Glück im Winkel - Edda Rönckendorff - E-Book

Glück im Winkel E-Book

Edda Rönckendorff

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Beschreibung

Mit ihrer ganz besonderen Art, Menschen zu erfassen und zu beschreiben, hat Edda Rönckendorff in mehreren Büchern immer wieder ihr eindrucksvolles Talent bewiesen, von »Die Enkelin« bis »Der Nebelmann«. In diesen, ihren letzten Geschichten geht es um die Vielfalt subtiler Gefühle, die menschliche Beziehungen prägen – in Liebe und Freundschaft, in Miteinander und Nebeneinander. Es sind Erzählungen, die aus dem Herzen und aus persönlicher Erfahrung kommen, die treffend und warmherzig schildern, was Menschen zueinander führt und wie sie mit sich und anderen umgehen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Edda Rönckendorff

Glück im Winkel

und andere Liebeserklärungen an das Leben

FISCHER E-Books

Inhalt

Charlottes FerienKuchen im ParadiesGartenleiden – GartenfreudenGlück im WinkelAm Weihnachtsabend kam alles andersEin Sommer mit DanielaEinfälle zu meinem BerufStatt einer WeihnachtsgeschichteEin nicht rempelnder RoboterDie Sache mit der AnzeigeNichts als BriefeMiss Emilys neuer ChauffeurTagebuch eines KidnappersDas Mädchen mit den grünen Augen

Charlottes Ferien

Seit drei Monaten wohne ich im Haus meines Vaters. Meine drei älteren Brüder, die nicht nur über mein, sondern auch über Vaters Schicksal bestimmen wollen, fanden es schon lange sinnlos, daß Vater allein in einem Haus lebt, in dem für mich reichlich Platz ist. Und warum soll ich Miete zahlen, wenn ich bei Vater schöner und bequemer wohnen kann? Daß ich lieber allein lebe, halten sie für unwichtig; daß Vater nicht mehr allein lebt, ist ihr eigentliches Ziel, bloß sagen sie es nicht laut. Bei ihren Überlegungen war nur ich anwesend. Meine drei netten und vernünftigen Schwägerinnen werden zum engsten Familienrat nicht zugezogen. Vor Vater haben die drei Brüder Gott sei Dank Respekt. Sie halten es für bequemer, ihn mit ihren Entschlüssen zu überrumpeln.

«Du bist schon dreißig», sagt Julius, und: «Du wirst vermutlich nicht mehr heiraten», Werner. Richard ist nur zwei Jahre älter als ich, aber er behandelt mich wie ein kleines Kind. «Wenn du zu Vater ziehst, seid ihr beide gut versorgt.» Früher hätte ich ihn dafür getreten, aber das geht nun nicht mehr.

«Was ist, wenn Vater nicht will?» fragte ich sie. «Er ist erst 68; und er hat seit einiger Zeit eine neue Witwe, die sehr nett ist.»

«Eben! Wenn du bei ihm wohnst, hört das Witwenunwesen vielleicht auf.» Julius ist es etwas peinlich, daß Vater kein der Welt entrückter Greis ist, sondern gern freundliche weibliche Wesen um sich hat. Dabei könnte er sich daran gewöhnt haben. Vater ist seit zwanzig Jahren Witwer; er hat uns mit einem steten Strom von Hausdamen großgezogen, die immer dann wechselten, wenn sie endgültig erkannten, daß er sie nicht heiraten wollte. Später, als wir alle erwachsen waren und aus dem Haus gingen, traten an ihre Stelle die Witwen, die er auch nicht heiraten will.

Jetzt wohne ich bei ihm. Es geht viel besser, als ich anfangs dachte. Ich bin Chemikerin in einer pharmazeutischen Fabrik. Vater ist Architekt, hat sich aus seinem Büro zurückgezogen, arbeitet aber noch viel zu Hause. Wir sehen uns erst nachmittags, weil ich morgens früh aufstehe, allein frühstücke und im Betrieb in der Kantine esse. Wenn ich nachmittags zurückkomme, ist Vater meistens da. Wir trinken dann Kaffee. Wenn Elisabeth, die gerade amtierende Witwe, zu Besuch ist, sitzen wir mit ihr zusammen. Vater hat den linken Flügel des Hauses für sich, ich den rechten. In der Mitte sind das große Wohnzimmer, das Eßzimmer und die Küche. Sommers leben wir auf der Terrasse oder im Garten, den wir beide beackern. Wir sind leidenschaftliche, aber nicht sonderlich begabte Gärtner.

