Der Weg der Schwalbe - Thomas Fischer - E-Book

Der Weg der Schwalbe E-Book

Thomas Fischer

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Beschreibung

Für den Afrikaner Bonaventure ist die Flucht nach Europa die einzige Chance auf eine Zukunft für seine Familie. Auf seinem lebensgefährlichen Weg nach Norden ist er als illegaler Flüchtling auf die Unterstützung fremder Menschen angewiesen und ihrem guten Willen ausgeliefert. Gegen alle Widrigkeiten schlägt er sich durch, auf Lastern und Zugdächern, bezahlt Wildhüter und Soldaten für Hilfe und Schweigen, die Angst wird zum ständigen Begleiter. Unterwegs begegnen ihm die Schicksale gescheiterter Mitflüchtlinge, Tod und Leid werden zum nervenaufreibenden Alltag. Doch die Hoffnung auf ein besseres Leben für sich und seine Lieben hält ihn aufrecht. Als seine zurückgelassene Familie dann aber ums nackte Überleben ringt, muss Bonaventure eine folgenschwere Entscheidung treffen ...

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Thomas Fischer

Der Weg der Schwalbe

Roman

Edel Elements

Edel Elements Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2016 Edel Germany GmbH Neumühlen 17, 22763 Hamburg

https://www.edel.com/de/home/

Copyright © 2016 by Thomas Fischer

Lektorat: Rainer Schöttle Korrektorat: Martha Wilhelm Covergestaltung: Designomicon Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-216-1

https://www.facebook.com/EdelElements/

Über das Buch:

Letzte Hoffnung Europa: Ein Afrikaner setzt alles auf eine Karte Bonaventure lebt mit seiner Frau Greta und den drei Kindern in einem kleinen afrikanischen Dorf, bescheiden, aber glücklich. Nach einem fürchterlichen Erdbeben haben sie auf einmal kein Dach mehr über dem Kopf. Da Bonaventure aus politischen Gründen keine neue Anstellung findet, kann er seine Familie nicht mehr ernähren – geschweige denn die Hütte wieder aufbauen. Er beschließt, alles auf eine Karte zu setzen und sich nach Europa aufzumachen. Denn er ist sicher: Seine Lieben zu verlassen ist ihre einzige Chance auf eine bessere Zukunft. Bonaventures Familie ist entsetzt, unterstützt ihn aber – und verschuldet sich über beide Ohren, um die Reisekosten zu decken. Auf seinem gefährlichen Weg nach Norden ist Bonaventure als illegaler Flüchtling auf die Hilfe seiner Mitmenschen angewiesen, diesen aber oftmals auch völlig ausgeliefert. Gegen alle Widrigkeiten schlägt er sich Richtung Europa durch, auf Lastern und Zugdächern, bezahlt Wildhüter und Soldaten für Hilfe und Schweigen. Immer wieder begegnen ihm unterwegs Erzählungen gescheiterter Flüchtlinge, doch er lässt sich nicht entmutigen. Aber dann wird sein Geld immer knapper – und auch die Familie ringt zu Hause ums nackte Überleben. Bonaventure muss eine folgenschwere Entscheidung treffen...

Über den Autor:

Thomas Fischer wurde 1972 in Konstanz am Bodensee geboren. Nach dem Studium der Soziologie, deutschen Literatur und Philosophie arbeitete er als Redakteur in einer Berliner Kommunikationsagentur. Parallel gründete er 2002 mit Freunden die Hilfsorganisation „Project Human Aid e.V.“ (www.project-human-aid.de). Seine Arbeit für Kinder und Jugendliche führt ihn seitdem in regelmäßigen Abständen nach Burundi, Ostafrika. Daneben arbeitet er heute für einen diakonischen Unternehmensverbund in Berlin und Brandenburg. Thomas Fischer lebt in Berlin.

Für meine Familie

98 Minuten vor Sonnenaufgang

Schemenhaft erhob sich der Waldrand vor ihm, ein schwarzer Schatten im Dunkel der Nacht, keine zweihundert Meter mehr entfernt. Er ahnte ihn mehr, als dass er ihn sah. Dorthin musste er es schaffen, dann hatte er vielleicht eine Chance. Kalter Regen peitschte in sein Gesicht, während er durch offenes Gelände hetzte, in dem er ein leichtes Ziel abgeben würde, käme der Mond bloß für einen Augenblick hinter den Wolken hervor, die unsichtbar in der Finsternis über ihm hingen. Das unebene Terrain unter seinen Füßen war voller Stolperfallen, und immer wieder strauchelte er, doch es gelang ihm stets, einen Sturz zu vermeiden. Jetzt einmal umknicken, ein verstauchter Knöchel oder gar ein Bänderriss, und es wäre aus.

Die Salve einer Maschinenpistole war für einen Augenblick deutlich hinter dem Vorhang der Wassermassen zu hören, die auf das Land hinabfielen. Ein kurzes, trockenes Stakkato; dann war es wieder nur der Regen, der die Nacht mit seinem Rauschen erfüllte, das schmatzende Geräusch seiner Stiefel auf dem nassen Erdreich und sein keuchender Atem.

Die nackte Angst ließ ihn seine Schritte weiter beschleunigen, obwohl ihm klar war, welches Risiko er damit einging, und er nicht einmal wusste, ob das Gewehrfeuer ihm gegolten hatte. Alle paar Sekunden warf er panische Blicke über seine Schulter, ohne dabei sein Tempo zu verringern, doch schon nach wenigen Metern verlor sich sein Blick in den Regenschleiern und der Dunkelheit.

Noch hundert Meter. Wieder das Rattern der Maschinenpistole, jetzt etwas weiter weg. An den Sohlen seiner Stiefel klebte eine dicke Schicht lehmiger Erde; mit jedem Schritt schienen sie sich ein wenig schwerer vom Boden zu lösen. Die Muskeln in seinen Beinen schmerzten, und er hatte heftiges Seitenstechen. Lange würde er diese Geschwindigkeit nicht mehr durchhalten können.

Noch fünfzig. Er zwang sich, die Signale zu ignorieren, die ihm sein Körper sandte, und setzte zu einem letzten Sprint an.

Noch vierzig.

Der Grund unter seinen Füßen wurde plötzlich ebener; wo sich seine Stiefel gerade noch in den nassen Furchen eines frisch gepflügten Feldes festgesaugt hatten, bedeckte jetzt eine Grasnarbe das Land, und das verlieh seinen schnellen Schritten unverhoffte Festigkeit.

Dreißig.

Ein euphorisches Gefühl durchflutete ihn, während er seinem Ziel entgegenzufliegen schien. In wenigen Sekunden würde er den Schutz des Waldes erreicht haben.

Zwanzig.

Noch einmal blickte er im vollen Laufschritt hinter sich, doch da war nichts, nur die Nacht und der Regen. Er würde es schaffen, dessen war er sich jetzt sicher, und er musste sich zusammenreißen, um nicht in hysterisches Lachen auszubrechen.

Er wandte den Blick wieder nach vorn – zu spät.

Sein rechter Fuß trat ins Leere.

Er hatte nicht einmal Zeit, mit den Armen zu rudern, bevor er der Länge nach ins Nichts stürzte.

1

Bonaventure saß inmitten der Trümmer, die einmal sein Haus gewesen waren. Vor zwei Stunden war die Sonne aufgegangen. Seitdem hockte der große, schmale Mann fast regungslos auf einem gewaltigen Zementbrocken, die Unterarme auf die Knie gelegt, und versuchte, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen. Um ihn herum bedeckten Ziegelsteine, an denen trockener Mörtel haftete, zersplitterte Dachbalken und rostige, verbogene Wellblechplatten den Boden. Dazwischen schaute ein abgewetzter Sessel aus dem Schutt. Eine Ziege zupfte am Rande des Trümmerfeldes ungerührt Grashalme aus dem Boden und meckerte von Zeit zu Zeit leise vor sich hin.

Das, was vom Haus übrig war, stand im hellen Morgenlicht, als ob es nie anders gewesen wäre. Längst hatte der Staub sich gesetzt, nur gelegentlich zeugte das trockene Knirschen rutschender Trümmerteile davon, dass Bonaventures Heim sich erst noch in seiner neuen Statik einrichten musste. Von den meisten Wänden waren bloß die untersten vier oder fünf Ziegelreihen geblieben. Inmitten des Durcheinanders aus Schutt und Erinnerungen sahen sie aus wie das abgenutzte, schiefe Gebiss eines Riesen.

Da war die kleine Veranda, auf der er gerne mit seiner Frau gesessen hatte, wenn die Hitze des Tages der nächtlichen Kühle des tropischen Hochlandes wich. Oft sahen sie einfach nur in einvernehmlichem Schweigen zu, wie die Sonne hinter den Hügeln verschwand. Ab und zu beugten sie sich gemeinsam zu der Kalebasse auf dem Tischchen zwischen ihnen, um mit Strohhalmen einen Schluck Bananenwein zu nehmen. Der Flaschenkürbis war ein Hochzeitsgeschenk von Bonaventures Vater gewesen. Der knorrige alte Anastase hatte die nach traditioneller Rezeptur selbst angesetzten berauschenden Getränke des Landes den grellbunt bedruckten Flaschen aus den modernen Brauereien in den Großstädten stets vorgezogen. „Ich kann das Gesöff nicht ausstehen“, hatte er gerne zu seinen Söhnen gesagt und dabei mit seinem Gehstock durch die Luft geschnitten, als schlüge er reihenweise Flaschen von einem imaginären Tresen. „Es versteckt sich im Gewand eines Politikers, ist aber so dünn wie ein armer Mann!“ Wann immer er an diesen Ausspruch seines Vaters denken musste, lächelte Bonaventure leise in sich hinein. Es war schon richtig, was man sagte, dachte er, während die Nacht über das Land hereinbrach und die Stille mit ihren zahllosen Düften und Geräuschen erfüllte: Die Alten gehen niemals ganz.

