Sag mir ein neues Wort für Liebe - Edda Rönckendorff - E-Book

Sag mir ein neues Wort für Liebe E-Book

Edda Rönckendorff

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Beschreibung

Was tut eine Frau, wenn der langjährige Freund aus heiterem Himmel ihre beste Freundin heiratet? Sie sagt sich: Jetzt erst recht – und sucht sich einen neuen. Nur diesmal – gebranntes Kind scheut das Feuer – ohne all die emotionalen Investitionen, die doch nichts als Kummer bringen. So beschließt die junge Kunsthändlerin Annemarie, ihre Zukunft sozusagen mit beiden Händen zu packen. Von diesem liebenswerten, heiter-hintergründigen Roman wird sich jede Frau angesprochen fühlen. Edda Rönckendorff zeigt mit leichter, aber sicherer Hand, daß sich gewisse Dinge auf dieser Welt wohl nie ändern werden. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Edda Rönckendorff

Sag mir ein neues Wort für Liebe

FISCHER E-Books

Inhalt

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1

Liebeskummer war der einzige Beweggrund dafür, daß ich an jenem Wochenende in die Eifel fuhr, zu lauter Leuten, die ich bis auf eine Ausnahme nicht kannte.

Margarete Karsten, bei der ich nach dem Abschluß meines Studiums, sozusagen als nachgeholtes Praktikum, den Handel mit Antiquitäten lernen möchte, hatte mich eingeladen. «Wir werden etwa acht sein; alles gute Freunde oder Familie. Wenn Sie Lust haben, Annemarie, kommen Sie doch auch.»

Bei Margarete Karsten geht es nicht so sehr darum, ob man Lust hat; wenn sie pfeift, kommt man. Ich hatte dankbar zugesagt – wirklich dankbar, weil ich immer noch nicht gut über die leeren Wochenenden hinwegkam. Sie gab mir Anweisungen für die Fahrt, und ich hatte versprochen, im Haus zu helfen, wenn Not am Mann wäre.

«Kindchen», sagte Roswitha am Freitag in der Mittagspause, als wir im hinteren Teil des Ladens auf den alten Plüschsesseln mit Troddeln saßen und Tee tranken, «freuen Sie sich nicht zu früh. Sie werden schwer arbeiten und sich hinterher überströmend bedanken müssen.» Roswitha ist Ende Vierzig, mausgrau, Frau Karstens rechte Hand und eine Verkaufskanone. Kein Kunde mit dicker Brieftasche kann sich gegen ihren mausgrauen Charme wehren. Sie hat das Prinzip, Ladenhüter abzustoßen und gute Dinge mit Zähnen und Klauen zu verteidigen. Der Erfolg ist, daß man bei «der Karsten» wunderschöne, edle Antiquitäten zu exorbitanten Preisen kaufen kann. Die Teller, Gläser oder Möbel, die Roswitha sich entreißen läßt, sind ihren Preis wert, und wer wenig Geld hat, fährt auch nicht schlecht, weil Roswithas Ladenhüter immer noch besser sind als anderswo die Prunkstücke. Sie heißt Fräulein Schumacher, aber ich darf Roswitha sagen. Sie nennt mich «Kindchen», was mich zur Weißglut bringt.

«Ich heiße Annemarie!»

«Annemarie, Kindchen, lassen Sie sich warnen. Frau Karsten geht mit seltsamen Menschen um. Sie sind alle sehr interessant, aber …»

Als ich mit Fragen in sie drang, errötete sie ein wenig. «Sie werden schon sehen. Ich glaube, Sie sind auf dem Gebiet erfahrener als ich.» Mehr konnte ich nicht aus ihr herausholen.

Die Fahrt war schön. Ich fand ohne große Mühe bis in die Nähe des Ziels, aber dann scheiterte ich an der Suche nach dem Holzweg. Auf meinem Zettel stand: Holzweg mit Graben, im Graben abgebrochenes Schild. Der erste Holzweg hatte keinen Graben, der nächste kam erst nach zwei Kilometern. Ich stieg aus und suchte nach dem Wegweiser, auf dem «Karsten-Hof» stehen sollte. «Er ist vor zwei Jahren umgefahren worden», hatte Margarete Karsten gesagt. «Ich bin noch nicht dazu gekommen, ihn wieder aufstellen zu lassen.»

Im Graben wucherten Brennesseln – sattgrün, gefährlich und herb duftend. Dazwischen dann doch die Leiche eines modernden Pfahls, auf dem sich kleine schwarze Käfer sonnten. Ich kletterte in den Graben, um festzustellen, ob am Pfosten ein Schild sei, aber wegen der Brennesseln war das nicht so einfach. Dann hörte ich oben auf der Straße ein Auto anhalten, und über mir tauchte wenig später eine große magere Gestalt auf. Ich konnte nur eine dunkle Silhouette erkennen, aber es schien ein Mann zu sein. Im Gegenlicht sah er wie eine Vogelscheuche aus.

«Was tun Sie da?»

Es ärgerte mich, daß mir keine witzige Antwort einfiel. Ich gehöre zu den Menschen, die erst eine halbe Stunde später geistreich sind. Also kletterte ich – ziemlich unelegant – die Böschung hinauf und sagte: «Guten Tag. Ich suche nach einem Schild zum Karsten-Hof. Kennen Sie sich hier aus?»

Die Vogelscheuche war ein Mann in einem dunkelblauen Pullover, grauen Flanellhosen und einem weißen Hemd mit dunkelblauen Karos. Er sah nicht so aus, als gehöre er in die Gegend.

«Was wollen Sie bei Frau Karsten?» Er begann mit der Musterung merkwürdigerweise bei meinen Schuhspitzen und endete zwei Handbreit über meinem Scheitel. Mir kam der Gedanke, daß er, sollte ich plötzlich einen Heiligenschein bekommen haben, lediglich darauf achten würde, ob er auch gut blankgeputzt wäre. Mein Anblick schien ihn nicht sehr zu begeistern. Sein Gesichtsausdruck war ausgesprochen mürrisch. Ich fand ihn ungehobelt und unfreundlich und war absolut sicher, einen der Wochenendgäste vor mir zu haben. «Ich bin bei Frau Karsten eingeladen.»

