Geschundene Gefährten - Prof. Dr. Achim Gruber - E-Book

Geschundene Gefährten E-Book

Prof. Dr. Achim Gruber

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Beschreibung

Das brisante Sachbuch zum Thema Rassezucht bei Hunden und Katzen Deutschlands profiliertester Tierpathologe entlarvt das immense Leid, das die Zucht reiner Rassen bei Haustieren vielfach verursacht. Bestseller-Autor und Tierarzt Prof. Dr. Achim Gruber nimmt in seinem aktuellen Buch die gravierenden gesundheitlichen Fehlentwicklungen in der traditionellen Zucht von Hunden und Katzen ins Visier und fordert: Wir brauchen endlich ethische Maßstäbe in Sachen Zucht und Rasse – die Verantwortung aller Tierhalter und Käufer ist gefragt! "Unser bisheriges Rassedenken ist vielfach gescheitert", so Gruber, doch er macht auch Hoffnung und zeigt viele Auswege auf, ohne die Rassen abschaffen zu wollen.  Was zählt ist das Tierwohl Über Jahrtausende hinweg hat der Mensch die Anatomien, besondere Leistungen und das Wesen von Hunden und Katzen auf seine Bedürfnisse abgestimmt und eine erstaunliche Rassevielfalt geschaffen. Doch jetzt stellen sich viele Grundsätze und Ideale der Zucht reiner Rassen als Irrwege heraus – denn immer mehr Tiere leiden unter angezüchteten Merkmalen. "Zuchterfolge" äußern sich nicht selten in schmerzhaften orthopädischen Erkrankungen, lebensverkürzenden Krebserkrankungen, belastenden Sinnesstörungen, lästigen Allergien oder traurigen Verhaltensverarmungen. Der Berliner Tierpathologe Prof. Dr. Achim Gruber legt den Finger in die Wunde und stellt fest: Es ist allerhöchste Zeit, unser Rassekonzept bei Hunden und Katzen zu überdenken und wieder Verantwortung für das zu übernehmen, was wirklich zählt: das Tierwohl. Tierethik – oder unsere Pflichten gegenüber Tieren Achim Gruber macht in seinem Buch "Geschundene Gefährten" auf grundlegende ethische Fragen mit Blick auf die Züchtung von Hunden und Katzen aufmerksam. Fakt ist: Viele Haustiere, allen voran Hunde und Katzen, bringen zu große gesundheitliche Opfer für uns Menschen. Dagegen regt sich mehr und mehr Widerstand: 2022 wurde die Tierschutz-Hundeverordnung mit wichtigen Neuerungen für die Zucht und Haltung nachgeschärft (u. a. Ausstellungsverbot für krank und defekt gezüchtete Hunde, Gassi-Pflicht, Verbot von schmerzhaften Erziehungsmethoden). Die neue Rechtsvorschrift hat – gerade bei Züchterverbänden – große Unruhe ausgelöst.  Wollte Achim Gruber mit seinem Buch "Kuscheltierdrama" vor allem aufklären, so greift er mit seinem neuen Buch in die aktuelle und hochemotionale Diskussionüber das Rassedenken in der Haustierzucht ein. Er nimmt prononciert Stellung im Sinne des Tierschutzes und beschreibt die Möglichkeiten zur Rettung der Rassen aus der Perspektive der Tiermedizin. Sein Buch ist eine unbequeme, aber ehrliche und fürsorgliche Liebeserklärung an unsere "besten Freunde".

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Seitenzahl: 380

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Prof. Dr. Achim Gruber

mit Shirley Michaela Seul

Geschundene Gefährten

Über Irrwege in der Rassezucht und unsere Verantwortung für Hund und Katze

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Über Jahrtausende hinweg hat der Mensch die Anatomien, das Verhalten und das Wesen von Hunden und Katzen auf seine Bedürfnisse abgestimmt und eine erstaunliche Rassevielfalt geschaffen. Doch jetzt zeigt sich, dass die Grundsätze und Ideale dieser Zucht ein Irrweg sind. Denn immer mehr Tiere leiden unter den angezüchteten Merkmalen. »Zuchterfolge« äußern sich bei den Tieren nicht selten in schmerzhaften orthopädischen Erkrankungen, einschränkenden Allergien, lebensverkürzenden Krebserkrankungen, belastenden Sinnesstörungen oder traurigen Verhaltensverarmungen. Der Berliner Tierpathologe Prof. Dr. Achim Gruber legt den Finger in die Wunde und stellt fest: Es ist allerhöchste Zeit, unser Rassekonzept bei Hunden und Katzen aufzugeben und wieder Verantwortung für das zu übernehmen, was wirklich zählt: das Tierwohl.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Vorwort

Betrachtungen am Obduktionstisch

Eine Gassirunde in der Zukunft

Hund all inclusive

Zeit für den Aufbruch

Zerrbilder durch schleichende Gewöhnung und andere psychologische Fallen

Ist das alles neu?

Fragwürdige Motive

Wie konnte es zu all dem kommen?

Die Bergretter – Wahrheit und Dichtung

Sanfte Riesen auf Abwegen

Vom Wolf über den gesunden Hund zum kränklichen Rassehund

Eliten und Exzesse

Der Preis der Vielfalt

Würschtel

Wie Einsicht helfen kann

Wenn hübsche Farben krank und taub machen

Hilfestellung für Hundekäufer

Am seidenen Faden der Gene

Die zweite Todsünde in der Zucht: Inzucht

Flaschenhälse und ihre Folgen

Wohin Gründereffekte, Flaschenhälse und Inzucht uns gebracht haben

Nur Vielfalt zählt, auch in den Bauplänen des Lebens

Meteoriteneinschläge

Fortschritt und Untergang durch Tiermedizin

Sind Mischlinge gesünder?

Wundertüte Mischlingshund

Frops & Puggles – die gesunde Alternative?

Die Wilden mit den guten Genen

Alte Welt, neue Welt

Katzenkinder

Fortschritte in der Medizintechnik – neue Perspektiven für die genetische Gesundheit von Hunden und Katzen

Gentests: Es geht nicht mehr ohne

Entzifferte Menschen, Hunde und Katzen

Angst um Klippenkletterer

Kann Klonen Rassen retten?

Gendefekte direkt im Erbgut korrigieren

Wundermittel Genschere

Tiermedizinischer Fortschritt – ein Allheilmittel?

Fortschritt, den man sich leisten können muss

Gut versichert?

Rassen neu denken

Das große Botsperiment

Was genau bedeutet eigentlich »Rasse«?

Wer bestimmt über den Wandel?

Krankhafte Zuchtziele aufgeben: für viele zu spät

Abschied von traditionellen Rassebildern

Genpools erweitern

Die letzten Männer

Abschied vom Reinheitsgebot: Kreuzungszuchten schaffen Tiergesundheit

Laternenlicht kann gesundheitsfördernd sein

Identität oder Sinn?

Auf den Punkt gebracht

Wie kann die Wende in der Haustierzucht gelingen?

In schlechter Gesellschaft mit anderen Vierbeinern

Der Animal Turn

Wann kommt der Pet Turn?

Wie kann der Pet Turn gelingen?

Das Dilemma des Hundefreunds

Subtiles Anstupsen statt Zwang: Nudging

Klarer Handlungsbedarf für Gesetzgeber und Behörden

Kinder an die Macht

Dank

Quellen und Literaturempfehlungen

Nützliche Internet-Links

Die »Tiergeschichten« in diesem Buch haben sich so oder so ähnlich zugetragen oder hätten sich so zutragen können. Namen, Orte und äußere Umstände wurden verändert, um die Persönlichkeitsrechte aller Beteiligten zu wahren.

 

Wegen der überwiegenden Zahl von Frauen im tierärztlichen Beruf wird in diesem Buch die weibliche Form »Tierärztin« stets für beide Geschlechter verwendet. Zur besseren Lesbarkeit und mit Respekt für nichtbinäre Geschlechtsidentitäten wird darauf verzichtet, bei allen sonstigen Personenbezeichnungen beide Geschlechter zu erwähnen.

