Recht haben - Thomas Fischer - E-Book

Recht haben E-Book

Thomas Fischer

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Beschreibung

Streitbar, unterhaltsam, eigensinnig: das deutsche Strafrechtssystem auf dem Prüfstand  Thomas Fischer ist einer der brillantesten und gefürchtetsten Kommentatoren der deutschen Strafrechtssprechung. Seine Fallanalysen, seine Medienkritik und sein messerscharfer Verstand sind legendär. Von 2019 bis Frühjahr 2021 kommentierte er für den SPIEGEL wöchentlich mit riesigem Erfolg das Geschehen in und vor deutschen Gerichtssälen. Immer wieder im Fokus stand dabei der Konflikt zwischen Gesetzestext und der gefühlten Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung. Die erfolgreichsten und wichtigsten seiner Kolumnen hat er nun überarbeitet und aktualisiert. In der Gesamtschau geben sie eine streitbare, intelligente und höchst unterhaltsame Antwort auf die Frage aller Fragen: Wer hat Recht? Der ehemalige Bundesrichter Thomas Fischer ist einer der profiliertesten Experten der deutschen Strafrechtsdogmatik und -praxis. Ohne Scheuklappen widmet er sich kontroversen Themen, so unter anderem: Strafvollzugssystem, Justizsystem, Strafprozess, Verfassung, Immigration und Sicherheit, Kriminalpolitik und Kriminologie, Strafrechtssystem, Gesellschaft, Rechtskultur, Feminismus, Sexualstrafrecht, Rechtssystem, Rechtsradikalismus, Medien, Rezensionen, Corona-Pandemie Die in diesem Buch neu zusammengestellte Sammlung von Thomas Fischers besten und meistdiskutierten SPIEGEL-Kolumnen ist nichts weniger als ein Gesellschaftsporträt durch die Linse des Strafrechts und des Rechtssystems, verfasst von einem der intelligentesten Kommentatoren bundesrepublikanischer Gegenwart.   »Seine Kolumnen vermitteln Sachkunde, Offenheit und tiefe Menschlichkeit. Wer Thomas  Fischer liest, lernt das Rechtssystem lieben«. Stefan Kuzmany, SPIEGEL

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Thomas Fischer

Recht haben

Vermischtes aus der Welt des Strafrechts

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Thomas Fischer ist einer der brillantesten und gefürchtetsten Kommentatoren der deutschen Strafrechtsprechung. Seine Fallanalysen, seine Medienkritik und sein messerscharfer Verstand sind legendär. Von 2019 bis Frühjahr 2021 kommentierte er für den SPIEGELwöchentlich mit riesigem Erfolg das Geschehen in und vor deutschen Gerichtssälen. Immer wieder im Fokus stand dabei der Konflikt zwischen Gesetzestext und der gefühlten Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung. Die erfolgreichsten und wichtigsten seiner Kolumnen ergeben in der Gesamtschau eine streitbare, intelligente und höchst unterhaltsame Antwort auf die Frage aller Fragen: Wer hat recht?

Inhaltsübersicht

Vorwort

Recht und Meinung

Verstümmelte Körper, verstümmelte Wahrheit

Vollrausch, Tötung,Geldstrafe

Wie viel Strafe muss sein?

Die Mühlen der Justiz

Gestehen Sie!

Krähen sind unter uns

Welterklärer, Problemerfinder, Bedenkenträger

Wahrheit im Prozess

Genau gegen Willkür

Nicht jeder wird gefragt. Aus Gründen

Heimat und Fremde

Alberne Panikattacken

Politische und andere »Ehrenmorde«

Halb stark

Verbrechen und Strafe

Sterben und sterben lassen

Die Gefahr geht von den Menschen aus

Kinder als Opfer, Kinder als Täter

Gesetz und Gesellschaft

Entscheidend ist aufm Podium

Die Macht der Kinder

Täterfilme, Opferbilder

Die Welt als Gefühl

Sex and Crime

Pornografie und Keuschheit

Das Leiden der anderen

Trockensumpf

Das Recht in Zeiten der Pandemie

Endlich frei!

Corona, Staat und Winterzeit

Veröffentlichungsnachweis

Vorwort

Dies ist eine Sammlung von Kolumnen, die zwischen Sommer 2018 und Frühjahr 2021 unter dem Titel »Recht haben« digital im SPIEGEL erschienen sind. Es handelt sich um 23 Texte aus verschiedenen Themenbereichen. Die Kriterien, nach denen sie aus etwa 100 ausgewählt wurden, sind nicht auf Objektivität ausgerichtet und nicht unter dokumentarischen Gesichtspunkten gewählt. Manche Texte gefielen dem Autor gut, manche stießen auf große positive oder negative Resonanz, über manche wurde von Lesern besonders interessant diskutiert. Gelegentlich trafen diese Kriterien zusammen. Man hätte auch andere Texte wählen können. Von einem »best of« könnte nur gesprochen werden, wenn die Grundgesamtheit »gut« wäre. Das zu beurteilen ist aber nicht Sache des Autors.

Texte sind Inhalt und Form, Information und Kunst, Kontakt und Selbstdarstellung, Kommunikation und Bedeutung. Im Lärm funktionalisierenden Geplappers scheint es mir wichtig, darauf zu beharren, dass Sprache Bedeutung hat, Eigenleben, Sperrigkeit, Untiefen, Ebenen. Also Unsicherheiten, deren Erkenntnis Verantwortungsgefühl für das eigene Sprechen und Handeln erzeugen kann.

Eigentlich gehören die Texte und die jeweils dazu entstandenen »Foren« mit Leserkommentaren und -diskussionen zusammen. In manchen Fällen erweckten die Foren-Diskussionen den Text zu einem zweiten, jedenfalls auch wahren Leben. Dies waren erfreuliche Erlebnisse, weil Kommunikation und Diskussion um der Sache willen, Erkennen von Missverständnissen und ihre Auflösung, Konfrontation mit dem Ungewohnten und Aufzeigen von Perspektiven aus einer Verbindung von auf den ersten Blick nicht Zusammenpassendem eine mir wichtige Zielsetzung ist.