Wenn es draußen zu frisch wurde – Bonaventure wusste, dass es so weit war, wenn Greta ihr Tuch unauffällig immer enger um sich zog –, stand er auf, stellte sich hinter seine Frau und legte die Hände auf ihre Schultern. Greta neigte dann den Kopf zur Seite, sodass ihre Wange auf dem Rücken seiner linken Hand zu ruhen kam. So verharrten sie ein Weilchen, bevor Greta sich schließlich aufrecht setzte und sagte: „Es war ein schöner Tag. Aber jetzt lass uns schlafen gehen; morgen werden wir unsere Kräfte brauchen.“ Dann nahm Bonaventure einen kleinen Kerzenstumpf, der auf der Brüstung der Veranda stand, entzündete mit einem Streichholz den Docht, und sie gingen im schwachen Schein des Kerzenlichts ins Haus.

Hinter der Eingangstür lag das Wohnzimmer. Vier verschlissene Sessel, jeder mit einem weißen Spitzendeckchen auf der Kopflehne, gruppierten sich um einen flachen länglichen Tisch. An einer fleckigen Wand stand ein schiefes Regal, das bis auf ein paar verblichene gerahmte Fotos und einen kleinen Bastkorb mit Deckel leer war. Hinter dem Wohnzimmer lag der private Teil des Hauses, den Gäste so gut wie nie zu sehen bekamen: ein enger Korridor und zwei Schlafkammern, die von ihm abgingen, eine davon für Bonaventure und Greta, die andere teilten sich ihre drei Kinder. In einem zweiten Gebäude hinter dem Haus, kaum mehr als ein Verschlag, befanden sich ein Abstellraum, in dem vor allem Feuerholz, Reis und rote Bohnen lagerten, die Küche und ein rudimentäres Badezimmer, das fast nie benutzt wurde, da die Wasserversorgung im ganzen Dorf nur selten funktionierte. Den stetigen Versicherungen des Provinzgouverneurs, man werde sich des Problems sehr bald annehmen, schenkten Bonaventure und Greta schon lange keinen Glauben mehr. „Was für eine reiche Sprache wir doch haben“, pflegte Greta zu spotten: „Wir haben gleich zwei Wörter für ‚nie‘: ‚nie‘ und ‚bald‘!“

Im Schlafzimmer war es wärmer als draußen auf der Veranda. Das Wellblechdach war im Verlauf des Tages unter den Sonnenstrahlen heiß geworden, hatte die Zimmer unter ihm erhitzt und sich dabei unmerklich gedehnt. Nun kündete ein unaufhörliches Knacken und Knirschen davon, dass es sich in der Kühle der Nacht allmählich wieder zusammenzog. Bonaventure hängte sein Hemd und seine Hose mit ihren scharfen Bügelfalten stets mit Sorgfalt an zwei Haken, die an der Innenseite der Tür angebracht waren, löschte die Kerze und legte sich neben Greta auf seine Matratze. Leise sprachen sie dann noch eine Weile davon, was der morgige Tag bringen würde, und horchten auf die gedämpften Geräusche aus dem Zimmer neben ihnen, wie sie nur schlafende Kinder hervorbringen können. Schließlich schlossen sie zum Konzert der unzähligen kleinen surrenden und zirpenden Herrscher der afrikanischen Nacht die Augen.

2

Ein leichter Wind raschelte durch die Bananenpalmen, die das Grundstück auf zwei Seiten umsäumten. An einem fast wolkenlosen Himmel näherte sich die Sonne unerbittlich ihrem Scheitelpunkt. Bonaventure kniff die Augen zusammen. Von seinem Platz in den Ruinen seines Hauses aus musterte er die grünen Stauden, die unter dem Blätterdach an den Stämmen hingen.

Die Ernte würde schlecht ausfallen. Vor vier Monaten war die Regenzeit gekommen, mit schweren, dunklen Wolken, die tief über den Hügeln hingen und versprachen, das ausgedörrte Land in ein wogendes, sattes Grün zu verwandeln, so weit das Auge reichte. Doch diesen ersten Boten neuen Lebens waren viel zu wenige weitere gefolgt, und so trugen nun nicht nur die Palmen kümmerliche Früchte. Auch in dem kleinen Garten neben dem Haus – oder dem, was nun noch davon übrig war – wuchsen die Maisstauden nicht gerade üppig, und die Bohnen, die zwischen ihnen rankten, waren nicht so hoch hinausgeschossen wie sonst.

Der klägliche Ertrag des Gartens mochte der Familie vielleicht gerade noch durch die Trockenzeit helfen. Natürlich würden sie mehr auf dem Markt hinzukaufen müssen – wo die Preise in den Himmel stiegen, wie jedes Mal, wenn die großen Regenfälle ausgeblieben waren –, aber wenn er und Greta etwas weniger äßen, würde es vielleicht zumindest für die Kinder reichen. Durch die nächste Regenzeit aber, bis sie wieder würden ernten können, würden sie nicht mehr kommen. Nicht ohne fast alles, was sie zum Leben brauchten, bezahlen zu müssen. Und genau da lag das Problem: Bonaventure hatte kein Geld.

Und nun hatte er auch kein Haus mehr.

Mitten in der Nacht war er plötzlich aus dem Schlaf geschreckt. Ein dumpfes Dröhnen und Rumpeln hatte die Dunkelheit erfüllt. Neben ihm war auch Greta aufgewacht; Bonaventure sah im schwachen Licht des Sternenhimmels, das durch das kleine Fenster hereindrang und das Zimmer in ein fahles Grau tauchte, dass sie die Augen weit aufgerissen hatte. Mit zwei Sätzen war er am Fenster und blickte hinaus. Schwarz zeichneten sich die Hügel vor der Milchstraße ab. Das Dröhnen ließ nicht nach, im Gegenteil: Es wurde immer stärker, schien von überall und nirgends zu kommen. Gleichzeitig begann der Boden zu beben. Bonaventure spürte, wie kalter Schweiß auf seiner Stirn ausbrach. Sein Hirn war noch von Schlaf vernebelt, und doch hatte er keine Sekunde Zweifel daran, was draußen im kalten Sternenlicht vor sich ging.

Sie sind zurück, raste ein einziger Gedanke durch seinen Kopf, während Adrenalin durch seinen Körper schoss. Er merkte nicht, dass er heftig zu zittern begann.

Sie sind zurück.

Er ergriff mit beiden Händen das Gitter, das außen am Fenster angebracht war und sie vor unerwünschtem Besuch schützen sollte, wenn sie schliefen oder niemand zu Hause war. Gegen die Gegner jedoch, die jetzt dort draußen lauerten, Schatten in der Dunkelheit, würde es nicht helfen, im Gegenteil: Es versperrte einen möglichen Fluchtweg. Als er das Haus gebaut hatte, hatte er alle Fenster mit Gittern versehen lassen – die einzigen Wege hinaus führten durch den Haupteingang an der Veranda und eine Tür auf der Rückseite des Hauses, durch die man zu dem Verschlag mit Küche und Waschgelegenheit kam. Es wäre ein Leichtes, sie hier zu erwarten … Schlagartig wurde Bonaventure hellwach, als ihm die Ausweglosigkeit ihrer Situation bewusst wurde.

Sie sind zurück!

Er spürte kaum, wie die Kanten der Gitterstäbe in seine Hände schnitten. Wieder dröhnte es, wieder bebte der Boden unter seinen Füßen, Mörtel rieselte auf ihn herab. Seine Augen irrlichterten durch das Dunkel des Gartens.

Im Stillen hatte er gehofft, sie ein für alle Mal hinter sich gelassen zu haben. Hatte dafür gebetet, sie mit der Zeit vielleicht sogar vergessen zu können, ohne wirklich daran zu glauben. Jetzt aber, hilflos, sah er sie wieder, wie sie vor seinem inneren Auge Stellung bezogen.

Wir waren immer da, Bonaventure.

Männer in Fantasieuniformen aus tarnfarbenen Armeehosen und ärmellosen Shirts mit grellen Schriftzügen in fremden Sprachen. Männer mit Fetischen um den Hals, die sie unverwundbar machen sollten. Männer, die ihre Augen hinter Sonnenbrillen versteckten, als wollten sie keine Blicke in ihre Seelen zulassen, während sie ihre wehrlosen Opfer mit Messern und Macheten dahinmetzelten. Nur wenigen ließen sie die Gnade eines gezielten Schusses aus dem Sturmgewehr zuteilwerden.

Und das waren nur die Erwachsenen unter ihnen.

Schlimmer waren die Kinder.

Viel schlimmer.

Ein besonders heftiges, tiefes Rumpeln holte Bonaventure in die Gegenwart zurück. Irgendwo, nicht weit von ihnen, musste eine Granate eingeschlagen sein. Undeutlich wurde ihm bewusst, dass er begonnen hatte zu hyperventilieren, und dass er sich mittlerweile am Gitter festhielt, um nicht umzufallen. Es kostete ihn all seine Willenskraft, seinen Atem zu verlangsamen, und er spürte, wie der Schwindel in seinem Kopf ein wenig nachließ.

