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Ein neues übersinnliches Abenteuer der jungen Lady Eliza Fitzgibbon Baroness of Musgrave und ihres Freundes Professor Harker:
In einem Mädcheninternat verschwinden in den Nächten Schülerinnen, und andere Mädchen erzählen von unheimlichen Spukgestalten. Harker wurde auf das Internat zu einer Gastvorlesung eingeladen, und Eliza begleitet ihn dorthin. Zusammen mit ihrem Freund Inspector Pringle untersuchen sie den Fall der verlorenen Mädchen - und kommen einem schaurigen Geheimnis auf die Spur ...
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Die verlorenen Mädchen
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Impressum
Die verlorenenMädchen
von Morgan D. Crow
Der Wind rüttelte an den Wisterien vor dem Fenster. Janet hörte den Regen, der in den Fallrohren klimperte, als liefen lauter Mäuse über Klaviertasten. Der Gedanke amüsierte sie und nahm ihr ein wenig die Angst vor dem Blitzen und Donnern, das sie schon die halbe Nacht wachhielt.
Erst vor einer Stunde war sie überhaupt eingenickt – und nun lag sie wieder wach. Irgendetwas hatte sie geweckt. Vielleicht ein Geräusch auf dem Flur oder ein Kontrollgang. Überhaupt konnte sie in der Schule nie gut schlafen. Was ungünstig war, wenn man aufs Internat ging und den Großteil des Jahres hier eingesperrt blieb.
Janet Colby verbrachte ihr inzwischen drittes Jahr auf dem St. Bridgets Ladies College, doch das vielbeschworene ›Einleben in die Gemeinschaft‹ war ihr bisher nicht gelungen.
Es war nicht direkt so, dass sie sich nicht mit den anderen Mädchen verstanden hätte, die irgendwann zwischen ihrem elften und achtzehnten Lebensjahr hier landeten. Janet hatte Freundinnen, kam im Unterricht recht passabel mit. Aber die Schwärmerei der anderen, die im Internat Freiheit und Unabhängigkeit und all das sahen und hier zu Hause waren, erschloss sich ihr nicht. Man durfte bloß raus, wenn man fragte und sich abmeldete, musste sich für alles eine Erlaubnis holen, und wenn man sich danebenbenahm, setzte es Strafe, und überhaupt – ach!
Wieder donnerte es, und eine Windböe drückte die Wisterien und ihr knarrendes Rankgitter fest an die Mauer.
Janet fröstelte und versuchte sich damit abzulenken, im Kopf noch einmal die Chemieaufgaben durchzugehen, die sie zum nächsten Tag aufbekommen hatten. Das half ihr manchmal, zurück in den Schlaf zu finden. Chemie war etwas Vertrautes, in dem sie sogar etwas besser war als die anderen in ihrer Klasse. Die Verbindungen und Formeln machten Sinn, und wenn man es gut anstellte, bekam man sogar etwas Praktisches aus allem heraus.
Donner rollten über das Gebäude hinweg, und sie zog die Decke bis zum Kinn. Janet hasste es, sich so vor Wetter zu fürchten. Sturm, Gewitter und Hagel – o Gott, vor allem Hagel! Sie war eigentlich nicht auf den Mund gefallen, machte sich nicht schnell klein. Aber wenn es anfing zu hageln und stürmen, wurde sie so winzig und still, dass sie sich schämte.
Wenigstens machte Muriel, ihre Zimmerkollegin, sich nicht über sie lustig. Muriel war vielleicht hin und wieder etwas trampelig – und schnarchte in manchen Nächten wie ein Walross –, aber sie war schon ein anständiger Kerl, das musste man ihr lassen.
Über Janet knarzte es. Mit krauser Stirn sah sie zu dem Federrost des Bettes über sich auf. Die Zimmer in ihrer Preisklasse des Schulgeldes waren mit drei oder sogar vier Mädchen belegt, was freilich zu eng war. Aber für die Bildung ihrer Töchter nahmen die Eltern es großmütig hin. Allein: Janet und Muriel wohnten zu zweit – und Muriel schlief gegenüber, im anderen Stockbett.
Wieder knarzte es. Janet hob vorsichtig den Kopf vom Kissen und schielte zum anderen Ende des Zimmers. Im unteren Bett sollte eigentlich Muriel liegen. Sie hatten beide die unteren gewählt, weil das weiter weg von den Spinnen an der Decke war.
Laken und Kissen waren zerwühlt, aber verwaist. Muriel war nicht da.
Na toll, dachte Janet, was soll das nun werden?
