Ein Familientreffen - Edda Rönckendorff - E-Book

Ein Familientreffen E-Book

Edda Rönckendorff

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Beschreibung

Dieser eindrucksvolle Roman einer Familie schildert, wie sich die Kinder aus verschiedenen Ehen eines berühmten Schauspielers mit dem Vaterbild, ihrer Beziehung untereinander und ihrem eigenen Schicksal auseinandersetzen. Erst nach seinem Tod lernen sich Konrad Küfers Kinder wirklich kennen, und sie entdecken, wie sehr dieser Vater für jeden von ihnen ein völlig anderes Gesicht trug und auf welch unterschiedliche Weise er ihren Charakter prägte. Mit souveränem, gepflegtem Stil deckt Edda Rönckendorff subtil und spannungsvoll Muster und Beziehungen auf, wie sie offen oder verborgen in jeder Familiengemeinschaft zu finden sind. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 360

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Edda Rönckendorff

Ein Familientreffen

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Inhalt

Die Mitglieder der Familie Küfer12345678910111213141516171819202122

Die Mitglieder der Familie Küfer

Der Vater

Konrad Küfer, 70, Schauspieler

Die Kinder

Gabor Küfer, 40, Jurist, Sohn aus 1. Ehe

Stefani Behrens, 30, Gärtnerin, Tochter aus 1. Ehe, verheiratet mit Karl Behrens, Inhaber einer Baumschule ihre Kinder: Melanie, 3, und Ralf, 4

Almut, mit 10 Jahren tödlich verunglückt

Manuel Küfer, 26, Assistenzarzt, Sohn aus 2. Ehe

Franziska Eggebrecht, 31, Biologin, Stieftochter aus 3. Ehe

Marlene Küfer, 6, Tochter aus 4. Ehe

Die Ehefrauen

Ilse Vollmer, ca. 60, ehem. Schauspielerin, geschiedene 2. Frau, wiederverheiratet mit Werner Vollmer, ca. 70, Arzt im Ruhestand

Babette Küfer, 55, Bibliothekarin, geschiedene 3. Frau (hat Tochter Franziska in die Ehe mitgebracht)

Cornelia Küfer, 34, Schauspielerin, Witwe von Konrad Küfer

Die 1. Frau Küfer, Mutter von Gabor, Stefani und Almut, starb bei einem Verkehrsunfall

1

Ich habe meinen Vater kaum gekannt, dachte Gabor Küfer, der nach der offiziellen Trauerfeier für den berühmten Schauspieler Konrad Küfer bei der Beisetzung «im engsten Kreis» am Grab stand. Nach der Aussegnung war der Pfarrer gegangen. Die Familie blieb zurück. Gabor und Stefani, die Kinder aus Konrads erster Ehe, dann ihr Stiefbruder Manuel mit seiner Mutter, die nach der Scheidung wieder geheiratet hatte. Fast wie Zaungäste nahmen sich daneben die dritte Frau, Babette Küfer, und ihre Tochter aus erster Ehe, Franziska, aus. Sie standen, gleichsam von den anderen getrennt, einige Schritte zur Seite. Für das Drama sorgte die vierte Frau Küfer, Cornelia, mit der erst sechsjährigen Tochter Marlene. Die junge Witwe, sechsunddreißig Jahre jünger als ihr Mann, tränenüberströmt, schluchzend, das widerstrebende Kind an sich gepreßt und dennoch instinktiv, vielleicht auch absichtlich, darauf bedacht zu wirken, ein rührendes Bild abzugeben, weil trotz aller Bitten doch zwei der Fotografen der Familie bis zum Grab gefolgt waren.

Gabor wurde sich bewußt, daß ihn Blicke streiften. Die anderen erwarteten von ihm, dem ältesten Sohn, daß er Abschiedsworte fände. Er sollte ihnen über die Schwierigkeit dessen hinweghelfen, was nun noch zu geschehen hatte.

Er trat zur vierten Frau des Vaters, die jünger war als er, berührte sie leicht an der Schulter. Sie ließ das Kind los, und er geleitete sie vor das offene Grab und wartete, bis sie den Armvoll roter Rosen einzeln über den Sarg gestreut hatte. Als er sich wieder zur kleinen Schwester umwandte, trafen ihn die Blitzlichter der Fotografen. Er kniff die Augen in der grauen Winterluft ärgerlich zusammen.