Sein Herz raste, während er versuchte, ihre Stellungen auf den Hügelkämmen zu erspähen. Warum jetzt? Warum hier? Er konnte keinen Sinn darin erkennen.

Erneut wackelte das ganze Haus; aus einem anderen Zimmer hörte er, wie Glas splitterte. Ein Fenster. Waren sie schon längst im Dorf, gebückt huschende Schatten in der Nacht, die Maschinenpistolen im Anschlag? Aber warum? Warum griffen sie gerade sein Dorf an? Verzweifelt versuchte Bonaventure, Ordnung in das Chaos in seinem Kopf zu bringen, während er mit geweiteten Augen die Dunkelheit absuchte.

Irgendetwas stimmte nicht. Neben ihm stürzte scheppernd ein Dachblech auf die Matratze, auf der bis eben noch seine Frau gelegen hatte. Greta? Er spürte, wie Panik sich seiner bemächtigte. Greta, wo war Greta?

Ihr Schrei brachte ihn zurück in die Wirklichkeit.

„Bonaventure!“

Seine Frau stand in der Tür, Belize, die weinende zweijährige Tochter, in den Armen. Greta schwankte ein wenig, so, als hätte sie ihren Strohhalm ein paarmal zu oft in die Kalebasse gesteckt.

„Bonaventure, wir müssen raus aus dem Haus! Schnell!“

Er sah, wie Montfort und Aléxine hinter ihr durch den Gang ins Wohnzimmer rannten, die nackten Füße ein kurzes Trommelfeuer auf dem Beton des Fußbodens. Dann hörte er, wie die Haustür aufgerissen wurde und scheppernd an die Wand schlug. Bonaventure blickte verständnislos zu Greta. Doch die hatte ihm schon den Rücken zugewandt und schickte sich an, den Kindern zu folgen. Plötzlich erzitterte das Haus erneut, heftiger als zuvor; Greta stolperte und wäre mitsamt Belize beinahe hingefallen, hätte der Türrahmen ihren Sturz nicht aufgefangen. Doch keine Explosion war zu hören, kein verräterisches Pfeifen, kurz bevor die Granaten ihr Ziel erreichten – nur das gleiche ortlose Dröhnen wie zuvor. Und in diesem Moment begriff Bonaventure, dass keine Rebellen Stellungen in den Hügeln bezogen hatten, dass niemand im Schutz der Dunkelheit mit Kalaschnikows und Buschmessern Jagd auf sie machte.

In jener Nacht zerstörte das Erdbeben acht Häuser im Dorf ganz oder teilweise; und hätte Greta nicht schneller reagiert als er, hätten sie vielleicht noch viel mehr verloren als das Dach über ihrem Kopf.

3

Die Sonne stand fast im Zenit. Sein Schatten war auf einen schmalen schwarzen Rand um ihn herum geschrumpft, kaum ein paar Zentimeter breit. Auf der mit Schlaglöchern übersäten Straße, die an Bonaventures ehemaligem Heim vorbei durch das Dorf führte, rumpelte ein alter Laster entlang, ölig-schwarze Wolken aushustend und turmhoch beladen. Einige junge Männer standen am Rande der Pritsche und hielten sich so gut es eben ging an der wackeligen Konstruktion fest, die die Ladefläche einnahm.

Bonaventure löste den Blick aus dem fernen Nichts, in das er gestarrt hatte, und sah an sich herunter. Er trug ein helles Hemd mit verschlissenen Aufschlägen, eine dunkle Hose aus schwerem Stoff, die ihm mindestens zwei Größen zu klein war, und schwarze Schuhe, in denen seine Zehen jetzt schon schmerzten.

Es musste gegen vier Uhr morgens gewesen sein, als sich die Dorfbewohner auf der Straße versammelt hatte. Es war ein heilloses Durcheinander. Immer noch bebte der Boden in unregelmäßigen Abständen, auch wenn die einzelnen Erschütterungen schwächer zu werden schienen. Frauen und Männer suchten in der Menge verzweifelt nach geliebten Menschen, weinende Kinder klammerten sich an die Beine ihrer Mütter, und mitten in dem ganzen Chaos standen Bonaventure und Greta, ihre Kinder eng um sich geschart, und sahen fassungslos zu, wie die mächtigen tektonischen Kräfte des ostafrikanischen Grabenbruchs ihr Leben zerstörten.

Nur wenige Sekunden, nachdem sie das Haus verlassen hatten, war die Veranda eingestürzt. Ihr war kurz darauf der gesamte Dachstuhl mit den Außenwänden gefolgt. Ein paar Mauern, um ihr verbindendes Element gebracht, hatten sich noch ein Weilchen ihrem Schicksal entgegengestemmt, doch schließlich hatten auch sie der Wucht der Erdstöße nichts mehr entgegenzusetzen.

Irgendwann, über den Hügeln kündigte sich bereits der Morgen mit einem rosafarbenen Schimmer an, war aus dem Menschengewirr plötzlich Jean-Marie aufgetaucht. Das Beben schien vorüber, schon seit mindestens einer halben Stunde hatte sich die Erde nicht mehr aufgebäumt. Bonaventures jüngerer Bruder schloss ihn mit Freudentränen in die Arme – dabei musste er sich fast auf die Zehenspitzen stellen – und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich bin so froh, dass ihr unverletzt geblieben seid. Ich bin so froh.“

Jean-Maries Haus hatte das Beben fast schadlos überstanden. Nur der kleine Schuppen, der nachträglich auf seiner Rückseite angebaut worden war, war zusammengefallen. Mit dem ersten Tageslicht wagte sich Jean-Marie kurz in sein Heim – gerade lange genug, um für seinen Bruder und dessen Frau etwas zum Anziehen zusammenzusuchen. Dann begann er, Mauern und Dach sorgfältig von außen auf Schäden zu inspizieren, während Monia, seine Frau, sich um ihren Schwager und dessen Familie kümmerte, die verloren am Rande einer kleinen Kaffeeplantage auf der Böschung kauerten, die Kinder immer noch nur mit den Hemden und Unterhosen bekleidet, die sie im Bett getragen hatten.

„Es wird alles gut“, sagte Monia und strich der kleinen Belize, die sich schutzsuchend an ihre Mutter klammerte, sanft über die krausen Haare, „es wird alles wieder gut, du wirst schon sehen.“

Immerhin hatte Belize vor einiger Zeit aufgehört zu weinen, doch in ihren großen Augen stand noch immer die Furcht geschrieben.

„Wann können wir wieder nach Hause gehen?“, fragte Aléxine, Belizes große Schwester. Mit ihren gerade einmal neun Jahren besuchte sie schon die vierte Klasse der Grundschule im Dorf.

„Das wird noch ein Weilchen dauern, meine Kleine“, antwortete Monia und sah ihre Nichte liebevoll an, die den Kopf trotzig in den Nacken gelegt hatte, als wolle sie allein den Naturgewalten die kleine Stirn bieten und die Ereignisse der Nacht ungeschehen machen.

„Wie lange?“, fragte Aléxine.

Greta zog ihre Tochter, die neben ihr hockte, näher zu sich.

„Du hast doch gesehen, was passiert ist, mein Schatz, oder?“

Aléxine antwortete nicht, doch irgendwann nickte sie. Sie war weiß Gott nicht die Einzige in diesen frühen Morgenstunden im Dorf, die unter Schock stand. Auch ihrem großen Bruder Montfort standen die Schrecken der letzten Stunden noch ins Gesicht geschrieben, auch wenn er sichtlich darum bemüht war, sich nichts davon anmerken zu lassen.

„Ihr kommt jetzt erst einmal zu uns“, sagte Monia. „Wir müssen uns alle ein wenig erholen, dann sehen wir, wie es weitergeht.“

Bonaventure, der ein wenig abseits saß und ins Nichts gestarrt hatte, drehte den Kopf zu seiner Schwägerin und sah ihr in die Augen. Er hatte als Einziger nicht geweint, doch in seinem Blick lag eine Leere, die Monia Angst machte.

Wie es weitergeht?, schien er zu sagen, obwohl seine Lippen sich nicht bewegten. Es geht nicht weiter. Nichts geht weiter. Nicht hier.

Plötzlich unterbrach Aléxine die Stille, während ihr Tränen die Wangen herunterkullerten. „Ich habe meinen Ball im Haus gelassen.“

Sie sah zu ihrem Vater hinüber, und in ihrem Gesicht lag eine so tiefe Verzweiflung, dass es Monia fast das Herz brach. Der knallrote Ball war Aléxines kostbarster Besitz, seit Pfarrer Bernard ihn ihr vor einigen Monaten geschenkt hatte.

„Kannst du ihn wieder ausgraben, Papa?“

Bonaventure kostete es sichtlich Überwindung, sich ins Hier und Jetzt zurückzuholen. Er zwang sich, seiner Tochter zuzulächeln.

„Natürlich werde ich ihn ausgraben, mein Engel.“

Ein Hauch von Hoffnung schlich sich in Aléxines Augen. „Sicher?“

„Ganz sicher.“

„Das ist gut“, sagte sie, wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und zog geräuschvoll die Nase hoch.

Ja, das ist es, dachte Monia und beobachtete Bonaventure aus dem Augenwinkel, wie er aufstand, zu seiner Tochter ging, sich neben ihr auf die Böschung setzte, den Arm um sie legte und beruhigend auf sie einsprach. Dein Vater ist stark, Aléxine. Deine Eltern sind stark. Sie werden dich nicht im Stich lassen. Sie werden alles für dich und deine Geschwister geben. Und dein Onkel und ich sind ja auch noch da.

