Gespenster-Krimi 133 - Morgan D. Crow - E-Book

Gespenster-Krimi 133 E-Book

Morgan D. Crow

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Beschreibung

Für Lady Eliza Fitzgibbon ist das Übernatürliche eine gar nicht unbekannte Größe. Ihr Freund Harker ist Spezialist für Schutzsymbole gegen feindselige Mächte. Der Nebel über Marsden und die sich häufenden Fälle von Verschwinden oder Tod verlangen beiden eine Menge ab, bis ein geheimnisvoller langer Mann ihnen einen entscheidenden Hinweis gibt.


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Inhalt

Cover

Der Lange Mann

Special

Vorschau

Impressum

Der Lange Mann

Neuer Grusel aus Musgrave Hall

Von Morgan D. Crow

Dichter, undurchdringlicher Nebel hüllte das Land ein, floss über die Wiesen, ergoss sich in Senken und zog sein kaltes Band um das Dorf und das Gut, das einsam neben der Landstraße lag. Aufgehoben und sicher wähnten sich die Menschen in ihren Häusern. Nur wenige lugten hinter ihren Vorhängen hervor und ahnten, dass etwas im dichten Grau lag, das Unheil bedeutete. Dass das Hier und das Dort ins Ungleichgewicht geraten waren.

Der Nebel breitete sich aus. Immer weiter. Strich über Gartenzäune und berührte die von innen fest verschlossenen Fenster und Türen. Dennoch verschwand aus einem der Häuser ein Kleinkind ...

Grace Bennett schloss die Augen. Ihr Nacken war vollkommen verspannt von der langen Arbeit. Zuerst am Tag über allerlei Papiere gebeugt und nun am Abend immer tiefer über Wolle und Nadeln. Dafür, dass ihre Familie mit Wollstoffen und Strickwaren ein ansehnliches Vermögen zusammengebracht hatte, hatte sie selbst nur ein überschaubares Talent dafür, aus Fäden etwas entstehen zu lassen. Das Jäckchen für Pauli wurde immer unförmiger, je länger sie es versuchte. Wahrscheinlich wäre es klüger, es beiseitezulegen und sich auszuruhen. Es lief ja nicht weg.

Grace gähnte und lehnte sich zurück. Ihr Ohrensessel stand nah am Kamin, in dem ein heimeliges Feuer prasselte. Sie lächelte. Hyfield Cottage mauserte sich. Sie und ihr Mann Arthur hatten es 1922 gekauft und im darauffolgenden Jahr mit den Renovierungsarbeiten begonnen.

Auch heute, drei Jahre später, war es noch nicht ganz fertig – was seinen Anteil an Graces Kopfschmerzen hatte –, doch bald war es geschafft. Endlich. Dann konnten sie fest einziehen, statt immer nur die Wochenenden und ein paar Tage in den Ferien hier zu verbringen. Oder dann, wenn sie mal wieder den örtlichen Handwerkern auf die Füße treten mussten.

Grace tat einen so tiefen Seufzer, dass sowohl Arthur als auch Tibbs, der Deutsche Schäferhund der Familie, erstaunt die Köpfe hoben. Arthur, der im zweiten Sessel vor dem Kamin saß und in der Abendzeitung las, runzelte die hohe Stirn.

»Ist etwas? Du siehst müde aus, Liebes.«

»Du bist gut«, sagte Grace und streckte die Hand nach Tibbs aus, der aufgestanden war und ihr seinen großen Kopf auf den Schoß legte. Von seiner letzten Runde durch den Garten war sein Fell noch kühl. »Ich habe den halben Tag mit diesem entsetzlichen Menschen verbracht, der die Wasserleitungen reparieren soll«, berichtete sie. »Hätte er das von Anfang an richtig gemacht, hätten wir keinen See unter dem Küchenfenster gehabt. Und diese Jacke macht mich wahnsinnig ...«

Mit der freien Hand warf Grace das Knäuel aus Wolle, Nadeln und Maschenzählern zurück in den Korb. Arthur vertiefte sich wieder in seine Zeitung.