Vorwort

 

Die Welt um uns herum wird immer verrückter. Wir verstehen manche Krisen nicht oder weigern uns noch, ihre unausweichlichen Folgen zu akzeptieren. Gleichzeitig scheint das, was früher einmal zählte, immer weiter zu schwinden. Unsicherheiten prägen unsere Entscheidungen und irritieren uns. Nicht wenige Menschen verlieren ihre Orientierung und versuchen, eine neue zu finden. Manchmal flüchten wir uns in selbst gemachte Gedankengebäude, Scheinwahrheiten und Illusionen und glauben fest daran. Was uns noch mehr davon abhält, die Dinge fest im Griff zu haben. Dann suchen wir das rettende Stück Treibholz in der Flut, um nicht unterzugehen. Ein anderer Mensch kann so ein Treibholz sein, oder ein Hund oder eine Katze.

Und nun dieses Buch. Es zertrümmert ein weiteres Gedankengebäude, das wir uns über viele Generationen mit mehreren Etagen, prachtvollen Zimmern und üppig verzierten Erkern kunstvoll errichtet haben. Doch nun stellen wir erschreckt fest, dass es auf Sand gebaut war, auf einem maroden Fundament und mit einem löchrigen Dach. Manche Mauern bröckeln, andere stürzen schon ein und begraben erste Opfer unter sich. Uns fällt es schwer, die Wahrheit zu ertragen, und wir wollen wissen, wie es dazu kommen konnte. Wichtiger noch: Wir fragen uns, wie wir die noch stehenden Teile des Gebäudes retten können, die lieb gewonnenen, die zu unserer heilen Welt gehörten und uns auch Seelenheimat geboten haben. Um das Retten geht es jetzt also!

Mit meinem ersten Buch, Das Kuscheltierdrama, habe ich diese Mission begonnen. Ich habe über viele spannende, kuriose, humorvolle, aber auch traurige bis abgrundtiefe Entwicklungen in unserem Verhältnis zu Tieren berichtet. Dabei habe ich auch auf viel Leid, Krankheit und Tod durch falsche Zucht als Status quo hingewiesen. In Geschundene Gefährten lade ich Sie ein, mir sehr viel tiefer in die Irrungen und Wirrungen der traditionellen Zucht reiner Rassen zu folgen. Im Kern müssen wir feststellen, dass unser neuzeitliches Konstrukt von Reinrassigkeit mit seinen vielen falschen Zuchtzielen und Zuchtprinzipien gescheitert ist. Ich möchte Ihnen erklären, wie es dazu kommen konnte, und versuche zu analysieren, warum wir den schleichenden Verfall so lange nicht bemerkt haben.

Darüber hinaus – und das ist mir sehr wichtig – beschreibe ich auch zahlreiche Auswege. Sie machen große Hoffnung, dass wir mit unseren Hunden und Katzen wieder auf einen versöhnlichen Weg kommen können, wenn wir dazu bereit sind. Es geht um nicht weniger als die gesundheitliche Zukunft unserer Gefährten.

Betrachtungen am Obduktionstisch

Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers hervorgegangen; alles entartet unter den Händen der Menschen.

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)

 

Wie eine aufgeklappte Muschel liegt der gestern verstorbene Blacky vor mir. Sein Mensch hat ihn zu uns gebracht, um die Todesursache zu erfahren. Blacky war doch erst fünf Jahre alt. Dieser frühe Tod verunsicherte die Patientenbesitzerin. »Habe ich etwas falsch gemacht?«, fragte sie mich mit kummervoller Stimme am Telefon. Ja, das haben Sie wohl, dachte ich, noch bevor ich das Skalpell an Blackys Brustbein ansetzte, um ihn zu eröffnen und dem Geheimnis seines Todes auf die Spur zu kommen. Ich hatte bereits eine Vermutung und war mir schon bald ziemlich sicher, woran Blacky, Angehöriger einer Modehund-Rasse, gestorben war.

Todesursachen hinterlassen Spuren. Wir Pathologen, das kennen Sie vermutlich aus Krimis, sind Spurensucher, und oft finden wir eine Fährte, die zum Täter führt. Auch bei Tieren habe ich schon manche Fährte gefunden – zum Beispiel, wenn ein Hund oder eine Katze Opfer eines Giftanschlags oder einer Virusinfektion wurde. Da bringt ein Patientenbesitzer seinen Liebling morgens zu uns, einen schlimmen Verdacht im Gepäck. War es der Nachbar, der sich schon mal über ein nächtliches Bellen beschwert hat? Oder steckt eine neue Seuche dahinter? Jede Obduktion ist für mich eine Botschaft. Natürlich kann ich dem Tier nicht mehr helfen. Doch die Pathologie ist eine Wissenschaft für die Lebenden. Wenn wir wissen, woran Menschen und Tiere gestorben sind, können wir den Lebenden besser helfen und künftige Erkrankungen und Leid verhindern. Wir Pathologen wollen, dass Schicksale sich nicht wiederholen.

 

Blacky gehört zu den vielen krank und zu Tode gezüchteten armen Geschöpfen. Nach der Obduktion trete ich im hellen Neonlicht einen Schritt vom Edelstahltisch zurück, streife die blauen, bis zu den Ellbogen reichenden Handschuhe ab und fühle mich nicht gut. Ich habe Wut im Bauch. Die medizinische Diagnose ist klar, es gibt aber noch andere Gründe für das plötzliche Sterben dieses Vierbeiners, denn im Kern sind solche Todesurteile eine Kombination aus ahnungsloser Tierliebe, mangelnder Sensibilität und egoistischem Lifestyle.

»Es war die Folge einer Erbkrankheit, also eines Gendefekts«, teile ich der Besitzerin noch am selben Tag mit. »Leider typisch für diese Rasse«, füge ich hinzu. Und denke mir manchmal: Und einen Täter gibt es trotzdem. Uns Menschen nämlich, aber viele von uns wissen das gar nicht. Denn es ist nicht zu leugnen, dass genetisch bedingte Todesursachen, Krankheiten und viele andere durch Zucht entstandene Probleme nicht wenige unserer Hunde, teils auch ganze Rassen, extrem belasten. Manche Rassen stehen bereits jetzt auf der roten Liste und gelten als vom Aussterben bedroht, wenn wir so weitermachen. Auch einige Katzen und andere Haustiere sind betroffen. Denn immer mehr unserer lieben Gefährten sind leider nicht mehr gesund genug für das Leben. Konkret: Wir züchten nicht wenige von ihnen krank und kränker – als gäbe es kein Morgen. Ich weiß, das klingt geradezu paradox in einer Zeit, in der die Medizin immer größere Wunder vollbringt. Aber gegen manche körperliche Belastungen unserer vierbeinigen Schützlinge ist auch die moderne Tiermedizin noch immer machtlos. Und nicht alles, was machbar ist, ist eben auch gut.

 

Wie sollte ich die Frage von Blackys Frauchen nach ihrer Schuld beantworten? Sollte ich ehrlich zu ihr sein, jetzt, in der Phase ihrer tiefsten Trauer? Genau genommen hatte sie nicht nur einen, sondern drei Fehler gemacht. Sie hatte sich, ohne sich vorher zu informieren, ein Tier einer defekt gezüchteten Rasse zugelegt, und damit ein Problem. Zweitens hatte sie mit dem Kauf diese Form der Defektzucht auch für nächste Generationen weiter unterstützt. Und drittens hatte sie nicht gewusst, wie mit dem Zuchtdefekt richtig umzugehen war, welche besonderen Vorsorgen und Rücksichten bei dieser bekannten Krankheitsneigung erforderlich sind.

Gleichzeitig dachte ich: Nein, der Patientenbesitzerin allein ist kein Vorwurf zu machen. Aber wenn sich niemand mehr einen krank gezüchteten Hund zulegt, wird es keinen Markt mehr für krank gezüchtete Hunde geben – sie werden nicht mehr »produziert«. Ich würde ihr das alles behutsam erklären, aber erst in ein paar Tagen.

