Gespenster-Krimi 111 - Morgan D. Crow - E-Book

Gespenster-Krimi 111 E-Book

Morgan D. Crow

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Beschreibung

Regen tropfte von Strähnen langen Fells herab, perlte über dolchartige Fangzähne und sammelte sich um die Tatzen des großen Tiers. Es verharrte unter den Zweigen eines Baums, wo das Licht es nicht erreichte, wo die Gärten im Schwarz der Nacht lagen. Der goldene Schimmer hinter den Fenstern des Herrenhauses berührte es nicht, als das Tier sich in Bewegung setzte und das große, graue Gebäude umrundete, dessen erster Vorgänger in der Zeit Willhelm des Eroberers errichtet worden war.
Donner rollte über die Landschaft. Ein Blitz zuckte. Für einen kurzen Augenblick zeichnete die Form des Hauses sich scharfkantig gegen die Dunkelheit ab. Man kannte es unter dem Namen Baldoon House.
Und ebenso kannte man das Beast of Baldoon, dessen Erscheinen nichts anderes verkündete als tödliche Gefahr ...


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Inhalt

Cover

Die Bestie von Baldoon

Special

Vorschau

Impressum

Die Bestie von Baldoon

von Morgan D. Crow

Regen tropfte von Strähnen langen Fells herab, perlte über dolchartige Fangzähne und sammelte sich um die Tatzen des großen Tiers. Es verharrte unter den Zweigen eines Baums, wo das Licht es nicht erreichte, wo die Gärten im Schwarz der Nacht lagen. Der goldene Schimmer hinter den Fenstern des Herrenhauses berührte es nicht, als das Tier sich in Bewegung setzte und das große, graue Gebäude umrundete, dessen erster Vorgänger in der Zeit Willhelm des Eroberers errichtet worden war.

Donner rollte über die Landschaft. Ein Blitz zuckte. Für einen kurzen Augenblick zeichnete die Form des Hauses sich scharfkantig gegen die Dunkelheit ab. Man kannte es unter dem Namen Baldoon House.

Und ebenso kannte man das Beast of Baldoon, dessen Erscheinen nichts anderes verkündete als tödliche Gefahr ...

Harker beeilte sich, aus seinem Ford Modell T auszusteigen. Es war der Abend von Lucys Geburtstagsparty, und er verspätete sich bereits. Wenn er und Eliza noch einigermaßen pünktlich ankommen wollten, mussten sie sich sputen.

Der kräftige Regen der vergangenen Tage hatte manche Straße aufgeweicht und so auch Harker eine Umleitung beschert. Immerhin war die Tin Lizzy noch vorzeigbar, und nicht von oben bis unten mit Matsch bespritzt.

Mit ein paar lagen Schritten überwand Harker die Stufen zum Hauptportal von Musgrave Hall und betrat die Halle. Noch bevor er die oberste Stufe erreichte, öffnete man ihm. Formvollendet, wie stets.

»Guten Abend, Sir«, begrüßte Elizas Butler Dillinger ihn.

Harker erwiderte den Gruß und fuhr sich eilig mit den Händen über die Kleider. Eigens für Lucys Party hatte er seinen gewöhnlichen, hellen Alltagsanzug gegen etwas Edleres und Gediegeneres eingetauscht. Schwarz, mit einem seidenen Einstecktuch, einem reinen, steifen Kragen, und besserem

Sitz. An sich verspürte Harker wenig Begeisterung für gesellschaftliche Anlässe. Er, der er Professor an der Universität von Exeter war, wo er über volkstümliche abergläubische Vorstellungen lehrte, zog ein gut sortiertes Archiv oder eine Ausgrabung an einem einigermaßen trockenen Ort jedem Ball vor. Für Lucy, vor allem aber für Eliza, machte er die Ausnahme.

Eliza und Harker waren miteinander seit ihrer Kindheit befreundet. Allein die schwere Zeit nach dem Tod von Elizas Mann, Sir Henry Fitzgibbon, hatte ihre Wege für eine Zeit getrennt. Elizas Bedürfnis nach Ruhe in ihrer tiefen Traue, und Harkers Berufung als Leiter von Ausgrabungen und Forschungen in der halben Welt hatten einen Graben geschlagen.