«Ach! Und wer sind Sie?»

Ich dachte an Roswithas Warnung. Aber ihn konnte sie nicht gemeint haben. Er war weder interessant, noch verdiente er nach dem «aber» eine Gedankenpause. Allerdings erfüllte er mich mit Unbehagen. Ich bin nicht auf den Mund gefallen; meistens kann ich ganz gut mit fremden Menschen reden. Bei ihm aber begann ich zu stottern: «Ich – heiße Annemarie Waldkirch. Ich arbeite – bei Frau Karsten.»

«So, Sie sind das. Sie können hinter mir her fahren. Ich bin auch eingeladen.»

Ich hatte eben die Wagentür hinter mir zugeschlagen, da tauchte er neben meinem Fenster auf. Statt des Waldwegs mit seinem Vorhang aus tief herunterreichenden Fichtenzweigen hatte ich plötzlich den Mittelabschnitt des mageren Herrn vor mir. Er verkrümmte sich, und dann sah ich in das kantige, mürrische Gesicht mit den gar nicht dazu passenden, schönen braunen Augen.

«Entschuldigen Sie mein Benehmen. Ich bin nicht immer so unhöflich. Es muß wohl an meiner Vorfreude auf das Wochenende bei meiner Tante liegen. Ich heiße Karsten. Herbert Karsten.»

Während ich hinter ihm eine Geländefahrt absolvierte, bei der ich um meinen braven alten VW bangte und alle Gedanken hätte konzentrieren sollen, dachte ich an Schorsch. Schorsch ist in München geboren, seine Familie stammt aus Livland und ist von altem Adel. Wir waren schon zusammen im gleichen Kindergarten. Ich kenne und liebe ihn, so lange ich denken kann. Aus einem mageren, rothaarigen kleinen Jungen hat er sich zu einem vierschrötigen, semmelblonden und sommersprossigen Mann entwickelt. Er sieht wie ein westfälischer Bauer aus. Jetzt hat er auch nach Westfalen heimgefunden – zu einer Gräfin und einem Wasserschloß mit Schwänen. Es ist alles sehr schön standesgemäß. Möge er in seinem Wassergraben ertrinken! Leider kann er ausgezeichnet schwimmen.

Und Agneta ist meine Freundin. Wir haben zusammen Kunstgeschichte studiert. Durch mich hat er sie kennengelernt. Ach, was war ich edel! Ich wollte ihrem Glück nicht im Wege stehen. Schorsch sagte, er hätte nie geglaubt, daß aus unserer ewigen Kinderfreundschaft – er war bis vor einem halben Jahr der einzige Mann, mit dem ich überhaupt geschlafen hatte, und das nennt er «Kinderfreundschaft»! – bei mir tiefere Gefühle hätten entstehen können! Und dann sollte ich zur Hochzeit kommen und weiterhin ihrer beider beste Freundin sein! Ich habe am Abend ihrer Hochzeit ein alkoholisiertes Fest gefeiert, bin in einem fremden Bett gelandet, habe festgestellt, daß man auch mit anderen Männern gut schlafen kann – und es seither getan. Agneta schreibt mir unverdrossen. Ich glaube, sie ahnt noch heute nicht, wie ich zu Schorsch stand. Ich kenne in ihrem Schloß jeden Winkel, weil ich so oft dort war. Ich weiß, wo sie schlafen und wo demnächst das Baby wohnen wird. Ich werde dem Baby ein rosa oder blaues Höschen stricken und weiterhin hoffen, daß sein Vater ertrinkt. Ach, Schorsch, einmal wieder mit dir über den ärgerlichen Alltagskram lachen! Insgeheim erzähle ich dir immer noch alles – auch wie ich jetzt in meinem roten Lieschen hinter einem dunkelblauen Alfa Romeo herholpere.

Margarete stand auf einem gepflasterten Hof vor einem düsteren hohen Bruchsteinhaus, hinter dem noch höhere und dunklere Tannen aufragten. Sie trug etwas Buntgeblümtes, wohl ihre Ferienkleidung, denn im Geschäft steckt sie in strengen Kostümen mit weißen Rüschenblusen. Wir begrüßten uns. Wie nett, daß ich ihren Neffen schon kennengelernt hatte! Sie führte uns ins Haus, wies Zimmer an. Meines lag unter dem Dach, winzig, aber sehr gemütlich. «Kommen Sie gleich wieder runter zum Tee, Annemarie. Im Kaminzimmer, Herbert.»

Ich schaute aus dem Dachfenster, packte aus, wusch die Hände. Dann ging ich den Stimmen nach. «Das», erklärte Margarete Karsten, «ist Fräulein Dr. Annemarie Waldmüller.»

«Waldkirch», sagte ich.

«Ach, das kommt daher, daß sie im Geschäft nur Annemarie heißt und ich ihren Namen so selten höre. Ich bin sicher, ihr dürft sie auch so nennen.»

«Ihr» waren zwei sich etwas ähnlich sehende Männer, beide grauhaarig, beide etwa gleich groß und um die sechzig. Sie standen auf. Wir gaben uns die Hand. «Wir sind Baumann und Gruber aus Frankfurt», erklärte der erste. «Das heißt, ich bin Gruber.» Der zweite sagte «Baumann» und hatte einen ebenso festen Händedruck und ein ebenso liebenswürdiges Lächeln. Mir fiel ein Stein vom Herzen. Baumann & Gruber ist ein angesehenes Geschäft in Frankfurt. Die Inhaber sind auf alte Graphik spezialisiert. Es stellte sich heraus, daß der Neffe Herbert ebenfalls vom Fach war, aber bei ihm ging es vornehmlich um alte Teppiche und «ein paar Töpfe und Teller und Miniaturen – Sie wissen schon». So genau wußte ich es nicht, denn das ist nicht mein Gebiet.

