Geschichte in Film und Fernsehen - Thomas Fischer - E-Book

Geschichte in Film und Fernsehen E-Book

Thomas Fischer

0,0
17,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Unser kollektives Gedächtnis wird wesentlich durch historische Kino- und Fernsehfilme beeinflusst. Von Kinoerfolgen wie "Der Untergang" bis zu Fernsehdokumentationen aus der Werkstatt von Guido Knopp: Geschichtsfilme bringen uns vergangene Zeiten nahe und deuten sie gleichzeitig. Wie historische Filme entwickelt und produziert werden, und wie die Wissenschaft sie analysieren kann, ist Thema dieses Lehrbuchs, das Theorie und Praxis anschaulich vereint und dabei einen Einblick in die Filmproduktion sowie Informationen zur Berufsorientierung für Studierende der Geschichtswissenschaften und benachbarter Fächer bietet.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 413

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Thomas Fischer / Thomas Schuhbauer

Geschichte in Film und Fernsehen

Theorie – Praxis – Berufsfelder

A. Francke Verlag Tübingen

A. Francke Verlag Tübingen

Inhalt

1 Einleitung1.1 Stand der ForschungGedächtnis und ErinnerungErinnerungskultur und kulturelles GedächtnisErzählweisen und ErzählstrukturenFilm und Geschichtswissenschaft2 Audiovisuelles ErzählenEreignis und ErzählungErzählerErzählungErinnerung2.1 Audiovisuelle GeschichteSzenische GeschichtsfilmeDer sichtbare RaumDie sichtbaren PersonenDie filmische HandlungTatsächliche Geschichte und szenisch erzählte GeschichteDarstellen versus Erzählen – Szenische gegen dokumentarische Geschichtsfilme?Tatsächliche Welt und erzählte WeltDer verbale ErzählerDie dokumentarische Erzählung2.2 Geschichte im KinoKinowahrnehmung – FilmwahrnehmungGeschichtswelten im KinoGeschichtsfilme und PublikumHistorienfilme und ErinnerungsfilmeFaktuales und Fiktionales ErzählenSzenische Geschichtsfilme im Kino – Dokumentarische Geschichtsfilme im FernsehenProbleme des audiovisuellen ErzählensSzenische HistorienfilmeSzenische Erinnerungsfilme2.3 Geschichte im FernsehenFenster zur WeltErzählte WeltenProgrammauftrag GeschichteErinnern im FernsehenEreignis, Erzählung, GeschichteDokumentarische ErinnerungsfilmeDokumentarische Historienfilme2.4 Geschichtsfilm und Öffentlichkeit„Nackt unter Wölfen“Den Film ins kommunikative Spiel bringen„Das Leben der Anderen“Geschichtsfilm und Markt2.5 Geschichtsfilm und GeschichtswissenschaftGeschichte – Erzählungen – ErzählinstanzenReflexives Erzählen in wissenschaftlichen GeschichtstextenDie detektivische ErzählungGefühlte und gewusste GeschichteGeschichtsfilme als Untersuchungsgegenstand3 Praxis Geschichtsfilm3.1 Themenfindung und Trends3.2 Von der Idee zur Sendung3.3 Gestaltungsfragen3.4 Bausteine der historischen DokumentationArchivmaterialReenactmentExperten als ProtagonistenZeitzeugen als ProtagonistenPresenterReportageDreh an OriginalschauplätzenGrafische Elemente und Comics3.5 Produktion3.6 Archive3.7 Die Recherche von und Interviews mit Zeitzeugen3.8 Rechtliche Aspekte4 Berufsfelder5 Praktische Hinweise6 LiteraturlisteListe der im Text genannten FilmeBildnachweisSachregister

[1]1Einleitung

Wer sich für Geschichte in Film und Fernsehen interessiert, kann das aus zwei Gründen tun. Er möchte entweder selber Geschichten in diesen Medien erzählen und deshalb wissen, welches Handwerkszeug man dazu braucht und wie man es verwendet. Oder er will Filme und Fernsehsendungen analysieren, um anderen darüber zu berichten, wie audiovisuelle Massenmedien Geschichten aus der Vergangenheit aufzeichnen, verarbeiten, speichern und vermitteln. Dieses Buch will beiden Interessentengruppen etwas bieten: Den Studierenden, die sich für die Medienpraxis interessieren, weil sie vielleicht einmal Journalist, Filmautor, FernsehredakteurRedakteur, RechercheurRecherche, Rechercheur, Requisiteur, Kostümbildner oder Produzent werden wollen. Und den anderen, die sich vielleicht einmal in der Schule, im Museums- und Ausstellungsbereich oder in der Wissenschaft mit Geschichtsfilmen beschäftigen werden und die an Erzähltheorie und Filmanalyse, ihren Begriffen und Methoden interessiert sind, um den Gegenstand ‚Geschichtsfilm‘ anderen besser vermitteln zu können.

Entsprechend ist dieses Buch zweigeteilt: Im ersten Teil werden die Grundlagen für die Beschreibung und Analyse von Geschichtsfilmen gelegt, während im zweiten Teil dargestellt wird, wie Geschichtsfilme gemacht werden. Der erste Teil ist notwendigerweise analytischer ausgerichtet und stärker von abstrakten Begriffen durchzogen als der zweite. Er schlägt eine sinnvolle Typisierung von Geschichtsfilmen vor und bietet den Lesern passende Werkzeuge sowie Kriterien zu deren Analyse an. Im zweiten, mehr praktisch ausgerichteten Teil wird dann die Nützlichkeit der Instrumente zur Herstellung von Geschichtsfilmen geprüft. Die Leser erhalten dabei Einblick in die Arbeitswelt der Geschichtsfilmproduzenten und können sich über mögliche Berufswege im Film- und Fernsehgeschäft informieren.

Der erste Teil (Autor: Thomas Fischer) beginnt mit einem Überblick über die Wissenschaftsbereiche, die sich mit Geschichte in Film und Fernsehen befassen. Es geht dabei um die wichtigsten Ergebnisse und die aktuellen Forschungstrends, ihre Fragestellungen und Methoden. In den anschließenden Kapiteln werden Grundfragen des audiovisuellen historischen Erzählens behandelt. Zunächst wird unter dem Aspekt der audiovisuellen Darstellbarkeit von geschichtlichen Lebenswelten in Film und Fernsehen das Verhältnis von tatsächlicher und erzählter Lebenswelt diskutiert (→ Kap. 2). Anschließend geht es um die Frage, wie sich die vergangene tatsächliche Welt in audiovisuellen Erzählungen darstellen lässt. Hier werden zwei Erzählweisen voneinander unterschieden: Der szenische [2]Geschichtsfilm und der dokumentarische Geschichtsfilm. Darüber hinaus wird unter dem Aspekt der erzählten Zeit zwischen HistorienfilmenHistorienfilme und ErinnerungsfilmenErinnerungsfilme getrennt (→ Kap. 2.1). Es folgt ein Kapitel über das Kino, in dem Erzählanordnungen, Reichweiten, Programme und die Erinnerungsfunktion des Kinos dargestellt werden (→ Kap. 2.2). Daran schließt sich die Darstellung und Untersuchung der zwei Haupttypen des Geschichtsfilms an, die ursprünglich zum Kino gehören: der szenische Historienfilm (→ Kap. 2.2.1) und der szenische Erinnerungsfilm (→ 2.2.2). Nach dem Kino geht es um das Fernsehen. Zunächst werden auch hier Erzählanordnungen, Reichweiten, Programme und Erinnerungsfunktionen des Mediums analysiert (→ Kap. 2.3). Anschließend untersuchen wir die zwei Haupttypen des Geschichtsfilms, die ihrer Erzählweise nach zum Fernsehen gehören: die dokumentarischen Erinnerungsfilme (→ Kap. 2.3.1) und die dokumentarischen Historienfilme (→ Kap. 2.3.2).

Nach den analytischen und systematischen Überlegungen zu den Typen und Darstellungsformen des Geschichtsfilms werden wir am Ende von Teil eins noch auf außerfilmische Themen zu sprechen kommen: Zum einen geht es um Geschichtsfilm und Öffentlichkeit. Hier wird auf Pressekampagnen, plurimediale Aushandlungsdebatten, Erinnerungsdiskurse, Vermarktungsstrategien, Verwertungsketten eingegangen, also auf die außerfilmischen Prozesse, die vor und nach einem Filmstart ablaufen (→ Kap. 2.4). Zum anderen gehen wir auf das Thema Geschichtsfilm und Geschichtswissenschaft ein. Hier interessieren uns vor allem die Fragen, welche unterschiedlichen Haltungen Filmemacher und Wissenschaftler in Bezug auf Geschichte einnehmen und wie sie sich in den Darstellungsweisen voneinander unterscheiden. Wir möchten einige Vorschläge unterbreiten, wie die Wissenschaft Filme mehr als bisher als Quelle nutzen und welche Werkzeuge sie zur ihrer Analyse verwenden könnte (→ Kap. 2.5).