»Ruh dich aus. So verspannt, wie du bist, kann man sich auf so etwas nicht konzentrieren«, riet er.

Grace schüttelte den Kopf über ihn und fuhr fort, Tibbs zu kraulen. Arthur konnte den ganzen Ärger immer leicht nehmen. Manchmal fragte Grace sich, wie er das anstellte. Arthur war gewiss kein Luftikus. Er war Selfmademan wie ihr Großvater früher. Wenn Arthurs Unternehmen sich auch in vielem von Großvaters unterschied.

Graces Großeltern und Eltern waren bodenständige Arbeiter gewesen. Langsames Wachstum, wenig Risiko. Am Ende hatte es sich ausgezahlt und bot mehr als dreihundert Angestellten ihr Einkommen.

Arthurs Firma war anders. Ambitionierter, experimenteller, mehr Technik, weniger Handwerk. Schneller, expansiver. Sowohl die Firma als auch Arthur's Hirn arbeiteten ständig mit dampfenden Kesseln. Entsprechend brauchte er oft noch eine ganze Weile, um aus seinen Überlegungen und neuen Plänen aufzuwachen, wenn er am Abend heimkam. Sogar wenn sie eigentlich Zeit in Hyfield verbringen wollten, war er häufig noch kurz in der Firma. Stieß erst später zu ihnen, verschwand für ein paar Stunden ...

Das war der Fluch eines Cottage auf dem Land, das in praktischer Nähe zur Stadt lag. Grace beschwerte sich nicht. Oder zumindest selten. Sie selbst war aus ganz ähnlichem Holz geschnitzt. Wie oft kritzelte sie spontan einen Entwurf auf eine Serviette, ging im Kopf so manchem nach, das in Sachen Material und Beschaffung wichtig war, oder blätterte in Katalogen mit Nähmaschinen, während sie ihren Sohn auf dem Schoß hatte? Die Arbeit war, auf beiden Seiten, die dritte Person in ihrer Ehe, und beide waren von Anfang an damit einverstanden gewesen. Da musste man manchmal auch Kröten schlucken.

»Und, Tibbs? Was meinst du? Sollen wir hochgehen und Pauli seine Medizin geben?«, fragte sie.

Der Hund gab ein dumpfes Geräusch von sich, unwillig, den gemütlichen Platz zu verlassen. Grace lachte und wuschelte mit beiden Händen durch seinen Pelz.

»Das kann ich doch machen, Ma'am«, sagte eine freundliche Frauenstimme aus dem Halbdunkel des großen Wohnzimmers heraus.

Es war Mary, das Kindermädchen. Sie trug eben ein Tablett mit einer Kanne Kakao und mehreren Tassen herein. Eine liebe Tradition: Wenn sie auf Hyfield Cottage waren, gab es am Abend heißen Kakao – mit einem Schuss Amontillado.

»Danke, Mary. Das ist sehr lieb von Ihnen. Messen Sie noch mal Fieber? Ich weiß, er hasst das, aber der Doktor sagte ...«

»Natürlich, Ma'am«, meinte Mary, lächelte und schenkte den duftenden Kakao ein.

Sie war eine Perle von Mensch. Trotz ihrer Jugend immer geduldig – auch wenn Pauli wirklich bockig war –, freundlich, ordentlich und zuverlässig.

Mary stammte aus dem Ort. Sie hatten sie eher zufällig kennengelernt, hatten die Wahl aber nie bereut. Sehr schnell war Mary ihnen in die Stadt gefolgt, umsorgte Pauli auch dort. Doch das Landleben fehlte ihr. Ihre Freunde und ihre Eltern. Grace wusste, wie sehr Mary sich auf den Tag freute, an dem die Familie ganz nach Hyfield zog.