Gleich nach dem Tee war «Not am Mann», und meine Tätigkeit begann. In der Küche lernte ich Anna kennen: siebzig Jahre alt, klein, bärbeißig und ein unersetzbar tüchtiges Faktotum. Ich räumte das Teegeschirr ab, half beim Herstellen von Cocktails, bei denen am Gin nicht gespart wurde. Als ich das Tablett ins Kaminzimmer trug, waren die letzten beiden Gäste eingetroffen. Eine elegante, fabelhaft aussehende Frau von Rosbach. Sie wirkte wie ein überzüchtetes Rennpferd; alles war lang und schmal – das Gesicht, die Hände, die Füße. Schräge eisblaue Augen, dunkle, sehr kurze Haare, geblähte Nasenflügel – nein, um im Bild zu bleiben: Nüstern. Bei einem Trakehner nennt man das einen «trockenen» Kopf. Wenn ein Mann mich so ansähe, wüßte ich sofort, daß er interessiert ist. Aber bei einer Frau? Der Mann, der zu ihr gehörte, hätte Filmstar sein können. Jet-set, schlichtes Wildleder, Seidenhemd mit Halstuch, braungebrannt, blondgebleicht oder gefärbt, der Mund voller Jackettkronen. Er sagte tatsächlich «Hei», und er heißt Philip Philip. Wie man das schreibt, weiß ich nicht. Wenn er sich das nicht selber ausgedacht hat, verdienen seine Eltern Schläge.

Wir waren zu siebt. Während die Gäste sich unter Margaretes Anleitung überall im Haus verteilten, half ich Anna beim Tischdecken, Kochen, Schüsseln-Zurechtstellen, Salatwaschen und Kräuterhacken. Aber davor hatte Roswitha mich schon gewarnt, und es störte mich nicht. Mir gefiel Anna, und ich nahm ihr gerne etwas ab.

Bei Tisch saß ich am unteren Ende – damit ich leichter beim Servieren helfen könnte, wie Margarete mir mit einem vertraulichen Zwinkern zuflüsterte. Sonst hatte ich Glück; auf der einen Seite saß der Neffe Karsten, auf der anderen Gruber von Baumann & Gruber. Zum Reden kam ich allerdings nicht. Ich reichte herum, holte nach, schenkte ein, hörte zu und schlang zwischendurch hastig das gute Essen in mich hinein: Schildkrötensuppe, mit klarer Ochsenschwanzsuppe verlängert. («Is billischer, un merkt keiner», sagte Anna. Ich werde es mir merken, denn man schmeckt es wirklich nicht.) Forellen aus dem eigenen Bach, Hirschbraten vom Jagdpächter, Himbeeren aus dem Garten, Sahne von Annas Kuh. Tischgespräch: Antiquitäten rauf und runter. Zweimal Philip (so stellte er sich vor) betreibt mit Frau von Rosbach in München ein Einrichtungshaus oder etwas Ähnliches. Sie richten für reiche Menschen ganze Häuser oder sogar Schlösser ein. Die Tischrede hielt Baumann: Freude über das alljährliche Treffen in altvertrauter, kultivierter Atmosphäre mit altvertrauten und neuen Freunden (Gläserheben auf mich. Ich wurde rot. Wenn ich mir das doch nur abgewöhnen könnte!). Margarete: Organisationstalent in glücklicher Verbindung mit Lebensfreude, Lebensgenuß, Großzügigkeit und liberalem Denken. (Großer Beifall.) Besonders das liberale Denken haben sie ja wohl auch nötig.

«Wie gefällt Ihnen das Haus?» fragte Gruber.

«Ich habe es noch gar nicht richtig gesehen.»

«Dann zeigen wir es Ihnen nachher.»

«Auch die verborgenen Schönheiten?» fragte der Neffe an mir vorbei.

Gruber lächelte flüchtig. «Das wird sich ergeben.»

Abtragen: schwere Tabletts mit alten Nymphenburg-Tellern. Ich schwitzte Blut und Wasser, aber keiner von den anderen rührte einen Finger. Sie zogen ins Kaminzimmer um. Ich kannte es schon vom Tee. Es ist riesengroß und wunderschön eingerichtet. Zum Glück mit bequemen Sesseln. Nicht mit viktorianischen Monstren, zerbrechlichen Stühlchen oder gotischen Bänken. Sessel, in denen man sitzen kann. Ich versank allerdings erst nach einer Stunde in einem davon, nachdem in der Küche aufgeräumt war und ich die dritte Kanne Mokka geholt hatte. Baumann & Gruber, meine selbsterkorenen Ritter ohne Fehl und Tadel, hatten mir einen Platz zwischen sich freigehalten. Sie hatten auch die Flasche mit dem Schweizer Birnenschnaps requiriert. Ich bekam reichliche Zuteilungen.

«Wir brauchen noch Kaminholz.» Margarete sah mich an, aber ich blickte versonnen in den Birnenschnaps; so lange, bis Zweimal Philip aufstand und sich bemühte. Danach hockte er in nachtblauem Samt vor dem Kamin, pustete mit dem Blasebalg, schob Birkenscheite nach und plauderte mit Frau von Rosbach über ein Haus an einem oberbayerischen See, das sie gerade einrichteten.

«Sollen wir jetzt mal durchs Haus gehen?» schlug Baumann vor. Der Neffe Karsten schloß sich uns an. Es wurde zu einer Unterrichtsstunde. Zwei reizende ältere Onkel – leider habe ich nie einen Onkel gehabt, nur zahllose Tanten – waren mir plötzlich in den Schoß gefallen. Sie erklärten Techniken, nannten Daten, Länder und Namen, zeigten kleine Fehler oder Eigenarten der Künstler. Als ich von einem Geschenk sprach, das meine Eltern zur Silberhochzeit bekommen hatten, sahen sie sich verständnisinnig an, und Gruber sagte verschämt: «Bei uns wären es schon fünfunddreißig Jahre.»