Gabor kehrte den beiden Männern den Rücken zu und beobachtete, wie sich die fassungslos Trauernde in die großäugige, seelenvolle Naive verwandelte, die sie in Filmen und auf der Bühne gespielt hatte, bevor sie die Karriere aufgab, um den alternden Mimen zu heiraten.

Solange sich die Mutter noch der sie so gut kleidenden Trauer und den Fotografen hingab, blieb Gabor Zeit für seine kleine Schwester.

Blaß, verwirrt, in ihrem schwarzen Samtmäntelchen, den weißen Strümpfen und schwarzen Lackschuhen für die Kälte viel zu dünn angezogen, klein, spitzgesichtig, mit blaßblonden Friseurlocken und ohne Mütze! Zorniges Mitleid überschwemmte ihn mit dem Verlangen, dieses kleine Mädchen, das an diesem Tag schon viel zu oft umarmt worden war, nun selber in die Arme zu schließen. «Komm, Marlenchen», sagte er leise, «wirf deine Blumen in das Grab.»

Er hatte nicht leise genug gesprochen, denn schon war die Mutter umarmend zur Stelle. Wiederum Blitzlicht nach Blitzlicht, dann der unwillige Aufschrei des Kindes: «Ich will zu Onkel Gabor!» Eine kleine kalte Hand schob sich in seine. Hier war nicht der Ort, ihr zu erklären, daß er ihr Bruder war, nicht ihr Onkel, etwas, das er schon so oft getan hatte. Er hielt die Hand fest, griff ungelenk mit der Linken nach der kleinen Schaufel, häufte dreimal Erde, die angefroren war und polternd auf den Sarg fiel.

Keine Abschiedsrede für den Vater, der ihn mit vierzehn ins Internat geschickt und danach viel zu selten Zeit für den Sohn gehabt hatte, weil das Hochgefühl der neuen oder die Niedergeschlagenheit der zerbrechenden Ehe, das Theater, Dreharbeiten oder Gastspielreisen immer wichtiger waren als die Beschäftigung mit dem verschlossenen jungen Mann, der den herzhaften Annäherungsversuchen des Vaters in seltenen Ferientagen auswich, sich widersetzte und zu ärgerlichen Vergleichen mit den zugänglicheren Geschwistern herausforderte.

Nun war «der große Mime», wie seine Kinder ihn untereinander nannten, mit siebzig Jahren tot. Verunglückt. Beim Einsteigen ins Auto auf Glatteis ausgerutscht, mit dem Hinterkopf auf den Bordstein geschlagen; Schädelbasisbruch, drei Tage im Koma, und jetzt die Beerdigung. Gabor schloß die Augen und hörte die berühmte Stimme, die der allzuoft wiederholten Platitüde immer noch Witz und Ausdruck geben konnte: «In unserer Familie stirbt man nicht. Wir verunglücken.» – Eine beim Schlittschuhlaufen ins Eis eingebrochene Großmutter. Seine und Stefanis Mutter, die mit seiner damals zehnjährigen Schwester Almut von einem schleudernden Lastwagenanhänger gegen eine Mauer gedrückt wurde. Und nun der Vater …

Der Sohn stand am Grab, wortlos, wo alle von ihm Worte erwarteten. Was sagt man, wenn ein fast Fremder gestorben ist, wenn ihn Kinder aus vier Ehen, zwei geschiedene Frauen und eine schöne, dramatisch trauernde, schauspielerisch hochbegabte Witwe begleiten?

«Vater», begann er nun doch. «Wir alle nehmen Abschied von dir und versprechen, daß wir als Familie zusammenhalten werden, vor allem wir, deine Kinder. Stefani und ich, Manuel und Marlene.»

Hätte er nicht auch Franziska erwähnen müssen, die Stieftochter, die sechzehn war, als Konrad Küfer ihre verwitwete Mutter heiratete, und vierundzwanzig, als auch diese Ehe zerbrach?

Er trat zurück, um Stefani am Grab Platz zu machen, die nur mit ihrem Mann gekommen war, weil sie den vierjährigen Sohn und die dreijährige Tochter zu jung für eine Beerdigung fand. «Wann haben sie denn ihren Großvater schon gesehen?»

