksversammlungen zusammentreten. Diese Gemeindevertretungen ernennen Beauftragte zu selbständigem Handeln im Dienste der Gemeinde und ersetzen sie auf Grund souveräner Beschlüsse durch andre.

In den Angelegenheiten der Gemeinschaft zwischen den Gemeinden treten die Gemeinden zu Kreisverbänden, Provinzen und Landtagen zusammen.

Die Abgeordneten zu diesen Tagungen haben lediglich den Willen der Gemeinden auszuführen. Sie haben imperatives Mandat, stehen unter der ständigen Kontrolle der Gemeinde und können jederzeit abberufen und durch andre ersetzt werden.

Zum Vollzug der Anordnungen, die durch diese Verbände im Interesse der engeren und weiteren Gemeinschaften getroffen werden, werden Amtleute ernannt, die dem Volk, das ihnen den Auftrag gegeben hat, verantwortlich sind.

Die Gemeinden und die engeren und weiteren Gemeinschaften aus Gemeinden setzen jeweils die Art fest, wie ihre Beschlüsse zustande kommen sollen.

Es bleibt der Entscheidung der Gemeinden überlassen, ob sie an den Beschlüssen und Betätigungen der engeren und weiteren Gemeinschaften teilnehmen wollen oder nicht.

Es gibt keine öffentlichen Gewalten als die von der Gemeinde eingesetzten und anerkannten.

Aus allem, was hier und im Vorigen gesagt wird, kann ein erschöpfendes Gesellschaftsbild allerdings nicht entnommen werden. Wer aber den Sinn der Forderung "Alle Macht den Räten" nicht erfüllt, weil der Staat zutiefst in ihm sitzt, auf den werden wir beim Aufbau des anarchistischen Sozialismus ohnehin kaum zu rechnen haben. Viele werden - wir kennen ja alle die Einwendungen von Staatstreuen und Parteimenschen - meinen: Fangts an, wie ihr wollt, es wird doch immer ein Staat draus werden. Wir wissen, dass sie es sind, die alles versuchen werden, um den Staat draus werden zu lassen. Wer aber ein richtiger Spießbürger ist, der wird sogleich Dutzende und Hunderte von Alltagshindernissen wissen, welche sich der Vernunft, der Gerechtigkeit und der Freiheit schon entgegenstellen werden, so dass wir nie zum Ziele kommen können. Sie haben ganz recht: es wird nicht leicht sein. Es gehört ein Wille dazu, der Berge versetzen kann. Der Wille der Detailkrämer des Zweifels und der Besorgnisse reicht aber gewöhnlich noch nicht einmal dazu, einem Ideal zuliebe die Uhrkette zu versetzen. Die Marxisten werden uns dialektisch beweisen, dass die Rätemacht gar keine Rätemacht sein kann, sondern nur eine Stalin- oder Heinz-Neumann-Diktatur, und die Sozialdemokraten werden uns fragen, warum wir denn noch nicht einmal mit dem freien Volksstaat von Weimar zufrieden sind und durchaus auf einer staatlosen Rätegesellschaft bestehen. Es ist wahr, die Formel "Alle Macht den Räten" bedeutet das Bekenntnis zu einer vollständigen Umwälzung der Grundlagen des gesellschaftlichen Seins. Gegen eine Revolution von den Wurzeln aus aber sträubt sich der Mensch, der noch irgend Hoffnung hat, aus den Wurzeln der Gegenwart Kraft zu saugen. Nur wem die Gegenwart nichts mehr bietet als Abscheu vor ihren Erbärmlichkeiten und Tücken, wird einer Zukunft den Weg frei machen wollen, auf den kein Erbgut des Früheren mitgenommen werden kann. Die russischen Kommunisten sind gescheitert, weil sie nicht den Mut hatten, mit der Vergangenheit zu brechen. Sie haben den Staat mit den Räten verquicken wollen. Der Staat ist geblieben, stärker als je zuvor, die Räte sind Werkzeuge des Staates geworden, also keine Räte mehr. Wer aber fragt: Wird es nicht wieder so kommen? Sind es nicht Menschen, mit denen ihr ausziehen wollt, die Freiheit zu errichten, schwache, autoritäre, geknechtete, knechtende, gehorsame und törichte Menschen? Wie wollt ihr fertig werden mit den Widerständen der geistigen Trägheit und der anerzogenen Ehrfurcht vor Kirche, Schule, Familie und Staat? - wer so fragt, dem wollen wir entgegensetzen unsern Willen, unsern Mut und unsre Überzeugung. Denn die Gegenwart soll an die Zukunft keine Fragen stellen, sondern Forderungen!

