Gespenster-Krimi 159 - Morgan D. Crow - E-Book

Gespenster-Krimi 159 E-Book

Morgan D. Crow

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Beschreibung

Ein Kopfloser schleicht in den Nächten durch den kleinen Ort Goodman’s Land und verbreitet Angst und Schrecken! Lady Eliza Fitzgibbon von Musgrave Hall vermutet, dass es sich dabei um die widerauferstandene Leiche eines Hingerichteten handelt, und sie muss sein Grab finden und ihn bannen, bevor Menschen verletzt oder gar getötet werden! Doch diesmal ist sie gezwungen, auf die Unterstützung ihres Freundes Professor Harker zu verzichten. Denn der ist wie ausgewechselt, geht ihr aus dem Weg - und kündigt ihr schließlich sogar die Freundschaft!
Noch ahnt Eliza nicht, dass hinter seinem Verhalten ein weiteres übernatürliches Wesen steckt! Doch sie weiß, dass er in Gefahr ist und sie nicht nur gegen den Kopflosen, sondern auch um Harkers Leben kämpfen muss!

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EPUB
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Seitenzahl: 149

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Der Kuss der bösen Fee

Vorschau

Impressum

Der Kussder bösen Fee

von Morgan D. Crow

Zu atmen fiel ihm schwer. Selbst die dünne Wolldecke erschien ihm als tonnenschwere Last. Hitze und Kälte durchströmten seinen Körper, unablässig riss und stach es in sei‍nen Gliedern. Seine Lippen waren aufgesprungen. Brannten. Das Wasserglas auf dem Tisch war unerreichbar für ihn. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Arm zu heben, geschweige denn nach etwas zu greifen.

Sonnenschein fiel ins Zimmer. Die Vorhänge bauschten sich in der Brise, die vom Meer her wehte. Er konnte eine Amsel hören, die ihre hektischen und dabei doch so schönen Lie‍der sang. Eine einzelne Träne lief ihm über die Wange.

Er starb.

Das tat er seit Wochen. Aber nun war das Ende erreicht.

Er klammerte sich an die Schönheit des Sommertages, an die liebliche Stimme der Amsel.

Nie hätte er so tiefe, so erschütternde Reue für möglich gehalten.

Sein verschwommener Blick fiel auf die Vitrine. Seine Auszeichnungen. Die verschiedenen Ausgaben seiner Werke. Und wofür das alles?

Die Welt wurde dunkler. Als legte sich ein Rahmen um sie herum. Immer enger. Immer schwärzer. Die Vorhänge blähten sich, und aus ihrer weißen Weichheit heraus trat eine Gestalt. Schimmernd und hell und schön. So schön ...

Das Herz des Sterbenden wurde schwer und kalt. Dass er noch immer nicht erschrak, wenn er die grauenvolle Frau sah, reizte den Rest seines Verstandes zur Hysterie. Sie war an allem schuld. Sie brachte ihn um. Das wusste er – und empfand doch ein letztes Mal Sanftheit. Freude an ihren fließenden Bewegungen, an der Art, wie der Stoff ihres Kleides sie umspielte. Einen Funken der Hoffnung, dass sie ihm helfen, ihn aus dieser Agonie zurück ins Leben ziehen würde.

Sie setzte sich zu ihm, auf das Sofa mit dem kostbaren Damastbezug und den Löwentatzen. Ihr Haar lag weich und glänzend um ihr Gesicht, ihre schlanke Hand vertraut auf seiner eingefallenen Brust. Er sah sie lächeln, doch ihr Lächeln war grausam.

»Bye-bye, Birdie ...«, flötete sie. »Du wirst mir fehlen. Es war wirklich amüsant mit dir. Aber alles Gute endet einmal, stimmt's? Nimm's nicht so schwer. Sie werden sich alle an dich erinnern. Dafür haben wir ja gesorgt.«

Er wollte sie berühren, sie erweichen, betteln um ihre Hilfe. Sein Körper versagte ihm den Dienst. Sein letztes großes Werk war vollendet. Nun vollendete sie ihn.