Deshalb ist dieses Buch den »Foristen« des SPIEGEL gewidmet, die mit mir gesprochen, gestritten und gelitten, ihr Engagement und ihre Zeit freiwillig und mit erstaunlicher Kraft der Sache des Miteinander-Sprechens gewidmet haben. Ich habe überlegt, einige Teile von Forums-Diskussionen zu veröffentlichen. Aber Platz und Zeit sind begrenzt. Deshalb beschränke ich mich darauf, allen für Belehrung, Kritik, Korrektur, Lob, Witz, Ausrutscher und Neuigkeiten zu danken. Stellvertretend also herzlichen Dank: an nil admirari und noergla, fotobiene und MDeeg, Verena Ramona und Rocco, ThorstenH und HeinzW, an X5DL7zdc2 m … und viele andere in den Höhen und Tiefen des Internet-Alls.

 

November 2021 Thomas Fischer

Recht und Meinung

Verstümmelte Körper, verstümmelte Wahrheit

(31.08.2018)

»Terre des Femmes« ist ein deutscher Verein aus Berlin mit etwa 2000 Mitgliedern und einem Namen, der global klingt. Ende Juli 2018 hat dieser Verein der Presse seine jährliche »Dunkelziffer-Statistik« zur Lage der Genitalverstümmelung in Deutschland mitgeteilt. Die Welt meldete dazu am 26. Juli:

»Genitalverstümmelung bei Frauen ist auch in Deutschland ein Problem, obwohl sie seit fünf Jahren verboten ist. Laut Bundesfamilienministerium gab es im vergangenen Jahr Zehntausende Fälle. Die Dunkelziffer könnte weit höher sein.«

Worum geht es?

Am 28. September 2013 ist § 226a StGB (»Verstümmelung weiblicher Genitalien«) in Kraft getreten. Die Tat ist mit Freiheitsstrafe von einem bis 15 Jahren bedroht; auch Versuch, Anstiftung, versuchte Anstiftung und Beihilfe sind strafbar. Zur Begründung des Tatbestands wurde vielfach darauf hingewiesen, dass die Zahl der in Deutschland Betroffenen ständig zunehme. Presseberichte verweisen bis heute darauf, dass die Tat »seit fünf Jahren strafbar« sei. Das ist falsch. Die Tat war schon immer strafbar, nämlich als »gefährliche« (Strafe sechs Monate bis zehn Jahre) oder »schwere Körperverletzung« (Strafe bis 15 Jahre). Sie hat 2013 nur einen neuen Namen und eine neue Ziffer bekommen. Neu ist, dass seither einzelne Fälle von Auslandstaten (von Ausländern im Ausland) dem deutschen Strafrecht unterfallen (§ 5 Nr. 9a Buchstabe b StGB).

Die sogenannte Beschneidung von Mädchen ist eine nicht immer, aber häufig schwerwiegende Körperverletzung, die oft zu erheblichen physischen und psychischen Leiden und Folgeschäden führt. In den Ländern und Kulturkreisen, in denen sie praktiziert wird (sehr häufig zum Beispiel in Somalia, Ägypten), ist sie ideologisch mit einer Abwertung weiblicher Personen zu Objekten von Herrschaft verbunden, sozial mit Mangel an Bildung und Möglichkeiten personaler Freiheit. Es besteht kein Zweifel daran, dass der Sache selbst und den Bedingungen, die sie hervorbringen, nach Kräften entgegengewirkt werden sollte.

In Deutschland lebt eine unbekannte Anzahl von weiblichen Personen, die aus fremden Kulturkreisen stammen und dort vor ihrer Migration Opfer von Beschneidungen wurden. Weiterhin leben hier Töchter von Migrantinnen aus entsprechenden Kulturkreisen, die nicht beschnitten sind; sie sind entweder mit ihren Müttern nach Deutschland gekommen oder hier geboren. Ziel von schützenden Bemühungen muss daher sein, den Umfang der Beschneidungspraxis in den Herkunftsländern zu verringern und zu verhindern, dass in Deutschland lebende unbeschnittene Mädchen nachträglich – aufgrund Festhaltens an heimatlichen Bräuchen – beschnitten werden.

Worte

Der Begriff »Verstümmeln«, den das Gesetz verwendet, klingt überraschend konkret. Er wird im StGB sonst nicht verwendet; nur in § 17 des Wehrstrafgesetzes: »Wer sich selbst oder einen anderen Soldaten mit dessen Einwilligung durch Verstümmelung … zum Wehrdienst untauglich macht oder machen lässt, wird … bestraft.« Der Begriff hat eine abwertende Bedeutung; »Verstümmeln« ist keine neutrale Tätigkeitsbeschreibung: Die Tätigkeit von Chirurgen wird nicht als »Verstümmeln« bezeichnet, selbst wenn es sich um Zehenamputieren oder Magenverkleinern handelt; Medizinstudenten belegen keine Praktika, die »Einführung in das Verstümmeln« heißen. Körperverletzungen »mittels gefährlichem Werkzeug« (§ 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB) nennt der Gesetzgeber sogar dann nicht »Verstümmeln«, wenn sie den Verlust von Armen, Beinen oder Ohren zur Folge haben. Nur wenn es um Genitalien geht, gerät die Sprache des Strafgesetzbuchs ins Moralisch-Bildhafte.

»Genitalverstümmeln« ist eine chirurgische Maßnahme an primären Geschlechtsmerkmalen. Die praktisch häufigste Form ist die sogenannte Beschneidung bei männlichen Personen (Abschneiden der Penisvorhaut). Die häufigste Genitalverstümmlung bei weiblichen Personen ist das Entfernen der Klitoris und/oder der kleinen Schamlippen; gelegentlich auch nur von Teilen. Folgen und Risiken solcher Handlungen für Leben, Gesundheit, Sexualität und Lebensqualität sind für weibliche Personen durchweg gravierender als für männliche. Die Praxis der Verstümmelung weiblicher wie männlicher Genitalien stützt sich legitimatorisch auf Brauchtum, sexualpolitische Postulate und/oder angebliche göttliche Befehle.

Neben den genannten ritualisiert-formalen gibt es aber natürlich auch andere »Verstümmelungen« von Genitalien, die dem Begriff genauso unterfallen; es ist – zurückhaltend ausgedrückt – erstaunlich, dass sie im (straf-)rechtlichen Niemandsland angesiedelt bleiben. Ein Gefangener, dem man bei »verschärfter Befragung« einen Hoden zerquetscht oder in die Eichel schneidet, dürfte zu Recht empört sein, dass der deutsche Gesetzgeber seinen Fall nicht als »Genitalverstümmelung« erfasst und daher wesentlich geringer bestraft als das (sog. »milde«) Entfernen der Klitorisvorhaut ohne weitere Folgen.