Das Geräusch wiederholte sich zum dritten Mal – und eine blasse Hand erschien an der Seite des Bettrahmens.
Die zierliche Hand sank tiefer und legte endlich ihre Finger um die untere Kante des Rahmens.
Nun reichte es aber!
»Mann, Muriel!«, rief Janet, schlug ihre Bettdecke beiseite und trat gegen den Federrost. »Das ist nicht witzig!«
Sofort zog die Hand sich zurück. Ein leises Knurren ertönte.
Wütend zerrte Janet ihre Decke wieder zurecht. Ja, knurr mich halt an, ey ...
Wieder knarrte es – doch diesmal war es die Zimmertür.
Muriel stand da und gähnte herzhaft. Sie kam eben von der Toilette zurück.
Janet sprang aus dem Bett wie eine gespannte Feder. Sie stolperte durch das halb dunkle Zimmer, prallte gegen Möbel.
»Mach das Licht an! Mach das Licht an!«, schrie sie.
Reflexhaft und zu Tode erschrocken betätigte Muriel den Schalter.
Die Deckenlampe flammte auf. Etwas polterte.
Janet war gegen einen Stuhl gestoßen und beinahe der Länge nach hingefallen. Sie klammerte sich an eine Kommode und starrte mit weit aufgerissenen Augen zu ihrem Stockbett hinüber.
Das obere Bett war leer.
†
Der kleine Hörsaal der Universität in Exeter war bis auf den letzten Platz gefüllt. Trotzdem herrschte Ruhe. Jeder der Zuhörer – und auch einiger Zuhörerrinnen – wartete in gespannter Neugier auf den Beginn der Vorlesung. Selbst als eine Nachzüglerin hereinkam und sich einen Klappstuhl in der obersten Reihe aufstellte, reagierte niemand mit Murmeln oder gar Beschwerde. Ein paar Köpfe drehten sich, sonst nahm man keine Notiz.
Dabei war jene Nachzüglerin tatsächlich eine ungewöhnliche Erscheinung für einen Hörsaal. Ihr helles Kostüm, die perlenbesetzte Tasche und ihr kleines Hütchen sprachen von viel Geld und ausgesuchtem Geschmack.
Die funkelnde Anstecknadel an ihrer Brust hingegen stand mit den kleinen Rosendiamanten und Saphiren in einem seltsamen Gegensatz zu der einfachen Goldkette mit dem Lapislazuli-Amulett, die um ihren Hals lag. Zwischen beiden Schmuckstücken lagen Welten.
Zweifellos war die Dame mit dem kastanienroten Haar und den dunklen Augen aber nicht der Armut verfallen; neben ihr hatte ein Butler von erschütternder Makellosigkeit Position bezogen. Jemanden wie ihn konnte man sich auf keinen Fall halten, wenn man pleite war. Alles an diesem Mann, von dem sorgfältig pomadisierten jettschwarzen Haar, über den gegen jeden Zweifel erhabenen Anzug und die blütenreinen Handschuhe, bis hin zu den zurückhaltenden, doch hochglänzenden Manschettenknöpfen, sprach von Perfektion.
Ein paar der Studenten, die Professor Harkers historischen und archäologischen Vorlesungen schon länger folgten, kannten das Geheimnis. Die elegante Dame war eine waschechte Baroness – und die beste Freundin des Professors. Die einfache Halskette war sein Geschenk.
Lady Eliza Fitzgibbon, Baroness Fitzgibbon of Musgrave, hatte schon häufig Ausgrabungen besucht, die der Professor geleitet hatte. Dann konnte man sie dabei sehen, wie sie Keramikscherben wusch, Symbole in alten Kirchenstühlen abzeichnete oder mit dünnem Papier und Kohlestift Abreibungen großer Grabplatten anfertigte. Sie teilte rege das Interesse des Professors am Magischen und Rätselhaften und besaß keine Scheu vor ein wenig Staub und Schmutz.
Endlich betrat der Professor den Saal. Er passte gut zur Baroness. Sie waren etwa im gleichen Alter, und mit seinem wilden schwarzen Haar, seinem gut geschnittenen Gesicht mit dem feinen Bärtchen und den vom Rudern breiten Schultern machte er durchaus etwas her. Zu fesseln verstand Professor Harker seine Studenten jedoch nicht mit äußerlichen Vorzügen, sondern mit der Klarheit und Schärfe seines Verstandes.