Und fast gelang es Monia, während die Sonne ihre ersten flachen Strahlen über die Hügel auf das gebeutelte Dorf und seine verstörten Bewohner warf, so etwas wie eine vage Zuversicht zu spüren.

Jean-Marie und Monia wären beinahe kinderlos geblieben. Als Monia ihre erste Fehlgeburt erlitt, hatten sie es noch den schwierigen Umständen zugeschrieben. Zu diesem Zeitpunkt war die Krankenstation im Dorf nicht besetzt gewesen, und als Monias Wehen gut sechs Wochen zu früh einsetzten und weder Greta noch die alte Hebamme des Dorfes ihr helfen konnten, hatten Jean-Marie, Bonaventure und zwei Freunde die stöhnende, halb bewusstlose Frau auf eine hastig zusammengezimmerte Trage gelegt, eine Decke über sie gebreitet und sich auf den langen Weg zum Krankenhaus in der Stadt gemacht. Drei Stunden gingen sie mitten in der Nacht die Straße hinab, bis ihre Beine zitterten und sie ihre Arme nicht mehr spürten. Im Morgengrauen schließlich nahm sie ein Pritschenwagen mit, auf dessen Fahrertür in großen schwarzen Lettern die Initialen der Vereinten Nationen prangten. Zehn Kilometer lang hielt Jean-Marie auf der Ladefläche die Hand seiner Frau, während ihm Tränen über das Gesicht liefen und Bonaventure, dessen Frau bereits drei gesunde Kinder zur Welt gebracht hatte, stumm danebensaß. Der Arzt in der Klinik konnte nur noch den Tod des kleinen Wesens feststellen, das Monia unterwegs unter der Decke geboren hatte und das immer noch durch die Nabelschnur mit der Frau, die seine Mutter hätte werden sollen, verbunden war.

Vier weitere Fehlgeburten folgten dem tragischen Ereignis jener Nacht, und mit jedem Rückschlag schwand auch die Hoffnung des Ehepaares, doch noch zu – wenn auch spätem – Elternglück zu finden. Bis schließlich Blessing kam und überlebte.

Dabei hatte es anfangs wieder nicht gut ausgesehen. Auch Blessing war eine Frühgeburt – doch sie war auch eine Kämpferin, wie das Personal der Krankenstation, das dieses Mal ordnungsgemäß seinen Dienst verrichtete, Monia und Jean-Marie eifrig versicherte. Als sie ihre winzige Tochter schließlich nach Wochen des Hoffens und Bangens mit nach Hause nehmen durften, als Monia ihr zum ersten Mal in den heimischen vier Wänden die Brust gab und Blessing, die damals noch nicht getauft und daher noch ohne Namen war, eingewickelt in ein Tuch in den Armen ihrer Mutter einschlief, war ihr Glück vollkommen gewesen.

Blessing blieb ein Einzelkind. Ihre Geburt war wie eine seltsame Blume, die mitten in der Trockenzeit aus der rissigen roten Erde wuchs und Hitze und Dürre zum Trotz ihre leuchtenden Blütenblätter entfaltete. Jean-Marie und Monia liebten Blessing abgöttisch, doch manchmal überfiel sie auch eine tiefe Traurigkeit darüber, dass ihre Gebete um weiteren Nachwuchs ungehört zu bleiben schienen. Sie konnten nicht ahnen, dass ihr Wunsch nach einem Haus voller Leben auf gänzlich andere Art und Weise Erfüllung finden sollte, als sie es sich ersehnt hatten.

4

Eine Eidechse kroch mit schnellen, ruckartigen Bewegungen auf ein Stück freiliegendes Fundament, das erstmals seit den Bauarbeiten vor sechzehn Jahren wieder von der Sonne gewärmt wurde. Dabei wandte sie ständig den Kopf von Seite zu Seite und züngelte durch die Luft. Als sie sich schließlich vergewissert hatte, dass ihr auf ihrem Rastplatz keine Gefahr drohte, schien sie sich zu entspannen und verharrte regungslos auf dem heißen Zement.

Zwei Meter weiter fühlte sich Bonaventure wie gelähmt. Er wusste, dass er nun etwas tun musste – irgendetwas! Doch was das sein konnte, davon hatte er nicht die leiseste Vorstellung. Ein dünnes Rinnsal Schweiß lief ihm den Hals hinunter und versickerte unter seinem Hemdkragen.

Greta und die Kinder waren bei Jean-Marie geblieben. Nach einer gründlichen Untersuchung hatte sein Bruder sein Haus für sicher erklärt und alle hineingebeten. Dort hatten sie zu acht im dunklen Wohnzimmer gesessen, das sich von Bonaventures nur dadurch unterschied, dass es noch ein wenig kleiner war. An einem normalen Tag hätten sich um diese Zeit die großen Kinder auf den Weg zur Schule gemacht, während sich die kleinen vor dem Haus mit Murmeln oder Spielzeugautos aus Pappe und Draht vergnügt hätten. Die Frauen hätten das Haus ausgefegt und wären dann mit großen Kanistern zum Fluss hinabgestiegen – leichtfüßig mit den leeren Gefäßen auf dem Weg bergab und langsam und bedächtig, ihre schwere Last mit einem stützenden Arm auf dem Kopf balancierend, auf dem steilen Anstieg zurück. Jean-Marie hätte, wie es seine Gewohnheit war, schon seit einer Stunde in seinem Büro gesessen, an dessen Tür auf einem verblichenen Stück Karton „Büro des Schuldirektors – bitte vor dem Eintreten anklopfen“ stand. Und Bonaventure hätte den Gartenzaun ausgebessert oder eine undichte Stelle am Dach repariert und dabei darauf gewartet, dass sein Handy endlich wieder einmal klingelte. Doch dieser Tag war nicht normal.

Jean-Marie musste seine Entscheidung getroffen haben, ohne seine Frau zuvor gefragt zu haben, und als er Bonaventure angesehen hatte, waren seine Augen ruhig und seine Stimme fest gewesen.

„Ihr bleibt bei uns“, hatte Jean-Marie gesagt und keinen Widerspruch geduldet.

Falls Monia von dieser Ankündigung überrascht gewesen war, hatte sie es sich nicht anmerken lassen. Die fünfjährige Blessing hatte begeistert in die Hände geklatscht, sich die kleine Belize geschnappt und war mit ihr nach draußen verschwunden. Danach war es sehr still in Jean-Maries Wohnzimmer gewesen.

Bonaventure spürte, wie seine Knie protestierten, als er schließlich seine Lähmung überwand und sich erhob. Ein dumpfer Schmerz pochte in seiner linken Kniekehle und zog in den Oberschenkel hinauf – wie jedes Mal, wenn er längere Zeit verharrt hatte und sich dann wieder bewegte. Unwillkürlich griff er mit der Hand an sein Bein. Selbst durch den Stoff seiner Hose hindurch konnte er die lange Narbe fühlen, die ihm immer wieder zu schaffen machte.

Er hatte keine Ahnung, wie lange Montfort schon am Rande des Grundstücks gestanden und ihn beobachtet hatte, doch jetzt setzte sein Sohn sich in Bewegung und ging auf ihn zu.

„Wir bauen das Haus wieder auf.“ Montforts Blick war entschlossen, das Kinn hatte er leicht nach vorne gereckt. Der Sechzehnjährige war fast eine Kopie seines Vaters in jungen Jahren: hoch aufgeschossen, schmal und zäh, von einer ruhigen Eleganz.

Bonaventure sah ihn an. Der unerschütterliche Optimismus der Jugend. Nichts, kein Unglück und schon gar kein Erdbeben konnte ihn ins Wanken bringen.

„Ich werde dir helfen. Jeden Tag nach der Schule komme ich sofort hierher. Und am Wochenende arbeite ich den ganzen Tag. Außerdem kann ich Gustave und François fragen, ob sie uns helfen. Ihr Haus ist ganz geblieben. Ich bin mir sicher …“

„Montfort.“ Bonaventure blickte seinem Sohn in die Augen. „Wir haben kein Geld“, sagte er leise.

„Ja, jetzt gerade. Aber es kommen sicher bald wieder bessere Zeiten! Der neue Bischof …“

„Der neue Bischof hat schon einen Fahrer“, unterbrach Bonaventure seinen Sohn erneut. „Er will mich nicht.“

„Und der Gouverneur? Erst neulich habe ich gesehen, wie sein Chauffeur sturzbetrunken in einer Bar saß, während der Gouverneur in einer Besprechung war. Ganz sicher braucht ein wichtiger Mann wie er, der ständig unterwegs ist, einen verlässlicheren Fahrer.“

„Sein Sekretär hat mich nicht einmal zu ihm vorgelassen.“

„Was ist mit dem Mann aus Westafrika? Der als Ingenieur für das deutsche Hilfswerk im Nachbardorf arbeitet?“

„Der ist seit zwei Wochen nicht mehr im Land.“

Montfort zögerte kurz. „Na gut, aber es gibt noch genug andere Leute, die einen Chauffeur brauchen. Wir können in die Hauptstadt fahren, zu den Botschaften gehen, zu den Hilfsorganisationen, irgendjemand wird sicher Verwendung für dich haben.“

Bonaventure legte den Kopf in den Nacken, als stünde irgendwo am tiefblauen Himmel die Lösung des Problems.