»Ich gehe rasch hoch«, sagte Mary, strich ihr Kleid glatt und huschte davon.

»Wirklich ein Treffer, das Mädchen«, stellte Grace leise fest. »Sie will sich verloben, wenn wir hier erst fertig sind. Ich glaube, es gefällt ihr ganz gut, dass wir diesmal etwas länger bleiben. Sie war vorhin ziemlich lange bei ihren Eltern ...« Grace kicherte leise. Tibbs gähnte und rollte sich zu ihren Füßen zusammen.

»Hörst du überhaupt zu?«, fragte Grace und angelte ein Magazin aus dem Ständer neben ihrem Sessel.

»Sicher, Liebes«, murmelte Arthur hinter der Zeitung.

Grace nahm ihre Tasse in die Hand, lehnte sich zurück und schlug das Magazin auf. Worüber auch immer ihr Mann grübelte, es hatte einfach keinen Zweck, ihn anzusprechen.

»Lizzy kommt morgen«, sagte sie dann doch noch und pustete in den Kakao. Der Geruch von Schokolade, Zimt und Nelken stieg ihr in die Nase. Arthurs langes, hageres Gesicht tauchte für einen Moment hinter der Zeitung auf. Er hatte den Kakao bemerkt und nahm einen vorsichtigen Schluck.

»Ach so?«, fragte er, schon wieder halb verschwunden.

»Ja«, sagte Grace. »Zum Lunch. Du bist doch morgen zum Lunch da? Lizzy ist mit Harker drüben in Chipping Cloughton, irgendeine Kirche untersuchen. Wir können dann nachmittags immer noch pünktlich abfahren.«

»Aha«, machte Arthur nur und tauchte wieder hinter seiner Lektüre ab. Grace trank einen großen Schluck. Es hatte wirklich keinen Zweck. Oben hörte sie Mary den Flur entlanglaufen. Recht eilig. Lauter als gewöhnlich. Grace horchte. War das Fieber wieder gestiegen? Nichts tat sich. Unwohl rutschte Grace auf ihrem Platz hin und her. Hatte Pauli gebrochen? Manchmal wurde ihm von der Medizin schlecht. Das war dann jedes Mal ein Theater, er weinte und wurde nur noch wärmer, und man musste achtgeben, dass man nicht sofort wieder anfangen musste zu putzen, sobald man mit dem ersten Durchgang fertig war.

Grace trank noch einen Schluck Kakao. Zwang sich zur Ruhe. Sie neigte dazu, etwas übernervös zu werden, wenn es um Pauli ging. Das wusste sie selbst.

Doch als eilig Schritte die Treppe geradezu herunterflogen und Grace hörte, wie Mary an der Haustür rüttelte, wusste sie, dass etwas passiert war. Sie stellte die Tasse so fest auf den Beistelltisch, dass etwas herausschwappte, und schnellte in die Höhe wie eine gespannte Feder. Tibbs war sofort auf den Beinen und stellte die Ohren auf. Er bellte. Grace zischte »Aus!«

Da erschien Mary in der Tür zum Korridor. Sie war leichenblass und außer Atem. Ihre Stimme zitterte.

»Ma'am ... Ma'am, Pauli ist weg!«

Die Zeitung fiel Arthur aus der Hand, die Tasse beinahe hinterher. Er fing sie gerade noch auf, verschüttete aber den halben Inhalt auf den Vorleger.

»Was?!«, entfuhr es ihm.

Grace lief los. Vorbei an Mary, die unverständlich durcheinanderredete, den Korridor entlang, die Treppe hinauf in den ersten Stock. Sie drängte sich an Mrs. Herbert, der Haushälterin von Hyfield, vorbei und den oberen Flur entlang. Ihr Herz raste. Die Kinderzimmertür stand offen, die Deckenlampe war eingeschaltet und alles hell erleuchtet. Mit weichen Beinen blieb Grace mitten im Zimmer stehen.