Die Freiheit als gesellschaftliches Prinzip

Inhaltsverzeichnis

Die Geschichte der Menschheit mit ihren Kriegen und Revolutionen, mit ihren Bestrebungen um Änderung, Besserung, Beseitigung oder Erhaltung von Zuständen und Einrichtungen, mit all ihren politischen, wirtschaftlichen, religiösen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Kämpfen vollzieht sich in immer veränderten Forderungen dennoch immer mit derselben Begleitmusik. In allen Zeiten, bei allen Völkern, wo Meinung gegen Meinung, Losung gegen Losung stand und steht, empfehlen sich die Beschützer des Alten wie die Pioniere des Neuen als die Sachverwalter der Freiheit. Es gibt keine Bewegung, hat nie eine gegeben und kann keine geben, die erfolgreich um Anhang für sich werben könnte, wenn nicht auf ihrer Standarte das Bekenntnis zur Freiheit beschworen ist. Wo Ziele erstrebt werden, die über materielle Nützlichkeit hinausreichen oder doch hinauszureichen scheinen, kann Gefolgschaft nur mit sittlichen Zwecksetzungen gewonnen werden; zum sittlichen Begriff schlechthin aber, dem alle übrigen sittlichen Werte ein- und untergeordnet sind, der die hohen seelischen Eigenschaften der menschlichen Gesellschaft wie Ehre, Ruhm, Kultur, glückliche Verbundenheit, in der natürlichen Vorstellung aller zur Gefolgschaft geeigneten Massen umfasst, wird von allen verschiedenen und entgegengesetzten Parteien und Vereinigungen die Freiheit erhoben. Denn das Wort Freiheit ist im Sprachgefühl der Menschen das einzige, das in sich die Eigenschaften der individuellen Tugend mit denen eines gesellschaftlichen Ideals verbindet.

Daß offenbar jeder Mensch die Freiheit als gesellschaftliches Ideal empfindet, ist ein Beweis dafür, daß die Sehnsucht nach individueller Freiheit in der menschlichen Natur selber begründet ist. Dieser Sehnsucht nach persönlicher Steigerung der Lebenswerte muß jede Werbung Rechnung tragen, die die allgemeine Erhöhung des Kollektivgefühls zu bewirken verspricht. Daher und weil bei primitiven Menschen ebenso wie bei differenzierten das Streben nach veredelter Gemeinschaft durchaus gleich empfunden wird mit dem Streben nach vermehrter Freiheit in der Verbundenheit aller, spielt sich fast aller öffentliche Kampf um die Geister der Menschen als ein Wettstreit der Weltanschauungen, der politischen und wirtschaftlichen Bekenntnisse und der sozialen Grundsätze ab, die eigene Freiheitlichkeit als die beste zu erweisen, das fremde und feindliche Prinzip als freiheitswidrig herabzuwürdigen. Wäre nun die Freiheit im Sprachbewußtsein der Menschen ein klar erkanntes und in ihrer Bedeutung einhellig erfasstes sittliches Gut, dann bedürfte es keiner konkurrierenden Anpreisung gesellschaftlicher Programme unter dem Gesichtspunkt der Freiheit, dann wäre es leicht, unter den empfohlenen Systemen dasjenige herauszufinden, das der positiven Forderung am nächsten käme oder gar sich mit ihr deckte.

Leider verbindet sich jedoch bei den meisten Menschen mit dem Wort Freiheit nur ein ganz verschwommener Empfindungswert, so daß aus dem gesellschaftlichen Begriff, der aus dem stärksten ethischen Drang des Menschen stammt, die seichteste aller öffentlichen Phrasen werden konnte. Es gibt in den vielen Jahrtausenden übersehbarer Menschengeschichte keine Tyrannis, keine Unterdrückung und Vergewaltigung von Arbeits- und Willenskräften, die sich nicht des Freiheitsverlangens ihrer Opfer bedient hätte, um zur Macht zu kommen. Der Sklave nämlich stellt sich fast niemals die Freiheit vor, sondern leidet nur unter der greifbar erlebten Unfreiheit und läßt sich somit leicht überreden, neue Knechtschaft auf sich zu laden, wenn nur der neue Herr die glaubhafte Zusicherung gibt, er werde ihn aus der alten Knechtschaft befreien. Die Erfolglosigkeit aller bis jetzt geführten Kämpfe um gesellschaftliche Freiheit hat also ihre Ursache darin, daß sie nie für die Erringung wahrhaft freien Lebens, für einen positiv von Freiheit durchdrungenen sozialen Zustand geführt wurden, sondern ihren Ausgang nahmen von der Unerträglichkeit des Bestehenden und ihr Ziel begrenzten auf die rein negative Befreiung von dieser Unerträglichkeit.

Das Versprechen: wir werden euch, das Volk, den Staat, die Gesellschaft, die Menschheit befreien!; die Aufforderung: befreit euch, das Volk, den Staat, die Gesellschaft! hat mit Freiheit nur insofern zu tun, als in diesen Parolen ihr Nichtvorhandensein anerkannt und als Übel festgestellt wird. Was dagegen aufgestellt wird, beschränkt sich in fast allen Fällen auf die Ausmalung von Verhältnissen, die sich durch Abwesenheit der Dinge auszeichnen werden, deren Ausmerzung Sinn der Befreiung sein soll. Umgekehrt begegnen aber auch die Hüter der befehdeten Einrichtungen, Zustände oder Gebräuche dem Appell, sich von ihnen zu befreien, mit dem Beweise, daß alles, was sie ersetzen soll, dem Geiste der Freiheit widerspreche, und die Einen wie die Anderen lassen die Darstellung der Unfreiheit des Bekämpften als Überzeugungsgrund dafür gelten, daß die von ihnen gewünschten oder verteidigten Werte den Charakter der Freiheit trügen. Es bleibt also zu untersuchen, ob der Begriff der Freiheit als gesellschaftliches Prinzip überhaupt in positiver Formulierung zu fassen ist und wie die Organisation der Gesellschaft beschaffen sein müßte, die die Freiheit zum lebensbewegenden Inhalt des menschlichen Zusammenhalts machen wollte.