Das geht nun schon seit drei Monaten sehr gut. Die letzte Witwe, eben die, die ich gut leiden mag und die Julius loswerden möchte, ist immer noch da. Ich habe den Verdacht, daß sie Vater aufgehetzt hat, für mich einen Mann zu suchen. Er ist darin nicht sehr begabt. Er lädt abends einzelne Bekannte oder Freunde ein, bekommt dann plötzlich einen Telefonanruf, daß er dringend fort muß, und läßt mich mit diesen Herren allein. Da Vater nicht mehr ganz jung ist, sind es seine Freunde auch nicht. Die drei, die bisher hier waren, rangieren im Alter zwischen 45 und 60. Beim ersten ist mir noch nichts aufgefallen. Beim zweiten wurde ich stutzig, aber er hatte so offensichtlich mehr Interesse am Umgang mit anderen Männern, daß ich meinen Argwohn fallenließ. Beim dritten allerdings, als Vater wiederum plötzlich das Weite suchte, war alles klar. So fragte ich ihn einfach, ob Vater ihn eingeweiht habe, daß er als Heiratskandidat für mich ausersehen sei. Nein, eingeweiht sei er nicht, aber er habe doch so etwas geahnt. Ob er denn überhaupt heiraten wolle, fragte ich weiter, von mir mal ganz abgesehen. Er hat herzlich gelacht. Nein danke, lieber nicht. Er sei jetzt unbeweibt sechzig Jahre alt geworden und habe Angst vor Experimenten, aber wenn es denn sein müsse, dann schon am liebsten mich. Er hat das so reizend gesagt, daß ich allen Ärger über Vater vergaß. Wir sind essen gegangen und haben uns glänzend unterhalten. Seither sehen wir uns gelegentlich, aber das braucht Vater nicht zu wissen.

Dieser Drang, mich unter die Haube zu bringen, ist einerseits rührend, andererseits lästig. Ich bin kein spätes Mädchen. Ich mag Männer, habe viele Kollegen, mit denen ich gut auskomme, bin an einen Vater und drei Brüder von Kindheit an gewöhnt und weder so häßlich noch so abweisend, daß es mir an Möglichkeiten fehlte. Aber ich habe während des Studiums mit einer ersten großen Liebe Schiffbruch erlitten. Danach gab es noch einen Mann, mit dem ich zusammenlebte, bis mitten in der Nacht ein Anruf kam, er läge nach einem Unfall sterbend in einem Krankenhaus.

Ich habe mir Vater inzwischen vorgenommen. Beim Kaffeetrinken habe ich gesagt, ich sei dankbar, daß er sich so um mich bemühte, aber ob er es wirklich so notwendig fände, mich zu verheiraten. Er sei darin nicht gerade ein leuchtendes Vorbild, ich wäre nach ihm geschlagen, käme gut mit mir aus, und auf Männersuche ginge ich lieber allein. Vater hatte soviel Anstand, rot zu werden. Es sieht merkwürdig aus, wenn ein älterer, grauhaariger Mann rot wird, sehr rührend.

Bleibt noch die Witwe vom Dienst. Es ist gemein, sie so zu nennen, aber nach einem Reigen von Hausdamen und Witwen hat sich der Name in unserem geschwisterlichen Sprachschatz fest verankert. Elisabeth hat kurze graue Haare, schöne, große, sehr helle Augen, viele Falten, eine Figur, die einen neidisch machen kann, und eine lässige Eleganz, mit der sie Vater um ihren mageren kleinen Finger wickelt. Mir imponiert sie sehr, und wenn wir alle etwas weniger zurückhaltend und vorsichtig wären, hätte ich es ihr längst schon gesagt und Vater zu ihr gratuliert. Aber wir sind Eigenbrötler und brauchen Abstand.

Vater und sie wollen verreisen. Ich habe in zwei Tagen Urlaub und bleibe hier. Gestern kam Elisabeth in «meinen» Teil des Hauses, klopfte an, setzte sich und sagte: «Charlotte, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Die Männer waren eine Idee von mir; ich habe es Ihrem Vater eingeredet.»