Im zweiten Teil des Buches (Autor: Thomas Schuhbauer) geht es um die Praxis des Geschichtenerzählens (→ Kap. 3). Als Massenmedien möchten Film und Fernsehen mit ihren Geschichtsfilmen möglichst viele Menschen erreichen, damit die eingesetzten finanziellen Mittel ihren Zweck erfüllen. Die Erzählungen müssen deshalb verständlich und spannend sein, sie müssen einen Informationswert besitzen, aber auch emotional anrühren, kurz: sie müssen vom Erzähler publikumswirksam erzählt werden. Für das große Geschichtsformat, den historischen Spielfilm, arbeiten in Deutschland meist große Produktionsfirmen. Spielfilme, die aufwendig historische Lebenswelten inszenieren und sichtbar machen, haben allein schon aufgrund ihrer szenischen Darstellungsform spezielle Produktionsbedingungen. Viel öfter als die teuren Spielfilme werden über das Jahr hinweg Geschichtsdokumentationen (45/52 Minuten) produziert. Hergestellt werden sie in ihrer übergroßen Mehrheit von auf ganz Deutschland verteilte Firmen, die sich auf Geschichtsfilme spezialisiert haben und meist im Auftrag der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten arbeiten. Das führt uns in die Büros der Produzenten, [3]RedakteureRedakteur und Autoren. Sie handeln gemeinsam aus, welche Ideen das Zeug zum erfolgreichen Geschichtsfilm haben (→ Kap. 3.1). Der Produktionsprozess bringt zahlreiche Akteure ins Spiel: Autoren, Regisseure und Produzenten, die das Drehbuch ausarbeiten und mit den Redaktionen absprechen. Ist das DrehbuchDrehbuch genehmigt, kommen Produktionsleiter, Produktionsteams, Cutter, Sprecher, Komponisten u.v.m. hinzu. Sie alle fertigen als Team in einem hochkomplexen künstlerischen und technischen Prozess unter regelmäßiger Rücksprache mit dem Auftraggeber die einzelne Sendung (→ Kap. 3.2). Am Ende entscheidet über Erfolg oder Misserfolg eines Geschichtsfilms das Publikum. Der Erzähler muss sich mit dessen Wünschen und Erwartungen auseinandersetzen und seine Erzählung dramaturgisch so gestalten, dass das Publikum ‚dran‘ bleibt. Über allem steht jedoch die Glaubwürdigkeit. Mit ihr steht und fällt jede Geschichtssendung, die sich darauf beruft, dass alles, was sie erzählt, tatsächlich auch passiert ist (dokumentarischer Geschichtsfilm) bzw. so oder so ähnlich passiert sein könnte (szenischer Geschichtsfilm). Um diese Versprechen einzulösen, müssen vielfältige Gestaltungsprobleme gelöst werden (→ Kap. 3.3). Dazu gehören, besonders bei Dokumentationen, die Homogenisierung heterogener Erzählelemente (Neudrehs, Archivmaterial, ZeitzeugenZeitzeugen etc.), der Einbau eines Erzählers und die Verwendung von Spielszenen (→ Kap. 3.4). Im Anschluss an dieses Kapitel wird der lange Weg nachgezeichnet, den die Geschichtssendungen von der Ausarbeitung eines Exposés, über die Vorlagen von Treatments und Drehbuchentwürfen, die Vor-Ort- und ArchivrecherchenRecherche, Rechercheur, die Dreharbeiten, SchnittSchnitt, PostproduktionPostproduktion, Bild- und Tonbearbeitung, Sprachaufnahmen, Abnahmen bis hin zur Sendung gehen (→ Kap. 3.5). Danach werden die Verwendung zahlreicher Bild-, Film- und Tondokumente aus den Archiven thematisiert, die recherchiert und lizensiert werden müssen (→ Kap. 3.6). Abgeschlossen wird dieser Teil mit zwei Kapiteln, die sich mit ZeitzeugenZeitzeugen (→ Kap. 3.7) sowie mit rechtlichen Fragen (→ Kap. 3.8) beschäftigen.

Abschließend werden zur Orientierung des Lesers die wichtigsten Berufsfelder vorgestellt, die mit Geschichte in Film und Fernsehen zu tun haben (→ Kap. 4).

In Kapitel 5 sind wertvolle Hinweise zu relevanten Ausbildungseinrichtungen, Studiengängen, Produktionsfirmen und Berufsverbänden aufgeführt.

Ein Literaturverzeichnis, eine Filmliste und ein Register sollen die Nutzung des Buches erleichtern und zur weiteren Auseinandersetzung mit dem Thema anregen (→ Kap. 6 und 7).

Eine Anmerkung zur Begrifflichkeit: Wenn von Leser, Regisseur, Produzent etc. die Rede ist, schließt diese Form sowohl die weiblichen als auch männlichen Akteure ein.

[4]1.1Stand der Forschung

In diesem Buch geht es um ‚audiovisuelle Geschichte‘ in den Massenmedien Film und Fernsehen. Massenmedien sind öffentlichkeitsbezogen, weshalb auch audiovisuelle Geschichte immer auf eine breite öffentliche Wahrnehmung ausgerichtet ist (Public HistoryPublic History). Das bedingt, dass es sich bei ihr um allgemeinverständliche Geschichte handelt (Popular HistoryPopular History). Populärgeschichte verzichtet auf Fachbegriffe und wissenschaftliche Analysen. Ihr geht es um spannende Geschichten aus der Vergangenheit, sie ist zu allererst erzählte Geschichte. Erzählte Geschichte(n) in Film und Fernsehen knüpfen meist an historische Ereignisse an: konkrete Personen, Orte und Situationen stehen im Mittelpunkt. Audiovisuelle Geschichte ist also die populäre Erzählung von historischen Ereignissen im Medium Film und deren Verbreitung und Rezeption mittels Kino, Fernsehen und Internet.

Audiovisuelle Geschichte findet entweder als szenische Erzählung (Spielfilm) statt, die historische Ereignisse dramatisiert, oder als verbale Erzählung eines leibhaftigen oder unsichtbaren (Voice-OverVoice-Over) Erzählers, der die Geschichte mit Hilfe historischer Quellen darstellt (Dokumentation). Aus diesen zwei Grundtypen des audiovisuellen Erzählens entstehen dann vermehrt seit den 1980er Jahren verschiedene hybride ErzählformenHybride Erzählformen, die dokumentarisches und szenisches Erzählen vermischen (→ Kap. 2.1 und 2.3.1). Audiovisuelle Geschichte beginnt in dem Moment, in dem im Kinosaal der Projektor anläuft oder die Aufzeichnung beim Fernsehsender ‚abgefahren‘ wird und auf der Leinwand oder dem Bildschirm eine vergangene Lebenswelt sicht- und hörbar wird. Nur während ein Film läuft, wird er als Erzählung zu einem tatsächlichen audiovisuellen Ereignis – zu einer sich in Raum und Zeit entfaltenden filmischen Vergangenheitserzählung. Mit Beginn dieser Erzählung setzt beim Publikum ein komplexer Prozess der Wahrnehmung, Decodierung und Interpretation der sicht- und hörbaren filmsprachlichen Zeichen ein, in dessen Verlauf der Film sowohl als kollektive Erzählung rezipiert als auch mit den je individuellen Erfahrungen und Erinnerungen der Zuschauer und Zuhörer in Einklang gebracht wird. Erst im konstruktiven Zusammenwirken von Erzähler und Publikum wird die Erzählung soziale Realität und Teil der kollektiven Erzähl- und ErinnerungskulturErinnerungskultur. Das ist der Grund, warum sich der folgende Bericht über den Forschungsstand nicht nur auf die geschichtswissenschaftliche Betrachtung des Geschichtsfilms beschränkt, sondern auch Forschungen anderer Wissenschaften zu den Themen Erinnerung, Gedächtnis, ErinnerungskulturErinnerungskultur, Vergangenheitserzählungen etc. einbezieht.

[5]Gedächtnis und Erinnerung

Audiovisuelle Geschichtsdarstellungen sind Erzählungen, die selbst wieder in großem Umfang auf erzählende Quellen zurückgreifen, um vergangene Lebenswelten wieder ‚lebendig‘ werden zu lassen. Da diese Vergangenheitserzählungen zentrale Bestandteile von kollektiven und individuellen Erinnerungsprozessen sind, weil sie zur Festigung gesellschaftlicher und personaler Identität beitragen, beschäftigen sich die Sozial- und Kulturwissenschaften u.a. mit den Fragen, wie Erzählungen überhaupt entstehen, wie sie im kommunikativen und kulturellen Gedächtnis gespeichert und erinnert und wie sie in die von den Massenmedien verstärkten Erinnerungsprozesse integriert werden.