Dasselbe gilt für Frauen, denen schwere Verletzungen etwa an den Brüsten zugefügt wurden. Das gegen den Willen und gewaltsam durchgeführte Unfruchtbarmachen einer Frau ist mit Höchststrafe von zehn Jahren bedroht, das einverständliche Entfernen ihrer Klitorisvorhaut mit Höchststrafe von 15 Jahren. Eine Rechtfertigung für solch abwegige Fehlgewichtungen fällt mir nicht ein. Die nach dem Geschlecht des Opfers differenzierende unterschiedliche Behandlung von schweren Körperverletzungstaten gegen Frauen und Männer ist mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Grundgesetz nicht vereinbar. Hierauf könnte sich jeder berufen, der in Anwendung von § 226a StGB verurteilt wird.

Die Sonderform der Genitalverstümmelung an männlichen Personen – das Abschneiden der Penisvorhaut – ist seit 28.12.2012 nicht nur nicht verboten, sondern ganz ausdrücklich erlaubt. § 1631d Abs. 1 Satz 1BGB (»Beschneidung des männlichen Kindes«) lautet:

»Die Personensorge umfasst auch das Recht, in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll.«

Einwilligungsunfähigen männlichen Kindern darf somit gegen ihren Willen unter (ggf. gewaltsamer oder auf Täuschung beruhender) Durchsetzung der »Personensorge« auf Anordnung der Eltern die Penisvorhaut abgeschnitten werden. Wegen der Verpflichtung des Staats zur religiösen Neutralität gilt das auch nicht etwa nur, wenn die Eltern glauben, dass Gott und seine Propheten das gebieten, sondern auch für jedes andere Motiv: Verschönerung, Reinlichkeitsvorsorge, Mode usw. Jeder Personensorgeberechtigte darf seinem zwölfjährigen Sohn sagen, er werde nun zwecks Entfernung der Rachenmandeln kurz betäubt, und ihm stattdessen die Penisvorhaut abschneiden lassen.

Die Bundeskanzlerin fand zur Begründung dieser Rechtslage im Jahr 2012, nachdem ein Landgericht die Sache infrage gestellt hatte, das schöne Argument, sie beabsichtige nicht, sich »im Ausland lächerlich zu machen«. Sie meinte, dass ein Verbot der Knabenbeschneidung sich in Deutschland nicht gehöre – weil sie ein auch jüdischer Brauch ist und die Bundesrepublik sich da heraushalten sollte.

Das ist ein erwägenswertes Argument, scheint mir aber auf dem Niveau einer Wahl zwischen Lächerlichkeit oder Nichtlächerlichkeit der Frau Bundeskanzlerin noch nicht ganz ausgelotet. Im Übrigen passt es ja auch inhaltlich und strukturell überhaupt nicht in die übrige Rechtslandschaft: Beim Verbot der Mädchenbeschneidung ist es der Bundeskanzlerin zum Glück völlig gleichgültig, ob sie sich in Äthiopien »lächerlich macht«. Und selbst im rituell-religiösen Bereich ist die Sache nicht eindeutig: Man darf in Deutschland zum Beispiel nicht schlachten, heiraten oder vererben, wie man will, wenn man nur fromm genug ist: Man darf also seinem Sohn die Vorhaut ab-, aber nicht einem Schaf den Hals durchschneiden. Muslimische Familienoberhäupter, die ihre halbwüchsigen Töchter durch Androhung von Hausarrest nötigen, ihr Haar zu verhüllen, werden mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft (§ 240 Abs. 1 StGB). Die Einbestellung eines religiösen Knabenbeschneiders dagegen wird als fröhliches Familienfest begangen und genießt den ausdrücklichen Schutz des § 1631d BGB. Draußen vor der Tür diskutiert die deutsche Bürgerschaft derweil erbittert, ob und welche Strafen erwachsenen Menschen für das Tragen von albernen Kleidungsstücken (»Ganzkörperschleier«, »Burkini«) auferlegt werden sollen.

Schutzbereiche

Wir reden – insoweit – über Strafrecht. Dessen Vorschriften über Körperverletzung sollen die körperliche Integrität schützen, nicht die Moral. Es ist dies ein Rechtsgut, über das die Person in weitem Umfang frei disponieren kann, wie man bei Besichtigung deutscher Körper im Jahr 2018 erkennen kann: Der Mensch darf einwilligen, gezielt nikotin- und alkoholsüchtig gemacht zu werden, sich Intimpiercings setzen, die Lippenschleimhaut nach außen stülpen, den Magen halbieren, die Nase durch Silikon oder die Aorta durch Schweine-Werkstoff ersetzen zu lassen. Er darf einwilligen, sich großflächig mit bunten Bildern tätowieren zu lassen, deren Farbstoffe in die Lymphknoten wandern und dort die Krankheiten verursachen, deren Behandlung in 30 Jahren 150000 Euro pro Patient und Jahr kosten.

Man darf als halbwegs erwachsener, eigenverantwortlicher Mensch selbstverständlich auch in eine Vorhautbeschneidung einwilligen. Es gibt – bis zur Grenze der »Sittenwidrigkeit« (§ 228 StGB) – keinen Grund, warum ein einsichtsfähiger Mensch von Staats wegen und durch Strafandrohung daran gehindert werden sollte, in medizinisch unnötige chirurgische »Verschönerungen« seiner/ihrer Genitalien einzuwilligen. Es gibt aber keinen Grund, das Menschenrecht auf Selbstbestimmung und körperliche Integrität ausgerechnet auf Kosten wehrloser Kinder außer Kraft zu setzen, bloß weil sogenannte »Gläubige« behaupten, es handle sich um eine vom Herrn des Universums erlassene Verwaltungsvorschrift.

Die Frage reicht übrigens noch weiter in den Untergrund: Was ist, wenn Frauen in sog. »milde« Beschneidungen einwilligen? Sind solche Erklärungen stets (wegen »Sittenwidrigkeit«) unwirksam? Wenn ja: warum?

Zahlen

»Dunkelziffer« ist ein Phänomen, das sich vor allem durch das »Dunkel«, also das Nichtbekannte, auszeichnet. »Statistik« ist ein Begriff, der definitionsgemäß im »Hellfeld« liegt. Eine »Statistik« über eine unbekannte Größe ist also eigentlich ein Widerspruch in sich, jedenfalls ein heikles Unterfangen, das jedem Sozialforscher den Angstschweiß auf die Stirn treiben muss. Wenn man das als kleiner Verein jährlich (und unter Einsatz einer Referentin) absolvieren will, muss man entweder genial sein oder den Anspruch extrem niedrig halten. Die Sache lohnt einen vertieften Blick.