«Das dachte ich mir. Er ist nicht phantasievoll genug, sich das allein auszudenken. Aber warum? Halten Sie mich für unglücklich?»

«Nein. Ich sehe nur, wie oft Sie abends allein sind. Es waren lauter angenehme und kluge Männer, mit denen man sich glänzend unterhalten kann. Ich will Sie nicht verheiraten. Doch ich habe selber zu lange zu einsam gelebt. Dadurch, daß ich Ihren Vater kennengelernt habe, ist mein Leben runder und farbiger geworden. Es gibt wieder jemand, dem ich erzählen kann, was ich erlebt habe, was mich beschäftigt … Es ist das Echo.» Sie zog eine Schulter hoch, lächelte, ohne mich dabei anzusehen, und schien dann etwas, was sie gedacht hatte, laut auszusprechen. «Man sollte nicht dankbar sein wollen.»

Ich will ihr nichts Böses, aber ich hatte einen schlechten Tag und reagierte patzig und hölzern. «Ich habe es schon Vater gesagt: Männer suche ich mir lieber allein. Trotzdem vielen Dank.»

 

Heute ist mein dritter Urlaubstag. Es ist wunderschönes Wetter. Ich habe auf der Terrasse in der Sonne gelegen, herumgetrödelt, mit meiner Freundin Lore telefoniert, mir dann einen seit Wochen angefangenen dicken Roman geholt und lange gelesen. Darüber muß ich eingeschlafen sein, denn als ich wieder zu mir kam, hörte ich es im Springbrunnen planschen. Von meinem Platz aus konnte ich ihn nicht sehen; er plätschert leise und sehr friedlich vor sich hin und hat einen breiten Rand, damit die Vögel baden können, ist aber so groß und tief, daß man sich hineinsetzen kann. Wenn man steht, reicht einem das Wasser knapp bis zur Hüfte. Was jetzt im Brunnen badete, war kein Vogel. Ich stand auf und ging nachsehen.

Vor dem Brunnen stand ein Knirps von vielleicht drei oder vier Jahren; im Becken badete ein großer schwarzer Hund, von dem ich nur einen breiten Kopf, die Vorderpfoten und einen Wasser verspritzenden Schwanz sehen konnte. Beide waren so vertieft, daß sie mich nicht bemerkten.

«Komm raus, Karo», sagte der Knirps energisch. «Ich kann dich nicht heben. Du mußt allein rauskommen.»

Karo machte freundlich «Wuff» und blieb im Wasser.

«Wenn du nicht rauskommst, rufe ich die Oma!»

Ich war etwas verwirrt. Meinte er damit mich? Hatte er mich schlafen sehen, als er in den Garten eindrang? Warum war ich nicht früher wach geworden? Ein Kind und ein so großer Hund sind nicht gerade geräuschlos.

«Guten Tag», sagte ich. «Wer bist du denn?»

«Tom.» Er sagte es so selbstverständlich, als wären wir uralte Bekannte. «Sie sind die Frau vom Onkel?»

«Nein, ich bin die Tochter vom Onkel.»

«Hebst – heben Sie Karo heraus? Er kommt nicht allein, und ich kann ihn nicht heben.»

Ich hatte keine große Lust. Schwere nasse Hunde, die sich schütteln, machen einen von oben bis unten naß. Ich war noch warm von der Sonne und sauber angezogen. Karo hatte den Grund des Springbrunnens aufgewühlt und badete in grünlicher Plurre. «Er wird schon von allein kommen», sagte ich. «Willst du Saft trinken?»

Er überlegte, versuchte dabei, einen großen Zeh in die Kacheln der Terrasse zu graben, hob den Kopf und musterte mich. «Was für Saft?»

«Roten.»

«Ja.»

Mein neuer, wortkarger Freund tapste hinter mir her in die Küche, sah zu, wie ich Saft aus dem Kühlschrank nahm, in ein Glas goß und auf die Terrasse trug. Er setzte sich in einen der Gartenstühle, baumelte mit stämmigen braunen Beinen, trank Saft – und schwieg.