Der Professor lehnte sich an das Pult und ließ seinen Blick über die Reihen schweifen. Kurz blieb er dabei an Lady Eliza hängen, deren Besuch er offenbar nicht erwartet hatte. Doch es lenkte ihn nur einen Augenblick lang ab. Dann steckte er die Hände in die Taschen seines hellen Anzugs und begann.
»Was ist Angst?«, fragte er, und seine sonore, warme Stimme trug durch den ganzen Raum. »Angst ist ein Gefühl, eine fundamentale Eigenschaft. Sie warnt uns, sie hilft uns zu überleben. Und doch ist Angst zweifellos eine der Regungen des Menschen, der wir am meisten bestrebt sind zu entgehen. Wir wollen sie meiden. Aussperren. Angst kann uns helfen, aber sie kann uns auch in die Irre führen. Uns täuschen. Sich als vollkommen irrational herausstellen. Die Frage ist: Wo zieht man die Grenze? – Lassen Sie uns von vornherein die krankhafte Angst ausklammern, die in ihrer Form behandelt werden muss und in die Obhut eines guten Arztes gehört. Wir möchten hier nicht über Krankheiten sprechen. Dazu sind andere berufen als wir.«
Er verlagerte sein Gewicht. Ließ die Eröffnung nachwirken.
»Wenn Sie auf der Straße einem Hund begegnen, der Sie anbellt, der vielleicht auf Sie zugeht«, fuhr er fort, »dann ist Angst gerechtfertigt. Wenn Sie einer Spinne im Keller begegnen – in unseren Breiten – hingegen nicht. Das eine ist eine reale Gefahr, das andere eine Gefahr, die Ihnen vom Hirn vorgegaukelt wird. Sie fürchten in einer Spinne etwas, das nicht da ist.«
Harker zog etwas aus seiner Tasche und hielt es hoch. Es war ein rotes Bändchen, an dem kleine Medaillen, ein Wolfszahn und zwei Lochsteine, sogenannte Hühnergötter, baumelten.
»Dies ist eine Fraisenkette. Diese Art von Amuletten wurde noch bis in das neunzehnte Jahrhundert hinein verwendet, in erster Linie, um Kinder vor Krampfanfällen zu bewahren. ›Fraisenkette‹ ist ein sprechender Name: Frais leitet sich ab vom althochdeutschen freisa für ›Not‹ oder ›Gefahr‹. Es gibt verschiedene, dem eng verwandte Ausformungen, die gegen jeweils unterschiedliche Krankheiten oder Unglücksfälle schützen sollten.«
Er trat vor, gab die Kette einem der Studenten, damit sie herumgereicht werden konnte, und kehrte an seinen Platz zurück.
»Wir kennen ähnliche Anhänger – und noch eine Vielzahl anderer –, beispielsweise auch von Rosenkränzen. Einige Exemplare sind so stark mit Amuletten aller Art behangen, dass sie eine komplexe Geschichte der Glaubenswelt, wie auch der Leiden ihrer Besitzer erzählen. Kommen etwa Gichtkugeln vor, ist deren Zweck wohl selbsterklärend. Andere Bedeutungen muss man sich erarbeiten. In jedem Fall verraten sie viel darüber, wovor ein Mensch sich schützen will, wovor er Angst hat.«
Wieder zog er etwas aus der Tasche. Es war ein winziges Fläschchen mit einem Korkverschluss. Auch dieses Stück hielt er hoch und gab es dann an die Studenten weiter.
»Walpurgisöl. Es tritt aus dem Sarkophag der Heiligen Walburga in Eichstätt, Deutschland, aus. Man verwendet es bereits seit dem Mittelalter, um Wöchnerinnen vor dem Kindbettfieber zu schützen. Dazu wurde es um den Hals getragen oder in der Nähe des Bettes der Wöchnerin aufbewahrt. Die Angst, dass eine Frau nach der Geburt sterben könnte, war äußerst real. Unsere heutige Erkenntnis, dass rings um die Geburt besondere Hygiene eingehalten werden muss, um Infektionen zu verhindern, ist noch nicht sehr alt. – Was machen wir mit diesen Aussagen? Beide Ängste – die vor Krampfanfällen und die vor dem Tod im Kindbett – sind absolut realistisch. Ebenso wie der Hund aus unserem Beispiel zu Beginn. Sind es aber die Methoden ebenfalls? Kann ein Öl, das aus der Grabstätte einer Heiligen austritt, einer Frau das Leben retten?«
Schweigen.
Jemand in der zweiten Reihe hob die Hand. Harker nickte ihm zu.