„Ich war schon überall. Ich habe in den letzten Wochen mit allen gesprochen, für die ich einmal gearbeitet habe. Ich war bei Kollegen und Freunden, habe meine Handynummer in unzähligen Vorzimmern hinterlassen, sogar in meiner alten Kaserne habe ich vorgesprochen. Nichts. Keiner will mich.“

Er lächelte traurig.

„Ich weiß nicht, woran es liegt. Vielleicht denken sie, dass ich zu alt bin. Vielleicht glauben sie, ich komme mit den modernen Autos nicht mehr klar. Ich habe keine Ahnung. Tatsache ist, dass ich seit vier Monaten niemanden mehr gefahren habe. Und dass mich seitdem auch keiner mehr angerufen hat.“

Montforts Augen irrten unruhig hin und her, als wolle er nicht glauben, was er da hörte, als müsse es eine Lösung geben, auf die sie nur noch nicht gekommen waren.

Auf einmal war von der Straße lautes Stimmengewirr zu vernehmen. Ein kleines Grüppchen von Menschen, die zuvor friedlich und geduldig mit ihrem Gepäck am Straßenrand gewartet hatten, stritt nun erbittert um die vielleicht zwei oder drei Plätze, die in dem gerade angekommenen Minibus noch frei waren. Es wurde geschubst und gedrängelt, Hände streckten sich mit zerknitterten Geldscheinen Richtung Fahrertür, während die Reisenden in der drangvollen Enge des Businneren dem hektischen Treiben vor den weit geöffneten Fenstern stoisch zusahen. Eine alte, zahnlose Frau mit einem Buckel und von Gicht gekrümmten Händen war die Erste, die einen der begehrten Plätze ergatterte. Ganz offensichtlich hatte sie sich nicht zum ersten Mal in ihrem Leben gegen eine scheinbare Übermacht durchsetzen müssen. Während sie sich gebückt in den Bus quetschte, zurrte der Busfahrer ihr Gepäck, einen schäbigen gelben Kanister und einen alten Koffer, auf dem Dach des Gefährts fest.

Bonaventure und Montfort sahen sich an. Vielleicht gab es doch noch einen Ausweg.

5

Seit fünf Stunden war Bonaventure nun schon in der Hauptstadt unterwegs. Die Mittagshitze hing wie eine Glocke unbarmherzig über den vorwiegend flachen, schmutzig-weiß getünchten Gebäuden. Im Schatten der Vordächer boten Händler ihre Waren feil: Bananen, Erdnüsse, gekochte Eier, gebrauchte Kleider und Schuhe, getrockneten Fisch, Avocados, Fleischspieße, frittierte Teigbällchen, lebende Hühner, protzige Billiguhren aus Fernost … Obwohl Bonaventure als Fahrer oft in der Hauptstadt gewesen war, faszinierte ihn ihr schier unerschöpfliches Angebot immer wieder aufs Neue. Und die Menschen – so viele Menschen! An jedem anderen Tag, in seinem anderen, früheren Leben, wäre er in den Trubel eingetaucht, hätte sich treiben lassen, hier und dort zum Spaß ein wenig gefeilscht und am Ende vielleicht ein paar Meter Stoff für Greta erstanden, aus denen sie sich ein hübsches neues Kleid schneidern konnte. Doch heute war alles anders, denn Bonaventure hatte kein Haus mehr und auch der Vormittag war gänzlich anders verlaufen, als er es sich erhofft hatte.

Er bog um eine Straßenecke und wäre fast von einem Taxi angefahren worden, das einem Schlagloch im Asphalt von gut einem Meter Durchmesser ausgewichen war. Der Fahrer hupte, als hätte gerade nicht er, sondern Bonaventure einen unerwarteten Schlenker gemacht, und rief ihm empört etwas Unverständliches aus dem geöffneten Fenster zu. Bonaventure sah dem Auto nachdenklich hinterher. Je mehr Menschen vom Land in die Stadt zogen in der Hoffnung, damit auch ihrer Armut zu entfliehen, desto voller und chaotischer wurde es hier. Das Taxi fädelte sich mit einem gewagten Manöver in den dichten Verkehr auf der Hauptstraße ein, die Bonaventure gerade verlassen hatte. Auf der anderen Straßenseite standen große Reklametafeln. Eine von ihnen warb für das Bier, das Bonaventures Vater so verachtet hatte, eine weitere für eine Bank, die weltweite Geldtransfers binnen weniger Minuten anpries, und eine dritte für eine europäische Fluglinie, die seit einigen Monaten dreimal in der Woche die Hauptstadt anflog. Ein junges Pärchen strahlte um die Wette in die Kamera, hinter ihnen waren ein Flugzeug und die Silhouette einer europäischen Großstadt zu sehen. „Pünktlich zum Frühstück dort – über Nacht nach Europa!“ lautete der Slogan, der in knallgelben Lettern unter dem Pärchen prangte. Bonaventure blinzelte ein wenig gegen die gleißende Mittagssonne. Die Häuser der Stadt auf dem Plakat waren so ganz anders als fast alles, was er aus seinem Land kannte. Sie waren riesengroß, hatten gewaltige Fensterfassaden und schienen in hervorragendem Zustand zu sein. Wer auch immer dort lebte, musste eine Menge Geld haben. Aber das hatten schließlich alle Europäer, wie Bonaventure wusste. Zwar gab es bei ihm im Dorf keinen Fernseher, doch sein altes Radio lieferte ihm seit vielen Jahren treu und zuverlässig Informationen aus der großen weiten Welt.

Eine Gruppe Straßenkinder kam Bonaventure entgegen, ihre zerrissenen T-Shirts und Hosen hatten längst die eigentümlich farblose Tönung des Drecks und Staubs angenommen, in dem sie lebten. Nur einen Augenblick später hatten sie sich um ihn geschart.

„Monsieur, wir haben Hunger, haben Sie ein bisschen Geld für uns?“

Bonaventure, jäh aus seinen Gedanken gerissen, griff reflexartig in seine Hosentasche – nur um festzustellen, dass sie leer war. Früher, in dem Leben, als er noch Arbeit gehabt hatte, hatte er stets ein paar kleine Scheine bei sich getragen, um bettelnden Kindern wie diesen ihr hartes Leben zumindest für einen kurzen Moment etwas zu erleichtern.

„Es tut mir leid“, sagte er jetzt und vermied es, ihnen in die Augen zu sehen. „Ich habe selber nichts.“

Die ganze Wahrheit war das nicht. In der Innentasche seines abgetragenen Jacketts steckten noch ein paar Banknoten; gut die Hälfte von dem, was Jean-Marie ihm gegeben hatte, um die Fahrt mit dem Minibus in die Stadt bezahlen und sich ein einfaches Mittagessen leisten zu können.

Die Kinder hefteten sich an seine Fersen. „Bitte, Monsieur, wir haben seit Tagen nichts mehr gegessen!“ Sie streckten ihm geöffnete Handflächen entgegen und zupften an seiner Hose. „Bitte, Monsieur, bitte, nur ein kleines bisschen.“

Bonaventure merkte, dass eine der kleinen, verlumpten Gestalten Mühe hatte, mit den anderen mitzuhalten. Das Mädchen hielt einen Stock in der Hand, auf den es sich bei jedem Schritt stützte. Sein rechtes Bein endete etwa zehn Zentimeter über dem Boden in einem unförmigen Stumpf. Auch sieben Jahre nach seinem offiziellen Ende waren der Krieg und seine fürchterlichen Verbrechen allgegenwärtig. Es waren Erwachsene, die kämpften und mordeten – doch es waren die Kinder, die die Narben des Wahnsinns ein Leben lang tragen mussten.

Bonaventure blieb stehen und griff in sein Jackett. Das Mittagessen würde heute noch bescheidener ausfallen als sonst.

Gut eine Viertelstunde später saß er in Monsieur Gérards winzigem, stickigem Büro unweit des zentralen Marktes. Monsieur Gérard war bereits der vierte Busunternehmer, bei dem er heute vorsprach. Bisher hatte er nur Absagen erhalten. Eigentlich hatte Bonaventure es stets abgelehnt, als Minibus-Fahrer zu arbeiten, und Greta hatte ihn in dieser Haltung bestärkt. Denn nicht nur waren die meisten Fahrzeuge in äußerst schlechtem Zustand; damit sich das Geschäft lohnte, mussten die Fahrer ihre maroden Gefährte zudem stets so voll beladen, wie es nur irgend ging, und außerdem rasen, was das Zeug hielt: Wer die meisten Fahrten mit den meisten Fahrgästen machte, verdiente das meiste Geld. Nicht wenige bezahlten diese Hatz nach ein paar Scheinen mehr in der Hosentasche mit ihrer Gesundheit oder gar mit ihrem Leben. Bonaventure kannte die Gefahren, die die kurvigen, teils stark ausgesetzten Straßen in den Hügeln mit sich brachten, nur allzu gut. Einmal war auch er selbst mit seinem Militärjeep nur knapp an einer Katastrophe vorbeigeschrammt, als er plötzlich einer Ziegenherde mitten auf der Fahrbahn hatte ausweichen müssen und seine Räder erst wenige Zentimeter vor dem Abgrund zum Stehen gekommen waren.

Doch jetzt war er nicht mehr in der Position, wählerisch zu sein. Er hatte eine Familie zu ernähren, Schulgeld für die Kinder zu bezahlen und zu allem Überfluss auch noch ein neues Haus zu bauen.