Meine Nichte und meine zwei Neffen sind noch so winzig, daß man sich nicht mit ihnen unterhalten kann. Ich bin keine geübte Tante. Ich schwieg auch. Nach einigen Minuten wurde das Geplatsche im Springbrunnen so laut, daß offenbar Hund und Wasser gleichzeitig das Becken verließen.

«Jetzt ist er raus. Jetzt gehen wir.» Tom stand auf. Der Hund kam um die Hausecke herum, schloß sich seinem jugendlichen Herrn an und verschwand mit ihm hinter den Büschen des Plattenweges zum Gartentor.

 

Das hat sich nun schon mehrmals wiederholt. Wortkarge Besuche eines kleinen Jungen, der roten Saft trinkt, Badefreuden eines schwarzen Neufundländers, wenig Information. Wie alt er ist, weiß er nicht genau. Seine Zahlenangaben schwanken zwischen drei und fünf. Da er seine wenigen Bemerkungen grammatikalisch einwandfrei von sich gibt, schließe ich auf etwa vier. «Wo wohnst du eigentlich, Tom?» habe ich ihn neulich gefragt. Er deutete mit einem kleinen rosa Daumen auf das Villenviertel auf der anderen Seite unserer Straße. «Dort.»

Wie gesagt, gesprächig ist er nicht. Trotzdem ist es merkwürdig, wie sehr ich mich in diesen stillen, faulen Ferientagen auf ihn eingestellt habe. Als er zwei Tage hintereinander nicht kam, fehlte mir etwas, und ich fragte unseren Postboten nach einem kleinen Jungen, der «dort» wohnte.

Der Postbote folgte meinem Blick und meinem Daumen und schüttelte den Kopf. «Größere kenne ich, und im ersten Haus haben sie jetzt einen Säugling, aber ein kleiner Junge … Der Arzt, der im blauen Haus wohnt, Dr. Wichmann – den kennen Sie doch? –, der hat eine Tochter von vier oder fünf. Na, vielleicht ist er wo zu Besuch.»

Als er fort war, fiel mir ein, daß ich nach dem Hund hätte fragen sollen. Und den Arzt im blauen Haus kannte ich auch nicht. Ich bin ja tagsüber fast nie hier, und wen Vater kennt, weiß ich nicht.

Jetzt in den Ferien nütze ich das Sommerwetter aus und bin tagsüber im Garten. Abends habe ich Besuche gemacht. Bei meinen Brüdern. Julius wollte mich als Babysitter, als er hörte, daß ich noch zwei Wochen frei habe. Ich lehnte ab, und er war etwas ärgerlich. Bei Werner und meiner Lieblingsschwägerin – sie haben zwei ganz kleine Kinder – haben wir bis in die Nacht über ihre Finanzsorge geredet. Sie mußte wegen der kleinen Kinder den Beruf aufgeben; er dient sich gerade erst hoch. Sie haben sich eine Eigentumswohnung gekauft und tun sich schwer mit den Zinsen. Vater hat ihnen schon geholfen, aber es reicht eben immer noch nicht. Weil mir Vater keine Miete abnimmt und ich mit meinem Gehalt nur für mich sorgen muß, kam ich mir ungeheuer kapitalistisch vor. Aber Brüder sind empfindlich. So einfach ist es gar nicht, einem Bruder unter die Arme zu greifen. Darum habe ich mich gestern aus meinem Sommerschlaf aufgerafft und bin Werner im Büro lästig geworden, bis er sich freigenommen hat, um mit mir Kaffee zu trinken. Beim Kaffee habe ich ihm einen Scheck für drei Monate Zinsen gegeben. Ich habe ihm geschworen, daß weder er noch Leonore, noch die Kinder in den nächsten zehn Jahren von mir ein Geschenk zum Geburtstag oder zu Weihnachten bekommen werden und daß statt dessen das Geld für die Zinsen geschenkt ist. Er war so verdattert, daß er es angenommen hat. Jetzt steht noch Richard auf dem Programm.