 

Als Tierarzt und Pathologe bin ich tagtäglich mit diesem Leid konfrontiert und sehr beunruhigt über grundlegende und weitreichende Fehlentwicklungen in der Haustierzucht.

Seit einiger Zeit stehen die armen Möpse öffentlich am Pranger, weil viele von ihnen nur röchelnd, schnorchelnd und schnarchend durch ihr leidvolles Hundeleben kommen und manchmal auch an Atemnot oder am Hitzschlag versterben. Mir scheint, sie lösen bei vielen Betrachtern Mitleid und Schutzreflexe aus, eine Mischung aus Sympathie und Empathie für ein Geschöpf, mit dem es das Leben einfach nicht gut gemeint hat. Kritik, so die allgemeine Auffassung, steht uns jedoch nicht zu. Denn knuffig finden wir sie doch und gehen weiter. Diese armen Tiere symbolisieren mittlerweile unsere komplexe emotionale Verstrickung aus Mitgefühl, Scham, Wegsehen und Kleinreden. Man will vielleicht keinem Hundehalter, der seinen Mops ja lieb hat, zu nahe treten, und so verbieten sich Fragen nach den Ursachen des Elends, Fragen nach Schuld und Auswegen.

Doch nicht nur Fragen wären gerechtfertigt, auch Empörung wäre hier am rechten Platz. Wir sind indes viel mehr empfänglich für die Argumente der »Experten«, die uns viele Qualen, die Tiere erleiden, als »von Natur aus« gegeben, »rassetypisch normal« und »tausendjähriges Kulturgut« verkaufen. Dabei merken wir gar nicht, oder wollen es nicht wahrhaben, wie falsch, absurd und zynisch das alles ist. Denn diese Möpse sind erst in den letzten Jahrzehnten von Menschenhand genauso und mit voller Absicht geschaffen worden. Und es ist noch viel, viel schlimmer, weil die furchtbaren anatomischen Verirrungen unserer Möpse nur die ganz kleine Spitze eines riesengroßen Eisberges bilden.

Der Kauf vieler Rassehunde kann zum russischen Roulette werden. Weit mehr als fünfhundert genetisch bedingte, größtenteils bei der Zucht oder Domestikation entstandene Krankheiten, Leiden und Sinnesstörungen kennen wir mittlerweile bei Hunden. Die Zahl steigt stetig, und die Dunkelziffer ist wahrscheinlich viel höher. Viele sind uns vom Menschen her geläufig, etwa Epilepsien, Immunschwächen, Allergien, Blutgerinnungsstörungen, frühe Demenz und diverse schmerzhafte orthopädische Erkrankungen. Nicht wenige nehmen einen tödlichen Ausgang, etwa durch einen ungewöhnlich frühen, genetisch vorprogrammierten Krebs oder durch Herzschwäche.

Was viele überraschen wird: Ein großer Teil dieser gesundheitlichen Risiken und Einschränkungen trat erst bei der Zucht nach Gründung der jeweiligen Rasse auf, oft erst in den letzten Jahrzehnten. Die meisten Probleme sind Nebenwirkungen derselben Entwicklung, der wir Rassevielfalt, Hundeschönheit und viele andere Vorzüge verdanken, die wir an unseren Lieblingen so schätzen. Nicht wenige Rassen sind dabei immer kränker geworden, und kaum eine ist nicht betroffen. In zahlreichen Fällen finden sich die Defekte in einem erstaunlich hohen Anteil der Tiere innerhalb einer Rasse. Bisherige züchterische Bemühungen zur Reduktion der Probleme blieben oft hinter den Erwartungen zurück. In der Summe tragen unsere heutigen Rassehunde weitaus mehr Genschäden und Funktionsdefizite als alle anderen von uns gezüchteten Haustiere und – natürlich – mehr als alle Wildtierarten. Besonders eindrucksvoll ist der Vergleich mit seiner Urform: Schätzungen zufolge ist der Hund etwa einhundertfach stärker mit Erbkrankheiten und genetisch bedingten Leiden belastet als der Wolf.

Warum sehen wir die höchste Zahl an zuchtbedingten Schädigungen und die schlimmsten Probleme gerade beim Hund, den wir von allen Tieren unseren besten Freund nennen? Unser Begleiter durch dick und dünn hat schließlich unter allen Vierbeinern das größte Talent, uns glücklich zu machen. Dieses Paradox beschäftigt mich täglich, denn alle erwähnten Probleme sind die direkte Folge unserer besonderen Freundschaft zu Hunden. Viele Leiden, die sie erdulden müssen, sind eindeutig das Ergebnis unserer intensiven züchterischen Gestaltungen und unseres höchst erfolgreichen Formens von Wunschgefährten. Ein großer Teil der Krankheiten, Leiden, Sinnesstörungen und Verhaltensverarmungen resultiert aus unseren Bemühungen, Hunde noch besser zu machen, noch reiner, schöner, extravaganter und vielgestaltiger.

Nicht nur extrem kurznasig gezüchtete Möpse, Bulldoggen und Pekingesen, denen man ihre Atemnot anhört, sind Zuchtopfer. Ein großer Teil der heute beliebten Moderassen büßt für die Zuchtziele, die wir Menschen ihnen angetan haben, mit ihrer Gesundheit. Ob die vielen groß gezüchteten Hunde, die nicht mehr richtig laufen können, oder Dalmatiner, die zwar schön aussehen, aber dafür leider taub sein können. Oder die aktuell beliebten Farbverdünnungsvarianten mit Aufhellung der Grundfarbe vieler Rassen – also silver, blue, charcoal, champagner, lilac und so weiter –, die ihre tolle Farbe, an der sie persönlich wohl kaum Freude haben, nicht selten mit unheilbarem Haarausfall und Hautproblemen bezahlen. Oder besonders klein gezüchtete Hundezwerge mit dysproportionalen Anatomien, die an Kniescheibenverlagerungen, gestörtem Zahnwechsel oder besonderen Stoffwechselstörungen leiden und teils sogar sterben können. Dazu kommt die Verbreitung einer Vielzahl von teils schweren Defekten durch Inzucht, die oft gar nichts mit dem Wunschmerkmal der Zucht zu tun haben. In all diesen und noch viel mehr Fällen besteht heute ein krasser Gegensatz zwischen den wissenschaftlichen Erkenntnissen über Erkrankungen und Tierleid und dem Ausblenden der Wahrheiten durch die in eine Rasse geradezu vernarrten Fans. Außenstehenden muss dieser Widerspruch völlig unverständlich vorkommen. Immer wieder taucht dieselbe Frage auf: Warum muten wir Lebewesen, die wir vorgeblich lieben, solch ein Elend zu?

Den krassen Konflikt zwischen unseren züchterischen Interessen und den anerkannten Tierschutzprinzipien blenden wir seit Langem systematisch und höchst erfolgreich aus. Die überschwänglichen Entzückungen haben unsere rosafarbene Brille für die Wahrheiten hinter der malerischen Kulisse der Rassenvielfalt gründlich vernebelt. Wir müssen eingestehen, dass unsere traditionellen Rassekonzepte und Zuchtpraktiken sich vielfach als fatale Irrwege erwiesen haben und wir nun auf dem brodelnden Vulkan ihrer Defekte tanzen. Zusätzliche Bedrohungen wie Fettleibigkeit mit all ihren Folgen und ein drastisch reduziertes Verhaltens- und Bewegungsrepertoire sind der zunehmenden Bereitschaft geschuldet, unsere Lebensumstände mit unseren vierbeinigen Gefährten zu teilen. Auf dem Weg ihrer Vermenschlichung haben wir vor allen anderen Tieren die Rassehunde aus dem Paradies der natürlichen Gesundheit eines Wolfes vertrieben und sie mit unseren Zivilisationskrankheiten geradezu angesteckt. Ausnahmen gibt es wenige, etwa manche nach Leistung und Talenten gezüchtete Jagd- und Diensthunde, aber selbst bei ihnen sehen wir traurige Entwicklungen.