Der Sozialpsychologe und Soziologe Harald Welzer schrieb 2002 das sehr beachtete Buch „Das kommunikative Gedächtniskommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerung“. Welzer ging darin der Frage nach, „wie sich unser Gedächtnis bildet, wie es arbeitet und wie es verarbeitet“, schilderte die sozialen Prozesse der Erfahrungs- und Vergangenheitsbildung und klärte schließlich, „wie sich lebensgeschichtliche Erinnerung über die Zeit hinweg verändert.“ (Welzer 2002, 11f.). Diese Veränderung tritt nicht nur dadurch ein, dass der Einzelne immer neue, lebensgeschichtlich wichtige Ereignisse abspeichert, sondern auch dadurch, dass er normalerweise seine Erinnerungen kontinuierlich mit anderen austauscht. Welzer zeigte, dass Kinder im Zuge des Spracherwerbs, ca. ab dem vierten Lebensjahr, in die familiäre Erzählgemeinschaft integriert sind. Voraussetzung ist die nach und nach erworbene Fähigkeit des Kindes, wahrgenommene Geschehensabläufe im Medium der Sprache so zu codieren und zu strukturieren, dass sie als Ereignisablauf mit einem Anfang und einem Ende, einem Schauplatz und den dort handelnden Personen erzählt werden können. Eigene Erfahrungen, aber auch audiovisuelle Vorlagen (z.B. TV-Nachrichtenbilder) und fremde Erzählsegmente (z.B. Zeitungsartikel) werden ins Gedächtnis importiert und zu Erinnerungsepisoden montiert. Von besonderer Bedeutung ist dabei, „dass unsere autobiografischen Erzählungen Organisationsprinzipien folgen, die sozial gebildet sind. Wir alle haben im Prozess des ‚memory talk‘, in der gemeinsamen Praxis des konventionellen Erinnerns, durch jedes gelesene Buch und jeden gesehenen Film gelernt, dass eine richtige Geschichte bestimmten Grundmustern zu folgen haben muss, um vom Zuhörer unmittelbar verstanden zu werden.“ (Welzer 2002, 172) Dazu gehört die Bedeutsamkeit des erzählten Ereignisses, die Einhaltung der Zeitenfolge, eine klare Strukturierung der einzelnen Erzählelemente auf einen Endpunkt hin, eine Botschaft etc. Das Erzählen von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen ist in diesem Sinne eine „diskursive Leistung“ zum Zweck der Teilhabe an der kulturellen Tradition (Gergen 1998, 191) und zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft, die sich zu allererst als Erzählgemeinschaft versteht. Der gesellschaftliche Erzählfluss verläuft einerseits in die Breite, indem [6]die millionenfachen tagtäglichen Erzählungen unterschiedlicher gesellschaftlicher Schichten als In- und Exporte zeitgleich ablaufen und dabei von den Mainstreamerzählungen der Massenmedien begleitet werden. Andererseits verläuft er zeitlich aber auch in die Tiefe: Erzählungen gehen Erzählungen voraus, die selbst wieder auf Erzählungen beruhen und wiederum Erzählungen werden. Alles in allem ist somit das „gesamte Verhältnis von Erzählvorlagen, Erlebnissen, Weitergaben von Erlebnisberichten und Bebilderungen mit vorhandenem visuellen Material unentwirrbar komplex“ (Welzer 2002, 173). Da sich also menschliches Gedächtnis und die Erinnerung von Kindheit an über sinnliche Wahrnehmungen, das Medium der Sprache und über die Praxis des Erzählens formt und ein Leben lang anhält, ist leicht zu verstehen, warum sehr viele Menschen tagtäglich Geschichten in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern lesen oder sich audiovisuell im Kino, Fernsehen und Internet erzählen lassen.

ErinnerungskulturErinnerungskultur und kulturelles GedächtnisKulturelles Gedächtnis

Mit den Fragen der Bedeutung von Erzählungen zur Konstruktion von gesellschaftlicher Identität und zur Abgrenzung (oder manchmal auch für den Brückenschlag) nationaler Kulturen zu anderen Kulturen befassen sich seit vielen Jahren auch die Kulturwissenschaften. Ausgangspunkt waren Forschungen von Aleida und Jan Assmann in den 1980er Jahren zum kulturellen und zum kommunikativen Gedächtnis. Das kulturelle Gedächtnis stand dabei als „Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht.“ (Assmann 1988, 9) Zum ‚Wissen‘ gehört somit auch das über Generationen tradierte geschichtliche Wissen, das in großem Maße auf (erforschten) Erzählungen beruht. Das kommunikative GedächtnisKommunikatives Gedächtnis ist demgegenüber weniger festgelegt und organisiert. Es ist noch im Fluss und unfertig wie die Erinnerung (ebd. 10). Im Unterschied zur Alltagsferne des kulturellen Gedächtnisses ist es an Personen und Erfahrungen gebunden und durch Alltagsnähe gekennzeichnet. Das kommunikative Gedächtnis beruht auf mündlicher Kommunikation und lässt sich als fortlaufender Prozess des Erzählens verstehen. Es hat keinen festen Zeithorizont, sondern durchwandert gewissermaßen die Lebenszeit der Erzählgemeinschaften. Jan Assmann geht davon aus, dass das kommunikative GedächtnisKommunikatives Gedächtnis80 bis 100 Jahre, also etwa drei Generationen umfasst. Es funktioniert als eine Art kommunikativer Arbeitsspeicher der Gesellschaft, in dem Erzählungen über Gegenwart und Vergangenheit kursieren, temporär gelagert und immer wieder ergänzt und umgeschrieben werden.

Die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung hat das Gedächtnis zunächst hauptsächlich als Speichermedium für Wissen und Erzählungen betrachtet und sich für seine Funktion als Verbreitungsmedium von Wissen und [7]Erzählungen weniger interessiert. Das betraf auch die Geschichtsfilme im Kino und Fernsehen, bei denen das Augenmerk mehr auf der Archivierung als auf der Verbreitung lag. Astrid Erll und Stephanie Wodianka haben 2008 deshalb vorgeschlagen, die Aufmerksamkeit innerhalb der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung von den Speichermedien stärker auf die Verbreitungsmedien, von den Symbolsystemen hin zu den Sozialsystemen zu verlagern und nicht mehr allein das Produkt (Gedächtnis), sondern in erster Linie die Prozesse (ErinnerungsdiskurseErinnerungsdiskurs) der kulturellen Erinnerung zu untersuchen (Erll/Wodianka 2008a). Dadurch ließe sich feststellen, welche Erzählungen denn tatsächlich in den gesellschaftlichen ErinnerungsdiskursErinnerungsdiskurs eingegangen seien und welche nicht (Erll 2008, 16). Erste Filmanalysen, die diese neue Fragestellung nutzbar machen, liegen vor. So wurden zum Beispiel die Filme „Das Leben der Anderen“ (D 2006) von Lu Seegers (2008) und „Luther“ (USA/D/GB2003) von Carola Fey (2008) daraufhin befragt, welche Akteure und Medien an ihrer Entstehung beteiligt sind, wie und warum sie in die gesellschaftliche Diskussion geraten und wie der Diskurs außerfilmisch (also vor, während und nach der Kinolaufzeit) in begleitenden Medien als ein dynamischer, auf lange Dauer gestellter Prozess verläuft (Plurimedialität).

Erzählweisen und Erzählstrukturen

An audiovisuellen Erzählungen sind nicht nur die Sozial- und Kulturwissenschaften, sondern naturgemäß auch Film-, Literatur- und Erzählwissenschaft (Narratologie) stark interessiert. Als der Film um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert aufkam, wurde er von der Literaturwissenschaft anfangs nicht ernst genommen, er galt als Volksvergnügen ohne größere kulturelle Bedeutung. Zudem war ja der Roman und nicht der Film das Hauptbetätigungsfeld der Literaturwissenschaft und Erzähltheorie. Es war deshalb auch die sich herausbildende Filmwissenschaft selbst, die dem Film seit den 1920er Jahren einen Kunststatus zusprach und ihn von den literarischen Formen des Erzählens radikal abgrenzte. Dabei verwies sie auf die Tatsache, dass das Medium ‚Film‘ völlig andere Zeichen benutzt, um sichtbare Welten darzustellen, als das Medium ‚Literatur‘, nämlich bildliche statt sprachliche Zeichen. Das Visuelle und das Literarische galten als unvereinbar; showing stand gegen telling, unmittelbares Darstellen im Film gegen mittelbares Erzählen im Text (dazu Bietz 2013, 81ff.). Während der literarische Text gewissermaßen aus ‚toten‘ Buchstaben besteht und wie eine ‚Partitur‘ gelesen wird, d.h. beim Lesen von den Lesern „zur Aufführung gebracht wird“ (Seel 2013, 120), ist der Film selbst eine Aufführung, die die Zuschauer in einen raumzeitlich strukturierten audiovisuellen Geschehensablaufs hineinzieht und diesen miterleben lässt. Die mediale Kluft zwischen Film und Roman schien unüberbrückbar. Erst seit ein paar Jahren versuchen einige Literaturwissenschaftler, Filmwissenschaftler [8]und Erzähltheoretiker wieder Brücken zwischen Film und Literatur zu schlagen, indem sie darlegen, dass beide Darstellungsformen eines gemeinsam haben: das Erzählen.