»Mach's gut, Birdie«, sagte die Frau. Sie stand auf, und der Sterbende bebte vor Kummer, vor reiner, rasender Verzweiflung. Er wollte die Hand nach ihr ausstrecken, sie berühren, ein letztes Mal ...

Sein Blick brach.

Einen Moment lang stand die Frau im sonnendurchfluteten Zimmer. Dann ging sie zurück zu den Fenstern, löste sich auf in Helligkeit und der Bewegung der Vorhänge.

Mit einem vernehmlichen Schnauben warf Eliza einen Stoß abgearbeiteter Briefe beiseite. Sie verfehlte den Papierkorb, und die Umschläge und ihr Inhalt ergossen sich auf den Teppich. Zähneknirschend stand sie auf und hockte sich neben den Behälter aus dickem Leder.

Es war schon erstaunlich, was man an Postsendungen erhielt, die kein Mensch brauchte. Ganz zu schweigen von denen, die man abarbeiten, vermerken und abheften musste. Sie war damit ein wenig in Rückstand geraten, da der Aufenthalt in Crowley sie noch lange beschäftigt hatte. Es nagte an Eliza, dass es weder ihr noch der Polizei gelungen war, für echte Aufklärung zu sorgen.

Sie zog den Papierkorb näher an ihren Sekretär heran und widmete sich wieder der Arbeit. Da gab es Rechnungen und Kostenvoranschläge – zumindest damit geriet sie nie in Verzug –, ebenso wie Angebote von Handwerkern, die darauf spekulierten, dass es in einem so großen Haus wie Musgrave Hall stets Arbeit für sie gab.

In der Tat war das Herrenhaus, trotz aller Pflege, ständig bedürftig. Seine jahrhundertealte Geschichte verlieh ihm nicht nur eine besondere Seele, sondern auch allerlei Zipperlein. Elizas verstorbener Ehemann, Sir Henry, hatte stets gesagt: Nicht wir besitzen ein Haus, das Haus besitzt uns.

Eliza unterschrieb Verschiedenes, legte es beiseite und nahm die nächsten Briefe zur Hand. Einladung vom Förderkomitee des Kirchenvereins von Saint Hilda. Einladung zum Festakt der Einweihung der neuen Fenster in Saint George. Einladung zum Schulfest der Grundschule in Goodman's Land – handgeschrieben. Charles Hedwig, der Schulleiter, war ein Freund. Sie würde sich zumindest dafür Zeit nehmen müssen.

Was gab es noch? Einladung zur Jahreshauptsitzung des Veteranenvereins; ein Termin, den Eliza nie ausließ. Seit dem Großen Krieg hatten sich Henry und sie für die Versehrten engagiert. Das tat Eliza weiterhin, auch wenn der Krieg inzwischen acht Jahre zurücklag. Sie machte sich eine Notiz in ihrem Kalender.

Das nächste Schreiben. Ihre Freundin Lucy lud sie zum Tee ein. Es würde nett sein, Lucy mal wieder zu besuchen.

Der nächste Umschlag war ungewöhnlich. Das Papier schwer und von sehr guter Qualität. Mit kühn geschwungener Schrift und tiefblauer Tinte war adressiert worden: The Right Honorable Lady Fitzgibbon – Musgrave Hall – Goodman's Land.

»Der trägt aber auf ...«, murmelte sie und drehte den Umschlag um. Ein Wappen war über der Lasche angebracht, doch es sagte ihr nichts. »R. Craine ... Esquire ... Ravenshead.«

Ravenshead? Die Stirn gekraust, lehnte sich Eliza zurück. Sie kannte das Anwesen, auch wenn sie nie dort gewesen war. Es lag etwas abseits und stand seit Langem leer. Nun offenbar nicht mehr. Soweit sie sich erinnerte, war es ein ziemlich großer, einmal ziemlich luxuriöser Kasten. Wer ihn sich ans Bein band, musste viel Geld und viel Zeit haben.

Eliza öffnete den Brief und las ihn mit raschen Blicken. Ein gewisser Craine lud sie in höflicher, gewählter Ausdrucksweise ein, einander kennenzulernen.