Diese Zeit jedoch war, zum Glück, vorüber. Seit einigen Monaten bereits war Harker wieder regelmäßig auf Musgrave Hall zu Besuch, verbrachte so viel Zeit, wie er erübrigen konnte, mit Eliza, und sie plante bereits mit Feuereifer, ihn zu einer Ausgrabung zu begleiten. Und auch dieser letzte warme Herbstabend versprach, heitere statt düsteren Gedanken zu bringen.

Dillinger, hoch aufragend und selbst von bedrückender Makellosigkeit, verkündete: »Sie sind noch pünktlich, Sir.«

Harker hörte wohl die unterschwellige Betonung auf dem Wörtchen ›noch‹.

»Ein umgestürzter Baum, Dillinger. Ist sie schon so weit?«

»Ist sie«, ertönte Elizas Stimme von der großen Freitreppe herab.

Harker ging ein paar Schritte weiter in die Halle hinein und fühlte, wie seine Brust sich weitete. Oben auf der Treppe stand Eliza Lady Fitzgibbon, in einem nachtblauen Abendkleid, das mit winzigen Kristallen besetzt war, und funkelte wie der Sternenhimmel. Eine mit Diamanten besetzte Spange hielt ihr Haar, von dem eine seidige, kastanienrote Locke über ihre Schulter fiel. Ein Collier aus platiniertem Silber, Diamantrosen und Saphiren floss über ihre Schlüsselbeine. Heller leuchtete allein ihr Lächeln.

Unbeeindruckt, wie es seiner Art entsprach, stieg Dillinger leichtfüßig die Stufen empor, bot seiner Herrin den Arm und führte sie an die Seite ihres Freundes.

»Danke. Holen Sie eben den Wagen?«

»Gewiss, Madam«, erwiderte Dillinger, und entfernte sich lautlos, um den Phantom vorzufahren. Kurz stach Harker die Erkenntnis, welchen Ingrimm es Dillinger bereiten musste, dass der Ford direkt vor der Tür parkte. Doch der Gedanke verflog, als Eliza ihn umarmte.

»Hallo, du ... Schön, dass du es einrichten konntest. Lucy freut sich schon so sehr darauf, dich mal wiederzusehen, du Unsichtbarer.« Eliza lehnte sich zurück und schmunzelte über den Anflug von Verlegenheit in Harkers Miene.

Mit einem Mal zog er die Brauen zusammen. »Ist das Schießpulver unter dem Chanel?«

»Guerlain, aber: ja. Ich war vorhin noch auf dem Schießstand. – Oh, da ist Dillinger schon.«

Eliza schritt lebhaft voran, offenbar voller Vorfreude auf die Party. Harker folgte ihr mit tief gefurchter Stirn.

»Seit wann hast du einen Schießstand auf Musgrave?«

»Ach, eigentlich schon immer. Henry hat ihn in die erste Remise gebaut. Ist ganz praktisch. Kommst du?«

Im Inneren des Rolls-Royce Phantom war es behaglich. Dillinger sorgte stets dafür, dass die Wagen sauber und fehlerlos waren und in der neuen Remise nicht zu kalt standen. Stieg man ein, fand man keinen Anlass, zur Beschwerde, sondern konnte sich bequem und sorgenfrei kutschieren lassen, wohin man wollte.

Sobald Harker sich neben Eliza auf den glänzenden Ledersitzen niedergelassen hatte, hakte seine Freundin sich bei ihm ein. Sie musterte seinen Anzug, den frisch gestutzten Bart und das Einstecktuch, das sie anerkennend zurechtzupfte.

»Schick siehst du aus. Keiner wird dich erkennen.«

Harker lächelte gequält. Seit seine Forschungen ihn kreuz und quer durch Europa, den Nahen und Mittleren Osten und Teile Nordafrikas führten, war er in seiner alten Heimat ein Fremder geworden. Und selbst dann, wenn er in Exeter unterrichtete und Funde auswertete, hatte ihn lange Zeit kein Weg nach Griefshire geführt. Schon bei seinem ersten Besuch nach Elizas Trauerzeit waren ihm im Dorf viele fragende Blicke gefolgt. Er hatte sich verändert.