Die »Dunkelzifferstatistik« von »Terre des Femmes« ist schon an sich ein Phänomen. Von der Presse wird sie überdies zu teilweise wundersamen Meldungen verarbeitet. Beispiel Welt,21. März 2018:

Headline: »In Deutschland droht 50000 Frauen Verstümmelung (…)« Text: Auf zunehmende ›Ferienbeschneidungen‹ hat der Gesetzgeber 2013 reagiert: Wenn in Deutschland gemeldete Mädchen zur Genitalverstümmelung vorübergehend ins Ausland gebracht werden, bleibt diese Tat unabhängig vom Recht des Tatorts strafbar. Vor allem gegen die Eltern kann wegen Beihilfe ermittelt werden. ›Der Arzt ist Mittäter gemeinsam mit den Eltern‹, so der Sprecher des NRW-Justizministeriums.«

Die Meldung enthält überwiegend Unsinn. Welchen 50000Frauen die Tat »droht«, warum und durch wen, und woher man das weiß, bleibt unklar. Wie der Gesetzgeber eine »Zunahme« von sogenannten Ferienbeschneidungen festgestellt hat, erfährt man ebenso wenig – abgesehen davon, was mit »Zunahme« überhaupt gemeint sein soll: Zunahme pro Zeiteinheit? Wie viele wurden pro Jahr gezählt, vorher und nachher? Von wem? Vor diesem Hintergrund erscheint der Anfängerfehler, »Mittäter« könnten nun »wegen Beihilfe« verurteilt werden, lässlich.

Auch andere Leitmedien berichteten immer einmal wieder. SPIEGEL ONLINE zitiert am 6. Februar 2017 eine »Studie des Familienministeriums« mit 47000 Opfern, erhöht am 18. Juli 2017 »Terre des Femmes« zitierend auf 58000 betroffene Frauen und »mindestens« 13000 weitere gefährdete Mädchen. In der Welt sind es im Juli 2018 laut »Terre des Femmes« und dessen Referentin Charlotte Weil vorerst abschließend 65000 in Deutschland betroffene Mädchen und Frauen, »Tendenz steigend«.

Jährlich 65000 Opfer ist eine gewaltige Zahl. Warum liest man so selten von Verurteilungen? Wie viele »Ferienbeschneidungen« wurden seit 2013 registriert und verfolgt? Wie kommen die statistischen Zahlen zustande? Die Antwort, man ahnt es schon, ist irgendwie schwierig und bleibt im eher Unbestimmten, aber auch dafür gibt es einen guten Grund:

»In Deutschland gibt es nach Einschätzung von Sicherheitsbehörden eine ›Schweigespirale‹ und ›Parallelstrukturen‹. Ein leitender Beamter des Düsseldorfer Landeskriminalamts (LKA) vermutet, ›dass die Community hierzulande über ihre eigenen Ärzte verfügt, die via Mundpropaganda solche Beschneidungen durchführen‹«.

Zwischendurch Zahlen, die mit den genannten eher nicht zusammenpassen und ihrerseits neue Fragen aufwerfen:

»572 Fälle von Genitalverstümmelung sind im Jahr 2016 in Hessen erfasst worden. Das geht aus einer Antwort des Sozialministeriums in Wiesbaden auf eine Kleine Anfrage der SPD-Landtagsfraktion hervor (…) In der polizeilichen Kriminalstatistik werden solche Fälle nicht eigens aufgelistet. Genitalverstümmelung falle dort unter den Oberbegriff der Körperverletzung, so das Ministerium. Zur Anzahl oder Herkunft der betroffenen Frauen könne daher nichts gesagt werden« (Welt,17.01.2018). Die Meldung der Frankfurter Rundschau vom 12.01.: »In Hessen gibt es Hunderte verstümmelte Frauen«, klingt anders, ist aber genauso falsch.

In der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) für 2016 war die Genitalverstümmelung allerdings durchaus »aufgelistet«, und zwar unter der Tatziffer 222040. Vielleicht hat sich das noch nicht bis ins Sozialministerium herumgesprochen.

Warum dieses und nicht das Innenministerium die Auskunft erteilte, erfährt man, wenn man die Drucksache 19/5458 des Hessischen Landtags einfach einmal nachliest – eine Mühe, für die eine Redaktion vielleicht keine Zeit mehr hat: Es handelte sich nicht etwa um Strafanzeigen, sondern um Meldungen von Ärzten über gesetzlich krankenversicherte Frauen, bei denen – zufällig und aus irgendeinem Untersuchungsanlass – eine früher einmal vollzogene Beschneidung festgestellt wurde. Wie viele Frauen »in Hessen leben«, weiß dadurch natürlich kein Mensch, ebenso wenig, wie viele Ärzte solche Meldungen schreiben, woher die Frauen kamen, wie alt sie sind, wann und wo und durch wen die Beschneidungen stattfanden usw. Die Zahl 572 ist zwar irgendwie richtig, hat aber keine Bedeutung, da jeder Bezugspunkt fehlt.

»Studienlage«

Die Süddeutsche Zeitung führte im Februar 2017 ein Interview mit der zuständigen »Terre des Femmes«-Referentin Charlotte Weil, einer 28-jährigen »Bachelor-Regionalwissenschaftlerin, Schwerpunkt Afrika«:

SZ: »(Sie haben) bekannt gegeben, dass 13000 in Deutschland lebende Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht sind – 4000 mehr als vor einem Jahr. Wie kommt es zu dieser Zahl?« Weil: »Der hohe Anstieg geht vor allem auf Flüchtlinge aus Eritrea, Somalia und dem Irak zurück. 2700 der gefährdeten Mädchen stammen allein aus Eritrea«. SZ: »Wie können Sie das so genau wissen?« Weil: »Es ist eine Hochrechnung.«

Fragen und Antworten passen hier nicht zusammen, denn entscheidende Informationen fehlen: Was bedeutet »Der hohe Anstieg geht zurück auf…«? Was hat ein Anstieg der Migrantenzahl mit dem Anstieg der Bedrohungszahl zu tun?