Diese zuletzt von Christoph Bietz in seinem Buch über „Die Geschichten der Nachrichten“ (2013) vorgeschlagene transmediale Ausweitung des Erzählbegriffs von den Literatur auf das bewegte Bild und das vermittelnde Wort von Erzählstimmen im Film, führt damit auch den filmischen Erzähler wieder mit denen zusammen, die einer audiovisuellen Erzählung zusehen und zuhören, dem Publikum. Beide treffen sich im Erzählraum des Kinos oder vor dem Bildschirm im Fernsehzimmer. Der eine erzählt in Bild und Ton eine Geschichte, die zuvor vielleicht ein historischer Roman war, und die anderen verwandeln diese Bild-Ton-Geschichte wieder in mittelbare sprachliche Erzählungen, wenn sie zu Hause oder bei der Arbeit über das Filmereignis berichten.

Die Erzähltheorie interessiert sich aber nicht nur für die unterschiedlichen Modi des Erzählens (visuell vs. literarisch bzw. szenisch vs. dokumentarisch), sondern auch für das Verhältnis von Erzählung und dem ihr zugrunde liegenden Ereignis. Es geht dabei um die Frage, ob und wie Geschichtsfilme die vergangene tatsächliche Welt abbilden bzw. darstellen können. Auch hier hat zuletzt Bietz erneut klargelegt, dass es keinem audiovisuellen Medium und keinem Erzähler gelingen kann, die äußere Welt unmittelbar, objektiv, geschweige denn vollständig abzubilden. Bietz zeigt das bei der Analyse aktueller Fernsehnachrichten unter erzähltheoretischen Gesichtspunkten. Das von ihm erprobte Analyseinstrumentarium wird in diesem Buch teilweise zur Systematisierung und Analyse von Geschichtsfilmen benutzt.

Film und Geschichtswissenschaft

Das Medium ‚Film‘ ist von der Historiografie jahrzehntelang nicht als ‚geschichtswichtig‘ angesehen worden. Erst in den 1970er Jahren gab es in Frankreich und England Interesse von Seiten der Historiker (Marwick 1974; Ferro 1975). In den 1980er Jahren hat dann Irmgard Wilharm eine geschichtsdidaktisch orientierte Auseinandersetzung mit dem Medium ‚Film‘ in die Geschichtswissenschaft eingeführt. Sie hat Geschichtsfilme nicht nur in ihrem Bezug zur tatsächlichen Welt befragt, sondern die erzählte filmische Welt auch quellenkritisch analysiert. Im Zentrum ihrer Analysen standen mentalitätsgeschichtliche Überlegungen: die Filmbilder und die durch sie vermittelten Aussagen wurden als Quellen für Bewusstseinslagen zeitgenössischer Lebenswelten interpretiert (Wilharm 2006). Auch Anton Kaes begann in den 1980er Jahren mit der Untersuchung von Geschichtsfilmen der deutschen Nachkriegsgeschichte, beschränkte sich aber, wie andere auch, hauptsächlich auf werkimmanente Interpretationen (Kaes 1987). Ein stärkeres Historikerinteresse an Geschichtsfilmen blieb aber aus, selbst [9]dann noch, als das Fernsehen in den 1990er Jahren zum Leitmedium der populären Geschichtsdarstellung wurde. Erst nach der Jahrtausendwende begann eine breitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte in populären Medien, allerdings noch nicht grundsätzlich und systematisch, sondern bezogen auf Teilaspekte.

Untersucht wurde hauptsächlich die Darstellung der NS-Zeit im deutschen Nachkriegsfilm (so z.B. Bösch 2009; Vatter 2008), aber auch dem Mittelalter, der Antike und der Archäologie wurden Studien gewidmet (Meier/Slanička 2007a; Lochman/Späth/Stähli 2008; Gehrke/Sénécheau 2010). Der zweite Untersuchungsschwerpunkt bezog sich auf die Rolle von ZeitzeugenZeitzeugen in Geschichtsdokumentationen seit den 1980er Jahren (Keilbach 2003, 2005, 2008; Sabrow/Frei 2012). Dabei ging es einerseits um die Fragen der Glaubwürdigkeit und des Erkenntnisgewinns von Zeitzeugenaussagen, also um Zeitzeugen als Quelle, andererseits um die Zeitzeugen als Katalysatoren einer zunehmenden Personalisierung und Emotionalisierung von Geschichte im kollektiven, massenmedial gestützten Erinnerungsdiskurs der Gegenwart. Drittens nahmen sich die Historiker das Themenfeld der populären Darstellung von Geschichte in unterschiedlichen populären Medien (Zeitschrift, Comic, Film, Fernsehen, Internet) und Einrichtungen der Erinnerungskultur (Denkmäler, Museen, Ausstellungen etc.) vor. Barbara Korte und Sylvia Paletschek leisteten 2009 mit der Herausgabe des Sammelbandes „History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres“ einen wichtigen Beitrag zum Untersuchungsfeld der populären Geschichtskultur. Zeitgleich widmete sich auch die Zeitschrift „Zeithistorische Forschungen“ in einem monothematischen Heft (3/2009) der populären Geschichtsschreibung. Wie diese populären Geschichtsmedien im Einzelnen genutzt werden und welche Wirkung sie entfalten, das ist allerdings noch ziemlich unklar. Viertens beschäftigt sich die Geschichtswissenschaft zunehmend auch mit den Fragen der historischen AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung und ‚Objektivität‘ in audiovisuellen Geschichtsdarstellungen. Dabei ist man sich weitgehend darüber einig, dass es sich bei erzählter Geschichte, unabhängig davon, welches Erzählmedium genutzt wird, um Rekonstruktionen von historischen Welten handelt, die die tatsächliche historische Welt weder abbilden noch darstellen, sondern sie allenfalls repräsentieren. Je stärker die filmische Rekonstruktion dabei auf die Einarbeitung von historischen Quellen setzt (Archivbilder und -filme, Originaltöne, schriftliche Dokumente, ZeitzeugenZeitzeugen etc.), desto stärker erzeugt sie den Eindruck von AuthentizitätAuthentizität, authentisch, Authentifizierung und desto größer wird damit auch ihre dokumentarische Glaubwürdigkeit. Je weniger sie es tut und stattdessen auf Spielszenen baut, desto mehr verschwimmen die Grenzen zwischen szenischer und dokumentarischer bzw. zwischen fiktionaler und faktualer Geschichtsdarstellung (Fischer/Wirtz 2008).

[10]Die Flüchtigkeit der Filmbilder hat viele Historiker bis in die 2000er Jahre hinein davon abgehalten, adäquate Mittel und Methoden für die wissenschaftliche Analyse von Geschichtsfilmen mit explizit geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen zu entwickeln. Erst seitdem sich Geschichtsfilme problemlos von jedermann leicht aufzeichnen und speichern lassen, haben die Bemühungen zugenommen, audiovisuelle Geschichte generell und systematisch mit standardisierten Methoden zu analysieren. Dabei konnten die Historiker auf die große Erfahrung der Medienwissenschaft bei der Filmanalyse zurückgreifen, die seit langem genreübergreifend idealtypische Handlungsmuster in Drehbuch und Film sowie die typischen Rollenzuweisungen, Konfliktmuster und standardisierte Lösungen untersucht. Auf der Grundlage medienwissenschaftlicher Forschungen hat Annerose Menninger in ihrem Buch „HistorienfilmeHistorienfilme als Geschichtsvermittler“ (2010) erstmals ein ausgefeiltes und erfolgreich an zwei Kolumbus-Filmen erprobtes Analysemodell zur Verfügung gestellt. Sie untersucht dabei nicht nur Quellen und Rezeption der filmischen Geschichtserzählungen, sondern fragt auch nach den ErzählformErzählformen und -strukturen, wobei sie die verschiedenen audiovisuellen Erzählebenen genauer in den Blick nimmt: „Auf narrativer Ebene wird die Filmhandlung mit ihrer Erzählstrategie (Erzähler, chronologische Handlung oder Rahmenhandlung), ihrer Geschichte, Problematik und Aussage sowie den Akteuren (Held oder Antiheld, statische oder sich entwickelnde Charaktere) untersucht. Auf visueller Ebene werden Sequenzen und SchnittSchnitte sowie Blickpunkt, Einstellungen und Perspektiven, Wechsel und Fahrten der Kamera betrachtet. Ihr Einsatz hat entscheidende Bedeutung für das Filmerlebnis, die Filmspannung wie auch die Zeichnung handelnder Personen. […] Auf auditiver Ebene werden Sprachmittel (Monologe, Dialoge, Erzähler, Voice-OverVoice-Over), Geräusche (die erst eine natürliche Atmosphäre erzeugen) und Filmmusik (die die visuelle Ebene unterstützt) als dramaturgische Elemente ausgeleuchtet“ (Menninger 2010, 15).