Das Bettchen war leer.

Leer. Paul. Paul ist nicht da.

Es begann in Graces Ohren zu pfeifen. In seltsamer kalter Klarheit erkannte sie, dass die Bettdecke mit den Häschen zur Seite geschoben war und ein Teddy auf dem Dielenboden lag. Das Fenster zu ihrer Linken war angelehnt, obwohl es hätte geschlossen sein sollen; wie das andere, hinter dem zusätzlich die Läden geschlossen worden waren. Nichts anderes war verändert.

»Ich verstehe das nicht«, hörte sie Marys tränenerstickte Stimme hinter sich. »Ich war vor einer halben Stunde oben, und da war alles gut.«

Grace fuhr zu ihr herum. »Wo haben Sie nachgesehen? Wo überall?«

»Überall ... Im Bad und in Ihrem Zimmer, Ma'am, und im Gästezimmer. Überall hier oben. Die Haustür ist zu, und Mr. Herbert ist in der Küche, Pauli kann nicht nach draußen sein.«

Grace drängte sich an ihr vorbei, ging Zimmer für Zimmer ab, fiel auf die Knie, lugte unter Betten, in Schränke, hinter Vorhänge. Ein dreijähriges Kind – wie sollte ein dreijähriges Kind mit Bronchitis allein das Haus verlassen können? Unmöglich. Er musste da sein!

Alles rannte und schlich durch das Haus. Mr. und Mrs. Herbert, Mary, Grace, Arthur, der unruhige Tibbs, der zu jaulen anfing, weil er nicht verstand, was passiert war. Hektisch. Dann immer ruhiger, schwerfälliger.

Eine Stunde, nachdem Mary den Kakao gebracht hatte und hinaufgegangen war, um nach Paul zu sehen, saß Grace schwer atmend auf dem Teppich in ihrem Arbeitszimmer und spürte, wie ihre Hände sich zu festen Klauen verformten. Sie hyperventilierte. Ihre Finger waren gelähmt. Arthur lehnte im Rahmen der offenen Tür. Verschwitzt, eine Hand vor dem Gesicht. Mary saß weinend auf der Treppe.

Paul war nicht mehr da.

Nirgends.

Als Eliza Lady Fitzgibbon am nächsten Morgen erwachte, beschlich sie ein formloses, ungutes Gefühl. Es war der jähen Wiederkehr von belastenden Erinnerungen ähnlich, wenn man einen Tag nach einer schlimmen Nachricht zu sich kam und die angenehme Bettschwere hinüberkippte in die Bewusstheit, dass das Leben sich verändert hatte.

Sie rollte sich auf den Rücken und fuhr mit der Hand durch ihr kastanienrotes Haar, das in weichen Wellen über das Kissen floss. Wie spät mochte es sein? Das Licht im kleinen Zimmer der Pension war milchig trüb, doch Elizas innere Uhr verriet ihr, dass es Zeit zum Aufstehen sein musste. Sie tastete nach ihrem Wecker. Tatsächlich: Bereits sieben Uhr. Reichlich Zeit.

Trotzdem blieb sie liegen. Wartete. Das unangenehme Gefühl zog sich langsam zurück. Ein schwerer Samtvorhang, stickig und zu warm. Sie konnte sich nicht erklären, woher er gekommen war.

Seit ein paar Tagen schon leistete sie Harker, ihrem besten Freund seit Kindesbeinen, Gesellschaft in Chipping Cloughton, und die Zeit verflog unbeschwert.

Harker, der Professor an der Universität von Exeter war, untersuchte aktuell die größere der beiden Kirchen des Ortes, in der sich allerlei Besonderheiten fanden. Er war spezialisiert auf magische Vorstellungen und Aberglauben und wollte sich ein Bild davon machen, welche Ideen sich in diesem Gebäude vereinten. Eliza hatte ihren Spaß an der Arbeit, auch wenn sie nur laienhafte Unterstützung anbieten konnte. Der Fachmann war er. In erster Linie leistete Eliza Handlangerdienste und fertigte Skizzen an. Ihre Mutter, Lady Desmondshire, hatte ihr eine altmodisch-gediegene Ausbildung angedeihen lassen, und so verstand sie sich recht gut aufs Zeichnen und auf Aquarelle.