Monsieur Gérard tupfte sich mit einem Tuch den Schweiß von der Stirn. Wie fast alle Geschäftsleute in der Hauptstadt kannte er Bonaventure und die meisten seiner Kollegen seit Jahren. Als Fahrer einflussreicher Menschen waren sie fast so bekannt wie ihre Patrone selbst, schließlich begleiteten sie sie bei all ihren Unternehmungen. Während ihre Chefs in irgendwelchen Hinterzimmern verschwanden, um wichtige Dinge zu besprechen, warteten Bonaventure und die anderen Chauffeure im Schatten der Häuser auf die Rückkehr ihrer Dienstherren, tauschten Neuigkeiten aus, ruhten sich ein wenig aus oder polierten ihren vierrädrigen Arbeitsplatz auf Hochglanz. Es war ein privilegierter Job: Kaum jemand kam so viel im Land herum, und verdienen ließ sich auch recht gut. Wenn man Arbeit hatte.

Monsieur Gérard war ein dicker Mann. Seine Leibesfülle kündete von dem Wohlstand, den ihm sein Unternehmen gebracht hatte. Man munkelte, dass dazu auch gewisse nächtliche Fahrten mit zweifelhafter Ladung im Auftrag mindestens ebenso zweifelhafter Kunden gehörten, aber das waren bislang nur Gerüchte. Eine polizeiliche Untersuchung vor einigen Jahren jedenfalls hatte keine Beweise für Monsieur Gérards Verstrickung in illegale Aktivitäten gebracht.

Er drehte einen silberfarbenen Kugelschreiber zwischen seinen fleischigen Fingern. „Nun, Bonaventure, lassen Sie mich ehrlich mit Ihnen sein: Ich kann momentan keinen neuen Fahrer gebrauchen.“

Bonaventure spürte, wie der Funke Hoffnung, der ihn in Monsieur Gérards Büro begleitet hatte, wieder zu verlöschen drohte.

„Aber Monsieur Gérard, Sie haben doch eben erst drei neue Busse gekauft. Gervais hat mir davon erzählt. Sie stehen noch im Lager der Zollstation, er selbst hat ihre Papiere auf seinem Schreibtisch.“

Monsieur Gérard seufzte und tupfte sich erneut Schweiß von Stirn und Nacken. „Das ist wohl richtig. Aber Sie wissen ja, wie das ist mit dieser Importware aus Europa. Nur Probleme! Erst wartet man eine halbe Ewigkeit, bis der ganze Papierkram erledigt ist, und dann stellt sich heraus, dass der eine Bus ein neues Radlager braucht, der andere eine neue Antriebswelle – nichts als Ärger.“

„Ich könnte Ihnen dabei helfen, die Busse zu reparieren. Ich könnte das sogar umsonst tun, und wenn sie dann wieder fahrbereit sind …“

„Ich habe bereits eine Werkstatt beauftragt, die Busse in Augenschein zu nehmen, sobald sie durch den Zoll sind.“

„Gut, aber dann brauchen Sie immer noch neue Fahrer, wenn die Busse einsatzbereit sind.“ Bonaventure senkte den Blick. „Bitte verzeihen Sie mir, dass ich so aufdringlich bin“, setzte er mit leiser Stimme hinzu, „aber ich brauche dringend Arbeit.“ Er schluckte. „Es ist in letzter Zeit nicht so gut gelaufen für meine Familie und mich.“

Monsieur Gérard sah ihn prüfend an. „Ich habe schon Fahrer eingestellt. Sie warten nur darauf, dass es endlich losgehen kann.“

„Aber Monsieur Gérard, entschuldigen Sie bitte, wenn ich Ihnen widerspreche.“ Bonaventure fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. „Als ich heute früh am Busbahnhof war, sprachen viele Fahrer von Ihren neuen Bussen, doch keiner wusste etwas davon, dass Sie bereits Personal gefunden haben.“

Schweigen.

Der Stuhl ächzte, als sich Monsieur Gérard in ihm zurücklehnte. Die Augen hielt er dabei unverwandt auf Bonaventure gerichtet.

„Wissen Sie eigentlich, wie man über Sie redet?“, beendete der massige Mann plötzlich die Stille.

Bonaventure zuckte innerlich zusammen. Konnte es sich so schnell herumgesprochen haben, was ihm und seiner Familie erst vor wenigen Tagen widerfahren war? Dass sie kein Haus mehr hatten? Dass sie Almosen von Jean-Marie annehmen mussten? Dass er nicht in der Lage war, für seine Kinder und seine Frau zu sorgen?

„Nicht wenige sagen, Sie seien selbst ein Rebell.“

Bonaventure verschlug es die Sprache. Er starrte Monsieur Gérard ungläubig an. Was hatte der dicke Geschäftsmann da gerade gesagt? Er musste sich verhört haben.

„Wie lange haben Sie den Bischof gefahren, bevor er abgesetzt wurde? Vier Jahre? Fünf Jahre?“

Bonaventure rang um Fassung. „Drei. Es waren drei Jahre. Und der Bischof …“

„War kein Rebell, nein. Zumindest nicht offensichtlich. Aber er sympathisierte mit gewissen Leuten, die der Regierung ein Dorn im Auge waren. Irgendwann ist das Rom wohl zu Ohren gekommen.“

Monsieur Gérard beugte sich über den Tisch und legte die Unterarme auf die Platte. Dann hob er den Kopf und sah Bonaventure direkt in die Augen, die Stirn in Falten gelegt. „Sie waren sein Fahrer. Sie haben mehr Zeit mit ihm verbracht als viele Männer mit ihren Frauen. Sie können mir nicht weismachen, dass Ihnen das alles egal war, oder gar, dass Sie nichts davon wussten.“

„Monsieur Gérard, ich weiß nur, dass der Bischof ein guter Mann war. Wenn er nicht in allem mit der Regierung übereinstimmte, dann deshalb, weil er das Beste für sein Land wollte.“

Der dicke Unternehmer setzte sich auf und machte eine Handbewegung, als wolle er lästige Fliegen vom Tisch verscheuchen. „So funktioniert Politik aber nicht. Der Bischof gehörte zu den falschen Leuten, und Sie gehörten zum Bischof.“ Seine Stimme sank um eine gefühlte Oktave. „Und dann ist da auch noch die Sache mit Ihrem Bruder.“ Monsieur Gérard machte eine abwehrende Geste, als wolle er einem möglichen Einwand Bonaventures zuvorkommen. „Es ist schon ein bisschen her, ich weiß, aber die Leute haben ein gutes Gedächtnis. Ich auch. Niemand wird Ihnen hier Arbeit geben, Bonaventure, weil sich niemand bei den Herren im Parlamentsgebäude verdächtig machen will. Und auch ich habe nicht vor, in den Ruf zu kommen, unglückliche Verbindungen zu pflegen.“

Er seufzte, als müsse er eine schwere Entscheidung fällen.

„Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Sie tun.“

Bonaventure starrte den Mann, der sein Arbeitgeber hatte werden sollen, mit weit aufgerissenen Augen an.

„Monsieur Gérard“, setzte er noch einmal verzweifelt an, „ich war nur sein Fahrer. Ich habe seinen Jeep gefahren, mehr nicht“, fügte er leise hinzu, und als er es sagte, fühlte er sich wie ein Verräter. „Und mein Bruder …“

Doch der Busunternehmer hatte sich bereits erhoben und streckte ihm die Hand zum Abschied entgegen.

„Viel Glück da draußen, Bonaventure. Sie werden es brauchen.“

6

„… ist es noch zu früh, um die Schäden genau zu beziffern, die das Erdbeben vor fünf Tagen in weiten Teilen des Landes angerichtet hat. So viel scheint jedoch bereits jetzt festzustehen: Bei den schwersten Erschütterungen seit vielen Jahren hat es nicht nur zahllose Verletzte, sondern auch Tote gegeben.“

Bonaventure saß in der zweiten Reihe des Minibusses, eingezwängt zwischen einer korpulenten Frau, die einen wenige Monate alten Säugling in den Armen hielt, und einem jungen Mann in einem dunkelbraunen Anzug, der trotz der Hitze sein Jackett nicht abgelegt hatte. Mit fünfundzwanzig Fahrgästen war das kleine Gefährt hoffnungslos überfüllt; diejenigen, die in einem der zahlreichen Vororte der Hauptstadt als Letzte zugestiegen waren, saßen unnatürlich verrenkt mehr oder weniger auf dem Schoß der anderen Reisenden, den Kopf nach vorne gebeugt, um nicht bei jeder Bodenwelle mit dem Schädel an das Dach zu stoßen. Bonaventures Knie drückten in die Sitzreihe vor ihm; für einen Mann seiner Größe waren Überlandreisen eine besondere Tortur. Wenigstens ließen die heruntergekurbelten Fenster des Busses ein wenig Luft in den metallenen Käfig, dem sie sich anvertraut hatten, auch wenn sie immer wieder von rötlichem Staub durchsetzt war, den vor ihnen fahrende Autos aufwirbelten. An Bewegung aber war in der drangvollen Enge kaum zu denken.

Dennoch versuchte Bonaventure nun, sich ein wenig nach vorne zu beugen, um den Nachrichtensprecher besser zu verstehen, dessen Stimme verzerrt aus den lädierten Lautsprechern des Autoradios schnarrte, immer wieder unterbrochen von statischen Störgeräuschen.