 

Inzwischen habe ich mit Heiratskandidat Numero drei einen Ausflug gemacht. Wir sind ins Grüne gefahren, haben das Auto stehenlassen und sind zwanzig Kilometer gewandert. Er kann hervorragend planen. Er hat Wanderkarten, weiß genau, wo wir in welchem Gasthaus einkehren können, welcher Weg am schönsten ist, wann wir durch den Wald kommen, damit es – so die Sonne scheint – nicht zu warm wird. Ich mußte an die Witwe vom Dienst denken. Sie hat recht, man kann sich hervorragend mit ihm unterhalten. Er ist dreißig Jahre älter als ich. Das beeindruckt ihn viel mehr als mich. Gelegentlich redet er davon. Er ist ein guter Bekannter von Vater. Vater wäre es doch sicher nicht recht, wenn er wüßte, daß er und ich, daß wir zusammen … Als es drohte, zu einem Leitmotiv zu werden, habe ich ihm, um das Thema zu wechseln, von meinem Freund Tom erzählt. Von Tom kamen wir auf Werner, von Werner auf die beiden anderen Brüder, dann auf Vater und die Witwe vom Dienst.

Ich habe wieder gestaunt, wie wenig ich weiß, was um mich vorgeht. Ich habe Elisabeth in den vergangenen drei Monaten sehr oft gesehen und gesprochen. Wir haben uns unterhalten, über den Garten, das Haus, über Kleider, Kochrezepte oder das Fernsehprogramm. Worüber man eben mit Bekannten redet, die man auf Abstand halten möchte. Ich bin in Hausdamen und Witwen geübt. Ich kenne den Tonfall, der ankündigt, daß nun ein privates Gespräch über Vater einsetzen soll. Ich bekomme dann sofort Scheuklappen, weil ich mich vor tränenerstickten Stimmen fürchte, vor Beteuerungen, Vater zu lieben und mir eine mütterliche Freundin sein zu wollen. Die Brüder hatten es leichter. Sie waren älter und konnten einfach verschwinden. Aber ich war zehn, als Mutter verunglückte, ich habe zehn Jahre Hausdamen und zehn Jahre Witwen hinter mir. Nicht daß Elisabeth Vertraulichkeiten suchte. Im Gegenteil, sie meidet sie noch entschlossener als ich.

Ich habe das alles Numero drei erzählt. «Übertreibst du es nicht, Charlotte? Mußt du immer wie ein Igel sein? Was kostet es dich, sie einmal zu fragen, wie sie lebt, ob sie Familie hat, wie sie deinen Vater kennengelernt hat, was sie tut, wenn sie nicht bei euch zu Besuch ist?»

«Wie lebt sie? Hat sie Familie? Wie hat sie Vater kennengelernt? Was tut sie, wenn sie nicht bei ihm zu Besuch ist?» fragte ich artig.

Er läßt sich von mir nichts vormachen. Darum habe ich ihn so gern. Er lachte. «Die letzte Frage hast du abgeändert. Ich sagte absichtlich ‹bei euch›. Ich glaube nämlich, daß sie Wert darauf legt, mit dir gut auszukommen. Aber du machst es ihr nicht leicht.»

«Nur weil ich ihr keine Fragen stelle? Weißt du, ich will doch nicht mit ihr angeben, mit ihr verreisen und mit ihr schlafen. Das ist Vaters Ressort. Ich habe mir geschworen, nicht in Vaters Leben einzugreifen, als ich nachgegeben habe und zu ihm gezogen bin. Ich bin kein Wachhund und schon gar nicht die Ersatztochter seiner Witwen.»

«Das ist das letzte, was sie will. Sie hat einen Sohn und eine Enkelin. Sie verdient viel Geld damit, daß sie Pullovermodelle für die Kollektion einer großen Firma entwirft. Ich glaube nicht, daß sie eine Tochter braucht.»

«Um so besser. Damit wären auch schon alle Fragen beantwortet, bis auf die des Kennenlernens. Wo war das?»

«Keine Ahnung», sagte er ausweichend. Ich hatte das Gefühl, daß er es genau wußte. Aber die Unterhaltung war irgendwie schiefgelaufen. Er meinte es sicher sehr gut. Ich hatte auch nicht so abweisend sein wollen. Ich mochte die Witwe vom Dienst sogar sehr, aber er hatte nicht meine Erfahrungen. Ich bin ein gebranntes Kind. Was weiß ich, wann sie wieder aus meinem Gesichtskreis verschwindet und eine neue Dame ihren Platz einnimmt?