Sie trug jedoch auch ein Notizbuch mit sich herum, in dem sie Verschiedenes festhielt, das ihr als möglicherweise hilfreich erschien. Wusste sie doch zu gut, dass das Unheimliche und Jenseitige, das von so manchem Symbol an den verwitterten Mauern abgehalten werden sollte, sehr real war.

Eliza setzte sich auf. Das kleine Zimmer atmete den Abglanz alter Zeiten. Stramme Polster, Troddeln, dicke Teppiche. Alles musste einmal teuer gewesen sein, war inzwischen aber abgelebt und ausgebessert.

Die Wirtin war recht unsicher gewesen, ob sich die Baroness Griefshire tatsächlich hier einmieten wollte.

Eliza schmunzelte darüber. So ungewöhnlich fand sie das alles nicht. Das Interesse gehobener Kreise an der Archäologie war wahrlich nichts Neues mehr. Ohne Lord Carnarvons Unterstützung hätte Carter wohl kaum vor ein paar Jahren König Tuts Grab freilegen können. Wobei man gelten lassen musste, dass die Kirche von Chipping Cloughton sicher nicht das Tal der Könige war.

Es klopfte leise an Elizas Tür, und sie rief »Herein«. Schon steckte Harker seinen wilden schwarzen Haarschopf ins Zimmer, zögerte aber, als er sie unangezogen im Bett sitzen sah. Sie lachte und winkte ihn zu sich.

»Nun werd nicht albern! Komm rein.«

Harker schlüpfte ins Zimmer und schloss hinter sich die Tür. Er trug Anzughose, Hemd und Weste in hellen Farben, und wie stets etwas knittrig. Eine vergoldete Uhrenkette baumelte an der Weste, und das Hemd spannte etwas an den Schultern, Lohn seiner Gewohnheit, regelmäßig rudern zu gehen. Eliza beobachtete mit wachsendem Argwohn, wie er das Bett umkreiste und sich schließlich darauf niederließ. Sie las in seiner Miene, dass etwas vorgefallen sein musste.

»Was ist los?«, fragte sie.

Harker faltete die Hände im Schoß und sah sie an.

»Grace hat angerufen«, antwortete er. »Sie möchte, dass wir uns auf den Weg machen. Am besten sofort.«

»Was ...? Wieso denn? Ist was mit Paul?« Eliza wusste, dass es dem Sohn ihrer alten Schulfreundin seit einer Weile schon nicht gutging. Er litt unter einer Bronchitis, die einfach nicht ausheilen wollte, und bekam immer wieder Schübe von Fieber. Darum hatte sie zunächst auch gezögert, einen Besuch vorzuschlagen. Chipping Cloughton lag nicht weit von Hyfield entfernt, Elizas eigenes Heim, Musgrave Hall, hingegen um einiges weiter an der Küste. Nicht oft hatten sie die Gelegenheit, sich zu sehen.

Harker verzog das Gesicht. Er musste sich überwinden, es auszusprechen.

»Das Kind ist verschwunden. Es gibt keinen Erpresserbrief, aber das ist wohl die naheliegendste Lösung.«

Einen Moment lang starrte Eliza ihn sprachlos an. Dann glitt ihr Blick zur Seite. Kehrte sich nach innen.

»Eliza ...?«

Sie schluckte. Konnte es sein, dass dieses seltsame Gefühl beim Aufwachen eine Ahnung gewesen war? Sie war weit davon entfernt, etwas wie das zweite Gesicht zu besitzen; Eliza konnte keine Unglücke vorhersagen, keine Krankheiten erspüren und schon gar keine Geister sehen.