„… trat der Präsident vor die Journalisten und richtete Worte des Mitgefühls an die Opfer der Katastrophe. Außerdem versprach er schnelle Hilfe für alle, die zu Schaden gekommen sind oder gar ihr Zuhause verloren haben.“

„Ha!“, rief die Frau neben Bonaventure und klatschte so abrupt die Hände vor ihrem gewaltigen Busen ineinander, dass ihr Baby aufwachte und zu weinen begann. „Dieser alte Halunke! Auf dem Hügel, auf dem meine Schwester lebt, sind zwölf Häuser eingestürzt, und bis heute ist niemand gekommen! Niemand!“

Sie sah sich triumphierend unter ihren Leidensgenossen um.

„Natürlich ist niemand gekommen“, kam Zustimmung von einer der hinteren Bänke, „schließlich wird erst wieder in fünf Jahren gewählt.“

Einige Fahrgäste lachten grimmig.

„So ist es“, pflichtete die Frau ihrem für sie unsichtbaren Gesprächspartner bei, „und außerdem würden sie ihre schicken neuen Jeeps schmutzig machen, wenn sie zu uns aufs Land kämen.“

„Genau!“, kam es von hinten. „Und außerdem: Wer würde sich in der Zeit, in der sie weg wären, um ihre hübschen Sekretärinnen kümmern?“

In das erneute Lachen mischten sich nun anerkennende Pfiffe.

„Ich wüsste da jemanden!“, mischte sich ein zahnloser Greis aus der ersten Reihe ein, der gut und gerne siebzig Jahre alt sein musste und nun mit breitem Grinsen und blitzenden Augen über seine Schulter sah.

Jetzt johlten fast alle Passagiere, und selbst der Busfahrer schmunzelte hinter seiner schwarzen Sonnenbrille, während er mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen Lastwagen überholte, der sich nur langsam die Straße entlangquälte.

„… nach diesem Tag der nationalen Trauer“, war nun die sonore Stimme des Präsidenten aus dem Radio zu vernehmen. „Doch unser Land ist stark. Wir sind stark, meine Brüder und Schwestern! Stark genug, um auch diesen Schicksalsschlag zu meistern!“

„Ich weiß ja nicht, wer seine Brüder und Schwestern sind“, rief der Greis, „aber es beruhigt mich ungemein zu wissen, dass der Präsident und seine Geschwister diese schwere Zeit bewältigen werden!“

Im Bus gab es jetzt kein Halten mehr. Wohl überrascht von dem Heiterkeitsausbruch um es herum hatte das Baby aufgehört zu weinen und sah mit großen Augen zu seiner Mutter auf.

„… haben uns verschiedene europäische Länder und Hilfsorganisationen schnelle und unbürokratische Unterstützung angeboten – und wir werden die Hand, die uns unsere europäischen Freunde reichen, ganz sicher nicht wegstoßen!“

Bonaventure war der Einzige, der sich von der Stimmung im Bus nicht hatte anstecken lassen. Das Gelächter und Gejohle drang nur wie aus weiter Ferne zu ihm durch.

Unsere europäischen Freunde.

Und während Felder und Hütten in endloser Folge an den Fenstern des Busses vorbeizogen, wünschte Bonaventure, Familienvater, Ex-Chauffeur und Ex-Hausbesitzer, nichts mehr, als dass auch er welche hätte.

97 Minuten vor Sonnenaufgang

Sein Sturz schien eine halbe Ewigkeit zu dauern; dabei vergingen nur Sekundenbruchteile, bevor er mit dem Gesicht zuerst die Wasseroberfläche durchbrach und an die Stelle der Dunkelheit der Nacht absolute kalte Finsternis trat. Ein Strom aus Luftblasen entwich aus seinem Mund, als er einen Schrei ausstieß, den nur er selber hören konnte; verzerrt und erstickt von dem pechschwarzen Wasser, das sich sofort wieder über ihm geschlossen hatte. Panik durchfuhr ihn. Luft! Er brauchte Luft! Wild ruderte er mit Armen und Beinen, ohne zu wissen, wo oben und unten war. Seine Lungenflügel zuckten in dem vergeblichen Versuch, Sauerstoff anzusaugen. Luft! Rasende Angst erfüllte ihn, als ihm klar wurde, dass er seinen Atemreflex nicht mehr lange würde unterdrücken können.

Obwohl seine Bewegungen durch den Widerstand des Wassers stark verlangsamt waren, durchfuhr ein scharfer Schmerz seinen linken Arm, als er mit der Hand gegen einen Stein stieß. Der Grund! Das musste der Grund sein! Er strampelte, um seine Beine unter seinen Körper zu bringen. Das Brennen in seiner Lunge war jetzt unerträglich. Dann endlich, nach der Ewigkeit einiger Wimpernschläge, spürte er das weiche Sediment unter seinen Sohlen und stieß sich ab.

Er tauchte rund fünfzehn Meter entfernt von der Stelle auf, an der er in den Fluss gefallen war. Sein Herz raste, während er mit weit aufgerissenem Mund nach Luft schnappte. Der Fluss! Wie hatte er den Fluss vergessen können? Seine Stiefel schienen ihm schwer wie Findlinge, während er mit ihnen Wasser trat, um nicht wieder unterzugehen. Gehetzt sah er um sich. Der Wasserlauf schlängelte sich am Waldrand entlang. An der Stelle, an der er sich jetzt befand, war der Fluss vielleicht acht Meter breit. Ein paar kurze, kräftige Schwimmstöße später hatte er die Böschung erreicht und zog sich mit letzter Kraft an der Wurzel eines Baumes, der vom Wasser unterspült worden war, an Land.

Für einen Moment lag er zitternd im Regen, während die Panik allmählich ein wenig nachließ und seine immer noch schmerzenden Lungen Sauerstoff in seine Blutbahnen pumpten. Atmen. Einfach nur atmen. Über dem Rauschen des Wassers und seinem Keuchen war in der Ferne das Rattern einer Maschinenpistole zu hören. Es galt nicht ihm, das wusste er jetzt. Aber das machte es keinen Deut besser.

Trotzdem musste er verschwinden. Er rappelte sich auf und verlor beinahe das Gleichgewicht, als ihn die schnelle Bewegung für einen Augenblick schwindlig machte, doch er stützte sich gerade noch rechtzeitig mit ausgestrecktem Arm gegen den Baum, und kurz darauf hatte er sich wieder gefangen. Er warf einen letzten Blick zurück in die Dunkelheit, aus der er gekommen war. Noch einmal holte er tief Luft, bevor er entschlossen die wenigen verbleibenden Schritte in den Schutz der Bäume zurücklegte. Binnen Sekunden hatte ihn der Wald verschluckt.

7

Seit vier Tagen war Greta nun bereits fast ununterbrochen im Einsatz. Sie hatte Matratzen geschleppt, Wasser gebracht, Infusionen gelegt, Wunden ausgewaschen, Verbände gewickelt – und immer wieder versucht, der Verzweiflung derer, die alles verloren hatten, etwas entgegenzusetzen. Letzteres war am schwersten, denn auch wenn sie und ihre Familie körperlich unversehrt geblieben waren, war es ihr jedes Mal, wenn sie einem der Erdbebenopfer Mut zusprach, als blicke sie in einen Spiegel.

Greta war Krankenschwester; zumindest war das der Beruf, den sie erlernt und ausgeübt hatte, bis Bonaventure in ihr Leben getreten war. Das hieß, von Treten konnte eigentlich keine Rede sein; Humpeln wäre wohl der treffendere Begriff.

Die Krankenstation in ihrem Dorf war gebaut worden, als Greta gerade elf Jahre alt war und noch die Grundschule besuchte. Nach fünf Monaten Bauzeit wurde der schlichte Ziegelbau vom Bischof feierlich seiner Bestimmung übergeben. Das ganze Dorf war an jenem Sonntag auf den Beinen und verfolgte, größtenteils mit respektvollem Abstand, die Zeremonie, zu der neben dem Bischof sämtliche Würdenträger der Umgebung und sogar zwei weiße Frauen aus der Hauptstadt gekommen waren. Als schließlich am nächsten Tag das Personal in der Station seine Arbeit aufnahm, stand Greta gemeinsam mit einigen anderen Kindern, kaum dass die Schule vorbei war, auf Zehenspitzen an den Fenstern und verfolgte gebannt, was sich im Inneren des Gebäudes Geheimnisvolles tat.

Der erste Leiter der Krankenstation war, wie auch später alle seine Nachfolger, kein Arzt. Es gab kaum studierte Mediziner im Land und die wenigen, die einen Abschluss an der Universität gemacht hatten, blieben meist in den Städten, weil sich dort mehr Geld verdienen ließ als an einem entfernten Außenposten des jungen Gesundheitswesens wie in Gretas Dorf. Höchstens fünfundzwanzig Jahre alt, hatte der Mann erst wenige Monate, bevor er die Leitung der Krankenstation übernahm, seine Ausbildung zum medizinisch-technischen Assistenten an einer speziellen Schule im Norden des Landes abgeschlossen. Gemeinsam mit ihm traten zwei Krankenschwestern ihren Dienst an, und auch wenn das Trio bereits nach zwei Jahren mit Schimpf und Schande aus dem Dorf gejagt wurde, nachdem herausgekommen war, dass es einen regen und äußerst einträglichen Handel mit Medikamenten betrieben hatte, war es um Greta doch längst geschehen gewesen: Für sie war klar, dass sie – koste es, was es wolle – eines Tages auch solch einen makellosen weißen Kittel tragen würde wie die beiden diebischen Schwestern und ihr betrügerischer Vorgesetzter.