Ich hatte sie schon vorher gemocht, jetzt schloß ich sie ins Herz. Vielleicht können sie doch eine Nichte gebrauchen. Sogar der sonst so sauertöpfische Neffe lächelte freundlich. Er hielt sich still im Hintergrund und wurde nur lebhaft, wenn es um Teppiche ging.

Im Treppenhaus hingen Kupferstiche an der Wand. Englische Nachtreiter, eine Reitjagd in Schlafmützen, die ganze Serie. Ich sah sie mir an. Die Männer gingen kommentarlos daran vorbei, aber ich sah, daß sie sich zulächelten. Auch Karsten. Ich dachte an die «verborgenen Schönheiten» und nahm mir vor, sie genauer zu erforschen. In den Schlafzimmern, in die sie eindrangen, obwohl sie belegt waren, gab es Himmelbetten, moderne Graphiken und seltsamen Zierat. In Margaretes Zimmer einen Phallus aus Obsidian. Präkolumbisch, erklärte Baumann. Als ich ihn genauer betrachtete, spürte ich Karstens Blick im Nacken. Ich drehte mich zu ihm um und sah ihn altjüngferlich erröten. Bei Zweimal Philip – über einem Stuhl hing seine Wildlederjacke – lag ein Steiff-Teddy auf dem Kopfkissen. Er war groß, etwas abgewetzt und mit einer handgestrickten grauen Hose und einem Ringelpulli bekleidet. Kühle, hochmütige Blicke aus sechs Männeraugen, aber keine Bemerkungen. Ich schämte mich ein bißchen. Jet-Set, nachtblauer Samt und ein Kinderteddy! An der Wand hingen an einem Brett japanische Stichblätter. Sie waren kleiner als alle, die ich bisher gesehen hatte. Auch kunstvoller. Und die Paare darauf vergnügten sich in den absonderlichsten Posen. Diesmal errötete ich.

Aus Frau von Rosbachs Zimmer holte uns Margarete, die mit durchdringender Stimme durchs Treppenhaus rief: «Kommt runter. Wir machen eine Séance!»

«O Gott!» sagte ich.

«Der wird uns gerade dabei leider nicht beistehen.» (Gruber.) «Mitgefangen, mitgehangen.» (Baumann.)

Wir gingen artig treppab. Plötzlich schloß sich eine Hand warm um meinen Arm. «Verstehen Sie jetzt, warum ich mich so auf das Wochenende gefreut habe?» Der Neffe Karsten lächelte schon wieder. Er roch nach Birnenschnaps. Seine Hand war weder zärtlich, noch wollte sie mich sicher die Treppe hinabgeleiten. Sie suchte nur Halt. Er schwankte leicht.

«Wenn Sie weiter so viel lächeln, haben Sie morgen Muskelkater und bekommen eine Gesichtslähmung.» Ich flüsterte, damit uns Baumann & Gruber nicht hören sollten. Sie bildeten die Vorhut.

Er überging meine Warnung grandios. «Vorsicht vor der Rosbach», zischelte er statt dessen. «Sie hat ein Auge auf Sie geworfen.»

Gruber mochte nicht mehr jung sein, taub war er nicht.

Er drehte sich um. «Nur ein Auge?»

Ich hätte gern etwas über ein Glashaus und Steine gesagt, fand es aber nicht passend. «Sie sind alle so reizend zu mir, vielen Dank, aber ich kann mich meiner Haut ganz gut wehren.»

Ich dachte an Schorsch. Er hätte Tränen gelacht. Wie gut, daß wir nicht bis in mein Zimmer unter dem Dach vorgedrungen waren. Dankeschön, Frau Karsten, daß Sie uns gerufen haben. Ich bin blöd, ich weiß es, aber ich schleppe sein Foto mit mir herum. Es steht auf meinem Nachttisch. Das Foto eines semmelblonden Kleiderschranks, der mit meiner Freundin verheiratet ist. Wenn er wenigstens noch schön wäre! Manchmal ertrinken Schloßherren in ihren Gräben. Er wird mir den Gefallen nicht tun. Oder seine Schwäne werden ihn an Land schleppen, und Agneta kann ihm neuen Atem einhauchen. Vielleicht war es auch bei mir ein bißchen viel Birnenschnaps.

Baumann lehnte am Treppenpfosten. Er legte mir den Arm um die Schultern und sagte genau das, was zu erwarten war. «Kind», sagte er. «Kind, die Dame steht auf Haut, um mich in Ihrer Sprache auszudrücken. Ich kenne ja Ihre Neigungen nicht …»

«Ich bin nicht …» ich schluckte das vulgäre Wort herunter «… an Damen interessiert.»

«Sie vielleicht nicht …» Es klang gedehnt.

 

Wir saßen Schulter an Schulter um einen kleinen runden Tisch und mußten uns alle die Hände geben. Auf dem Tisch lag ein rundes Packpapierblatt mit dem Alphabet. Im Zentrum stand ein umgestülptes Glas. «Das kommt später», tat Margarete das Instrumentarium ab. «Erst müssen wir sehen, ob wir Kontakt bekommen. Das ist nämlich gar nicht so einfach.»

«Den Kontakt haben wir schon, Tante Gretchen!»

«Sei nicht albern, Herbert! Wenn du nicht ernst sein kannst, mußt du nach nebenan gehen.»

Links von mir saß der Neffe, neben ihm Frau von Rosbach, dann Gruber, Margarete, Baumann und rechts von mir Zweimal Philip.

«Legt jetzt alle die Hände auf den Tisch. Eure Finger müssen sich berühren. Der Kreis soll geschlossen sein.»