»Nein, Sir. Es sei denn, das Öl hätte irgendwelche pharmakologischen Inhaltsstoffe.«
»Hat es nicht«, sagte Harker. »Es handelt sich um gewöhnliches Wasser mit Beimengungen von Mineralien, die offenbar aus dem umgebenen Boden oder dem Sarkophag selbst stammen.«
Wieder hob sich eine Hand. Dann mehrere.
Nach kurzer Diskussion war man sich einig, dass das Öl, das kein Öl war, keine Wirkungen haben könne, abgesehen von dem Gefühl des Beistandes, das man sich mit ihm ins Haus holte.
»Kann eine Fraisenkette ein Kind davor schützen zu erkranken?«, fragte Harker. »Ich gehe davon aus, dass wir zum gleichen Schluss kommen werden.«
Zum dritten Mal zog er etwas aus der Tasche, und der Beobachter, der einen Blick in die letzte Reihe geworfen hätte, hätte ein Lächeln auf dem Gesicht der Baroness entdeckt, die sich über die Wunder amüsierte, die ihr Freund mit sich herumtrug.
Ein halb überraschtes, halb enttäuschtes Raunen wogte durch den Hörsaal. Es war ein Stück Kreide. Weiter nichts. Ein ganz gewöhnliches Stück Kreide.
»Seien Sie nicht entmutigt, Ladies und Gentlemen«, sagte Harker. »Dieses Stück weiße Tafelkreide ist eines der wirkmächtigsten apotropäischen Mittel überhaupt.«
Er umkreiste das Pult und trat vor die große Tafel an der Wand. Darauf malte er mit rascher Hand zwei kreisrunde Flecken mit kleinen, ebenso runden Auslassungen in der Mitte.
Die gemalten Glotzaugen brachten die Studenten zum Kichern. Harker ließ sie.
Dann wies er auf einen hochgewachsenen jungen Mann in der ersten Reihe. »Mr Gilbert, was sehen Sie?«
»Uhm, Augen, Sir. Zwei Augen.«
»Sehr gut. – Solche Augen malte man in manchen Regionen Südosteuropas Hofhunden auf die Stirn, um Untote fernzuhalten. Man glaubte, dass diese Maskerade Wesen, die wir fälschlicherweise als Vampire bezeichnen, abschrecken würden.«
Harker drehte sich zur Tafel und zeichnete einen fünfzackigen Stern. Dieses Symbol erkannten alle. Das Pentagramm.
»Dieser Stern, der auch als Drudenfuß bekannt ist, gilt als eines der stärksten magischen Schutzsymbole schlechthin. Im Laufe der Jahrhunderte hat er diverse Identifikationen erfahren, bis hin zum Abbild der Wundmale Christi. Seinen Namen Drudenfuß hingegen hat er erhalten, da man glaubte, die Druden – übernatürlichen Wesen, die sich, unter anderem nachts, auf die Brust von Schlafenden setzen und ihnen schaden – hätten ähnlich gestaltete Füße, und das Anbringen eines solchen Sternes könnte sie von den Menschen fernhalten. Sie über Kinderbetten zu zeichnen, war ein weit verbreiteter Ritus.«
Harker schrieb etwas an die Tafel. Þistill, mistill, kistill, stand da.
»Ein aus Runenritzungen bekannter, offenbar schutzmagischer Spruch, der nichts weiter bedeutet als: Distel, Mistel, Kistel. Wir kennen über ein Dutzend verschiedene Beispiele, teils ergänzt durch weitere Worte mit der gleichen Endung. Die exakte Bedeutung liegt im Dunkel.«
Wieder hob Harker die Kreide.