Gretas Eltern waren von dem Ansinnen ihrer Tochter wenig begeistert. Wäre es nach ihnen gegangen, hätte Greta jung geheiratet, am besten den Sohn eines wohlhabenden und einflussreichen Bauern; an geeigneten Kandidaten mangelte es jedenfalls nicht. Wie die meisten Menschen ihres Landstrichs lebte auch Gretas Familie selbst fast ausschließlich von dem, was ihr Boden hervorbrachte, und die Erkenntnis, dass ihre Tochter die Sicherheit, die ihrer Ansicht nach mit einem fruchtbaren Stück Land und seinen Bananenpalmen, Maniokpflanzen, Maisstauden und Bohnenranken einherging, einer vermeintlich fixen Idee zu opfern bereit war, machte ihren Eltern schwer zu schaffen. Zahlreiche heftige Streitigkeiten entzündeten sich an den verschiedenen Lebensentwürfen von Eltern und Tochter, und mehr als einmal flüchtete Greta vor den Zornesausbrüchen des Vaters mit tränennassen Augen in den Busch, wo sie sich viele Stunden lang versteckte.

Doch schließlich setzte Greta sich durch, und mit siebzehn Jahren begann sie die Ausbildung zur Krankenschwester am Krankenhaus der Provinzhauptstadt – eben jenem Ort, den ihr künftiger Mann gemeinsam mit seinem Bruder und dessen hochschwangerer Frau viele Jahre später nicht mehr rechtzeitig erreichen sollte, um das Leben eines ungeborenen Kindes zu retten.

Die drei Jahre ihrer Ausbildung waren eine erfüllte, aber auch eine harte Zeit. Greta hatte nicht geahnt, wie viele Krankheiten die Welt zu bieten hatte, doch sie lernte schnell. In den Betten lagen Malariakranke mit heißen Gesichtern und kaltem Schweiß auf der Stirn; ständig musste sie die Wäsche der Typhuspatienten wechseln, die oft ihren Stuhl nicht mehr halten konnten. Ähnlich erging es denen, deren Innereien von Würmern befallen waren, und ein Choleraausbruch sorgte in ihrem zweiten Jahr dafür, dass der Krankenhausbetrieb unter dem Ansturm der Infizierten zusammenbrach. Und immer wieder die, über deren Krankheit in den Dörfern niemand sprechen wollte – ganz so, als könne das bloße Aussprechen des Namens schon eine Infektion bedeuten –, und die, wenn sie im Krankenhaus ankamen, längst dem Tod geweiht waren; zumeist genauso wie ihre Frauen und Kinder, denen sie das Virus weitergegeben hatten.

Oft konnte sich Greta nach dem Ende ihrer Schicht kaum noch auf den Beinen halten. Doch die vielen Menschen, denen bei allem Elend geholfen werden konnte, waren ihr Antrieb genug, die Zähne zusammenzubeißen und weiterzumachen.

Als sie schließlich in ihr Dorf zurückkehrte und dort in der Krankenstation ihren Dienst aufnahm, war sie zwanzig Jahre alt. Ihre Eltern hatten sich mittlerweile damit abgefunden, dass ihre zweitjüngste Tochter keine Bäuerin werden würde; gelegentlich schien es sogar, als seien sie ein bisschen stolz auf Greta und die Arbeit, die sie für die Menschen im Dorf und den umliegenden Hügeln verrichtete. Doch dass sie immer noch ledig war und – viel schlimmer – zudem jeden Kandidaten vehement ablehnte, den ihre Eltern ihr hoffnungsvoll präsentierten, bereitete ihnen große Sorgen.

Eines Tages – Greta hatte gerade ihre Schicht begonnen und war dabei, einer älteren Frau eine Infusion zu legen – polterte es an der Tür. Als sie sich umdrehte, sah sie drei junge Militärs aus dem Regen über die Schwelle treten. Im Jahr zuvor war der Bürgerkrieg ausgebrochen, und Soldaten gehörten wie selbstverständlich zum Bild, das der Alltag jener Zeit bot. Der große, schlanke Mann in der Mitte wurde von den beiden anderen gestützt und bot einen bemitleidenswerten Anblick. Seine Uniform war auf dem Rücken mit einer Kruste aus rotbrauner Erde überzogen. Seine Nase war unförmig geschwollen, aus einer Wunde in seinem Gesicht lief Blut über Wangen und Kinn, und er schien nicht in der Lage, mit dem rechten Bein aufzutreten.

Wie seine Begleiter erzählten, waren sie auf der Durchreise zu ihrem Stützpunkt gewesen, als sie unweit des Dorfes Probleme mit ihrem Jeep bekommen hatten. Der Fahrer – der Mann mit dem malträtierten Kopf und Bein – hatte das Fahrzeug aufgebockt und war darunter gekrochen, um herauszufinden, wo das Problem lag. Dann, als er der Länge nach unter dem Jeep lag, musste der Wagenheber auf der feuchten Piste weggerutscht sein, jedenfalls war das Auto heruntergekracht. Dabei hatte ihn die Antriebswelle im Gesicht getroffen; noch schlimmer aber, das sah Greta gleich, war es um seinen Fuß bestellt, der vom rechten Hinterrad des Jeeps erwischt worden war.

Bonaventure blieb eine Woche in der Krankenstation. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sein Fuß zwar gebrochen, aber Gelenke und Bänder wie durch ein Wunder heil geblieben waren, und während seine Nase langsam abschwoll und die Wunde an seinem Kopf zu verheilen begann, stellte Greta fest, dass sie bislang unbekannte, aber durchaus äußerst angenehme Gefühle für den zurückhaltenden, hochgewachsenen Soldaten entwickelte, der so ganz anders war als die Männer, die sie bis dahin kennengelernt hatte. Mit seinen vierundzwanzig Jahren war Bonaventure vier Jahre älter als sie, doch er hatte nichts von der selbstverliebten Aufdringlichkeit, die vielen Männern seines Alters eigen war. Wenn er sprach, tat er dies mit leiser und sanfter Stimme; überhaupt schien er lieber zuzuhören, als selbst zu reden. Sein Blick war ruhig und offen, fast immer sah er seinem Gesprächspartner in die Augen, und stets schien der Anflug eines Lächelns seine Lippen zu umspielen. Nie beklagte er sich, wenn der Leiter der Krankenstation seinen Fuß untersuchte oder wenn Greta oder eine ihrer Kolleginnen seine Wunde mit Jod versorgten, obwohl er beträchtliche Schmerzen haben musste. Und das ganz sicher nicht zum ersten Mal in seinem Leben, wie Greta und dem Arzt sofort aufgefallen war, als sie Bonaventure nach seiner Ankunft in der Krankenstation aus seiner tarnfarbenen Hose geschnitten hatten. Denn in seiner linken Kniekehle kündete eine lange dicke Narbe von einer schlecht verheilten Verletzung, die noch nicht lange zurückliegen konnte. In dem einen Jahr, das sie nun als Krankenschwester in der kleinen Station diente, hatte Greta genug Kriegsversehrte gesehen, um zu wissen, wie eine Wunde aussah, die ein Buschmesser geschlagen hatte. Und tatsächlich schien sein Bein Bonaventure immer noch Probleme zu bereiten; nicht nur einmal beobachtete Greta ihn dabei, wie er gedankenverloren die Sehnen abtastete, die der geschliffene Stahl durchtrennt haben musste.

Bonaventure stammte aus einem Dorf im Süden des Landes, doch unmittelbar nach dem Ende seiner Schulzeit hatte er achtzehnjährig seine Heimat verlassen, war zum Militär gegangen und dort Fahrer geworden. Hätte er damals gewusst, dass sein Land nur vier Jahre später in Hass und Gewalt versinken und er sich schon bald im Epizentrum des Wahnsinns wiederfinden würde – er hätte seine Entscheidung wohl noch einmal überdacht.

Seine Vorgesetzten hatten rasch Bonaventures Zuverlässigkeit erkannt, und bald war er ständig im ganzen Land unterwegs, chauffierte Offiziere und Generäle und durfte einmal sogar die Eskorte des Präsidenten anführen. Es war eine steile Karriere für einen jungen Mann aus bitterarmen Verhältnissen, doch Bonaventure kokettierte niemals damit. Ganz im Gegenteil erschien er Greta gerade in seiner stillen Art klüger und aufmerksamer, als es Männer seines Alters für gewöhnlich waren.

Nachdem Bonaventure aus der Krankenstation entlassen worden war und er einige Monate später wieder seine Arbeit hatte aufnehmen können, besuchte er Greta, wann immer ihn seine Fahrten in die Nähe des Dorfes führten. Auch ihm war die junge Krankenschwester nicht entgangen, die sich so fürsorglich um ihn gekümmert hatte und deren Hand immer einen Wimpernschlag länger auf seinem Gesicht geruht hatte, wenn sie seine Wunde reinigte, als es nötig gewesen wäre. Es gelang ihm, seine Vorgesetzten von den Vorzügen der kleinen Bar am Ortsrand zu überzeugen, die sie bald regelmäßig auf dem Heimweg zu ihrem Stützpunkt aufsuchten, um sich den Feierabend mit dem einen oder anderen Schluck Bananenwein zu versüßen. Bonaventure gab das die Gelegenheit, Greta in der Station zu besuchen oder – wenn ihre Schicht schon vorüber war – einen Spaziergang mit ihr durch das Dorf zu machen, während zahlreiche kleine Feuerstellen der milden Abendluft ihren vertrauten rauchigen Duft verliehen.