»Hat sich wegen dieser Hexenflaschen eigentlich noch etwas ergeben?«, riss Eliza ihn aus seinen Gedanken. »Ich wollte da noch ein Buch bestellen, aber es war einfach nicht zu erwischen – kannst du dir das vorstellen? Ich bleibe jedenfalls dran. Und ich hoffe, die Bilder sind gut! Dieses Bändchen wegen der Fluchpuppen war der reine Witz. Man konnte kaum etwas erkennen, und die Beschreibungen waren so ungenau.«

Harker kicherte brummend in sich hinein.

»Du beschäftigst dich immer noch mit diesen Puppen?«

»Sicher. Wieso auch nicht? Wenn du damit dein Geld verdienst, kann ich damit wenigstens ein bisschen Spaß haben. Was ist denn nun mit den Hexenflaschen?«

Der Motor des Phantom sprang volltönend an. Die Fahrt nach Baldoon würde eine halbe Stunde dauern, mindestens. Genügend Zeit, um zumindest ein wenig mehr über die tönernen magischen Gefäße zu lernen, von denen Harker unlängst einige ausgegraben hatte. Derlei hatte Eliza schon immer fasziniert, und sie brannte darauf, mehr zu erfahren. Soweit sie sich erinnerte, hatten Harker und seine Studenten ein kleines Nest mit drei oder vier Flaschen ausgegraben, die offenbar einmal Federn, menschliche Nägel, Haar und einige, bisher nicht bestimmte Samen enthalten hatten. Auch waren Gruben aufgetaucht, etwa so groß wie ein Laib Brot, ausgekleidet mit Schwanenfedern oder Hundefell.

Noch wusste man nicht genau, zu welchem Zweck, welcher Art von Zauber, diese Gaben gedacht waren. Die Art der Steingutkrüge verriet bisher lediglich, dass die Hexenflaschen aus dem späten sechzehnten oder frühen siebzehnten Jahrhundert stammen mussten.

Mit den Gruben voller Federn verhielt sich die zeitliche Bestimmung schwieriger. Man musste sich beispielsweise ansehen, wie kleine – zufällig oder absichtlich? – mit in die Gruben gelangte Spuren beschaffen waren. Ein Knopf, ein kleines Metallteil, das vielleicht zur Kleidung gehört hatte, eine Perle ... Archäologie war auch Kriminalistik. Kleinste Hinweise konnten wichtig sein, ihr Zusammenhang zueinander Theorien umwerfen oder bestätigen. Genaue Beobachtung war von entscheidender Wichtigkeit.

»Es ist schwierig«, sagte Harker, während der in Dämmerung getauchte Wald von Musgrave an ihnen vorbeizog. »Wir haben bisher keine intakte Flasche ausgraben können, was natürlich zu Schwierigkeiten führt. Jedenfalls ist es eine naive Art der Magie, die in alltäglichen Problemstellungen eingesetzt wurde. Das wissen wir. Ob sie aber dazu gedient haben, einen Zauber auszuführen oder eine Hexe zu bannen, das ist noch offen. In den Archiven des Old Baily in London haben wir – beispielsweise – den Fall einer gewissen Jane Kent gefunden. Sie soll 1682 eine junge Frau mit magischen Mitteln getötet haben. Damals riet ein Apotheker der geschädigten Familie dazu, bestimmte Dinge, wie Nägel, Urin und menschliches Haar, zu kochen und in eine Flasche zu füllen. Als sie dem Folge leisteten, so heißt es zumindest, stand plötzlich Jane Kent vor ihrem Haus. Die Logik ist, dass der Hexe Leiden entsteht, wenn man sie mit derlei Mitteln abzuwehren versucht. Sie kann diesen Zauber nur beenden, wenn sie dich darum bittet – aber dafür muss sie sich zu erkennen geben.«

Die Flaschen, die Harker hatte bergen können, waren Importware aus Deutschland. Salzglasierte Gefäße, sogenannte Bartmänner, wie man sie häufig bei Hexenflaschen antraf. Gläserne Flaschen kamen zu diesem Gebrauch erst später auf, möglicherweise, weil die deutschen Gefäße nicht mehr hergestellt wurden. Neben menschlichen Zaubermitteln konnte man in ihnen auch Tierherzen finden, mit Nadeln oder Nägeln durchbohrt: Ebenfalls ein altbekanntes Rezept gegen Hexen.