»Ich habe Ihnen verschiedene Beispiele gegeben für Mittel, mit denen Menschen zu verschiedenen Zeiten versucht haben, sich Schaden, Unglück und sogar den Tod vom Leibe zu halten. Sich und ihre Angehörigen zu schützen. Es gibt elaborierte Systeme und kunstvoll hergestellte Objekte wie Fraisenketten. Es gibt Substanzen wie das Walpurgisöl. Und es gibt allumfassende Beispiele wie diese Kreide, mit der man alle erdenklichen Arten von Zauber erschaffen kann: Symbole, einzelne Worte, Sprüche, Schutzkreise – alles, was Sie wollen. Ein Stück Kreide konnte für einen kundigen Menschen das Tor zu einer Unzahl von Möglichkeiten werden. Und wenn es ein scheinbar sinnloser Reim wie þistill mistill kistill ist: Er kann eine solche Macht besitzen, dass Relikte sich bis in die heute Zeit erhalten haben. Weil jemand in der Lage war, sie zu schreiben. Weil in diesen drei Worten irgendein Sinn lag – ihnen ein Sinn gegeben wurde –, um Menschen das Gefühl zu vermitteln, dass es etwas gibt, das sie schützt. Vor etwas, das für sie möglicherweise existenziell war. – Angst kann irrational sein. Die Mittel gegen sie ebenfalls. Ob es nun aufgefädelte Wolfszähne sind, Bergkristallkugeln gegen die Gicht oder Ritzungen uns unverständlicher Beschwörungen. Bei ihrer Erforschung dürfen wir eines nie vergessen: Gleichgültig, wie irrational und ungeeignet uns diese Mittel heute erscheinen mögen, das Leiden der Menschen, die sie erdacht haben, war echt. Ihre Furcht. Ihr Bestreben, sich und ihre Familie zu schützen. Das sind sie bis heute. Magische Vorstellungen und ihre physischen Ausdrucksformen werden nie aussterben. Sie geben uns die Möglichkeit, viel über Glaubensinhalte, Gesellschaften und den Einzelnen zu lernen. Verlieren dürfen wir dabei nie die Achtung vor dem, was an ihrem Anfang stand, und den Menschen, die damit konfrontiert waren. Denn letztlich sind die Ängste und Hoffnungen, die Menschen Amulette an rote Bänder binden oder Bedeutungen in Symbole legen lassen, universell. Wenig verbindet uns, über Jahrtausende hinweg, so eng mit Menschen aller Kulturen und aller anderen Arten von Merkmalen wie dieses eine elementare Gefühl: die Angst.«
†
Die Vorlesung endete mit kräftigem Beifall. Eifrig wurde auf die Tische geklopft und die Köpfe zu Diskussionen zusammengesteckt. Einige Studenten drängten vor zum Pult, um Fragen zu stellen oder ihre Begeisterung zu äußern.
Harker ließ alles geduldig über sich ergehen. Derart im Mittelpunkt zu stehen war seine Sache nicht. Er schüttelte Hände, gab kurze Antworten, nickte höflich und war froh, als sich endlich das letzte Grüppchen aus dem Saal schob.
Mit einem Seufzen lehnte er sich gegen sein Pult und blickte hinauf in die oberste Reihe. Eliza legte den Kopf schief und lächelte. Nach einem Moment erhob sie sich und kam leichtfüßig die Stufen herab. Ihr Butler verstaute derweil den geborgten Klappstuhl.
»Hallo, du«, sagte Eliza, streckte die Arme aus und umarmte Harker fest. »Das war eine wirklich schöne Vorlesung. Sind sie immer so artig?«
»Meistens«, sagte er. »Du hast dich gar nicht angekündigt. Was bringt dich nach Exeter?«
Eliza verzog das Gesicht. »Papierkram. Uninteressantes Zeug. Eins von Henrys alten Häusern, weißt du? Wir haben es verkauft, und ich musste herkommen, um es ganz festzumachen.«
Harker nickte, doch er ging nicht weiter darauf ein. Henry, Elizas vor drei Jahren verstorbener Ehemann, war noch immer ein schmerzvolles Thema. Er war Harkers Freund und Förderer gewesen. Und Elizas große Liebe. Ihnen waren zu wenige Jahre vergönnt gewesen und sein Verlust eine Katastrophe, deren Nachwehen noch immer spürbar waren.
»Gehen wir essen?«, fragte Eliza, das Thema verbannend. »Ich habe einen Bärenhunger.«
†
Es verschlug Eliza und Harker ins Duke of York Inn, in der Sidwell Street, unweit des Belmont Park. Man bot ihnen Plätze am Fenster an und brachte die Getränke.
»Isst Dillinger eigentlich nie?«, fragte Harker, nachdem Elizas Butler sich lautlos entfernt hatte.
Sie lachte und nahm ihr Hütchen ab. »Nein. Er lebt allein aus sich selbst heraus und von Tee. Obwohl ich dir nicht einmal mit Sicherheit sagen könnte, wann ich ihn das letzte Mal mit einem Tee gesehen habe.«
Das Essen wurde bald serviert. Es war gute, deftige Hausmannskost.
Während der Mahlzeit sprachen Eliza und Harker nur wenig. Durch das große Fenster mit den weiß lackierten Streben drang warme Sommersonne herein und ließ den von unzähligen Füßen abgeschliffenen Boden matt glänzen. Vom Tresen her hörte man halb laute Gespräche, immer wieder aufgelockert von Lachen und dem Klirren der Gläser. Es war ein ruhiger Tag. Der erste helle nach verregneten Wochen.