Jedoch besaß sie einen untrüglichen Instinkt für genau das, was Harker erforschte – und darüber hinaus. Man mochte diese Erscheinungen Monster nennen, Ungeheuer, Spuk; es gab viele Namen für sie und viele Arten, auf denen sie in die gewöhnliche Welt eindrangen. Mehr als einmal hatten sie dabei Elizas Wege gekreuzt – nicht zu ihrem Vorteil.

»War die Polizei schon bei ihnen?«, fragte sie.

Harker nickte. »Sind sie immer noch. Ich sage meinen Studenten Bescheid, dass wir heute nicht anwesend sein werden. Einverstanden? Sie können mit dem Freilegen der Gräber an der Südseite weitermachen. Wenn das Wetter es zulässt.«

Tatsächlich war in der Nacht ein dichter Nebel aufgezogen, der die Sicht auf weniger als zweihundert Yards begrenzte. Die Luft war klamm und kalt. Ungewöhnlich für den Hochsommer. Alles verschwand unter einer regelrechten Glocke aus Dunst.

Während Eliza in das kleine Badezimmer ging, das zu ihrem Zimmer gehörte, zog Harker die karierten Vorhänge ein Stück beiseite und sah ins Freie. Chipping Cloughton lag still und verhangen. Man konnte kaum zwei Querstraßen weit sehen.

Auch wenn Harker nicht über Elizas Instinkt verfügte, den ein Freund einmal Monster-Verstand genannt hatte: Selbst ihm war, als lauerte etwas in den Schwaden.

Der Nebel erstreckte sich über die Wiesen und Äcker, die den Ort umgaben, bis an die Säume der Wälder. Harker fuhr seinen Ford Modell T behutsam um die Kurven, immer bereit zu bremsen. Nur hier und dort ergaben sich Lücken im Grau, wie Spalten in morschem Holz. Gehöfte versanken wie Inseln am Rande der Wahrnehmung. Einmal meinte Eliza etwas neben der Straße zu sehen, einen Hund vielleicht; doch es verschwand, bevor sie es erkennen konnte.

Bald darauf lichtete der Dunst sich weit genug, um Marsden sichtbar werden zu lassen, das Dorf, hinter dem Hyfield lag. Harker atmete hörbar auf und beschleunigte den Wagen.

»Immerhin etwas«, sagte er.

Eliza schwieg. Eine unerklärliche Kälte hatte sie ergriffen, die ebenso von innen zu kommen schien wie von außen. Sie hielt Ausschau in den Nebeln, erwartete jederzeit etwas darin auftauchen zu sehen. Erst als sie auf die Dorfstraße von Marsden einbogen, legte das Gefühl sich allmählich.

Es klarte noch etwas mehr auf, einzelne Vogelstimmen wurden laut. Menschen gingen ihren täglichen Geschäften nach. Frauen und Männer, die eilig die Bürgersteige entlanggingen, prüfend vor dem Schaufenster der Schneiderin standen oder dem kleinen Marktplatz zustrebten, um Einkäufe zu erledigen.

Eliza atmete durch.

»Es zieht sich zurück«, sagte sie.

Harker sah sie von der Seite an.

»Was meinst du? Nimmst du irgendetwas Konkretes wahr?«

Eliza schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht direkt ein Medium, Harker. Das weißt du.« Sie erzählte ihm von dem Gefühl der Bedrückung, das sie gleich nach dem Aufwachen gefühlt hatte, doch an nichts festmachen konnte. Auch jetzt blieb es vage, besaß kein Gesicht.

Sie setzten ihren Weg fort – erste Köpfe drehten sich zu ihnen um. Es fiel nicht nur Eliza auf, sondern auch Harker.

»Da«, sagte Eliza. Vor dem Postamt parkte ein Polizeiwagen. »Paulis Verschwinden wird sich herumgesprochen haben.«