»Wisst ihr, was aus Jane Kent wurde?«, fragte Eliza. Harker nickte. »Ja. Sie wurde freigesprochen. Nicht jeder, dem man Hexerei nachsagte, landete automatisch auf dem Scheiterhaufen. Es kursieren darüber leider viele falsche Vorstellungen.«

Eliza seufzte. »Zum Glück für Jane. Sag mal, hast du Lucy noch mal gesprochen, seit ihr neulich telefoniert habt?«

»Nein. Vergräbt sie auffällige Flaschen?«

Elizas Lippen verzogen sich zu einem Lachen. »Schurke. Nein. Aber sie ... Ich weiß nicht recht. Ich habe vorgestern noch mal bei ihr angerufen und sie ... Sie wirkte nicht ganz bei der Sache.«

»Hm. Nicht ganz ungewöhnlich, oder? Sie war immer schon eine Tagträumerin.«

Eliza hob die Schultern. Noch im Dunkel des Wagens funkelten ihr Kleid und ihr Schmuck wie das klare Wasser eines Gebirgsbachs.

»Ich weiß nicht recht ... Sie kam mir seltsam vor.«

Für einen Moment versank Eliza in Gedanken, dann hellten sich ihre Züge wieder auf, und sie lehnte sich entspannt enger an Harker. »Es wird schon kein Kopfloser ums Haus reiten. Erzähl mir lieber weiter von den Flaschen.«

Wobei ein Kopfloser etwas gewesen wäre, mit dem Eliza und Harker sich durchaus gemessen hätten. Geschöpfe, die, für das Verständnis der meisten Menschen, allein in Sagen und Legenden eine Heimat hatten, waren ihnen nicht gänzlich fremd – woran nicht allein Harkers Studien und Elizas Neugier die Schuld trugen. Es war ihnen tatsächlich schon einmal ein unwirkliches Wesen begegnet, das die ganze Gegend in Aufruhr versetzte – und Menschenleben kostete. Sie waren ihm auf ihre eigene Art begegnet.*

Baldoon House ragte wie ein einziger, verwittert-grauer Granitquader gegen den Abendhimmel auf. Glänzend polierte Karossen fuhren, eine nach der anderen, vor, entluden fein herausgeputzte Gäste und wurden schließlich an unauffälliger Stelle geparkt.

Im Haus spielte bereits Musik, und erste Häppchen wurden verteilt, Blumenbouquets, so groß wie Mastferkel, an das Geburtstagskind überreicht, Geschenke in teurer Verpackung entgegengenommen.

Das Wetter war mild, die Gesellschaft bester Laune: Es versprach eine glänzende Party zu werden. Mittelpunkt der heiteren Runde war Lucy of Berwick, Erbin von Baldoon House, die an jenem Abend ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feierte. Sie war von außerordentlich zarter Gestalt, blasser, schier seidig-durchscheinender Haut, und etwas kleiner als die meisten anderen Damen. Eine perfekte Frisur aus platinblondem Haar verlieh ihrem Gesicht einen lieblichen Rahmen. Lucys Wangen waren rosig gefärbt vor Aufregung und Freude, ihre kornblumenblauen Augen leuchteten mit ihrem edlen Schmuck um die Wette.

Lucy war hübsch, auf eine noch etwas kindliche Art, und auf den ersten Blick hätte wohl niemand die kräftige, sonore Stimme vermutet, die aus ihrer Kehle drang. Einen kräftigen Scotch in einer Kristallvase hatte Onkel Bernie sie einmal genannt.

Lucy begrüßte all ihre Gäste herzlich, freute sich über jeden von ihnen. Als aber Eliza und Harker über die Schwelle von Baldoon House traten, entfuhr ihr ein entzückter Aufschrei.