Sie legte auch dieses Schreiben beiseite. Im Moment hatte sie wenig Lust auf Höflichkeitsbesuche. Neue Nachbarn hin oder her. Sie würde diesen Mr Craine auf ein andermal vertrösten.

Es klopfte, und Eliza rief: »Herein!«

Ihr Butler trat ein. Dillinger war in ihrem Alter, Anfang dreißig, und hätte als Modell aller Butler durchgehen können. Präzise, von treffsicherem Instinkt und Feingefühl, stets wohlinformiert, taktvoll, nie aufdringlich. Kein Stäubchen sah man auf seiner makellosen Kleidung, kein Härchen stahl sich aus der jettschwarz glänzenden Frisur.

»Ma'am. Mr Chadwick«, meldete er, gab die Tür frei und ließ den Wildhüter von Musgrave Hall ein.

Eliza stand auf, um ihm die Hand zu reichen. »Sie sind das Beste, das mir heute Morgen passiert. Setzen Sie sich doch.«

Chadwick, ein groß gewachsener Schwarzer mit fein getrimmtem Bart und Londoner Akzent, lachte leise auf.

»Sie werden sich gleich weniger freuen, mich zu sehen, Madam«, sagte er.

Er folgte Eliza zu einem gemütlichen Sofa unter dem Fenster. Dem Tisch, auf dem neben einem Weidenkorb mit Stickzeug ein großkalibriges Gewehr lag, widmete er keine besondere Aufmerksamkeit. Er wusste aus Erfahrung, dass es zwischen der jungen Baroness und Feuerwaffen eine gewisse Affinität gab – und dass sie diese bereits gegen allerlei Monstrositäten eingesetzt hatte.

»Was bringt Sie auf den Gedanken?«, fragte Eliza.

Chadwick nahm Platz und wies ins Ungefähre nach draußen. »Mr Pierce und seine Freunde.«

Elizas Züge verfinsterten sich.

Chadwick hob die Schultern. »Ich habe es Ihnen ja gesagt.«

»Was will dieser entsetzliche Mensch denn diesmal?«

»Dasselbe wie immer. Ich habe ihn in Mr Blotts Laden getroffen. Er möchte demnächst eine Fuchsjagd veranstalten und fragt, ob die Gesellschaft den Weg über Ihren Grund nehmen darf. Was soll ich ihm sagen?«

Eliza nickte in Richtung des Gewehrs. »Dasselbe wie immer. Wenn einer seiner blutrünstigen Freunde oder seine Meute meinen Grund und Boden betritt, hat mein Wildhüter Anordnung, auf Sicht zu schießen.«

Chadwick lachte in sich hinein. Unwillkürlich stimmte Eliza darin ein. Sie wussten beide, dass die Drohung hohl war. Angelegt wurde, wenn, dann nur auf Ungeheuer.

Sie beugte sich vor und legte die Hand auf seinen Arm. »Machen Sie ihm Angst, und halten Sie die Augen offen.«

»Das werde ich«, versprach Chadwick.

Ein paar Minuten noch unterhielten sie sich über den Verbiss in den Neupflanzungen, dann brach der Wildhüter wieder auf.

Eliza streckte sich. Atmete einen Moment lang durch. Auf dem Sekretär wartete noch mehr Korrespondenz. Wenig motiviert angelte sie die Zeitung von einem Tischchen. Manchmal half es, dem Gehirn ein wenig Ablenkung zu gönnen, bevor man sich wieder an die Arbeit setzte.

Ein kurzer Blick auf ihre schmale platinglänzende Armbanduhr verriet ihr, dass noch Zeit war, bis Harker da sein wollte. Ihr bester Freund schrieb an einem Buch über die Verwendung magischer Symbole an Gebäuden. Magische Vorstellungen und Aberglaube waren sein Fachgebiet, zu dem er auch lehrte. Er wollte für ein paar Tage vorbeikommen, um die umfangreiche Bibliothek von Musgrave Hall nach möglichen Quellen zu durchforsten.

Bei dem Gedanken an ihn legte sich ein sanftes Lächeln auf Elizas Gesicht.