‚Audiovisuelle Geschichte‘ ist ein Element des Visualisierungsschubs, der im 19. Jahrhundert mit der massenmedialen Nutzung von Fotografie, Illustration, Grafik in den Printmedien begann und sich mittels Film, Video, Computergrafik etc. immer weiter in der Gegenwart ausgebreitet hat. Als Folge dieses visual turn leben wir heute in einer Bilderwelt, die sehr viele gesellschaftlichen Erzähl- und Erinnerungsformen prägt. Die Geschichtswissenschaft beschäftigt sich seit einiger Zeit unter dem Label ‚Visual History‘ mit Bildern als historischer Quelle. Sie hat dazu neue Fragestellungen und Untersuchungsmethoden entwickelt.1 Dabei geht es allerdings in erster Linie um das Einzelbild, insbesondere um die Fotografie. Eine ‚Audio Visual History‘ als Forschungszweig der Geschichtswissenschaft steht noch in den Anfängen.

[11]Weiterführende Literatur

Erll/Wodianka Erll/Wodianka2008a: Astrid Erll/Stephanie Wodianka (Hg.), Film und kulturelle Erinnerung: Plurimediale Konstellationen. Berlin, New York 2008.

Hickethier2010: Knut Hickethier, Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart, Weimar 20102.

Paul2006: Gerhard Paul, Visual History: Ein Studienbuch. Göttingen 2006.

Menninger2010: Annerose Menninger, Historienfilme als Geschichtsvermittler: Kolumbus und Amerika im populären Spielfilm. Stuttgart 2010.

Straub1998a: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998.

[13]2Audiovisuelles Erzählen

Die Welt steckt voller Erzählungen. Wir lesen und hören, wir verbreiten und erhalten Tag für Tag Erzählungen, die von gegenwärtigen und vergangenen Ereignissen handeln. Als gesellschaftliche Wesen brauchen wir nicht nur Erzählungen, sondern definieren wir uns auch über sie. Erzählen ist ein Lebenselixier, eine ständige Kräftigung und Verjüngung von familiären, sozialen oder nationalen Gemeinschaften. Erzählungen führen zwei Perspektiven zusammen, die des Erzählers und die des Zuhörers. Dieses Zusammenspiel ist unabdingbar für das Erzählen: Jede Erzählung entsteht, nimmt sprachliche Gestalt an, entwickelt Spannung und Tempo einzig und allein in Hinblick auf einen tatsächlichen oder imaginären Zuhörer. Und umgekehrt: jeder Mensch hört auf die Stimmen in seiner Umgebung, seien sie natürlichen Ursprungs (Familie) oder technischen Ursprungs (Massenmedien) in der steten Erwartung, es könne sich eine Erzählung entwickeln. Wenn etwas erzählt wird, geht es meistens um die Gegenwart, um das Hier und Heute. Neuigkeiten werden gehandelt, die all das enthalten, was uns Menschen persönlich gerade interessiert und aufregt und was wir gerne an andere weitererzählen. Dazu gehört neben dem alltäglichen Tratsch und Klatsch auch das, was an Besonderem in der Welt passiert, das, was die Nachrichten erzählen. Das ist nicht nur heute so, sondern gilt auch für die Vergangenheit. Bevor wir aber die audiovisuellen Geschichtserzählungen untersuchen, wollen wir uns in diesem Kapitel mit den audiovisuellen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart befassen. Das hat zwei Gründe: Zum einen enthalten die Nachrichtenerzählungen bereits all jene grundlegenden Aspekte und Probleme, die auch bei den Geschichtserzählungen wieder auftauchen werden. Zum anderen liefern die Nachrichtenerzählungen den Grundstock für die meisten Geschichtserzählungen: Viele Ereignisse, von denen die Nachrichten heute erzählen, werden Jahre oder Jahrzehnte später in Geschichtserzählungen erneut zum Thema werden.

Audiovisuelle Erzählungen gibt es erst seit knapp 100 Jahren. Sie setzen technische Medien voraus, die Bilder und Töne synchron aufzeichnen, speichern, verarbeiten und verbreiten können. Das begann Ende der 1920er Jahre mit dem Tonfilm, der im Kino als audiovisuelle Erzählung ‚lebendig‘ wurde. Heute sind es meist die digitalen Camcorder, die im Profi- und Amateurbereich zum Einsatz kommen und die Ereignisse nicht nur audiovisuell aufzeichnen, sondern auch direkt wiedergeben können. Bei den alten wie auch den neuen AV-Medien [14]befinden sich Bild und Ton auf unterschiedlichen, voneinander getrennten Ebenen (Spuren). Die visuelle Ebene speichert alle Bildquellen der sichtbaren Welt, zum Beispiel Landschaften oder Personen, aber auch Fotos, Texte, Grafiken. Die auditive Ebene speichert alle Tonquellen der hörbaren Welt, zum Beispiel Geräusche, Stimmen, Musik. Handelt es sich um Aufnahmen von professionellen Fernsehteams, dann werden diese durch Bild- und Tonprotokolle dokumentiert (Tag, Uhrzeit und Ort der Aufnahme; bei Interviews auch Namen der interviewten Person). Damit wird die Tatsächlichkeit des gefilmten audiovisuellen Ereignisses belegt. Genannt wird auch der Name des Kameramanns, weil er für die (technische) Bildqualität, die Einstellungen, die Perspektiven verantwortlich zeichnet und den Bildern seine ‚Handschrift‘ gibt. Da die filmischen Nachrichtenerzählungen der Gegenwart der Stoff für zukünftige Geschichtserzählungen sind, behalten auch die Bild- und Tonprotokolle ihre Bedeutung. Sie dienen dazu, das in Geschichtsdokumentationen verwendete Archivmaterial als authentisch zu deklarieren (→ Kap. 2.3.2).

Ereignis und Erzählung

Im Leben eines jeden Menschen spielen selbst erlebte oder medial vermittelte Ereignisse eine wichtige Rolle. Die als ,bedeutend‘ empfundenen Ereignisse werden vom Einzelnen verarbeitet, in dem dieser sie in seine sprachlich erworbenen Denk- und Erzählmuster einfügt. Diese Muster entsprechen in hohem Maße denen, die im jeweiligen sozialen und kulturellen Umfeld Verwendung finden. Solche Erzählmuster (Klischees, Stereotypen) erleichtern den Austausch von Erzählungen zwischen den Mitgliedern von Erzählgemeinschaften (Familie, Freundeskreise etc.). Und sie vereinfachen das Speichern von wissenswerten Dingen im Gedächtnis. Wenn wir Wirklichkeit wahrnehmen, deuten und schließlich erinnern, so die Kulturwissenschaftlerin Astrid Erll, „greifen wir auf kulturspezifische Schemata zurück, d.h. auf innerhalb von Kollektiven (Familien und anderen Gruppen, Gesellschaften usw.) standardisierte mentale Wissensstrukturen, die bestimmte Aspekte der Realität in abstrakter und generalisierender Form repräsentieren“ (Erll 2008, 12f.). Die wichtigen erlebten oder medial vermittelten Ereignisse werden im Verlauf des Lebens durch Erinnerung zu Merkposten der jeweiligen Lebensgeschichte.

Auch das kollektive Gedächtnis speichert Ereignisse ab, die von sozialen Gruppen wahrgenommen und für wichtig erachtet werden. Wahrgenommen werden sie vor allem in den Massenmedien, und zwar meist als Nachrichtenerzählungen, die tagtäglich die wichtigsten Ereignisse des Weltgeschehens vermitteln. Um diese aktuellen Geschehnisse des öffentlichen Lebens aufzuzeichnen und audiovisuell bereitzustellen, sind weltweit tausende Reporter und Kameraleute im Auftrag von Nachrichtenredaktionen und -sendern zu den Schauplätzen des [15]Geschehens unterwegs, um von dort zu berichten. Heutzutage treffen die Nachrichtenprofis dort natürlich auch auf zahlreiche Foto- und Videoamateure, die die Geschehnisse mit ihren Camcordern oder Handys festhalten. So entstehen ‚vor Ort‘ audiovisuelle Erzählungen mit sehr unterschiedlichen Perspektiven und für ganz unterschiedliche Personengruppen, die je nach Nachrichtenwert entweder wieder gelöscht werden, als unterhaltsame buzz feed im Internet kursieren oder als breaking news die Nachrichtensendungen beherrschen.