»Da seid ihr ja!«, rief sie ihnen entgegen, und eilte schon auf sie zu.

Ihr luftiges cremefarbenes Kleid wehte um sie herum wie aus lauter Blütenblättern genäht. Sie schlang die Arme um Eliza und drückte sie fest an sich.

»Ach, ist das schön dich zu sehen! Ich konnte es kaum erwarten! Verrückt, wie lange wir uns nicht gesehen haben! – Und DU!« Schon löste sie sich von Eliza und stemmte spaßhaft die Hände in die Hüften. Kritisch musterte sie Harker. Er hatte sich tatsächlich sehr verändert – wie Lucy befand, zu seinem Vorteil. Endlich lächelte sie und schloss auch ihn in die Arme. »Das ist alles viel zu lang her«, sagte sie, und schloss für einen Moment die Augen.

Als sie ihre Freunde wieder losließ lag für den Moment Wehmut in ihren Augen.

»Es ist wirklich zu dumm. Ich hörte von dem Erbe, und dann ging alles Schlag auf Schlag. Dabei sind wir ja jetzt so gut wie Nachbarn! Aber ich hatte einfach keine Zeit, mal kurz rüberzukommen. Ihr ahnt ja nicht, was am Haus alles zu wissen und erledigen ist. Der alte Kasten hält mich ganz schön auf den Beinen!«

Während sie sprach, deutete sie ins Ungefähre hinter sich, wo die große Eingangshalle von einer massiven Treppe aus Holz und schwarzem Marmor beherrscht wurde. Zur linken gingen verschiedene Zimmer, wie der Gelbe Salon und Onkel Angus' altes Arbeitszimmer ab, sowie ein Korridor, tiefer ins Haus hinein; zur Rechten zweigte der Ballsaal ab, ebenso wie das Frühstückszimmer und ein großer Wintergarten.

Im Gegensatz zu Musgrave Hall, war Baldoon House im Inneren so finster wie sein Äußeres. Alle Materialien des Gebäudes und seiner Ausstattung hatten etwas Dunkles, Verschlossenes. Manchen hatte das Alter zugesetzt, und sie allmählich verfärbt, andere waren von Beginn an gewesen, wie sie heute waren. Selbst der große Kronleuchter, der über allem hing, vermochte lediglich Abendstimmung zu erzeugen.

»Geht schon mal rein«, sagte Lucy, mit einem kurzen Nicken zum Ballsaal. »Ich komme nach, sobald ich hier durch bin. Viele können es nicht mehr sein. Wir müssen unbedingt quatschen! – Ich hab euch so vermisst.«

Noch einmal drückte sie beide an sich, dann verlangten die nächsten Ankömmlinge ihre Aufmerksamkeit.

»Wie in einem Gruselfilm,« sagte Harker halblaut, während er Eliza am Arm in den Ballsaal führte, in dem es vor Gesprächen und Musik nur so summte.

Kleine Tische waren anstelle einer langen Tafel aufgestellt worden, mit jeweils fünf oder sechs Stühlen. Nur Lucys Tisch war größer, sodass sie ihre liebsten Gäste direkt um sich haben konnte. Blumenschmuck quoll aus großen Bodenvasen, und durch offene Terrassentüren wehte ein angenehmer Luftzug herein.

Einer der für den Abend bestellten Kellner zeigte Eliza und Harker ihren Platz an Lucys Tafel. Dort saß bereits ein sauertöpfisch dreinblickender Mann mit einer krummen Nase und einer winzigen goldenen Brille, der sich darauf beschränkte am aufgelegten Besteck herumzuschieben, statt sich zu unterhalten.

Zwei Plätze neben ihm war ein großer, rothaariger Mann, der für sein Alter beachtliche Geheimratsecken hatte. Eliza und Harker kannten ihn: Sein Name war Percival, oder kurz ›Percy‹. Er war Lucys Lieblings-Cousin, lebte in London und ging, trotz des allgemeinen Wohlstands der Familie, eigenen, recht guten Geschäften nach. Hauptsächlich handelte er mit Waren des täglichen Bedarfs, für die gehobene Gesellschaft, aber auch ein paar exquisite Kleinmöbel und wenige, handverlesene Antiken gehörten dazu.