Am 27. Juli 2018 meldete die Welt, es habe »im vergangenen Jahr Zehntausende Fälle« gegeben, und interviewte gleichfalls Frau Weil. Welt: »Frau Weil, warum leben in Deutschland immer mehr genitalverstümmelte Frauen und Mädchen?« Weil: »Seit 2015 sind viele Menschen nach Deutschland geflüchtet, in deren Herkunftsland Genitalverstümmelung sehr stark praktiziert wird.«

Überschriften, Fragen und Antworten liegen auf unterschiedlichen Realitätsebenen: Die Presseüberschriften sind daher irreführend. Die angeblich »im vergangenen Jahr Zehntausende Fälle« in Deutschland sind, entgegen dem erzeugten Eindruck, nicht etwa Fälle von hier begangenen Straftaten, sondern – allenfalls! – eine Schätzung von Straftatopfern aus längst vergangenen (und nicht strafbaren) Taten. Die Behauptung, es gebe »Anhaltspunkte für eine weit höhere Dunkelziffer«, steigert die Unklarheit nochmals, denn schon die Ausgangsschätzung ist ja eine bloße Hochrechnung. Wenn es also ernsthafte Anhaltspunkte für eine »weit höhere« Dunkelziffer gäbe, wäre die veröffentlichte falsch.

»Terre des Femmes« kommt im Jahr 2018 auf 64800 »Betroffene« und 15500 »Gefährdete«. Die Methode dieser »Statistik« ist die folgende: Es werden Anzahl und Herkunftsland von in Deutschland lebenden nichtdeutschen weiblichen Personen ermittelt. Aus (wie auch immer ermittelten) Schätzungen der UNESCO über den – möglichen – Anteil der in den Herkunftsländern beschnittenen Frauen errechnet der Verein dann die geschätzte Anzahl der (in schon beschnittenem Zustand) nach Deutschland eingereisten Personen. Dies sind diejenigen, die als »Betroffene« und als »Zehntausende von Fällen« bezeichnet werden. Keine von ihnen ist ein Fall, der sich in Deutschland ereignet hat und nach deutschem Recht strafbar ist. Ob die eingereisten Frauen tatsächlich beschnitten sind, weiß man nicht, denn selbstverständlich werden Migrantinnen danach nicht untersucht. Die Lücke zwischen den Hochrechnungen und den Feststellungen liegt irgendwo im Dunkel von 65000 geschätzten (im Bund) und 570 festgestellten (in Hessen) Fällen.

Geradezu abenteuerlich wird die Zahl der »gefährdeten Mädchen« bestimmt: Hier wird für die Statistik unterstellt, dass sich in jeder Immigrantengeneration die Zahl derjenigen, die den Beschneidungsbrauch der alten Heimat praktizieren, halbiere. Man nimmt sodann die (geschätzte!) Zahl der nicht beschnittenen Mädchen unter 18 Jahren, prüft, welcher »Immigrantengeneration« sie angehören, multipliziert Zahl und Faktor, und hat – schwups! – die Zahl der »Bedrohten«. Das kann man glauben, muss es aber nicht. Woher die »Halbierungsregel« stammt, anhand welcher kultureller Eigenarten und in welchem Land sie ermittelt wurde, weiß man nicht. Vielleicht stammt sie aus Untersuchungen über bayerischen Volkstanz in Kanada oder über den Verzehr heimatlicher Speisen durch Koreaner in New York. Dass es irgendeine »Statistik« darüber geben könnte, wie viele emigrierte Afrikanerinnen (aus derzeit 56 Staaten) in der jeweils neuen Heimat in welcher Generation wie viel Prozent ihrer mitgebrachten oder neu geborenen Töchter »beschneiden« lassen, halte ich für schwer vorstellbar.

Es liegt überdies auf der Hand, dass die Zahlen mit erheblichen Unsicherheiten belastet sind:

Ob die geschätzten Verbreitungszahlen aus den Herkunftsländern stimmen, weiß man nicht; sie dürfte sich dort etwa zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung deutlich unterscheiden.

Ob die in Deutschland lebenden Migrantinnen dem sozialen Durchschnitt der Frauen in den Herkunftsländern entsprechen (also etwa aus armen, ländlichen Gegenden mit sehr geringem Bildungsniveau stammen), weiß man nicht; es erscheint eher zweifelhaft.

Mädchenbeschneidungen finden in der Regel in relativ frühem Kindesalter statt. Die »Statistik« zählt aber Personen bis zum vollendeten 18. Lebensjahr als Kinder. Die Zahl der als gefährdet gezählten Mädchen wird in jedem Jahr wieder neu in die Gesamtzahl eingerechnet, sodass auch Mädchen, die seit vielen Jahren – unbehelligt – in Deutschland leben, jährlich neu als »bedroht« mitgezählt werden. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein vor 10 oder 17 Jahren in Deutschland geborenes Mädchen einer aus Afrika stammenden Mutter noch zwangsweise beschnitten wird, ist aber sehr niedrig: Wahrscheinlicher ist es, dass sie demnächst das Abitur macht. Es findet also eine quantitative Fehldeutung aufgrund qualitativer Verzerrung statt. Das wird durch den fiktiven »Generationenfaktor« nicht ausgeglichen, sondern verstärkt.

Die in der Presse als »Studie des Familienministeriums« bezeichnete Arbeit ist nicht vom Ministerium erstellt, sondern eine geförderte Untersuchung von »Integra«, einem verdienstvollen Netzwerk verschiedener Organisationen (»Terre des Femmes« gehört dazu) zur Bekämpfung von (weiblicher) Genitalverstümmelung. Im quantitativen Bereich kommt die Studie zu niedrigeren Zahlen (ebenfalls hochgerechnet). Im qualitativen Teil der lesenswerten Studie wurden nur 52 Frauen und 22 Männer befragt, also eine nicht repräsentative (und so auch zutreffend gekennzeichnete) Stichprobe von freiwillig Mitwirkenden. Die Studie bedient in der Analyse und in den Schlussfolgerungen die Erwartungen einer auf quantitative Sensationen orientierten Berichterstattung gerade nicht. Dass sie irgendeiner der über die »Dunkelziffern« berichtenden Journalisten gelesen hat, liegt nicht nahe.

Gefahrenlage

Bereits vor vielen Jahren und an unbekannten Orten geschehene Taten kann man weder rückgängig machen noch strafrechtlich verfolgen. Das macht Menschenrechtswidrigkeit nicht besser, wohl aber die Berichterstattung irreführend und tendenziös:

»Einige fahren in ihre Herkunftsländer, zum Beispiel in den Senegal oder nach Gambia. Ansonsten weichen sie auf andere europäische Städte aus, am häufigsten auf Paris, zuletzt wohl auch auf Amsterdam. Dort gibt es eine sehr große afrikanische Diaspora. Diese lädt dann eine Beschneiderin aus dem Herkunftsland ein, zum Beispiel für zwei Monate. Und dann fahren Familien aus Deutschland hin, um die Töchter verstümmeln zu lassen. Die Communitys sind europaweit sehr gut untereinander vernetzt.«

Das stammt aus einem Interview mit der Referentin. Woher diese es weiß, erfährt man nicht. Man erlangt aber Bilder, Vermutungen, Stereotype, Verdächtigungen. Schon »afrikanische Diaspora« ist ein erstaunlicher Begriff: Afrika reicht von Marokko bis Mosambique, von Ägypten bis Sierra Leone; »afrikanische Diaspora« ist eine fast skurril erscheinende, eurozentristische und rassistisch unterfütterte Zuschreibung. Würde man einen Bericht über die amerikanische Mafia akzeptieren, in dem von der »europäischen Diaspora in Nordamerika« geredet wird?