BREAKING NEWS – ANSCHLAG AUF DAS WORLD TRADE CENTER (USA 2001)

Am 11. September 2001 sind die Brüder Jules und Gedeon Naudet mit ihrem Kamerateam in New York unterwegs. Sie drehen eine Alltagsreportage über eine Feuerwache. Bis zum 11. September war nichts Aufregendes passiert und auch an diesem Tag erwartet niemand etwas Besonderes. Die Männer von der Feuerwache brechen zu einem Routineeinsatz auf, aus irgendeinem Kanaldeckel in der Nähe des World Trade Centers (WTC) war Gas ausgetreten. Die Kameras der Brüder Naudet beobachten, wie die Männer unschlüssig um den Gullydeckel herumstehen und überlegen, was sie machen sollen. In diese Allerweltszene hinein dringt das Geräusch eines niedrig fliegenden Passagierjets. Der Lärm der Triebwerke nimmt zu und plötzlich, wie um sich zu orientieren und diesem Geräusch auf die Spur zu kommen, schwenkt die Kamera hoch und erfasst das Flugzeug. Sie folgt ihm, wie es durch die Häuserschluchten fliegt und sich dann beim Einschlag in das World Trade Center in einen Feuerball verwandelt. Auf den Gesichtern der Beobachter zeichnet sich erst ungläubiges Erstaunen, dann Entsetzen ab. Noch kann niemand von ihnen begreifen, was genau geschehen ist, doch jeder weiß, dass der Einschlag der Flugzeuge ein katastrophales Ereignis ist, das das Land verändern wird …

So oder so ähnlich könnte eine Erzählung beginnen, die von den Schreckensereignissen des 11. September 2001 in New York erzählt. Ein Leser, der sich nicht nur für den Inhalt und Verlauf der Ereignisse interessiert, sondern auch für das Erzählen selbst, wird bemerken, dass es einen Unterschied gibt zwischen der Erzählung, die er gerade liest, und dem Ereignis, das ihr zugrunde liegt. Dieser Unterschied wird in vielen alltäglichen Erzählsituationen erfahrbar, wenn jemand ankündigt, „ich erzähle dir jetzt mal, was passiert ist.“ Der Erzähler unterscheidet nämlich dabei zwischen seiner Erzählung, die gleich folgen wird („Ich erzähle Dir jetzt mal,…“) und einem ‚Ereignis‘, das sich in der unmittelbaren oder früheren Vergangenheit ereignet hat („… was passiert ist“) und das Ausgangspunkt der Erzählung ist. Die Unterscheidung markiert einen fundamentalen Sachverhalt: Tatsächliche Ereignisse sind Unikate, die es nur einmal gibt. Sie haben ihre Zeit, ihren Ort, ihre Akteure und Abläufe, sind aber zum Zeitpunkt ihres Geschehens noch nicht erzählbar. Erst durch die Fähigkeit der Menschen, [16]sichtbare und hörbare Geschehensabläufe aus der sie umgebenden Welt mit den Sinnen zu erfassen (Wahrnehmung), sprachlich zu benennen (Codierung, Formung) und zu erzählen (Vermittlung), wird die Welt meist amorpher sprachloser Geschehnisse zu einer erzählten Welt. In dieser erzählten Welt werden die als ,wichtig‘ eingestuften Ereignisse als bedeutsame Zustandsänderungen im raumzeitlichen Ablauf des Weltgeschehens dargestellt (Mauerfall, 9/11, Brexit). Sie markieren einen Unterschied zwischen einem Zustand ‚davor‘ und einem ‚danach‘, haben einen Anfang und ein Ende. Dennoch kann es von einem einzigartigen tatsächlichen Ereignis zahlreiche verschiedene Erzählungen geben, abhängig davon, wie viele Erzähler sich des Ereignisses im Laufe der Zeit annehmen und von welchem Standpunkt aus sie erzählen.

So war es auch am 11. September 2001, als die Kameraleute der Brüder Naudet zufällig Zeugen des Einschlags der Flugzeuge in die Twin Towers wurden. Damals dauerte es nicht lange, bis auch die kommerziellen News-Sender mit ihren Übertragungswagen (Ü-Wagen, ausgestattet mit Aufzeichnungs-, Schnitt- und Sendetechnik) vor Ort waren. Sie richteten ihre Kamera(s) auf die Twin Towers und ihre Antennen auf den Satelliten aus und sendeten die Bilder live als ‚cleanfeed‘ (unbearbeitet) an ihre Fernsehstationen. Dort wurde der große Nachrichtenwert der Bilder sofort erkannt und entschieden, das laufende Programm sogleich zu ändern und die Bilder vom Geschehen als ‚breaking news‘ mit maximaler Reichweite zu verbreiten. Als die Bilder öffentlich wurden, wollten weltweit auch viele andere Fernsehsender das Live-Signal übernehmen, aber es gab die üblichen rechtlichen, technischen und redaktionelle Probleme: Nachrichtenteams mussten zusammengerufen, die Leitungen angemietet und geschaltet, die Studios besorgt und hochgefahren, die Lizenzkosten für Bilder ausgehandelt werden – alles Dinge, die einige Zeit brauchen. Auch bei deutschen Fernsehsendern gab es Schwierigkeiten. Als man dort über die Live-Bilder verfügte, mussten die Nachrichtensprecher aus ihren 6000 km entfernten Studios einen ‚livestream‘ von schockierenden Bildern kommentieren, zu denen die Hintergrundinformationen noch weitgehend fehlten.

Erzähler

Aktuelle Ereignisse werden in audiovisuellen Medien meist von Nachrichtenerzählern (Moderatoren) präsentiert. Bei Auslandsberichten treten neben dem Moderator weitere Erzähler auf: die Reporter oder Korrespondenten. Am Ort des Geschehens beobachten sie Akteure und Handlungsabläufe und formen die Geschehnisse zu Ereignissen um, indem sie Zeit, Ort und Akteure des Geschehens präzise benennen und die von ihnen wahrgenommenen Unterschiede im raumzeitlichen Geschehensablauf festhalten. Die Beachtung der raumzeitlichen Abläufe ist deshalb wichtig, weil (verständliche) Erzählungen nur dann entstehen, [17]wenn der Erzähler die Geschehenselemente schlüssig auseinander hervorgehen lässt (Kausalität), die zu erzählenden Inhalte nachvollziehbar einander zuordnet (Kohärenz) und sich insgesamt an die genaue zeitliche Abfolge der Geschehnisse hält (Chronologie). Der Erzähler vor Ort steht dabei vor einigen Problemen: Erstens, weil er sich selbst am Schauplatz des Geschehens befindet, das Geschehen also nicht nur beobachtet, sondern es auch erlebt (und indirekt nicht selten auch beeinflusst). Zweitens muss er sich auf dem Schauplatz einen Standpunkt suchen, von dem aus er das Geschehen beobachtet. Wer einen Standpunkt hat, bekommt damit aber auch eine bestimmte Sichtweise (Perspektive) auf das Geschehen, er sieht nur einen Ausschnitt des Geschehens (Selektion) und verfügt deshalb auch nur über ein begrenztes Wissen von dem, was geschieht (Fokalisierung). Drittens ist das Geschehen in der Regel noch im Fluss, wenn der Reporter den Schauplatz betritt. Als erfahrener Beobachter und Erzähler kann er zwar einschätzen, ob es sich bei dem Geschehen um ein wichtiges Ereignis mit großem Nachrichtenwert handelt, aber er kennt nur den Anfang des Ereignisses und noch nicht sein Ende. Diese Ungewissheit über den Ausgang eines Ereignisses ist nahezu tagtäglich in den Fernsehnachrichten wahrnehmbar, wenn Auslandskorrespondenten von Kriegs- oder Katastrophenschauplätzen berichten und über den weiteren Verlauf von Ereignissen spekulieren. Viertens ist ein Reporter zwar ein unmittelbarer Beobachter, aber er kann seine Beobachtung nicht unmittelbar, sondern nur sprachlich oder bildlich vermittelt weitergeben. Der Erzähler kann also immer nur mittelbar von einem Ereignis erzählen, was die Frage aufwirft, in welcher Relation die erzählte Welt der Ereignisse zur tatsächlichen Welt der Geschehnisse steht. Fünftens schließlich muss sich der Erzähler eines technischen Mediums bedienen, um seine Erzählung zu vermitteln. Von der Wahl des Mediums hängt es ab, ob eine Erzählung etwa als fortlaufender Text sichtbar wird oder, wie das bei den audiovisuellen Medien der Fall ist, als komplexe Bild-Ton-Abfolge mit verschiedenen Erzählkanälen (visuelle, auditive und verbale Kanäle), die erst synchronisiert werden müssen, damit eine Erzählung entsteht.