Sie schlug die Zeitung auf und überflog die Überschriften. Eine stach ihr sofort ins Auge:

ROMANCIER BERTRAM FINNEGAN VERSTORBEN – BELIEBTER AUTOR WURDE NUR 43 JAHRE ALT.

Im Artikel hieß es, Finnegan habe einige Wochen lang mit Entkräftung laboriert und sei seinem Leiden schließlich erlegen. Die Ursache wurde nicht genannt, doch man vermutete eine Infektion, die der äußerst tätige Schriftsteller verschleppt hatte.

Tätig, das konnte man wohl sagen. Eliza besaß selbst beinahe all seine Bücher. Finnegan hatte Kriminalromane verfasst, aber auch eine ganze Reihe fantastischer Erzählungen sowie Theaterstücke. Man konnte sich darauf verlassen, dass einmal im Jahr etwas Neues von ihm erschien.

In den vergangenen drei Jahren allerdings war seine Produktivität nahezu unheimlich geworden. Zwei Romane, ein Theaterstück und mehrere Kurzgeschichten waren sein Standard geworden. Man unkte, dass nicht alles aus seiner Feder stammen konnte, doch Eliza, die eine leidenschaftliche Leserin war, fand keine Brüche in seinem Stil. Was zwischen den Buchdeckeln steckte, war ihrer Ansicht nach zu einhundert Prozent Bertram Finnegan.

Sie legte die Zeitung aus der Hand und kehrte an den Sekretär zurück. Offenbar gab es heute keine Flucht aus trübsinnigen Gedanken.

Die Einwohner von Goodman's Land, einem postkartenschönen Dorf an der englischen Südküste westlich der Isle of Wight, bekamen an jenem sonnigen Tag einiges an Gesprächsstoff. Es begann mit einem hübschen, für die ländlichen Straßen aber wenig geeigneten Wagen, der nach Hawthorne Cottage fuhr. Die meisten glaubten, hinter dem Steuer eine Frau gesehen zu haben. Um wen es sich handelte, blieb ihnen jedoch verborgen. Die hohen, satt blühenden Hecken verdeckten die Sicht.

Hawthorne Cottage wurde im Sommer an allerlei Gäste vermietet, die Ruhe und Privatsphäre schätzten. Wen es in der jeweiligen Saison dorthin zog, war stets ein beliebtes Thema. Häufig kamen Flitterwöchner oder Künstler. Manche beteiligten sich am Dorfleben, andere schlossen hinter sich die Tür und beließen es dabei.

Wer die Frau mit dem schönen Wagen war und wie sie sich betragen würde, darüber wurde eifrig spekuliert. Sogar die Männer beteiligten sich daran. Der Milchmann schwor, der Wagen sei ein Chevrolet gewesen. Mr Blott hielt dagegen, es sei kein amerikanisches Auto, sondern ein europäisches, kein geringeres nämlich als ein Bugatti Type 30.

Über diesen Punkt wurde eifrig hin und her argumentiert, doch schon gegen Mittag verlangte eine weitere Sichtung Aufmerksamkeit. Nachdem in den vergangenen Tagen bereits mehrere große Umzugswagen gesehen worden waren, die nach Ravenshead fuhren, glaubte man diesmal, auch den neuen Besitzer ausgemacht zu haben. Während die Männer sich erneut darin vertieften, was dieses große schwarze Ungetüm von einem Auto gewesen sein mochte, beschäftigte die Damen, dass Ravenshead seit jeher in Verruf stand. Die diversen Variationen der Geschichte des Hauses verlangten nach ausgiebiger Besprechung.

Die Gemüter waren erhitzt, die Theorien spannten sich von Gartentor zu Gartentor. Rasch sprach jemand – ganz sittsam, natürlich – die Beobachtung aus, dass zu Mittag außerdem ein fremder Mann nach Musgrave Hall gefahren war. Zuerst hatte man geglaubt, es sei Professor Harker, der Jugendfreund der Baroness, doch es war lediglich das gleiche Auto. Ein Ford Model T, eine ›Tin Lizzy‹. Der Fahrer war allerdings nicht der wohlerzogene schwarzhaarige Professor, sondern ein sauertöpfisch dreinblickender Kerl mit blondem Haar. Er machte ganz die Anmutung, dass er beim Überfall auf Lindisfarne die Wikinger angeführt haben könnte.