Numero drei und ich haben zusammen auf der Terrasse zu Abend gegessen. Es ist nicht spät geworden. Er muß morgen früh aufstehen. Das tut er nicht gern. Er freut sich auf seine Pensionierung. Er schläft gern mittags eine halbe Stunde; die fehlte ihm nun, und ein paarmal ist er eingenickt. Und ich saß da und überlegte, ob ich ihn fragen sollte, ob er bleiben wolle. Aber wie kann man das einen älteren Herrn fragen, der zwanzig Kilometer gewandert ist und auf einer sommerlichen Terrasse mit Glühwürmchen einnickt?

 

So war ich mit gut erhaltener Tugend gut ausgeschlafen, als das Drama mit Tom begann. Ich kam gegen elf Uhr vom Einkaufen zurück und hatte gerade den Wagen in die Garage gefahren und den Korb und die Taschen ausgeladen, als ich Karo aufgeregt bellen hörte. Er bellt sonst nicht. Diesmal war es richtiges Gebell, aber es klang falsch; man bekam eine Gänsehaut davon. Ich ließ die Taschen stehen und rannte um das Haus herum zum Brunnen. Karo stand am Rand auf den Hinterpfoten und hielt in der Schnauze Toms blauen Pullover. Tom hing im Wasser. Erst hinterher ist mir eingefallen, daß ich nicht weiß, wie ein Hund etwas in der Schnauze gepackt hält und gleichzeitig bellt.

Ich hob Tom aus dem Wasser. Ich wußte nicht, ob er ohnmächtig oder tot war. Vor lauter Aufregung fand ich keinen Puls. Dann tat ich das, was ich im Erste-Hilfe-Kursus gelernt hatte. Ich legte ihn übers Knie, um erst das Wasser herauslaufen zu lassen; ich klopfte ihm auf den Rücken, dann fing ich mit Mund-zu-Mund-Beatmung an. Plötzlich begann er zu husten und zu spucken. Dann machte er die großen, sehr hellen Augen auf und sah mich leer an. Der nasse Hund stieß ihn an, stieß mich an, zwängte sich zwischen uns und japste. Nach einer Weile hob Tom die Hand und griff ihm ins Fell. Ich hob Tom auf und trug ihn ins Haus. Als ich ihm das nasse Zeug auszog, war Tom kein Junge sondern ein Mädchen. Ich nahm es verwundert zur Kenntnis, war aber viel zu beschäftigt, um im Augenblick darüber nachzudenken. Ich wickelte ihn in eine Decke und legte ihn – nein, sie – auf das Sofa. Dann rannte ich in die Küche und machte Milch heiß. Als ich zurückkam, guckte nur ein kleines blasses Gesicht aus der Decke, aber das Kind lebte und atmete, und ich war glücklich und fing an zu heulen.

Ich gab ihm Milch zu trinken. Es können nur ein paar Schluck gewesen sein, das meiste lief ihm aus dem Mund, oder es schwappte auf die Decke, weil der Hund auch glücklich war. Er leckte mit einer großen roten Zunge Toms Gesicht ab, dann meins, dann wedelte er wie närrisch, versprühte Wasser und sprang zwischen uns herum. «Tom!» sagte ich. «Karo!» und dann umarmte ich einen schwarzen Neufundländer und wischte mir die albernen Tränen in seinem nassen Fell ab, weil der kleine weibliche Tom viel zu blaß und zu zerbrechlich zum Umarmen aussah.

Tom schlief bald darauf ein. Karo legte sich vor das Sofa auf den Teppich. Ich holte den Rest Aufschnitt aus dem Kühlschrank. Karo wedelte, fraß, rührte sich aber nicht von der Stelle. «Du bist ein ganz fabelhafter Hund», sagte ich. «Ohne dich wäre ich nie zum Brunnen gegangen.»

Dann endlich fiel mir ein, daß Kind und Hund ja irgendwo zu Hause waren, nur wußte ich nicht, wo. Die Eltern mußten benachrichtigt werden. Plötzlich dachte ich an die Geschichte von den zu lange ohnmächtigen Menschen, die hinterher nie mehr normal geworden waren. Ein Arzt mußte kommen. «Bleib hier und paß gut auf!» sagte ich zu Karo; dann schob ich die Terrassentür zu, damit er nicht fortlief und Tom allein ließ. Ich rannte zum Gartentor und quer über die Straße zu den Villen. Was hatte der Postbote von einem Arzt gesagt? Hatte er das Baby und wohnte im ersten Haus? Es war wie eins dieser Denkspiele.