Die »Beschneiderin aus dem Herkunftsland« darf man sich vermutlich als breithüftige, mit bunten Tüchern umwickelte Voodoo-Hexe oder ausgemergelte Schreckensgestalt aus der Steppe vorstellen. Dass diese »eingeflogen werden« nach Paris und Amsterdam, Zentren der »afrikanischen Diaspora«, mobilisiert die eingeübten Bilder: Von Brüssel nach Banjul fliegen morgens die weißen Geldwäscher; auf dem abendlichen Rückflug hocken dann die schwarzen Beschneiderinnen in der Businessclass.

An dieser Stelle nun muss die liebste Statistik der Gefahrenberichterstattung zu Wort kommen: die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS). Sie sagt wenig über die wirkliche Wahrheit, verkündet aber in übersichtlicher Form Weltbild und Tätigkeit der Polizei. Anzahl der erfassten Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung: 2014: null; 2015: null; 2016: null; 2017: null. Insgesamt seit 2013: null Taten, null Tatverdächtige.

Es gibt weder vor noch nach der Neuregelung 2013 in Deutschland einen einzigen abgeurteilten Fall und noch nicht einmal eine Strafanzeige. Das ist in der Tat merkwürdig. Denn trotz dieses leicht zu ermittelnden empirischen Befundes wird in jedem Jahr eine steil ansteigende Zahl von »Betroffenen« gemeldet und diese dann – nach oben beschriebenem Muster – auch noch zur Unterstellung aktueller Verbrechen verdreht (»jährlich Zehntausende von Fällen« und »steigende Zahl von Ferienbeschneidungen«).

Wie ist es vorstellbar, dass ein Fachverein, der »Statistiken« veröffentlicht, Autoren qualitativer Studien, Polizeien und Ministerien einerseits berichten, dass in Deutschland seit vielen Jahren massenhaft Verbrechen begangen werden, aber andererseits den Strafverfolgungsbehörden nicht ein einziger Fall angezeigt wird? Wie kann man eine »steigende Zahl« von Fällen ermitteln, wenn kein einziger aufgeklärt wird? Warum haben die Erforscher der »Diaspora« in fünf Jahren keine Strafanzeige erstattet?

Die Gefährder

Die Katastrophenmeldungen der Presse sind entweder falsch oder verdreht. »Zehntausende Opfer« oder »Zahl der Opfer steigt dramatisch«; »zunehmende Zahl von Ferienbeschneidungen« sind Meldungen, die Fehlinformiertheit und vorurteilsgeprägte Missverständnisse mobilisieren und verstärken. Sie behaupten, dass sie Tatsächliches berichten über eine Verbrechenswirklichkeit in Deutschland – nicht gegen, sondern durch Fremde. Sie missbrauchen für diesen Zweck Tausende von misshandelten und verstümmelten Menschen, die nach Deutschland eingereist sind. Es werden die Opfer von (früheren) Menschenrechtsverletzungen als Skandalmaterial benutzt.

Man darf davon ausgehen, dass so etwas nicht »zufällig« passiert. In den Chefredaktionen und Gremien sitzen keine Dummköpfe. Deshalb ist es interessant, sich noch einmal kurz den »Dunkelziffer«-Tätern und ihrer Darstellung zuzuwenden. Die mutmaßlichen Täterinnen und Täter werden in den oben zitierten Texten als Mitglieder von »Communitys« bezeichnet. Das ist ein Begriff aus der amerikanischen (Rassen-)Soziologie. In der deutschen Soziologie ist er wenig aussagekräftig, klingt aber informiert.

»Gemeinschaften« sind in der Welt der Achtsamen eigentlich etwas Schönes, Heimeliges, Authentisches. Neuerdings haben sie aber eine unangenehme Auffrischung erhalten: Wir sprechen jetzt über die Community der maghrebinischen Diebe, der Schwarzafrikaner, der morgenländischen Diaspora. Die von dort zureisenden Gefährder zeigen verdächtiges »Gehabe«. Sie lassen ihre verkleideten Frauen die Einkäufe schleppen, während die Community-Chefs in kurzer Hose und Flipflops nebenherschlappen und die göttlichen Gesetze preisen. Auf der anderen Straßenseite sitzen der Koranforscher Sarrazin sowie die Ordnungsfreundin von Storch und murmeln Zaubersprüche.

Communitys, die aus dem Libanon kommen, heißen »Clans«. Dieser Begriff aus der Ethnologie wird inzwischen ins Unkenntlich-Lächerliche verdreht. Wir kennen ihn von den karierten Faltenröckchen, die Sean »007« Connery gern trägt. Die Kinos sind voll von Filmen, in denen junge rotbärtige Clan-Helden um die Gunst porzellanfarbener Schönheiten ringen. In abgewandelter Bedeutung ist »Clan« auch, wenn ein Stadtrat aus Köln oder ein Bankvorstand aus Frankfurt sagen, dass sie einen Schwager haben, dessen dritte Tochter einen Cousin des Bruders der geschiedenen Ehefrau geheiratet hat, sodass man diesen nicht hängenlassen dürfe. Im gehobenen Segment heißt so etwas Netzwerk, füllt Fachmagazine für Lebensberatung und dient dazu, die Welt gerechter zu machen. Die Clans der libanesischen oder afrikanischen Diaspora sind da deutlich übersichtlicher, sowohl für Polizeigewerkschaften als auch für Überschriften-Redakteure und Dunkelfeldstatistiker. Und die »Communitys«, von denen jährlich Zehntausende von kleinen Mädchen verstümmelt und bedroht werden, zeichnen sich vor allem durch leicht erkennbare Hautfarben aus (bräunlich/schwärzlich) und bilden Netzwerke zum Einfliegen von Beschneiderinnen.