Wir gehorchten. Vierzehn Hände auf einer Tischplatte sind kein schöner Anblick. Sie wirkten irgendwie nackt und ungehörig. Wir waren alle etwas verlegen. Der Tisch stand in einer Fensternische des Eßzimmers. Margarete hatte die schweren Vorhänge zugezogen. «Wenn ich das Licht ausgeschaltet habe», befahl sie, «darf keiner mehr sprechen. Ich setze mich auf meinen Platz, schließe den Ring, und dann warten wir ab.»

Nervöses Hüsteln, rabenschwarze Dunkelheit, links und rechts zwei fremde kleine Finger. Der auf der linken Seite begann mit meinem kleinen Finger zu spielen. Sieh da, der Herr Neveu! Ich trat nach ihm, spürte aber statt eines Männerschuhs eine glatte seidenbestrumpfte Wade. Der Neffe mußte die Beine um die Stuhlbeine gewickelt haben. Wollte sie mit ihm füßeln? Eine Geschichte von Schorschs Großmutter: «Mein Herr, wenn Sie mich lieben, dann sagen Sie es mir, aber machen Sie mir nicht die Strümpfe schmutzig!» Jetzt rückte rechts ein muskulöser Schenkel in samtener Verpackung in Tuchfühlung. Wenn das so weiterging! Gegenüber kicherte einer. «Seid ruhig!» befahl Margarete streng. «Es geht sonst nicht.»

Plötzlich ging es. Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter. Der Tisch bewegte sich unter meinen Händen; er wippte auf und ab. Nicht sehr schnell, aber ich spürte unter meinen Fingern, wie sich die Platte hob und senkte. Und dann hätte ich um ein Haar laut aufgeschrien. Eine klamme Hand legte sich auf mein Knie. Ich stöhnte vor Schreck tief auf, und der Neffe flüsterte mit Birnenaroma dicht bei meinem Ohr: «Lassen Sie sich nichts vormachen. Es ist Hokuspokus!»

«Pst!» zischte jemand.

Ich hatte mich gefangen und begriff nun, daß es sich nicht um ein Gespenst, nicht um Liebe zu meinem Knie, sondern um Angst handelte. Die Hand, die sich um meine Kniescheibe schloß, zitterte so stark, daß ich es im ganzen Bein spürte. Ich schob meine rechte Hand nach rechts und stieß auf einen Daumen. Also lag die linke Hand von Zweimal Philip auf meinem Knie. Ich hauchte dort hin, wo sein Ohr sein mußte: «Keine Angst. Es passiert nichts!»

Dann ging mir auf, daß einer schummelte, denn der Tisch wackelte weiter, obwohl Philip und ich den Kreis längst durchbrochen hatten. Meine rechte Hand lag beruhigend auf dem Samtärmel. Ein Beau, der mit einem Plüschteddy ins Bett ging und beim Tischrücken Zustände bekam! Ich fand ihn auf einmal ganz menschlich und war voller Mitleid. Damit war bei mir dann der Bann gebrochen. Jemand rückte absichtlich am Tisch, neben mir zitterte einer vor Angst – und das alles als Gesellschaftsspiel!

Ich drehte den Kopf und hauchte nach links: «Können Sie das abstellen?»

Aber nicht der Neffe Karsten unternahm etwas, sondern Frau von Rosbach. «Der Kreis ist durchbrochen», sagte sie mit ihrer hellen, etwas strengen Stimme. «Margarete, mach bitte das Licht an.»

Stuhlrücken und Geraschel. Ich griff unter den Tisch, löste die Hand von meinem Knie, zerrte sie auf die Tischplatte, streckte meine Finger aus, bis ich den Anschluß fand, und war gerade fertig, als das Licht anging. Wir starrten blinzelnd auf den Tisch, wo brav alle vierzehn Hände lagen.

Margarete war wütend und zeigte es auch. Alle anderen wirkten verlegen oder peinlich berührt, nur Frau von Rosbach blickte hinter geschwungenen Wimpern prüfend zu mir herüber. Ich lächelte ihr eine Sekunde lang zu und merkte dann, daß ihr Blick zu Zweimal Philip weitergewandert war. Sah sie wirklich liebevoll und sehr mitleidig aus?

«Wenn ihr das albern findet, hat es keinen Zweck. Schade. Ihr habt mir den Spaß verdorben! Wollen wir es noch mal versuchen?»

Keiner wollte mehr. Wir gingen ins Kaminzimmer, kramten im Spielschrank herum und fanden ein Riesenpuzzle, an dem wir alle zusammen noch bis spät in die Nacht arbeiteten. Wir tranken Wein und gingen endlich erschöpft zu Bett.

Als ich den Kopf auf das Kissen legte, lächelte Schorsch vom Nachttisch zu mir herüber. Ich konnte ihn nicht ertragen. Ich legte ihn um. Was für ein hübscher Ausdruck!

 

Ich stand früh auf, half Anna beim Frühstück, und dann machten wir alle zusammen einen großen Spaziergang. Die Gruppen wechselten ständig. Zuerst schloß sich mir Zweimal Philip an.

«Annemarie – ich darf doch Annemarie sagen? Ich möchte mich entschuldigen oder erklären, wegen gestern abend, Sie wissen schon … Es ist nämlich so, daß ich eine gräßliche Erfahrung mit einer Wahrsagerin hatte, und seitdem gehen mir bei jeglichem magischen Firlefanz die Nerven durch. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen.»

«Sie brauchen nichts zu sagen. Ich fand es auch nicht gut. Ich war froh, als Frau von Rosbach eingriff.»