Erzählung

Katastrophen, die die Normalität der Alltagswelt aus den Angeln heben und zu einem verzweifelten Überlebenskampf der betroffenen Opfer sowie zu dramatischen Rettungsaktionen der herbeieilenden Helfer führen, finden sich zu allen Zeiten und sind, gerade wegen ihrer Dramatik, häufig Erzählinhalt von Kinofilmen und Fernsehdokumentationen. Vor allem das Erzählschema der Spielfilme wiederholt sich dabei meist stereotyp: Am Anfang der Erzählung steht ein Schreckensereignis, das einen bestehenden Zustand radikal verändert und bestimmte Personen oder Personengruppen zum Handeln zwingt. Sie müssen gegen die Katastrophe ankämpfen. Einzelne Akteure (z.B. Polizisten, Ärzte, Forscher) treten [18]dabei in den Vordergrund und nehmen entscheidenden Einfluss auf das Handlungsgeschehen. Die Helfer sind bemüht, in einem Wettlauf gegen die Zeit möglichst viele Menschen zu retten und das katastrophale Geschehen schnell zu beenden. Dennoch können sie nicht verhindern, dass viele Menschen der Katastrophe zum Opfer fallen. Bei solchen oft als Actionfilm inszenierten Ereignissen rücken ‚Erzählzeit‘ (Zeit der Erzählung) und ‚erzählte Zeit‘ (Zeit des Ereignisses) eng zusammen, weil der Kampf gegen die (ablaufende) Zeit die Handlung strukturiert. Ein Katastrophenfilm lässt sich natürlich auch aus der Opferperspektive erzählen. Dies versucht anlässlich von 9/11 beispielsweise der Film „Extrem laut und unglaublich nah“ (USA2011). Aber auch dort gibt es Protagonisten, Antagonisten und weitere Handlungsfiguren sowie innere und zwischenmenschliche Konflikte, die die Handlung vorantreiben und das Ende der Erzählung bestimmen. Das sich in vielen Katastrophenfilmen wiederholende Erzählschema verweist wiederum auf die raumzeitliche Struktur der Ereignisabläufe selbst, die sich nicht nur in den Erzählungen wiederfindet, sondern auch schon den tatsächlichen Geschehnissen innewohnt, auf die sich die Erzählungen beziehen. So ist es nicht weiter erstaunlich, dass es bei Geschehensabläufen, Ereignissen und Erzählungen immer um dasselbe geht, um handelnde Akteure in Zeit und Raum oder, etwas erzählerischer formuliert, um konkrete Menschen, die zu einer bestimmten Zeit an bestimmten Schauplätzen handeln müssen, weil ein Ereignis ihren Lebensalltag destabilisiert hat und sie zwingt, die Stabilität auf neuer Grundlage wieder herzustellen.

9/11 zeigt schließlich auch, dass es Ereignisse gibt, die einen nur kurzen Zeitablauf haben – die Flugzeuge trafen die New Yorker Türme innerhalb von Sekundenbruchteilen – und dass es Ereignisse mit längerem Zeitablauf gibt: das WTC Building 7 stürzte nach achteinhalb Stunden in sich zusammen. Zur gleichen Zeit lösten diese Ereignisse eine Kaskade neuer Ereignisse aus (Domino-Effekt). Schon kurz nach dem Angriff wurde der Präsident der Vereinigten Staaten an einen sicheren Ort gebracht, wo ihm die Gesamtlage vorgetragen wurde. Nicht nur das WTC, sondern auch das Pentagon war mit einem Flugzeug angegriffen worden, und ein weiteres Angriffsflugzeug war abgestürzt und hatte viele Unschuldige in den Tod gerissen. Der Präsident sah darin einen Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika. Dem Angriff folgte eine Kriegserklärung an die für den Angriff Verantwortlichen. Der Terrorist Osama Bin Laden wurde zum Antagonisten (Anführer der ‚Bösen‘) erklärt, ihm standen George W. Bush als Protagonist (Anführer der ‚Guten‘) und seine Helfer gegenüber. Mit dem ‚Krieg gegen den Terror‘ begann ein neues Ereignis mit weltweiten Auswirkungen. In diesem Großereignis fanden zwar Teilereignisse ihren Abschluss (Tod Saddam Husseins, Tod Osama bin Ladens u.a.), der Abschluss des Gesamtereignisses (‚Krieg gegen der Terror‘) selbst steht aber noch aus und wird vielleicht nie erfolgen, da Terror vermutlich immer wieder auftritt. Viele Teilereignisse dieses Kampfes sind auch [19]bereits Gegenstand von Filmen geworden – „Von Löwen und Lämmern“ (USA2007), „Essential Killing“ (HU/IE/NO/PL2010), „Zero Dark Thirty“ (USA2012), „Blackwater“ (USA2015) und andere – das Gesamtereignis wird filmisch aber wohl kaum jemals erzählt werden können, da die filmische Erzählzeit stets nur auf wenige Stunden begrenzt ist.

Erinnerung

Dramatische Ereignisse bleiben in Erinnerung. Das trifft nicht nur auf die Ereignisse zu, die den Lebensalltag einzelner Menschen radikal verändern, sondern auch auf die nationalen Dramen, die im kollektiven Gedächtnis verankert sind. Insbesondere den Massenmedien ,Film‘ und ,Fernsehen‘ fällt dabei die Aufgabe zu, die kollektiven Erinnerungen immer wieder zu erzählen und damit den gesellschaftlichen Erinnerungsdiskurs in Gang zu halten (siehe Kap. 2.2.2 und 2.3.2). Bei dramatischen Ereignissen mit großer Reichweite beginnt dieser gesellschaftliche Erinnerungsdiskurs früh. Auch das belegt das Ereignis 9/11 eindrücklich. Unmittelbar nach dem Angriff in New York rief der Sender Home Box Office (HBO) auf Anregung des New Yorker Bürgermeister Rudolph Giordano in lokalen Anzeigen die Einwohner dazu auf, Fotos und Videos von dem Schreckensereignis zur Verfügung zu stellen. Ein Erinnerungsfilm der New Yorker sollte entstehen. Das Ergebnis lief sechs Monate später, im Mai 2002, unter dem Titel „In Memoriam: New York City 9/11/01“ bei HBO. Über 800 Stunden Material von mehr als 100 Privatpersonen sowie die Filmaufzeichnungen von vielen Profikameraleuten waren gesammelt, gesichtet und zu einem einstündigen Film zusammengeschnitten worden. Die Dokumentation lief auch bei ‚CNN International‘ und konnte so von mehr als 170 Millionen Haushalten in über 200 Ländern und Territorien rund um die Welt gesehen werden. Kurz vorher war schon der Film der Brüder Naudet gelaufen, die bei ihrer Reportage über New Yorker Feuerwehrleute die ersten Filmbilder vom explodierenden Flugzeug im WTC aufgezeichnet hatten. Durch die Katastrophe wurde aus der ursprünglich geplanten Alltagsgeschichte eine Heldengeschichte der New Yorker Feuerwehr. Der Film lief unter dem Titel „9/11“ (dt. Fassung: „11. September – Die letzten Stunden im World Trade Center“) bei CBS und erreichte ca. 40 Millionen Zuschauer. Aber auch dieser Film war nur einer von vielen weiteren, die zum Erinnerungsdiskurs beitrugen. Allein in Deutschland liefen zwischen dem 17.8.2002 und dem 13.9.2002 über 26 Erinnerungssendungen zu 9/11 im Fernsehen.

Kollektive Erinnerungen brauchen Erzählanlässe, die den Erinnerungsprozess in Gang halten. Sehr oft sind das Jahrestage, neben 9/11 zum Beispiel in den USA der 6. Juni (Landung der alliierten Truppen 1944 in der Normandie). In Deutschland sind heute der 8. Mai (Tag der Befreiung vom NS-Regime 1945), der 9. November (Tag des Mauerfalls 1989) oder der 3. Oktober (Tag der deutschen [20]Einheit 1990) nationale Erinnerungstage. Diesen Daten, die an erfreuliche Ereignisse erinnern, stehen Gedenktage gegenüber, die an NS-Verbrechen erinnern, zum Beispiel der 27. Januar (Tag der Befreiung von Auschwitz durch sowjetische Truppen 1945) oder der 9. November (Judenpogrom 1938). Alle Erinnerungstage liegen noch im Zeithorizont der älteren Generation, sind lebendige Erinnerung, die nicht nur Wissen beinhalten, sondern auch Emotionen. Und vor allem diese ‚gefühlte‘ Geschichte ist es, die die Erinnerungen so lange lebendig halten. Die ,großen‘ Erzählinstitutionen der kollektiven Erinnerung sind Film und Fernsehen, sie ,setzen‘ die meisten Erinnerungsthemen des öffentlichen Geschichtsdiskurses. Sie erzählen populär und damit massenwirksam und prägen die Geschichtsbilder aufgrund ihrer audiovisuellen Überzeugungskraft maßgeblich mit.