Einer der Veteranen aber, der das Geschwätz der älteren Damen hörte, zerstreute ihre schöne Schreckensvision eines Unholds, der Lady Fitzgibbon heimsuchte: Der Mann in der Lizzy war lediglich ein Büchsenmacher, der wohl langläufig befreundet mit ihr war – ein Mensch namens Torrance.

So war es nicht mehr von großem Interesse, als der Wagen alsbald wieder davonfuhr. Man widmete sich – nach einem kleinen Sherry zur Beruhigung der Nerven – daher wieder der Frau und der Frage, ob Mr Pierce endlich seinen Dickkopf durchsetzen und seine Fuchsjagd über Fitzgibbon-Land führen könnte.

Als Harker seinen Wagen vor Musgrave Hall abstellte, war längst der Nachmittag angebrochen. Er erklomm die Eingangsstufen und strich sich im Gehen den hellen Anzug glatt. Wie es einem Gelehrten geziemte, machte er stets einen gepflegten, doch aber etwas zerknitterten Eindruck.

Die Tür stand offen. Harker nahm seine blauviolett getönte Brille ab und betrat die schachbrettgemusterte Halle. Von oben hörte er ein gleichmäßiges Hämmern. Offenbar hatte Eliza den Umbau bereits in Angriff genommen.

Vor Kurzem erst hatte sie sich entschieden, einen Raum des Herrenhau‍ses in eine zweite Bibliothek zu verwandeln. Darin wollte sie Aufzeichnungen über die Monster sammeln, die seit einer Weile so zahlreich ihre und Harkers Wege kreuzten. Dass sie in Crowley nicht zu einer befriedigenden Lösung gekommen waren, beschäftigte sie noch immer und war letztlich der Auslöser ihrer Pläne gewesen.

An sich war Eliza eine gute Verliererin. Doch dieser Sportsgeist fand sein Ende, wenn Menschen zu Schaden kamen. In Crowley waren es mehrere junge Mädchen gewesen, die spurlos verschwunden waren. Bis heute fehlte jede Spur von ihnen.*

Harker sah sich um und stieg schließlich die Freitreppe herauf nach oben, immer dem Hämmern nach. Es führte ihn zu einem geräumigen Zimmer, das seitlich versetzt zur eigentlichen Bibliothek im Erdgeschoss lag. Die breitete sich auf der Fläche eines Tanzsaales über zwei Stockwerke aus.

Harker klopfte an den Türrahmen. Drei Menschen wandten sich zu ihm um: Dillinger, offenkundig missgestimmt darüber, dass der Neuankömmling ihm nicht aufgefallen war, als er ankam; ein Handwerker mit dickem Schnauzbart; und schließlich – Eliza.

Ihre nachdenklichen Züge hellten sich jäh auf, sobald sie Harker sah.

»He!«, rief sie aus, eilte durch den Raum und umarmte ihn fest. »Entschuldige, ich habe gar nicht auf die Zeit geachtet, mein Lieber. Hundert Kilo Papierkram, und dann musste ich noch Jethro rufen, weil die größere Winchester nicht geht. Na ja. Ich bin jedenfalls froh, dass er herkam und ich nicht zu ihm rausmusste.« Sie wies auf den Handwerker. »Das ist Mr Andrews.«

Mr Andrews, so setzte man Harker auseinander, erneuerte die Vertäfelung, um später massive Regale anbringen zu können. Eine Lösung, wie man die eine mit der anderen Bibliothek verbinden konnte, ohne die kunstvolle Architektur der größeren zu zerstören, war noch nicht gefunden worden. Man arbeite daran.