Bei Katzen und anderen Haustieren sind in manchen Rassen und Zuchtformen ähnliche Tendenzen zu erkennen, jedoch in der Summe noch deutlich weniger häufig. Punktuell erschrecken jedoch auch bei ihnen krasse Auswüchse von bewusst erzeugten Defektzuchten, etwa extrem kurznasig und deformiert gezüchteten Exotischen Kurzhaar- und Perserkatzen bis zu den bedauernswerten Peke-Face-Varianten. Ihre Schöpfer erfreuen sich an ihrer Extravaganz und der Überbetonung des Kindchenschemas, weshalb sie oft als »Katzenkinder« bezeichnet werden. Dahinter verbergen sich erschreckende Zusammenhänge zwischen der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse und dadurch verursachter gesundheitlicher Katastrophen für die Ersatzkinder. Ihr Leid und ihre Pflegebedürftigkeit sind groteskerweise gewollt, weil sie der an sich positiven Neigung des Menschen, schwachen und kranken Geschöpfen zu helfen, entsprechen – mehr dazu später.

 

Ich beobachte darin eine immer größer werdende Schizophrenie unseres Umganges mit den uns anvertrauten Tieren. In meinen gut dreißig Jahren Berufstätigkeit bin ich sozusagen zum Zeitzeugen einer Gesellschaft geworden, in der das Spektrum von abgöttischer, oft blinder Tierliebe bis hin zur verabscheuenswürdigen Ausbeutung reicht. Und beides liegt manchmal ganz nahe beieinander. Als Leiter des Instituts für Tierpathologie an der Freien Universität Berlin verfolge ich die Sorgen vieler verschiedener Tierarten und blicke in so manchen Abgrund des Tier-Mensch-Verhältnisses. Meine bittere Erkenntnis aus all diesen Beobachtungen: Wir stehen an einem Scheideweg!

Denn seriöse Hundekenner und Forschende prophezeien, dass mehrere Rassen aufgrund ihrer weitgehenden Degenerationen und ihres aussichtslos defektbelasteten Erbgutes nicht mehr zu retten sind, wenn wir an unseren Rassebildern und Zuchtkonzepten festhalten. Andere, eher gelassene Zeitgenossen winken ab: »So schlimm wird’s nicht kommen, und wenn, dann geht das Leben weiter.« Ausgestorben wurde schon immer. Außerdem gibt’s ja bahnbrechende Entwicklungen in der Molekularbiologie, in der Gentechnik und beim Klonen. Die werden das schon richten. Ob das realistisch ist, werde ich noch erörtern. Bei aller Begeisterung über die Möglichkeiten der modernen Tiermedizin bin ich aber davon überzeugt, dass wir uns jetzt gut überlegen müssen, welchen Weg wir einschlagen wollen, was wir uns wirklich für die Zukunft von unseren vierbeinigen Familienmitgliedern wünschen und welche Opfer wir ihnen dafür abverlangen dürfen. Wir stehen vor der Wahl, ob wir Auswege aus der aktuellen Sackgasse suchen oder so weitermachen, dabei Verluste in Kauf nehmen und allein auf technologischen Fortschritt bauen wollen, um das folgende Szenario Realität werden zu lassen. Für den Fall, dass es Ihnen wie eine Utopie vorkommt: Alles, was Sie nun lesen werden, ist schon jetzt theoretisch machbar und für die Zukunft sehr gut vorstellbar. Aber wollen wir dahin kommen?

Eine Gassirunde in der Zukunft

Beim Klassentreffen 2055 hatten sich Lea, Marie, Emma und Hannah nach dreißig Jahren wiedergetroffen und festgestellt, dass sie alle in Berlin wohnten und auf den Hund gekommen waren. Was lag näher als ein gemeinsamer Spaziergang um den Grunewaldsee?

Leas Hund war ein regelrechter Blickfang, da waren die drei anderen Schulkameradinnen sich einig. Genau die richtige Größe, ein samtweiches, glänzendes, farbenprächtiges Fell, so eindrucksvolle Augen, und was für ein stolzer, geschmeidiger Gang!

»Auryn hört aufs Wort«, sagte Lea stolz.

»Wo hast du sie her?«, erkundigte sich Marie.

»Hier aus Berlin von einem Gentechnikunternehmen. Das kann ich guten Gewissens empfehlen. Bei denen bekommst du ein richtig ausführliches Beratungsgespräch. Du sagst, wie du dir alles vorstellst, nicht nur optisch, sondern auch vom Wesen her, und kriegst einen genau auf deine Bedürfnisse zugeschnittenen Gen-Hund.«

»Und wie teuer ist so etwas?«, wollte Marie neugierig wissen.

»Du, gar nicht mehr schlimm. In den letzten Jahren sind die Preise ja stark gefallen, weil die Technologie immer besser geworden ist und die Nachfrage riesig. Ich weiß noch, wie viel die Nasenoperationen der Französischen Bulldogge von meinen Eltern damals gekostet haben, bis sie wieder einigermaßen atmen konnte.«

»Du meinst die Luna?«, rief Emma. »An die erinnere ich mich noch! Ach, Frenchies mochte ich so gern. Schade, dass es die nicht mehr gibt. Um die tut es mir am meisten leid. Was die Möpse, Bullterrier und Cavalier King Charles Spaniels betrifft, ist mir das eigentlich egal. Aber die waren auch nicht mehr zu retten.«

»Wie die arme Luna«, nickte Lea traurig. »Das war so schlimm damals! Drei Monate nach den OPs, gerade als sie wieder ein einigermaßen normales Leben führen konnte, ist sie an ihrer Epilepsie gestorben. Mitten auf der Straße hat sie einen Anfall bekommen und ist deswegen überfahren worden. Meine Eltern haben damals viele teure Medikamente ausprobiert, aber die Anfälle sind immer wiedergekommen. So was würde Auryn nicht passieren. Die neuesten Versionen der Gen-Hunde sind endlich komplett frei von allen Krankheiten.«

Hannah mischte sich ein: »Ich hatte ja das Glück, mit meinem letzten biologischen Hund den perfekten Begleiter gefunden zu haben. Orion war der absolute Traumhund. Nicht nur vom Aussehen, auch sein Charakter. Also habe ich ihn klonen lassen.« Sie deutete auf den kniehohen neudeutschen Schäferhund, der gerade an einem Busch schnupperte. »Das hier ist jetzt schon Orion der Vierte.«

»Echt? Du klonst?«, fragte Emma mit einer Spur Geringschätzung in der Stimme.

»Halb so schlimm«, lachte Hannah. »Man muss es halt regelmäßig machen.«

»Ja, das habe ich auch schon gehört, die Lebenserwartung ist wohl ziemlich kurz«, entgegnete Emma spitz.

Hannah ließ sich davon nicht beirren: »Ich halte einen Dreijahresrhythmus ein, das hat sich bewährt, er wird dann einfach abgeholt, und der Nächste kommt, und man merkt kaum einen Unterschied. Das kann ich wärmstens empfehlen. Wenn ich zurückdenke, wie schlimm das war bei Orion dem Ersten. Ich war verzweifelt, als ich damals erfuhr, dass sein Rücken inoperabel war. So ein wunderbarer, lieber, treuer, einzigartiger Hund. Aber eben leider alt und unheilbar krank. Ich bin so dankbar, dass wir das Problem ein für alle Mal gelöst haben. Unsere Familie hat jetzt immer einen Orion um sich, und der ist stets jung und gesund.«

Lea nickte nachdenklich. »Ja, ich bin auch sehr dankbar über die  Gentechnik, und was es jetzt alles für Möglichkeiten gibt. Ich weiß gar nicht, ob man einen Gen-Hund auch klonen lassen kann?«

»Du, erkundige dich doch mal. Ich habe Orions Zellen bei der Deutschen Klonbank e.V. hinterlegt. Da muss ich persönlich gar nicht mehr hin, wenn es so weit ist. Eine kurze Nachricht genügt denen, und sie leiten alles in die Wege. Man muss nur das Datum nennen, wann man den Neuen abholen will.«

Marie teilte die Begeisterung ihrer ehemaligen Schulkameradinnen nicht. »Ich finde diese Entwicklung alles andere als erfreulich und überhaupt nicht so toll wie ihr.«