Speziell dieser Teil von Percys Geschäften störte Harker. Als Archäologen missfiel ihm jedes einzelne Stück, das, aus dem Fundzusammenhang gerissen, weitab der wissenschaftlichen Erforschung, in privaten Nippes-Regalen endete.

Eliza drückte seinen Arm, und murmelte zwischen den Zähnen hindurch: »Friss ihn nicht vor der Suppe.«

Doch Percy grüßte sie nur kurz. Er war vertieft in ein Gespräch mit einer jungen Dame, die zu Lucys anderem Cousin, Philip, gehörte. Eugenie? Auf dieser Seite der Familie gab es eine ansehnliche Reihe netter, strohblonder Mädchen, die sich alle recht ähnlich sahen und französische Namen trugen. Eliza konnte sie nur schlecht auseinanderhalten, meinte aber, Beatrix und Sophie-Marlène in Anbetung der Musiker zu sehen.

Mit Blumen und Dekorationen, hellen Vorhängen und heller, gut ausgewählter Tischwäsche hatte man sich alle Mühe gegeben, den Saal freundlich zu gestalten, doch auch hier lugte die eigenwillig abweisende Atmosphäre von Baldoon House aus den Ecken. Die Decke war dunkel getäfelt, und schien das Licht regelrecht zu schlucken. Die Engelsgestalten, die an Tür- und Fensterrahmen eingeschnitzt waren, verzogen die Gesichter, ganz als entflöhen sie den Tiefen der Hölle, und wandelten nicht etwa im Glanz des Himmels. Die Wände des Raumes waren mit creme- und silberfarbenen Stoffen abgehangen worden, aber hier und dort zupfte die Brise aus den Gärten daran und ließ altersschwarze Portraits auf die Schar der Gäste herabblicken. Ungebetene Gäste, aus längst vergangener Zeit.

Eliza fröstelte. »Du hast recht. Es ist tatsächlich ein bisschen wie in einem Gruselfilm ... Immer mit dem Rücken an der Wand bleiben.«

»Und wenn der Unhold in den Wänden ist?«

Als endlich der letzte Gast eingetroffen war, kam auch Lucy in den Ballsaal. Sie hatte sich kurz erfrischt und stellte sich nun an ihren Platz an der Tafel, gleich neben Harker und Eliza. Alles verstummte, und Lucy nahm ein schlankes Weinglas zur Hand, um einen Toast auszubringen.

»Meine lieben Freunde,« begann sie, und ihre Stimme wurde durch den ganzen Raum getragen, »meine lieben Verwandten, alle, die ihr heute hier seid, um mit mir zu feiern ... Ich hätte gar nicht gedacht, dass so viele von euch tatsächlich kommen würden. Ich habe jetzt so lange woanders gewohnt, mal hier, mal da, und nun komme ich endlich nach Hause zurück, und kaum sind ein paar Wochen um: Da ist das Haus schon voller Leben!« Alles lachte, applaudierte. »Seht mal, zuletzt war ich in Stockholm, und – uh! – ich kann euch gar nicht sagen, wie schön es ist, wieder die gute englische Luft um die Nase zu haben und eine richtige Tea Time zu genießen. Aber vor allem ist es das Schönste und Beste und das, wofür es sich am meisten lohnt, dass wir jetzt hier zusammen sind. Ich hoffe, dass ich Baldoon guttun werde und alles wieder so schön werden lassen kann wie früher. Nun wollen wir uns aber erst mal einen schönen Abend machen. Esst, lasst es euch gut gehen! Ich versuche, mit jedem einmal zu tanzen, versprochen! Auch mit dir, Tante Muriel!«

Wieder brach Gelächter aus, diesmal lauter: Tante Muriel ging auf die fünfundneunzig zu und war so krumm wie eine Kiefer auf der Heide. Sie hob lachend die Hand und zwinkerte Lucy zu. Man erhob gemeinsam das Glas. Auf Lucy. Auf Baldoon House.