»Arbeit ist ein gutes Stichwort«, sagte Harker und nahm Eliza für den Moment mit sich hinaus auf den Flur. Andrews hämmerte bereits weiter und legte Dillinger einige Überlegungen dar. »Ich wollte heute noch zur Priory fahren«, sagte Harker. »Die Leiterin sagte mir, es gäbe da ein paar Bände, die mir helfen könnten. Aber sie ist wohl ab morgen im Urlaub.«

Eliza nickte wissend. Die Old Priory war längst keine geistliche Institution mehr, sondern beherbergte unter anderem ein Archiv und die Dorfbibliothek. Ihre Leiterin, Mrs Tibbet, hatte die Schlüsselgewalt über jene heiligen Hallen. Wenn sie, wie in jedem Jahr, für einen Urlaub bei ihrer Schwester weilte, gab es kein Hinein und Hinaus. Darin war sie eisern.

»Kein Problem«, sagte Eliza. »Fahr ruhig. Soll Dillinger dir vorher helfen, dein Gepäck nach oben zu bringen?«

»Das wäre wunderbar. Ich habe einiges an Material mitgebracht. Darum bin ich auch hergekommen, bevor ich mich auf den Weg zur Priory mache. Wenn es möglich ist, will ich vor Ort sichten, was für Werke Mrs Tibbet herausgesucht hat. Es könnte spät werden.«

Eliza schmunzelte. »Nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst. Aber spätestens nach dem zweiten höflichen ›Wie lange werden Sie noch brauchen, junger Mann?‹ solltest du dich sputen.«

Harker nahm die gutgemeinte Vorwarnung mit einem Lächeln an. Er legte die Arme um Eliza und drückte sie an sich. Ihr kastanienrotes Haar duftete nach Sonne und Maiglöckchen.

Er ahnte noch nicht, dass er die Wärme, die sie in ihm weckte, bald vergessen würde.

Der warme Sommertag wurde vom Abend abgelöst. Das flammende Abendrot, das sich in den Kronen der Bäume verfing und die Fensterscheiben glühen ließ, ging über in die Blaue Stunde. Kühle zog auf und trug den salzigen Duft des Meeres weit ins Land.

Am Rande von Goodman's Land, wo die Landstraße zwischen dicken Schwarzpappeln und Holunderbüschen verlief, sahen verschiedene Einwohner in jener Nacht zum ersten Mal die fremde Frau. In der hereinbrechenden Dunkelheit erschien sie ihnen wie ein Geist. Hell und fließend. Beinahe unwirklich.

Sie trug ein zartes Sonnenschirmchen bei sich, das sie verspielt in der Hand drehte, und spazierte die Straße entlang. Verschwand aus ihren Blicken, um nach der lang gezogenen Kurve als weißer Punkt wieder aufzutauchen, der sich immer weiter vom Dorf entfernte. Es gab nicht wenige, denen bei ihrem Anblick ein unerklärlicher Schauer über den Rücken lief.

Die Fremde ging die Straße hinunter bis zu einer großen Kreuzung, schwenkte nachdenklich ihr Schirmchen und kehrte schließlich um. Sie ging vorbei an der Abzweigung nach Hawthorne Cottage, am Rand des Dorfes entlang bis dorthin, wo das sandige Band der Landstraße auf Kopfsteinpflaster stieß. Folgte man den schwärzlich glänzenden Steinen, erreichte man die Old Priory, den Marktplatz oder auch den größeren der beiden Pubs: den ›Golden Gibbet‹.

Wieder wartete die Fremde einen Moment. Ging schließlich weiter. Die Einwohner von Goodman's Land lagen beinahe schon alle in den Betten, als sie abermals kehrtmachte und ihr Schirmchen schwenkte.

Da hörte sie ein Motorengeräusch.

Harker unterdrückte ein Gähnen. Er hatte Mrs Tibbets Geduld tatsächlich arg strapazieren müssen. Allein, dass er Elizas Freund war, bewahrte ihn vor dem ganzen Ingrimm der Bibliothekarin. Man schätzte Eliza im Dorf sehr. Nicht nur, weil sie so viele Einrichtungen tatkräftig unterstützte, sondern weil man sie als Menschen achtete und mochte. Ein wenig dieser Zuneigung färbte auf einen ab, wenn man zu ihr gehörte. Selbst dann, wenn man ältere Damen bis in die Nacht auf den Beinen hielt.