Geschichtssendungen in Film und Fernsehen, die sich im Zeithorizont der Erinnerungskultur bewegen, werden deshalb in diesem Buch gesondert behandelt und ausführlich diskutiert. Geschichtssendungen sind Vermittler zwischen der Gegenwart, in der sie laufen, und der Vergangenheit, von der sie erzählen. Sie greifen dabei auf vergangene Erzählungen zurück, die einstmals aktuelle Ereignisse dokumentierten (z.B. Nachrichtenerzählungen). Und so wie die alten TV-Nachrichten mit Hilfe aktueller audiovisueller Aufzeichnungen von ihrer aktuellen tatsächlichen Welt erzählt haben, so erzählen spätere Geschichtsdokumentationen mit Hilfe historischer AV-Dokumente von vergangenen Welten und stärken damit den ‚flow‘ generationsübergreifender Vergangenheitserzählungen.

Weiterführende Literatur

Bentele2008: Günter Bentele, Objektivität und Glaubwürdigkeit. Medienrealität rekonstruiert. Wiesbaden 2008.

Bietz2013: Christoph Bietz, Die Geschichten der Nachrichten: Eine narratologische Analyse telemedialer Wirklichkeitskonstruktion. Trier 2013.

Drews2008: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008.

Erll2008: Astrid Erll, Erinnerungskultur und Medien – In welchem Kontext spielt sich die Diskussion um Geschichtsvermittlung im Fernsehfilm ab? In: Albert Drews (Hg.), Zeitgeschichte als TV-Event: Erinnerungsarbeit und Geschichtsvermittlung im deutschen Fernsehfilm. Loccum 2008, 9–27.

Gergen1998: Kenneth Gergen, Erzählung, moralische Identität und historisches Bewußtsein. In: Jürgen Straub (Hg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 170–202.

Schmid2014: Wolf Schmid, Elemente der Narratologie. Berlin 20143.

Straub1998b: Jürgen Straub, Geschichten erzählen, Geschichte bilden. Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung. In: Jürgen Straub (Hg), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte. Frankfurt a.M. 1998, 81–169.

[21]2.1Audiovisuelle Geschichte

Audiovisuelle Geschichte macht in ihren Erzählungen vergangene Lebenswelten wieder sicht- und hörbar, die in der tatsächlichen Welt unsichtbar und stumm geworden sind. Dies gelingt auf zweierlei Weise: entweder unmittelbar, durch Vergegenwärtigung der lebensweltlichen Vergangenheit im szenischen Spiel, oder mittelbar, durch eine verbale Erzählung, bei der Dokumente aus der Vergangenheit gezeigt und zu Gehör gebracht werden.

Szenische Geschichtsfilme

Betrachten wir zuerst die Dramatisierung von Vergangenheit im szenischen Spielfilm. Als Beispiel wählen wir den deutschen Fernsehfilm „Die Himmelsleiter“ aus dem Jahr 2015, der die Zuschauer in die Lebenswelt der Stadt Köln im Jahr 1947 zurückführt. Das Köln jener Tage ist schwer gezeichnet vom Bombenkrieg. Große Teile der Innenstadt liegen in Trümmern. Viele Ausgebombte leben auf engsten Raum zusammen, nicht wenige warten verzweifelt auf vermisste Familienangehörige. Kleine und große Nazis sind untergetaucht, manche von ihnen arbeiten schon wieder an einer zweiten Karriere. Die Versorgung der Bevölkerung funktioniert nur notdürftig, Tauschhandel, Schmuggel und Schwarzmarkt prägen das Alltagsleben. Viele Menschen leben von der Hand in den Mund. Es ist eine Zeit der Ungewissheit: der Krieg ist zwar vorbei, aber eine neue politische und gesellschaftliche Normalität noch nicht erreicht.

Es gibt sehr viele verschiedene Geschichten, die von diesen historischen Tatsachen erzählen. Sie finden sich in Zeitungen, Tagebüchern und Romanen. Der Film „Die Himmelsleiter“ erzählt die Kölner Nachkriegsgeschichte auf seine Weise, und er beginnt so:

DIE HIMMELSLEITER (D 2011), ANFANGSSZENE

Bild und Ton blenden auf, der Film beginnt: auf der visuellen Ebene wird bildfüllend eine Kirchenglocke sichtbar. Sie trägt die Inschrift „St. Peter bin ich genannt / schütze das deutsche Land / geboren aus deutschem Leid / ruf ich zur Einigkeit“. Die Kamera schwenkt langsam nach links, verliert die Inschrift aus dem Blick und erfasst aus der Perspektive des Glockenstuhls die Silhouette einer zerbombten Stadt. Ein breiter Fluss ist tief unten erkennbar, in dem über die gesamte Breite hinweg eine zerstörte Eisenbahnbrücke liegt. Während des Schwenks beginnt auf der auditiven Ebene ein Soundgemisch aus Windgeräuschen und einem hohem Geigenton, das nach wenigen Momenten in ein gesungenes Kirchenlied durchblendet. Auf der visuellen Ebene wird das Rätsel nach der Quelle des Gesangs durch eine Bildblende von der fernen Trümmerlandschaft in das nahe Kircheninnere geklärt. Die Trickkamera fährt durch den Glockenturm nach unten und erfasst nach einer weiteren Bildblende die Kirchengemeinde aus Richtung des Altars. Die ersten Reihen der Gemeindemitglieder werden vom rechten Seitenschiff hin zum Mittelschiff abgefahren. Alle Personen tragen Feiertagskleidung der 1940er Jahre. Die Kamera verlangsamt ihre Querfahrt und hebt aus der Gruppe zwei Frauen heraus. Auf der auditiven Ebene wird diese visuelle Fokussierung dadurch unterstützt, dass die Gesangsstimmen der Frauen aus dem Gesamtchor herausgehoben werden. Dann wechselt der Schauplatz. Auf der visuellen Ebene wird nun aus einer obersichtigen Perspektive die städtische Trümmerlandschaft in einer ‚Totalen‘ gezeigt. Auf der auditiven Ebene erklingt die Titelmusik. Der Titel des Films wird auf die Trümmerlandschaft geblendet: „Die Himmelsleiter. Sehnsucht nach Morgen“. Es folgt eine weitere Texteinblendung: „Nach einer wahren Begebenheit“. Auf der auditiven Sprachebene beginnt unmittelbar nach dem Titel eine Frauenstimme im rheinländisch eingefärbten Dialekt Voice-OverVoice-Over zu erzählen:

„Es war Sommer 1947 und der Krieg war seit zwei Jahren aus. Es war nicht so gelaufen, wie es gedacht war. Wir hatten zweihundertzweiundsechzig schwere Luftangriffe hinter uns, darunter den Tausendbomberangriff und die grausame Peter-und-Paul-Nacht. Mit den Trümmern konnten wir leben, aber wirklich schlimm war der Hunger. Unser Leben bestand aus Stehlen, Schmuggeln, Schachern und Hamstern, kurz ‚Fringsen‘. Denn unser Kölner Erzbischof, Kardinal Frings, hatte ja gepredigt, in der Not sei fast alles erlaubt, um seine Kinder durchzubringen. Aber sogar die Kinder selber mussten ran, zum ‚Rabatzen‘, sind mit Kupfer oder sonst was von Wert über die ‚Himmelsleiter‘ nach Belgien, um Kaffee einzutauschen. ‚Himmelsleiter‘, so haben sie den verminten Weg durch die Eifel genannt, weil er für viele direkt in den Himmel führte.“

Während des Voice-OverVoice-Over wird auf der visuellen Ebene ein von einem Trümmerberg heruntersteigender Junge sichtbar. Er hat ein geschminktes Karnevalsgesicht und versucht, sich eine ‚Kippe‘ anzuzünden. Beim Voice-Over-Wort „Fringsen“ erfolgt ein Umschnitt auf das Titelblatt der „Rheinischen Tageszeitung“, das ein Großfoto von Köln in Trümmern zeigt und so den Film als historische Erzählung beglaubigt. Die kleine dokumentarische Schnittfolge endet mit der Etablierung einer Szene: eine Menschenschlange steht an einem Milchgeschäft an. Die Frau, die bereits aus der Kirchengemeinde visuell und auditiv herausgehoben wurde, stellt sich mit einem kleinen Jungen dazu. Ein Dialog zwischen beiden beginnt, der sich mit dem Voice-Over mischt. Die Erzählstimme aus dem Off ist als Stimme der Frau in der Schlange zu identifizieren, offensichtlich die Protagonistin des Films. Es ist also ihre Geschichte, die aus ihrem Rückblick erzählt wird. Auf der auditiven Ebene geht das Voice-Over nun in szenische Dialoge über, entsprechend werden auf der visuellen Ebene szenische Handlungen sichtbar: das raumzeitliche Filmgeschehen nimmt seinen Lauf. Die Handlung hat längst begonnen, da gibt es noch einmal eine Texteinblendung: „Köln im Sommer 1947