«Sie hat es mir zuliebe getan. Sie kennt meine Furcht. Ich erzähle Ihnen die Geschichte ein andermal. Aber ich will mich Ihnen nicht aufdrängen. Vielleicht möchten Sie lieber mit Karsten …»

«Nein, das möchte ich nicht.» In Wirklichkeit hätte ich nichts dagegen gehabt, denn Zweimal Philip war anstrengend. Er war so nervös, daß er keine zwei Schritte tun konnte, ohne irgendein Blatt oder einen Zweig abzurupfen, er sprach hektisch und lachte nach jedem halben Satz. Für den Spaziergang hatte er eine Art Spielanzug gewählt; eine Latzhose aus grob gewebter Seide, oben gerafft, mit hochgekrempelten Beinen. Merkwürdigerweise stand ihm das. Ein komisches Gefühl, mit diesem Paradiesvogel spazieren zu gehen, denn ich trug Jeans und ein kariertes Baumwollhemd. Es schien ihm zu gefallen; als wir an einer Wegbiegung den anderen aus dem Blickfeld gerieten, ergriff er meine Hand und sagte:

«Wissen Sie, daß Sie sehr reizend sind? Und daß Sie sich gestern nacht phantastisch benommen haben? Sie hätten mich verraten und vor allen blamieren können. Ich bewundere Frauen, die so viel Selbstbeherrschung haben. Und es muß herrlich sein, zu sehen, wie Sie sie verlieren. Sie gefallen mir, Annemarie. Gefalle ich Ihnen auch ein bißchen?» Damit ließ er meine Hand los, umarmte mich und begann mich sehr intensiv zu küssen.

«He! Zweimal Philip, so schnell schießen die Preußen nicht», sagte ich, als ich wieder Luft schnappen konnte. «Außerdem kommen die anderen gleich, und es wäre mir unangenehm …»

«Oh, nur deswegen? Wir werden noch viele günstige Gelegenheiten finden. Ich möchte wahnsinnig gern mit dir schlafen, Annemarie.»

«Warum?»

«Was für Fragen du stellst.» Er schüttelte den Kopf und war plötzlich ernüchtert. «Muß man denn dafür Gründe haben? Du bist jung und hübsch, und da ist das doch ganz natürlich.»

«Ach, Philip, halt mich doch nicht für dümmer, als ich bin. Willst du Frau von Rosbach ärgern? Ärgert sie sich, wenn du mit Mädchen schläfst?»

Er wurde rot und senkte den Kopf, ganz in die Betrachtung seiner Schuhspitzen versunken.

Da holte uns Lena von Rosbach ein, schob sich zwischen uns und hakte uns unter.

«Laß uns allein, Philip», sagte sie nach fünf Schritten. «Ich möchte mich gern mit Annemarie unterhalten.»

Er folgte aufs Wort.

«Lassen Sie mich mit der Unterhaltung anfangen», sagte ich. Ich war wütend genug, um keine Scheu mehr vor ihr zu haben. «Er liebt Sie, offenbar aber sehr hoffnungslos. Sie arbeiten beruflich zusammen. Und es ist geradezu rührend, wie er bei jedem Gespräch versucht, Sie zu loben und Ihnen alle Erfolge und allen Glanz zuzuspielen. Ich habe gelernt, daß man für jedes bißchen Liebe dankbar sein soll, auch dann, wenn man sie nicht erwidert. Warum behandeln Sie ihn so schlecht?»

«Sie sehen hübsch aus, Annemarie, wenn Sie ärgerlich sind. Philip ist ein solch langes Kapitel, daß ich darüber das ganze Wochenende reden könnte. Aber das möchte ich nicht. Ich behandele ihn auch nicht schlecht. Es sieht nur so aus. Die Konstellation ist einfach unglücklich: Philip liebt Frauen, vor allem mich. Ich lebe mit einer anderen Frau zusammen und bin an Männern wenig interessiert. Ich schlafe ab und zu mit Philip, weil ich ihn gern habe und er mir leid tut. Aber leider ist er dann so befangen, daß er meistens nicht funktioniert. Weil er mich liebt, möchte er mich zu Männern bekehren, vor allem zu sich; aber da er sich das alles viel zu intensiv vornimmt, geht es schief. Um sich und mir zu beweisen, daß er als Mann nicht versagt, stürzt er sich auf jedes weibliche Wesen, das in seine Nähe kommt. Da ich ihn kenne und er gerade im Begriff war, sich auf Sie zu stürzen, wollte ich Sie warnen.»

«Herzlichen Dank. Ich bin erwachsen und kann mich meiner Haut sehr gut wehren.» Verflixt, das hatte ich gestern schon einmal gesagt. «Außerdem sind Playboys mit Plüschteddies nicht unbedingt mein Fall …»

Ich hätte mich ohrfeigen können. Warum mußte ich so taktlos sein? Was ging es sie an, daß ich das wußte? Zwei Weiber, die sich über die Schwächen eines Mannes lustig machen … Ich schämte mich.

«Pardon», sagte ich. «Das möchte ich zurücknehmen. Ich habe es zufällig gestern bei der Hausbesichtigung gesehen. Es spricht nicht für meinen lauteren Charakter, daß ich es bei der ersten Gelegenheit weitertratsche.»

«Sie tratschen nicht. Ich weiß das doch. Philip hat seine Eltern als kleiner Junge durch einen Unfall verloren. Alle Geborgenheit und Liebe, die ihm entgangen ist, muß der Bär ersetzen.» Plötzlich lachte sie fröhlich. «Kann ich Sie ein bißchen mit mir versöhnen, wenn ich gestehe, daß ich dem Vieh den Anzug gestrickt habe? Ich kenne Philip schon, seit er zehn Jahre alt ist. Meine Eltern haben ihn damals zu sich genommen. Der Anzug war meine erste stricktechnische Meisterleistung. Ich habe ihn ihm zur Konfirmation geschenkt.»

«Wissen Sie, daß ich auch einen Freund habe, den ich seit meiner Kinderzeit kenne?»

«Und wo ist dieser Freund jetzt?»

«In Westfalen in einem Wasserschloß mit meiner besten Freundin. Wenn es nach mir ginge, schwämme er als Leiche im Schloßgraben.»