»Kein Wunder, du hast ja einen Bio-Hund«, grinste Lea und wollte wissen: »Erzähl doch mal, wo kommt dein Prince her?«

»Prince ist ein echter Straßenhund«, begann Marie stolz. »Er stammt aus Indien. Ein Jahr lang musste ich warten und hatte noch Glück. Ihr wisst ja selbst, wie lang die Warteliste ist. Aber dafür ist er wirklich echt. Irgendwo in den Slums von Kalkutta geboren.«

»Wild-Hunde sind ja so was von nice, natürlich gesund durch härteste Auslese unter echt schlimmen Bedingungen, echt coole Kerle. Das krasse Gegenteil zu den alten Rassehunden«, nickte Emma und fügte leicht säuerlich hinzu: »Muss man sich halt leisten können.«

»Darum geht es doch gar nicht«, entrüstete Marie sich. »Man hilft damit auch den Menschen in armen Ländern, die sich mit diesen Straßenhunden ihren Lebensunterhalt finanzieren. Sie fangen sie ein, machen sie sauber, gewöhnen sie für ein paar Wochen an Menschen, und dann werden die Hunde ins Vermittlungsregister aufgenommen.«

»Ich kenne die Webseite mit dem Katalog. Das habe ich mir auch einmal überlegt«, gestand Lea. »Ich hatte sogar schon einen ausgesucht, aber dann war er weg.«

»Ja, deshalb ist es besser, wenn du dich nicht auf einen einschießt, sondern dich in die Warteliste eintragen lässt. Ich habe angekreuzt, dass es mir egal ist, ob er aus den Slums von Mexico City oder Kalkutta oder Bangkok stammt.«

»Und, bist du zufrieden?«, erkundige Emma sich.

»Total. Es ist halt ein bisschen wie früher, als man sich noch ziemlich kümmern musste, bis man ein Team wurde. Prince ist nicht so anschmiegsam wie eure maßgeschneiderten Hunde und war anfangs etwas, sagen wir, wild. Schuhe, Zeitungen und Tapeten kannte er wohl nicht. Natur eben. Wir mussten erst zusammenwachsen und sind noch immer dabei. Denn er war ein ganz anderes Leben gewöhnt als Straßenhund. Ist nicht einfach, aber er ist es wert!«

»Ja, deshalb frage ich mich, warum du nicht ein bisschen mehr bezahlt hast und auf Nummer sicher gegangen bist«, wunderte Lea sich. »Du hättest Prince doch genetisch checken lassen können. Ich finde das total wichtig, dass man vorher nicht nur über alle Krankheitsrisiken Bescheid weiß, sondern auch über das Wesen, die Charakteranlagen des Hundes, halt alles, was man aus der Speichelprobe lesen kann. Ich würde ohne kompletten Gen-Check überhaupt nichts mehr kaufen, wer weiß, was man sich da ins Haus holt. Ich will doch Freude an meinem Hund, keinen Patienten.«

»Ich glaube, dass allein die Tatsache, dass Prince noch lebt und es zu mir geschafft hat, dafür spricht, dass er eine Kämpfernatur mit einem starken Charakter ist. Genauso wie ich. Im Grunde genommen ist es doch so, dass jeder Mensch den Hund kriegt, der zu ihm passt. Ich glaube, das ist ein Stück weit auch Vorbestimmung. Schicksal.«

»Also, ich helfe da lieber ein bisschen nach«, schmunzelte Emma und wollte wissen: »Du hast wirklich keinen Gentest machen lassen?«

»Nein.«

»Puh, das würde ich mich nicht trauen. Ich gehe immer gern auf Nummer sicher und habe mich bei Eythor für eine Kombination aus sechs verschiedenen alten Rassen entschieden. Die Zucht solcher Hunde basiert auf einem völlig anderen Konzept, als es früher üblich war. Nichts von wegen reinem Blut und so Zeug. Es wurden sogar Straßenhunde aus Griechenland mit eingezüchtet für noch bessere Gene. So gesehen ist Eythor gar nicht so weit entfernt von einem echten Bio wie Prince«, fügte sie versöhnlich hinzu, »nur eben mit vielen Prädikateigenschaften der sechs früheren Rassen und genetisch vollkommen fehlerfrei zertifiziert.«

Richtig versöhnlich wurde es für die ehemaligen Schulfreundinnen, als sie einem Hundehalter mit einem KI-Robo begegneten. Diese chinesischen Roboterhunde fluteten das Straßenbild seit einigen Jahren. Gewiss, Roboter hatte es schon immer gegeben, doch bei den Hunden nahmen sie nun überhand. Oft konnte man nur mit Mühe unterscheiden, ob ein Hund bio oder robo war. Geklont oder genetisch verändert war ohnehin nicht zu erkennen. Wie bei den gentechnisch optimierten Hunden waren die KI-Robo-Hunde für die Bedürfnisse ihrer Halter absolut maßgeschneidert, da man sie, wie früher beim Autokauf, individuell zusammenstellen konnte in Bezug auf Größe, Erscheinungsbild, Ausstattung und Charaktereigenschaften. Mittlerweile waren sie alle mit künstlicher Intelligenz – KI – ausgestattet, mit der sie ihr Verhalten perfekt an alle Typen von Besitzern von selbst anpassten. Ein weiterer Vorteil bestand in der schnellen Lieferzeit. Trotz weltweiter Nachfrage hielt China, der Marktführer, die versprochenen drei Monate ein. Und die Kosten waren überschaubar, wenn man die nicht mehr erforderlichen Mittel für Futter, Unterhalt und Tierärztin bedachte. Dennoch waren sich die vier Schulkameradinnen einig: Ein Robo käme ihnen nie ins Haus. Sie wollten einen echten Hund!

Hund all inclusive

Was ist ein echter Hund, und was wollen wir eigentlich von einem Hund? Oder einer Katze? Können uns solche medizinischen und technischen Errungenschaften, wie eben beschrieben, tatsächlich in eine sorgenfreie Zukunft führen? Ich habe da so meine Zweifel.

Für etwa jeden zweiten Haushalt sind unsere vierbeinigen Freunde zum festen Bestandteil des Lebensglücks geworden. In den letzten zwölf Jahren haben sich die Zahlen von Hunden und Katzen bei uns etwa verdoppelt, und der Trend hält ungebrochen an. In unseren Wohn-, Kinder- und Schlafzimmern leben mehr als doppelt so viele Tiere wie Kinder! Die Coronakrise mit ihren mehrfachen Lockdowns in den Jahren 2020 und 2021 hat diese Entwicklung noch weiter befeuert. In der harten Isolation brauchten wir sie noch mehr als sonst und hatten endlich Zeit für sie. Dieser stetige Zuwachs konnte nur durch eine deutliche Steigerung der Tierimporte erreicht werden, oft aus fragwürdigen ausländischen Tierproduktionsstätten, denn unser Bedarf besonders an Hunden kann schon lange nicht mehr aus Tieren Made in Germany gedeckt werden.

Wir haben sie in unsere Heime und Herzen aufgenommen, manche auch in unser Bett. Ihr Bestreben, mit uns zu kommunizieren und uns glücklich zu machen, zählt zu ihren kostbarsten Gaben. Dabei sind sie zu unverzichtbaren Familienmitgliedern und Sozialpartnern geworden, für manche sogar zu angenehmeren, einfacheren und verlässlicheren Partnern, als Menschen es je sein könnten. Wir lieben sie, fühlen uns seelenverwandt und lassen uns von ihrer Jugend, Unschuld und Unbeschwertheit gern anstecken, und auch von ihrer Fähigkeit, vorurteilsfrei im Hier und Jetzt zu leben. Sie tun unserer Gesundheit gut, stabilisieren Familien und unterstützen die Persönlichkeitsentwicklung unserer Kinder. Sie helfen uns durch manche Sinnkrise und als leer empfundene Freizeit. Wir profitieren von ihrer Weisheit, wenn sie alt werden, und lassen uns von ihnen bei Psychosen helfen und vor unserer eigenen Altersdepression schützen. »Gib dem Menschen einen Hund, und seine Seele wird gesund«, das wusste schon Hildegard von Bingen vor fast eintausend Jahren, und Millionen von Menschen teilen heute diese Erfahrung.