Fazit

Genitalverstümmelung ist ein Verbrechen gegen elementare Menschenrechte. Das gilt für alle Täter und für alle Opfer. Wenn die – zweifelhaften – »Statistiken« überhaupt etwas belegen, dann doch jedenfalls, dass die derzeitige Verfolgungsstrategie überhaupt keinen Erfolg hat. Wenn man verhindern will, dass eingewanderte Menschen aus Dummheit oder Furcht an der Tradition festhalten, muss man so mit ihnen umgehen, dass Vertrauen und Einsicht möglich sind. Eine Skandalisierung von Horrorzahlen schützt nicht, sondern definiert die Fremden zu Unmenschen. Das nützt nicht dem Schutz von Mitgliedern dieser Minderheiten, sondern treibt sie in Ausgrenzung und Isolation. Man muss die Menschen für die Freiheit und Selbstbestimmung gewinnen.

Vollrausch, Tötung,Geldstrafe

(28.10.2019)

Das Urteil

Ein Urteil des Amtsgerichts – Jugendgericht – Würzburg vom 23. Oktober 2019 hat für großes Aufsehen, Empörung und erstaunliche Schlagzeilen gesorgt. Das Gericht verurteilte einen 20-jährigen Heranwachsenden wegen fahrlässigen Vollrauschs zu einer Geldstrafe, deren Summe 5000 Euro beträgt. Wie viele Tagessätze ihr zugrunde liegen, wurde wie üblich nicht berichtet, obwohl es nur darauf ankommt. Für jemanden, der 30000 Euro netto im Monat verdient, wären es fünf Tagessätze, für jemanden, der 415 Euro im Monat netto übrig hat, 360 Tagessätze. Den Unterschied merkt man, wenn man nicht zahlt: Dann müsste der Erste fünf Tage ins Gefängnis, der Zweite ein Jahr. In der Presse wird regelmäßig nur das Produkt aus Tagessatzzahl und Tagessatzhöhe (= Monatseinkommen durch 30) mitgeteilt, obwohl das sinnlos ist.

Dem Urteil lag eine Tat vom 23. April 2017 zugrunde. Der Angeklagte, damals 18 Jahre alt und Fahranfänger, fuhr nachts auf einer Nebenstraße mit seinem Auto nach Hause. Er hatte eine Blutalkoholkonzentration von fast 2,9 Promille; drei weitere junge Männer, ebenfalls alkoholisiert, saßen mit ihm im Auto. Aufgrund seiner Alkoholisierung übersah der Angeklagte zwei am Straßenrand gehende Fußgänger und fuhr eine 20-jährige junge Frau an. Sie starb wenige Tage später an ihren schweren Verletzungen.

Die Bild nennt das Opfer »totgeraste Teresia«, lässt also dem Leser schon im Ansatz das übliche »Feeling« zukommen, indem Empathie und Nähe vorgetäuscht wird. Das Opfer wird beim Vornamen genannt, als ob die Bild-Leser ein Recht darauf hätten, sich der jungen Frau aufzudrängen. Die Tat heißt »Totrasen«, obwohl es für das Ereignis ganz unerheblich ist, ob der Täter »gerast« oder langsam gefahren ist. Das entspricht dem üblichen populären Umgang mit den Gefahren des Straßenverkehrs: Wer schnell fährt und Glück hat, fährt »sportlich«, wer schnell fährt und Pech hat, heißt »Raser«. Die »Raser« gehören weggesperrt; aber das sind immer nur die anderen.

Die Überschrift des Bild-Artikels vom 23. Oktober lautete übrigens: »Wer soll dieses Urteil verstehen?« Wer den Artikel liest, der hier nur stellvertretend für viele andere genannt ist, »versteht« das Urteil auf gar keinen Fall; daran ändert auch der »Verkehrsexperte« nichts, den Bild bemüht. Dem Leser werden hier wie anderswo schon die einfachsten Grundlagen der Rechtsfragen entweder verschwiegen oder so verdreht mitgeteilt, dass der Informationsgehalt sich auf bloße Anstachelung von Empörung beschränkt. An diesem Schmierentheater hatte, wie es zu befürchten gilt, das Gericht jedenfalls insoweit einen Anteil, als es sich mit den merkwürdigsten Äußerungen zur mündlichen Urteilsbegründung zitieren lässt:

Bild: »Die überraschende Erkenntnis von Richter Krieger: ›Wir hätten gern eine Jugendstrafe verhängt.‹ Aber das sei nicht möglich gewesen, da der Angeklagte schuldunfähig sei – wegen des hohen Promillewerts. Im Klartext: Niclas H. ist frei, weil er total besoffen war!«

Oder so: Focus: »Richter kann Vater von Teresa (†20) kaum ansehen. Richter Krieger: ›Es fällt mir schwer, Ihnen in die Augen zu gucken.‹«

Oder beim Bayerischen Rundfunk: »Richter: ›Das Urteil ergeht im Namen des Volkes. Aber das Volk muss schon ein paar Semester Jura studieren, um das zu verstehen, was ich heute geurteilt habe.‹«

Gehen wir einmal davon aus, dass der Vorsitzende des Jugendschöffengerichts (»Wir«) genügend lange studiert hat, um zu verstehen, was er (oder sagen wir, unter Erinnerung an das Beratungsgeheimnis: die Mehrheit des Gerichts) geurteilt hat. Wenn Richter es schaffen, ihre eigenen Urteile verstanden zu haben, sollten sie so freundlich sein, sie dem Volk so zu erklären, dass es bei gutem Willen möglich ist, die Rechtslage zu erkennen. Wer es darauf anlegt, sich als »volksnah« aufzuplustern und zu behaupten, dem von ihm selbst soeben angewendeten Recht fehle es an verfassungsgemäßer Legitimität, dem schreibt Art. 100 Abs. 1 des Grundgesetzes ohne Wenn und Aber vor, was er zu tun hat: Das Verfahren aussetzen und die Sache dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Entweder – oder: Man kann nicht der Held der Strafprozessordnung und der Bild-Zeitung zugleich sein.