«Demnach sind Sie treu?» fragte Lena von Rosbach. «Wenn Sie ihm nicht treu gewesen wären, würden Sie ihn nicht mit solchem Genuß umbringen wollen.»

«Das ist ein dummes Spiel von mir.»

«Wirklich?» fragte sie mit gespieltem Ernst.

Wir lachten, und endlich gingen mir die Augen auf, und ich sah, daß es ein herrlicher Tag war mit Sonnenschein, Vogelgezwitscher, Bienengesumm, rauschendem Wald und Wiesen, die der Wind kämmte.

Ich kaute Sauerampfer und sagte: «Ich war treu. Jetzt nicht mehr. Es ist erholsam, treulos zu sein.»

«Eine Zeitlang sicher. Aber irgendwann werden Sie das alles wiederholen. Sie werden wieder einen Mann lieben, wieder treu sein – und dann hoffentlich mehr Glück haben. Wissen Sie, Annemarie, Menschen sind nicht sehr einfallsreich. Sie spielen sehr oft die Situationen ihrer Kindheit nach. Kinder aus guten Ehen führen gute Ehen und so weiter.»

«Feine Aussichten für mich. Meine Eltern waren siebenundzwanzig Jahre verheiratet, als sie entdeckten, daß sie sich nichts mehr zu sagen hatten. Jetzt sind sie geschieden. Im Gegensatz zur allgemeinen Vorstellung von der alternden Frau, die allein bleibt, hat meine Mutter einen zehn Jahre jüngeren Mann geheiratet und ist sehr glücklich. Mein Vater ist der, der sich nicht zurechtfindet. Wenn ich ihn besuche, finde ich Mädchen vor, die ein paar Jahre jünger sind als ich. Er glaubt sich das schuldig zu sein, aber es steht ihm nicht und macht ihm nicht viel Spaß.»

«Woher wollen Sie das wissen?»

«Er hat es meinem Bruder gesagt.»

«Vielleicht meint er, es gehöre sich so dem Sohn gegenüber.»

Herbert Karsten kam als nächster.

«Darf man euch stören? Fräulein Dr. Waldkirch, Sie lachen ja heute. Ich dachte schon, Sie könnten das nicht.»

Diese Retourkutsche! Gestern sah er wie mehrere Wochen Regenwetter aus, war angeheitert, und ich hatte ihn wegen seiner schlechten Laune aufgezogen.

«Ach, Herbert, das hängt sicher davon ab, mit wem sie zusammen ist.»

Das verdarb ihm seinen Scherz, und er sah nicht einmal, daß sie mir fröhlich zublinzelte.

«Haben Sie sich mit dem schweren Schicksal dieses Wochenendes ausgesöhnt?» fragte ich und fügte für Frau von Rosbach hinzu: «Wir haben uns gestern unterwegs getroffen. Herr Karsten schäumte nicht gerade vor Vorfreude.»

«Das», sagte sie, «tut er nie und bei nichts. Es gehört zu seinem Image. Wenn etwas schiefgehen kann, wird es schiefgehen. Für jedes bißchen Glück muß man bezahlen. Dieses Leben ist eins der schwersten …»

«Aber es übt ungemein», sagte ich, und sie lachten. Dieser Spruch war neu für sie.

«Wie ich dich kenne», sagte Lena zu Karsten, «wirst du jetzt dein verhindertes Pädagogentum an Annemarie austoben wollen. Ich schlage mich zu den anderen und sehe euch beim Essen.»

Sie schritt schneller aus und gesellte sich zu Margarete und Baumann & Gruber, die uns inzwischen überholt hatten. Wir sahen hinter ihr her, und ich war wieder einmal neidisch, weil ich wie ein Haflinger konstruiert bin und nicht wie ein Vollblut. Karsten grinste mich plötzlich an. «Machen Sie sich nichts draus. Lena ist vielleicht schöner, aber ich könnte mir denken, daß Sie besser durchs Leben kommen. Wenn Lena auch nur drei Tage mit Margarete zusammenarbeiten müßte, gäbe es Mord und Totschlag. Wie lange halten Sie es schon bei ihr aus?»

«Drei Monate. Aber ich habe nicht viel mit ihr zu tun. Ich bin Roswithas Leibsklave. Sehr gern übrigens. Sie ist reizend, und ich lerne ungeheuer viel – und darum geht es mir ja.»

Ein Marienkäfer setzte sich auf meinen Arm. Ich hob ihn ins Sonnenlicht und hauchte ihn an, bis er die Flügel ausbreitete und davonflog. Im Gras vor meinem rechten Fuß sah ich eine hellbraune Heuschrecke, die sich mit einem Riesensprung davonrettete. Ich ging ihr nach, fing sie in der hohlen Hand, spürte ihre Bewegungen kitzelnd auf der warmen Haut, machte die Finger auf und sah ihr zu, wie sie sich sortierte, die Fühler zucken ließ und dann fortschnellte. Ihr winziges Gewicht blieb auf meiner Handfläche, als sie schon längst auf einem wippenden Grashalm gelandet war.

Karsten hatte etwas gesagt, aber es war mir entgangen. Ich blickte zu ihm auf. «Entschuldigen Sie, wie war das mit Ihrem Urlaub?»

«Ich mache Ihnen einen schönen Vorschlag, und Sie hören nicht einmal zu, weil Sie in Ihre Sommertollheit versunken sind.»

«Was für ein hübsches Wort! Sommertollheit. Haben Sie das selbst erfunden? Man müßte für jede Jahreszeit etwas finden, was ihr entspricht. Winterbesinnen, Frühlings … was? Was fällt Ihnen zum Frühling ein?»

«Kunden, die Teppiche für die Aussteuer ihrer Töchter kaufen. Umzüge. Neueinrichtungen von Zimmern oder ganzen Häusern. Philip und Lena machen ihre Hauptgeschäfte im Frühjahr. Wenn es um Teppiche geht, kommen sie zu mir …»

«Wie nüchtern Sie sind. Ich dachte an Gefühle. Wie gefällt Ihnen Frühlingsglück?»