Gerade in den schwierigsten Momenten des Lebens können wir auf unsere Hunde zählen, bei Krankheit, Trauer und zum Trost für was auch immer. Mit ihnen an unserer Seite sind wir besser durch die Coronazeit gekommen, und sie werden uns in manchen zukünftigen Lebenskrisen stabilisieren. Unsere Einsamkeit und Unsicherheit in den Lockdowns waren nur die Spitze des Eisbergs von viel umfassenderen Veränderungen, denn wir leben in Zeiten zunehmender gesellschaftlicher Vereinzelung und gleichzeitig ansteigender sozialer, materieller und globaler Unsicherheit. Neuartige Viruserkrankungen, die alles überschattende Klimaveränderung, Kriege und politische Krisen, drohende Wohlstandsverluste und alle daraus resultierenden, in ihrer Gesamtheit bei Weitem noch nicht absehbaren Konsequenzen führen bei vielen Menschen zu einer kaum zu ertragenden Verunsicherung. Wir sehnen uns nach einer intakten, sicheren Welt, die sich viele in ihrem eigenen, kleinen Umfeld einzurichten versuchen, um die belastenden Bedrohungen ertragen zu können. Zu dieser heilen Welt gehören unbedingt Haustiere als verlässliche, kalkulierbare und getreue Gefährten.

 

Viel besser noch als Katzen und andere Tiere können Hunde diese Rolle einnehmen, und das hat Gründe. Wir haben ihre Körper, ihr Verhalten, ihr Wesen und ihre Fähigkeit, mit uns zu kommunizieren, über Jahrtausende – viel länger als bei allen anderen Tieren – geformt und gestaltet und dabei auf unsere Wünsche und Bedürfnisse zugeschnitten. Am Ende haben wir eine erstaunliche Rassevielfalt geschaffen, sodass für jede und jeden von uns das, der oder die Richtige dabei ist. Ein Hund kann alles sein für uns, einfach die perfekte Ergänzung zu unserem individuellen Lifestyle. Vielleicht so wie wir Autos kaufen, Häuser einrichten oder sorglos mit allem Komfort verreisen: all inclusive!

Davon profitiere ich auch ganz persönlich. Seit meiner Kindheit begleiten mich Hunde, und ich glaube, Kindsein – auch für meine eigenen Kinder – ist so viel schöner mit einem vierbeinigen Kameraden an der Seite, der mit ihnen durch dick und dünn geht, und das gilt bis ins unruhige Erwachsenenleben von heute. Auch für mich macht ein Hund das Leben erst komplett. Angefangen von unserem Familiendackel Nicki in meiner Kindheit bis zur heutigen Juli, die fast ein August geworden wäre, was nicht so ganz gepasst hätte »für ein Mädchen«. Und nur gemeinsam mit Hund will ich alt werden. Ist das nicht ein kleines Wunder, wie wir – Mensch und Hund – artübergreifend miteinander harmonieren? Zwei, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam zu haben scheinen, wenngleich sie eine über dreißigtausendjährige gemeinsame Geschichte teilen, verstehen sich ohne Worte und teilen ihr Glück. Ich weiß, wovon ich rede, und die meisten Leserinnen und Leser sicher auch.

Wir Menschen mutmaßen, auch unseren Hunden konnte nichts Besseres passieren, als bei uns und mit uns zu leben. Das mag zum Teil richtig sein, doch diese Einschätzung beruht auch auf einer Illusion, der wir allzu gern unterliegen. Die Illusion, dass es ihnen ebenso gut geht, wenn wir unsere Freude an ihnen haben. Geht es ihnen denn gut? »Natürlich!«, werden viele Hundehalter antworten, wir bieten ihnen doch alles, was das Hundeherz begehrt: hochwertige Ernährung, Streicheleinheiten, abwechslungsreiche Spaziergänge, ein kuscheliges Körbchen und auch mal neues Spielzeug, wenn das alte zerbissen wurde. Aber wie steht es um ihre Gesundheit? Was den eigenen Hund betrifft, können wir auch das häufig in seinem Gesicht lesen, wie in einem offenen Buch, so glauben wir. Mit den Jahren wächst man ja zusammen. Man braucht immer weniger Worte, versteht sich fast schon telepathisch, wie ich es oft von Hundebesitzern höre und auch selbst erfahren habe mit meinen eigenen Gefährten. Dabei merken wir gar nicht, wie effektiv wir unbequeme Wahrheiten verdrängen.

Im starken Kontrast zum »Erfolgsmodell Hund« steht – quasi auf der dunklen, ausgeblendeten Seite des strahlenden Mondes – die schier unüberschaubare Zahl von zuchtbedingten Gesundheitsproblemen. Doch das war nicht immer so. Über die meiste Zeit unseres mehr als dreißigtausendjährigen Miteinanders stand der praktische Nutzen der Zucht für uns im Vordergrund und brachte unter anderem leistungsfähige Hütehunde, Wachhunde oder Jagdhunde hervor. Für ihre beruflichen Aufgaben mussten diese Tiere vor allem gesund und langlebig sein. Erst seit grob einhundertfünfzig Jahren interessieren wir uns bei vielen Rassen maßgeblich für ihr Aussehen und Image, bei manchen erst seit wenigen Jahrzehnten. Während unserer exzessiven Zucht auf Äußerlichkeiten hin haben wir die Gesundheit vieler Rassen nicht nur vernachlässigt, sondern vielfach massiv für unsere Interessen geopfert. Unser neuzeitliches Konzept von Reinrassigkeit ist an der Realität eindeutig gescheitert. Ich möchte mich nicht damit abfinden, dass unsere oftmals geradezu perfekte Allianz mit unseren Hunden bedroht ist. Wird es uns nicht gelingen, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren, werden wir eines Tages die Verantwortung dafür übernehmen müssen, man kann es auch Schuld nennen, dass es manche Hunde, wie wir sie heute noch kennen, nicht mehr geben wird. Und dass viele Hunde auf dem Weg dahin unnötig leiden mussten. Weil wir nicht oder zu zögerlich gehandelt haben.

Zeit für den Aufbruch

In vielen Entwicklungen von wichtigen oder uns lieben Lebensinhalten gibt es nur kurze Zeitfenster, das Richtige zu tun. Ein Handlungsrahmen für entscheidende Manöver, um großen Schaden noch rechtzeitig abwenden zu können. Davor fehlten die maßgeblichen Informationen, und danach kommt jedes Eingreifen zu spät. Den unwiederbringlichen Verlusten kann man dann nur noch hinterhertrauern und die eigene Schuld kleinreden. Jeder kennt solche kurzen Phasen für richtungweisende Entscheidungen, sowohl aus dem eigenen Leben als auch von der großen Weltbühne. Genau solch ein Moment ist jetzt mit Blick auf unsere Haustierzucht gekommen.

Zwar sind den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern heute so gut wie alle für ein Umdenken nötigen Zusammenhänge bekannt. Die Fachliteratur ist aber oft schwer zu lesen, daher übernehme ich als Tierpathologe in diesem Buch zum Teil auch die Rolle des Übersetzers. Wie ich es Tag für Tag in meiner Arbeit gewohnt bin, wenn ich Menschen die Sorgen und Schmerzen ihrer Lieblinge erkläre, die letztlich zu deren Tod geführt haben. Die Lage ist so ernst, dass ich mich wegen unterlassener Hilfeleistung gegenüber unseren Schützlingen schuldig machen würde, wenn ich dieses Buch nicht schreiben würde. Ich will, dass zukünftige Generationen von Hunden, Katzen und Besitzern nicht darunter leiden müssen, was wir aktuell anrichten und versäumen.