Ein paar Korrekturen

Aus der BR-Berichterstattung:

»Der Richter begründete das Urteil mit dem ›pubertären männlichen Verhalten‹, das den Tod der 20-Jährigen zur Folge hatte. Zudem sei der Hauptangeklagte schuldunfähig, da ihm keine ›Neigungen‹ attestiert werden konnten und er zum Tatzeitpunkt stark alkoholisiert war. Vor Gericht gab der junge Mann an, sich nicht an den Unfall erinnern zu können. Die Staatsanwaltschaft hatte zweieinhalb Jahre Freiheitsstrafe nach Erwachsenenstrafrecht für den 20-Jährigen gefordert. Das Urteil wurde jedoch nach Jugendstrafrecht erlassen, da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war.«

Obwohl die einzelnen Worte dieses Berichts nicht falsch sind und der deutschen Sprache entstammen, ergeben sie in ihrem Zusammenhang fast keinen Sinn und sind auf Wirrnis angelegt. Selbst der oben zitierte Richter dürfte nicht »das Urteil mit dem pubertären Verhalten begründet« haben. Richtig mag sein, dass der Angeklagte ein solches Verhalten zeigte; das weiß man nicht. Man wird aber nicht wegen pubertären Verhaltens bestraft, sondern wegen der Begehung von Straftaten. Ob diese Ausdruck von »pubertärem Verhalten« sind, ist für die Strafbarkeit nur eingeschränkt und unter bestimmten Voraussetzungen von Bedeutung.

Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe nach Erwachsenenrecht beantragt. Das Jugendgericht verhängte »jedoch«, so der BR, eine Strafe nach Jugendrecht, »da der Hauptangeklagte zum Tatzeitpunkt 18 Jahre alt war«. Das ist schräg. Die Staatsanwaltschaft weiß, dass es für die Anwendbarkeit von Jugend- oder Erwachsenenrecht auf das Alter des Beschuldigten zum Tatzeitpunkt ankommt. Daher liegt die Begründung, Jugendstrafrecht sei angewendet worden, »weil« der Angeklagte zur Tatzeit 18 war, neben der Sache. Richtig ist, dass bei Personen zwischen 14 und 17 (sogenannten Jugendlichen) immer Jugendrecht anzuwenden ist, bei Personen ab 21 immer Erwachsenenrecht. Im Zwischenbereich von 18 bis 20 heißen die Personen »Heranwachsende«. Hier kommt es darauf an, ob der Täter (zur Tatzeit) »noch einem Jugendlichen gleichzustellen ist«. Es kommt also auf den Grad der Entwicklung, Reife, Verantwortungsentwicklung, Selbstständigkeit an: Es gibt 19-Jährige, die den Entwicklungsstand eines 14-Jährigen aufweisen, und 18-Jährige, die ein in jeder Hinsicht selbstständiges Leben führen (können). Es kommt bei der Entscheidung aber auch auf die Art der Straftat an: Ein komplizierter Betrug eines 19-Jährigen wird selten »jugendtypisch« sein, eine Schlägerei beim Fußball ziemlich oft.

Die Gerichte neigen dazu, die Anwendung von Jugendrecht recht großzügig zu bejahen. Das mag daran liegen, dass für die Entscheidung die Jugendgerichte zuständig sind, die aufgrund der speziellen Materie oft einer pädagogisch-psychologischen Betrachtung der Dinge näher stehen als Erwachsenengerichte.

Missverständlich ist die Erwähnung, es sei der »Hauptangeklagte« gewesen, der zur Tatzeit erst 18 Jahre alt war. Das ist völlig unerheblich: Jeder Beschuldigte/Angeklagte wird natürlich nach seinen eigenen Voraussetzungen beurteilt. Wenn wegen ein und derselben gemeinsamen Tat ein Jugendlicher und ein Erwachsener angeklagt sind, wird gegen den einen Jugendrecht, gegen den anderen Erwachsenenrecht angewendet. Den Begriff »Hauptangeklagter« gibt es im Strafprozess überhaupt nicht.

Die »schädlichen Neigungen« haben mit der »Schuldunfähigkeit« nichts zu tun; die Begründung ist vermutlich falsch zitiert, auf jeden Fall Unsinn. »Schädliche Neigungen« sind eine von zwei (alternativen oder kumulativen) Voraussetzungen für die Verhängung von Jugendstrafe (also Freiheitsstrafe gegen Jugendliche).

Das Jugendstrafrecht steht unter dem Oberbegriff des »Erziehungsgedankens«: Man will durch andere Maßnahmen (Auflagen, Weisungen, Arrest, Geldstrafe) möglichst die Verhängung der (oft eher schädlichen) Jugendstrafe vermeiden. Wenn aber entweder »die Schwere der Schuld« oder »schädliche Neigungen« bejaht werden müssen, ist Jugendstrafe zu verhängen. »Schwere der Schuld« liegt zum Beispiel bei massiven Gewalttaten oder bei vorsätzlichen Taten mit hohem Schaden nahe. »Schädliche Neigungen« sind, was man auch als »Tendenz zur sozialen Verwahrlosung«, Neigung zur Wiederholung, Fehlen von moralischen Strukturen und so weiter beschreiben kann. Bei Spontantaten, »Ausrutschern«, Taten unter Berauschung oder in emotionalem Stress liegen schädliche Neigungen nicht nahe.

Alkohol und Schuld

An dieser Stelle muss man einen Blick auf die »Schuldfähigkeit« (auch genannt: »Unzurechnungsfähigkeit«) und auf ihren Zusammenhang mit Zuständen der Berauschung werfen. Die Sache ist komplizierter, als die meisten annehmen, und sie wird in Presseberichten über Strafverfahren fast immer falsch oder missverständlich dargestellt.

Der Grundsatz ist nicht schwierig. § 20 StGB lautet:

Schuldunfähigkeit: Ohne Schuld handelt, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tief greifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln.

Und § 21 lautet:

Verminderte Schuldfähigkeit: Ist die Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, aus einem der in § 20 bezeichneten Gründe bei Begehung der Tat erheblich vermindert, so kann die Strafe gemildert werden.

Das klingt übersichtlich und auch gerecht. Wir haben uns in Europa seit tausend Jahren angewöhnt, »Wahnsinnige« für »nicht verantwortlich«, also für »nicht schuldig« zu halten. Sie können gefährlich sein, tragen aber keine (vorwerfbare) »Schuld«, weil (und wenn) sie »unfähig sind, das Unrecht ihres Tuns einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln« (§ 20). Sie werden dann vielleicht »untergebracht«, wenn und solange sie gefährlich sind, aber nicht »bestraft«. Ein solcher Zustand kann auf verschiedenen Ursachen beruhen, die § 20 aufzählt. Die Berauschung (mit Alkohol, Drogen, Medikamenten) fällt unter den Begriff der (vorübergehenden) »krankhaften seelischen Störung« oder den der »tief greifenden Bewusstseinsstörung«. (Fast) jeder Mensch in Europa weiß, dass unter Einfluss von Alkohol zunächst das Hemmungsvermögen (»Fähigkeit, nach der vorhandenen Einsicht zu handeln«; § 20