«Nicht sehr gut. Ich bin überhaupt nicht für Gefühle geeignet. Die überlasse ich Dichtern und überkandidelten jungen Frauen.»

«Danke schön.»

«Oh, bitte sehr. Aber können wir jetzt mal auf meinen Vorschlag zurückkommen? Während Sie sich in diese Orgie mit Käfern und Heuschrecken vertieften, hatte ich gefragt, ob Sie im August, wenn Margarete Betriebsferien hat, zu mir kommen wollen, um sich mit Teppichen zu beschäftigen. Ich schließe zwar auch, aber ich habe nur so eine Art halben Urlaub und könnte Ihnen etwas beibringen. Sie sagten ja, daß Sie nichts davon verstehen …»

«Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber …»

«Denken Sie an die Bezahlung? Ich nehme an, daß Margarete Ihnen das Gehalt weiterzahlt. Ich werde Ihnen ein Taschengeld geben, und Sie können im Geschäft wohnen. Wir haben ein kleines Zimmer, das auf den Hof geht und in dem manchmal Besucher übernachten.»

August, kaum noch sechs Wochen. Ich hatte keine Ferienpläne, weil ich sparen mußte. Mein Auto bricht bald unter mir zusammen. Noch einen Winter wird es nicht überstehen. Aber auf was läßt du dich da ein, Annemarie? Was ist mit Frau Herbert Karsten? Gibt es sie? Bisher hat niemand von ihr gesprochen. Aber ein Mann von etwa vierzig hat entweder eine Frau, oder er ist geschieden, oder er hat mit weiblichen Wesen nichts im Sinn. Er könnte auch Witwer sein. Aber das glaubte ich nicht. Das hätten sie mir erzählt. Vielleicht war er nur schwierig.

«Darf ich es mir noch überlegen? Ich finde das Angebot verlockend, und es ist nett von Ihnen, mir den Vorschlag zu machen …»

«Keineswegs. Ich bin nicht nett. Ich habe vor, eine Bestandsaufnahme zu machen, zu katalogisieren, Preise neu festzulegen und zu sortieren. Dabei brauche ich Hilfe. Meine Angestellten eignen sich dazu nicht besonders, und ich möchte auch nicht, daß sie zu genau wissen, um welche Werte es geht. Sie sind nicht vom Fach, können mir also nicht reinreden, und ich halte Sie für diskret. So wie ich Sie einschätze, werden Sie meiner Tante nichts über meine Lagerbestände erzählen.»

«Ihr Vertrauen ehrt mich», sagte ich, aber er lachte nicht.

«Wenn Sie sich bis Sonntagabend entscheiden könnten, wäre ich froh. Denn nächste Woche müßte ich auf jeden Fall mit der Suche nach einer Hilfskraft anfangen.»

«Ja, natürlich.»

Damit war unsere Unterhaltung beendet. Wir wanderten ziemlich wortkarg weiter, bis wir uns alle in der Nähe des Hofs wieder zusammenfanden und gemeinsam die letzten paar hundert Meter bis zum Haus gingen.

Ich half Anna in der Küche, dann aßen wir Auflauf mit Fasan, Sauerkraut und Schrotkugeln und tranken danach draußen auf dem Sitzplatz im Hof Kaffee. Später verzogen sich alle zum Mittagsschlaf in ihre Zimmer. Ich bin kein Mittagsschläfer, darum kramte ich im Bücherschrank und legte mich dann mit dem «Taugenichts» auf mein Bett. Was hatte Karsten gesagt? Sommertollheit. Ich hätte es ihm nicht zugetraut. Es hätte viel besser zu Schorsch gepaßt. Auch der Taugenichts paßt zu Schorsch. Wenn ich ihn zeichnen müßte, sähe er wie Schorsch aus. Einer, der für das Leben gemacht ist. Heiterkeit, Mondseligkeit und Nachtigallengeschluchze – ja, und die Sommertollheit. Und ihn will ich umbringen? Ach, lassen wir ihn leben, geben wir ihm eine Gnadenfrist.

Ich bin dann doch noch eingeschlafen.

Geschirrgeklapper und Stimmen weckten mich. Sie tranken im Hof Tee. Wie immer, wenn ich zu ungewohnter Zeit schlafe, ging es mir schlecht. Ich war müde und übellaunig und fand mich nicht zurecht. Als ich endlich nach unten ging, war es schon fünf Uhr. Im Haus war es ganz still. Nur die alten Treppenbalken knirschten dann und wann, und von draußen kam Vogelgezwitscher herein. Die Jagdstiche! Warum hatten die Männer so zweideutig gegrinst? Es waren lustige Bilder. Reiter mit Zipfelmützen, an den Fenstern aufgeschreckte Schläfer mit Kerzenleuchtern und Nachthauben. Ich nahm eins der Bilder vom Nagel und hielt es ins Licht des Treppenhausfensters. Meine Fingerspitzen berührten auf der Rückseite statt Pappe Glas. Ich drehte das Bild um und hatte einen zweiten Stich vor mir: Eine Rokokodame, anmutig auf einem Stuhl ausgestreckt, vor ihr ein kniender Kavalier, intensiv mit ihr beschäftigt. Die eleganten Damen trugen damals viel, aber wenig darunter. Ihrem Gesichtsausdruck nach machte es ihr großes Vergnügen. Es war eine ganze Serie – frech, hübsch, verspielt und ganz gewiß aus Baumann & Grubers Geheimdepot. Ich wüßte zu gerne, wie man an so etwas kommt, und was es kostet. Ein Auktionshaus, vielleicht ein Kaninchenbau wie Sotheby’s, ein älterer, soignierter Versteigerer, verstohlenes Fingerheben oder unmerkliches Nicken von Interessenten. Sie sind Händler oder Privatsammler. Sie bieten in den Himmel …