Neben unserem eigenen Interesse am zukünftigen gemeinsamen Lebensglück sollte die Haupttriebfeder unseres Handelns das Recht auf körperliche Unversehrtheit, Gesundheit und ein beschwerdefreies Leben sein. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, heute dringender denn je, wie wir mit unserer Verantwortung gegenüber dem Einzeltier und der Rasse umgehen. Noch vor ein paar Generationen hätten verantwortungsvolle Hundebesitzer einen ernsthaft erbkranken Hund eher »erlöst« als intensiv tiermedizinisch betreut und vermehrt. Nicht nur, um dem Tier Leid zu ersparen, sondern auch in der Verantwortung für die nächsten Generationen und für den Gesunderhalt der Rasse insgesamt. Welches Verhalten das richtige ist, darüber entscheiden nicht zuletzt Eigeninteresse, Zeitgeist, Wohlstand und Lifestyle. Aber wie steht es um die Ethik unseres gegenwärtigen Mensch-Tier-Verhältnisses? Dürfen wir das Wohl unserer zukünftigen Schützlinge auf diese Weise plündern und teils ganze Rassen zunehmenden Bedrohungen aussetzen?

Das ethische Empfinden im Umgang mit den uns anvertrauten Nutz- und Versuchstieren hat in den letzten Jahren einen fundamentalen Aufbruch erfahren. Ein Animal Turn ist zunehmend erkennbar für unser Mitfühlen mit Schweinen, Hühnern, Kühen sowie Labormäusen und -affen. Unsere Moral im Umgang mit Hunde- und Katzengesundheit dagegen befindet sich aktuell weitab vom öffentlichen Bewusstsein irgendwo zwischen Selbstbedienungsladen und Räuberhöhle. Ein gesellschaftlicher Diskurs ist dringend nötig, damit wir mit den heutigen und zukünftigen medizinischen, züchterischen und gentechnischen Möglichkeiten Wege in eine gesündere und sorgenfreie gemeinsame Zukunftfinden können.

Vorher aber müssen wir Inventur machen: Was genau ist bekannt über die Art, Ursachen und das Ausmaß der Probleme? Wie konnte es so weit kommen?

So resümiert dieses Buch den aktuellen Wissensstand und beleuchtet mögliche Auswege. Es zeigt nicht den einen richtigen Weg, sondern liefert Grundlagen für den höchst überfälligen gesellschaftlichen Diskurs. Wie kann die Wende aussehen? Wie müssen wir Rassen neu denken, besonders die sich als schwerer Fehler erwiesene heutige Zuchtpraxis von Reinrassigkeit und äußerlichen Zuchtzielen? Sind Mischlinge oder Designerrassen die Lösung? Werden gentechnische Fortschritte die schon vorhandenen Erbdefekte reparieren oder vor neuen schützen können? Können wir durch Klonen unsere verlorenen Lieblinge zurückbekommen, vielleicht sogar gesünder? Was kann die Tiermedizin beitragen, und wie können wir von erfolgreichen Entwicklungen in der Menschenmedizin lernen, etwa der Wunderwaffe »Präzisionsmedizin« oder der »personalisierten Medizin«? Werden künstliche Intelligenz und am Tierkörper getragene oder implantierte Hightech-Sensoren mit Verbindung zu unseren Mobiltelefonen mehr Gesundheit und Tierwohl erlauben? Welche Rolle werden Tierkrankenversicherungen spielen? Und sollten wir unsere Ethik im Umgang mit den uns anvertrauten Haustieren nicht endlich an neuen Maßstäben ausrichten?

In diesem Buch möchte ich Antworten auf diese Fragen finden. Es geht um nicht weniger als ein umfassendes Überdenken und Neugestalten unseres Rassekonzepts. Ich spreche mich nicht dafür aus, die Rassen abzuschaffen. Vielmehr möchte ich Wege aufzeigen, wie wir auch künftig Freude an gesunden Rassehunden haben können.

Fachleute mögen mir verzeihen, wenn ich manche komplexen Sachverhalte stark vereinfacht erkläre, um sie für alle Hunde-, Katzen- und Tierfreunde verständlich zu machen. Denn genau darin liegt die Absicht des Buches: Es soll jeden Einzelnen zum Aufbruch anregen, zu einem tierwohlorientierteren Umgang mit unseren Schützlingen, der diesen Namen auch verdient, und bestenfalls zur Kehrtwende, zum Rasse-Turn. Vor allem soll es aber Hoffnung machen, dass wir jetzt noch etwas erreichen können, wenn wir uns ehrlich und konsequent den Herausforderungen stellen.

Zerrbilder durch schleichende Gewöhnung und andere psychologische Fallen

Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind, wir sehen sie so, wie wir sind.

Anaïs Nin (1903–1977)

 

Als Tierpathologe verfolge ich über mein Berufsleben deutliche Veränderungen in der Mensch-Hund-Beziehung, aber auch zu anderen Haustieren. Wir sind immer enger zusammengewachsen, und für viele Menschen erhöht das die Lebensqualität. Heute wird etwa jeder zehnte Hund nach seinem Tod mit einer Zeremonie beerdigt, wie sie früher Menschen vorbehalten war, und diese Zahl steigt. Weit über dreihundert Tierfriedhöfe und -bestatter bieten bundesweit ihre Dienste an, dazu rund dreißig Heimtierkrematorien, die noch zu meiner Studienzeit vor dreißig Jahren völlig unbekannt waren. Die Hinterbliebenen können aus einem reichhaltigen Angebot an teils kostspieligen Urnen und Trauerfeierlichkeiten auswählen, und das ist für ihre Trauerarbeit wichtig. Selbst nach ihrem Tod behandeln wir unsere tierischen Gefährten zunehmend wie Menschen.

Über diese Entwicklung spreche ich regelmäßig mit hinterbliebenen Tierbesitzern. Und früher oder später geht es dann auch immer um die Frage des Nachfolgers. Ich kläre auf und empfehle Quellen, bei denen sich die Tierfreunde vor der Auswahl eines nächsten Tieres über die Krankheitsanfälligkeiten der infrage kommenden Rassen informieren können.32, 67, 107-118, 1301 Über die Einzelschicksale hinaus zielt die Beratung auch darauf ab, dass krank gezüchtete Hunderassen aus genau diesem Grund nicht gekauft werden sollten, weil das Leid dieser Tiere nur dann aufhört, wenn auch die Nachfrage endet. Auf dem großen Zuchtmarkt wird nach meiner Erfahrung nur produziert, was der Kunde verlangt. Das versteht heutzutage jeder, selbst wenn es ein wenig seltsam anmutet, Lebewesen mit dem Verhältnis von Angebot und Nachfrage in Verbindung zu bringen.

»Ja, Herr Professor, Sie haben recht, solche Machenschaften darf man nicht unterstützen«, stimmen mir die Ratsuchenden zu und »holen« sich nicht selten kurz darauf wieder einen krank gezüchteten Hund. Das ist leider allzu menschlich. Wenn eine Wahrheit die Bedürfnisse und Interessen einer Person bedroht, will sie schon bald nichts mehr davon wissen. So bleibt mir nur die niederschmetternde Einsicht, dass fachliche Aufklärung wie der Schnee in der Märzsonne schmilzt, sobald ein Tierfreund in die großen Kulleraugen eines Welpen blickt, die vielleicht sogar ein bisschen tränen, was er ganz anders bewertet als ich.

 

Wenn Menschen sich auf eine Rasse eingeschworen haben, sind sie erfahrungsgemäß oft wie festgenagelt. Der emotionale Nahhorizont zu Lebzeiten des Tieres und besonders unter den Eindrücken des Verlusts und der Trauer entscheidet dann oft – und viel häufiger als vernünftiges Denken. Die Prägung durch das geliebte Tier, besonders während schwerer Zeiten mit Ängsten, Schmerzen und intensiver Pflege, hält oft jahrelang an und scheint über die Bindung an das Einzeltier hinauszugehen und auch die Bindung an die Rasse bestimmen zu können. Teils scheinen auch Schuldgefühle einen starken Einfluss zu nehmen, gefühlte Schuld über zu spätes oder zu weniges Kümmern, zu späte Besuche in der Tierarztpraxis oder zu geringe finanzielle Möglichkeiten für die optimale Therapie. Möglicherweise sogar ein Gefühl des Trotzes, dass man trotz einer nicht zugegebenen Fehlentscheidung bei der letzten Rasseauswahl dieselbe Auswahl wieder trifft, um sich selbst zu bestätigen. Beim nächsten Hund wird man es besser machen, und damit das dann auch zählt, muss es wieder dieselbe Rasse sein. Krankheitsrisiken werden dann oft und unbewusst in Kauf genommen.