Im ersten Haus machte eine junge Frau auf und sah mich etwas erschrocken an. Ich hatte Sturm geklingelt. «Ist Ihr Mann Arzt?» fragte ich.

Sie sah mich weiter an und schüttelte den Kopf. Mir ging plötzlich auf, wie ich aussehen mußte: naß und schmutzig; mein Knoten hatte sich aufgelöst, und die Haare hingen mir ins Gesicht.

«Wo wohnt der Arzt?»

«Dr. Wichmann? Im blauen Haus!»

Ich rannte schon weiter. Beim Rennen fiel mir ein, daß er sicher seine Praxis ganz woanders hatte. Ich hätte von zu Hause aus nach einem Arzt telefonieren sollen. Dann war ich beim blauen Haus. «Dr. Wichmann, schnell!» sagte ich zu der Frau in der Kittelschürze.

«Der Herr Doktor ist nicht da. Er ist in der Praxis. Er kommt erst heute abend wieder.»

«Können Sie ihn anrufen?» Ich drängte mich an ihr vorbei in eine Diele. «Schnell! Wo ist das Telefon? Sagen Sie mir die Nummer!»

Ich folgte ihrer Kopfbewegung und hatte schon den Hörer in der Hand, als sie zu mir kam. Dann ging es Gott sei Dank schnell. Ich meldete mich mit Titel und Namen, überrannte damit seinen Drachen am Telefon und hörte jemand «Wichmann» sagen.

«Haben Sie eine Tochter, die sich Tom nennt und einen schwarzen Hund hat?»

«Ja, aber was …»

«Sie ist in unseren Brunnen gefallen. Sie ist beinahe ertrunken, aber sie lebt, und sie schläft jetzt, aber Sie sollten doch besser …»

Er käme sofort.

Danach lief ich mit der Frau in der Kittelschürze wieder zu uns zurück. Es sind höchstens zwei Minuten, aber ich hatte Angst, Tom könnte vielleicht tot auf dem Sofa liegen. Vor der Terrassentür verließ mich aller Mut. Ich schnappte nach Luft und hatte nicht die Kraft, die Tür aufzuschieben. Die Büsche und Bäume spiegelten sich im Glas, ich konnte das Sofa nicht sehen. Dann schob die Frau – ich weiß jetzt, daß sie Frau Weber heißt – die Tür zurück. Vielleicht sind Arzthaushalte besser auf Katastrophen trainiert. Sie hatte mindestens soviel Angst wie ich, aber sie ging auf Zehenspitzen hinein, geradeaus zum Sofa, beugte sich über Hund und kleine Gestalt unter der Decke, drehte sich dann strahlend zu mir um und sagte: «Sie schläft.»

Ich sank in den großen Blumensessel und saß noch dort, als jemand über die Terrasse rannte und hereinkam.

 

Jetzt ist es später Abend. Ich bin entsetzlich müde, muß aber doch noch sortieren, was alles geschehen ist.

Vater Wichmann horchte seine schlafende Tochter ab, als sie plötzlich aufwachte und sagte: «Papa, ich tu’s nie wieder.»

«Was hast du denn überhaupt gemacht?»

«Ich wollte baden. Bei der Oma hab ich das auch gedurft. Es war so heiß. Ich hab Karo gesagt, er soll mich halten, aber es war glitschig …»

Dann stand Tom vom Sofa auf und verschwand in den Armen seines – verflixt! ich kann mich nicht daran gewöhnen, daß es eine Sie ist – ihres Vaters. Vater und beschürzte ältere Dame übernahmen die weitere Organisation, und ich hätte im Blumensessel bleiben können. Sie kannten sich bei uns aus. Sie wußten, wo das Bad ist, wo die Handtücher liegen, wo man den Kaffee findet und sogar, wo der rote Saft steht. Sie walteten und schalteten, als wären sie hier zu Hause und als gäbe es mich gar nicht. Da es Tom ausgezeichnet ging, fand ich es an der Zeit, mich bemerkbar zu machen. Ich ging zu dem glücklichen Dreigespann in die Küche und sagte meinen Namen.