Wie in vielen anderen Lebensbereichen führen entscheidende Informationen, Aufklärung und gute Expertenratschläge oft nicht dazu, dass sich Einstellungen grundlegend ändern. Emotionale Erfahrungen sind ungleich wirksamer. Das habe ich vielfach bei passionierten Hundezüchtern erlebt, die zumeist eine sehr tiefe, ja liebevolle Bindung zu ihrer Lieblingsrasse auszeichnet. Zur Aufgabe der eigenen Zucht oder zumindest zur kritischen Auseinandersetzung mit den althergebrachten Argumenten traditionsorientierter Zuchtverbände entscheiden sich manche Züchterinnen und Züchter nach meiner persönlichen Erfahrung erst dann, wenn sie ihre Augen vor dem Elend der eigenen Tiere nicht mehr verschließen können. Die Häufung von schwersten Missbildungen etwa, unheilbare Schmerzen oder hohe Tierarztkosten können eine solche Abkehr auslösen. Allerdings ist das Verhalten der Züchter in dieser Frage sehr uneinheitlich. Manche unter ihnen engagieren sich sehr für das Wohl ihrer Tiere und der nächsten Generationen und können deutliche Erfolge vorweisen. Andere verschließen ihre Augen und Herzen vor dem Leid und folgen lieber überkommenen Traditionen, populären Modetrends oder wirtschaftlichen Interessen. Ein echtes Umdenken aber, eine Zeitenwende bei den üblichen Zuchtpraktiken ist in großen Teilen der Züchterschaft nicht zu erkennen. Was wir heute auf den Hundeflaniermeilen, in den Praxen und auf den Obduktionstischen sehen, zeigt, wie dehnbar unsere Empathie sein kann, bevor wir bereit sind, die Komfortzone unseres Weltbilds zu verlassen.

Je größer die vermeintliche Tierliebe, desto stärker können die daraus resultierende Blindheit und Verdrängung sein. Ich mache mir Sorgen um die Qualität unserer Tierliebe, wenn wir chronische Entzündungen der Augen, Ohren, der Haut und des Zahnfleisches als rassetypisch normal und daher akzeptabel bezeichnen. Nackthunde mit Gebissmissbildungen, der Neigung zu Sonnenbrand und anderen Hautproblemen werden als dreitausendjähriges Kulturgut glorifiziert, da die Tiere schon den Azteken als heilig galten. Bei anderen Hunde- und auch Katzenrassen wird angeborene Taubheit als ein Vorteil angesehen, weil die armen Tiere sich bei turbulenten Ausstellungen weniger aus der Ruhe bringen lassen, so die durchaus ernst gemeinte Begründung. Die Tradition bestimmter Wunschmerkmale und Zuchtpraktiken wird allzu oft als Blankoscheck für Tierquälerei missbraucht. Was geht in den Menschen vor, die so argumentieren? Wie groß sind die blinden Flecken, von denen wir nichts wissen wollen?

Als Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben wurden, durften nach der biblischen Überlieferung die Tiere bleiben. Doch wir haben viele von ihnen, vor allem die sogenannten landwirtschaftlichen Nutztiere und Versuchstiere, mit unseren oft gedankenlosen Nützlichkeitserwägungen längst daraus vertrieben. Schonzeit hatten vor allem unsere geliebten Haustiere. Die ist aber seit vielen Jahrzehnten vorbei, ohne dass wir es wahrgenommen haben, und so stehen wir heute auch bei ihnen vor einem Scherbenhaufen. Aber warum bloß haben wir dieser unheilvollen Entwicklung nicht längst Einhalt geboten? Shifting baselines nennt man das wohl heute und meint damit eine schleichende Gewöhnung an langsame Veränderungen, die in ihrer Gesamtheit erst im Rückblick katastrophal erscheinen.

Ist das alles neu?

In meinen Gesprächen mit Hundebesitzern und sogar manchen Züchterinnen und Züchtern werde ich oft ernüchtert, wie wenig über die negativen Folgen der Rein- und Extremzüchtungen bekannt ist. Die Last, die wir vielen Hunden und Katzen damit auferlegt haben, ist in der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt. Das vermeintliche Edelprädikat der Reinrassigkeit scheint in der Wahrnehmung alle dunklen Seiten zu überstrahlen. Mehr und mehr erkennen wir jedoch, dass das gefühlte Qualitätssiegel oft schon lange keines mehr ist und eventuell nie eines war. So gehen die Klagen über die Folgen intensiver Reinzucht auf falsche Zuchtziele erstaunlich lange zurück.

Der berühmte Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Konrad Lorenz brachte bereits vor rund acht Hundeleben in seinem 1950 erschienenen Bestseller So kam der Mensch auf den Hund vehemente Vorwürfe gegen die reinrassige Hundezucht vor. Im Kapitel »Anklage gegen Züchter« verurteilte er die scharfe Zuchtauswahl nach Schönheit und anderen Äußerlichkeiten aufs Schärfste und sah dadurch die Intelligenz und Lernfähigkeit der Tiere gefährdet. Im Besonderen die »Tyrannin Mode« sei verantwortlich für die Vernichtung »ursprünglich ausgezeichneter seelischer Eigenschaften«. An seine Leser appellierte er eindrücklich: »Die Freude daran, dass dein Hund dem Ideal seiner Rasse nahezu entspricht, stumpft in jahrelanger Intimität allmählich ab, nicht jedoch das Missbehagen an psychischen Fehlern wie Nervosität, Handscheuheit oder übertriebene Feigheit […] Ein intelligenter, treuer, nicht nervöser und schneidiger Promenadenmischling bringt auf die Dauer sicher mehr Freude als ein Champion, der viele tausend Schilling gekostet hat.«54 Die für einen Wissenschaftler unüblich starke Rhetorik in seinen Anklagen bewegt auch heute noch. Selbst wenn wir nach gegenwärtigem Verständnis anderen Äußerungen von Lorenz Zweifel entgegenbringen, seine rassebezogenen Schilderungen begründet er ausführlich, detailreich und nachvollziehbar. Zudem wurden seine Auffassungen vielfach durch andere bestätigt, es überrascht jedoch der frühe Zeitpunkt seiner Beobachtungen. Hinter den beklagten Wesens- und Verhaltenseinbußen dürfen wir bereits damals erkennbare und aktuell viel besser verstandene Inzuchtfolgen vermuten, die ich an anderer Stelle beschreibe. Bemerkenswert ist, dass der Nobelpreisträger die vielen medizinischen Probleme und Erbkrankheiten, die seitdem auf das Konto der »Tyrannin Mode« in der Zucht gehen, noch nicht erwähnte. Mit gutem Grund, denn nach allem, was wir heute wissen, waren sie vor siebzig Jahren noch deutlich weniger zahlreich und im Einzelfall noch nicht so stark ausgeprägt wie heute.

Doch das änderte sich bald und mit zunehmender Geschwindigkeit. Bereits 1967, vor rund sechs Hundeleben, warnte die Weltvereinigung der Kleintierärzte davor, dass Rassestandards in der Reinzucht keine Anforderungen oder Empfehlungen enthalten sollten, welche die Funktion von Organen oder Körperteilen nachteilig beeinflussen: »The meeting unanimously declares that concern for the health and welfare of dogs demands that breed standards should not include requirements and recommendations that hinder physiological function of organs and parts of the body.«68 Genau das wird jedoch seitdem bis heute vielfach praktiziert. So enthalten weiterhin zahlreiche der auch für Deutschland geltenden internationalen FCI-Rassestandards – Fédération Cynologique Internationale,