Plötzlich stand Franziska neben ihm. Als sie sah, daß Marlenchen mit beiden Händen seine rechte Hand umklammerte, senkte sie den schon halb gehobenen Arm und zog dann den Mann und das Kind in eine lose Umarmung, indem sie eine Hand auf seine Schulter und die andere auf die schmächtige des Kindes legte.

«Eine Zeitlang warst du mein Bruder, Gabor. Den großen Mimen habe ich geliebt. Er war für mein Leben wichtig, auch noch, als er nicht mehr mit Mutter verheiratet war. Ich habe ihn oft besucht. An meinen richtigen Vater habe ich keine Erinnerungen. Für mich ist Konrad an seine Stelle getreten. Ich trauere auch um ihn.»

Stefani trat nun zu der kleinen Gruppe. Sie war zehn Jahre jünger als Gabor. Konrad hatte sie von einer Ehe in die nächste geschleift. Als sie sechs war, heiratete er Ilse, und Manuel wurde geboren. Als Manuel sechs war, endete die Ehe. Konrads dritte Frau, Babette, brachte Franziska mit. Steffis fester Halt war der große Bruder Gabor, den sie viel zu selten sah. Diese Tochter zweier Schauspieler haßte die Schauspielerei und war Gärtnerin geworden, obwohl sie mehr Talent besaß als alle anderen Kinder Konrads. Gabor liebte sie von Herzen, mißtraute ihr jedoch, weil er nie durchschaute, wann ihre Gefühle echt waren.

«Gabor!» Alle Zärtlichkeit der Welt, die Liebe zum großen Bruder und die Bewunderung, von Kindheit an bis heute, immerdar. Keine Worte, nur blaue Samtaugen, in Tränen schwimmend.

Und schon kauerte sie vor dem Kind, zog es an sich und sagte durch zusammengebissene Zähne: «Du wirst kein kleiner Filmstar, du nicht. So wahr mir Gott helfe!»

«Steffi!» mahnte Gabor.

Aber sie war schon wieder aufgestanden, kehrte ihm und Marlene den Rücken, legte Franziska die Arme um den Hals, beutelte die ehemalige Schwester und sagte, was er hätte sagen müssen.

«Du gehörst zu uns, Franzi. Ich weiß, wie sehr du ihn geliebt hast, vielleicht mehr als wir. Bitte, trag es mir nicht nach, wenn ich biestig zu dir war. Laß es uns wieder miteinander versuchen.»

Gabor, der Zuhörer, dem es so oft an Worten fehlte, stand an diesem trüben Wintertag am Grab des Vaters, schob das Kind auf die andere Seite, um es mit der linken Hand halten zu können, während er Hände schütteln mußte und umarmt wurde. Er dachte an den Vater und sah ihn wie durch ein Kaleidoskop in immer anderen Szenen. Gute Erinnerungen? Ja, doch. Einige. Das Premierenwochenende in Zürich. Ein Anruf Konrads hatte ihn aus dem Internat geholt. Bei berühmten Vätern machte der Schulleiter mal eine Ausnahme. Der sechzehnjährige Gabor allein mit dem Vater im Hotel, mitgenommen zur Generalprobe, und dann, bei der Premiere, ein Platz in der zweiten Reihe. Der Vater als Prospero im «Sturm». Applaus. Vorhang auf Vorhang, einmal eine Verbeugung, die allein ihm zu gelten schien, der stolz und hingerissen war und auf der Schwelle stand, diesen Mann, der sich so selten um ihn kümmerte, aus tiefstem Herzen zu lieben …

Der jüngere Bruder Manuel riß ihn aus seinen Gedanken. «Meinst du, daß nachher Zeit bleibt, Gabor? Ich fände es schön, wenn wir beide uns noch ein bißchen zusammensetzen könnten.»

«Stimmt was nicht?»

Ein amüsiertes, flüchtiges Lächeln auf dem Gesicht Manuels, der gerade das medizinische Staatsexamen hinter sich hatte. «Es stimmt alles. Das war nur ein Versuch. Ich dachte, wir sollten uns besser kennenlernen. Ich bin erwachsen, weißt du. Du brauchst mir nächste Weihnachten keinen Scheck mehr zu schicken.»

Typisch Manuel. Ein vorsichtiger Versuch der Annäherung mit der bereits eingebauten Möglichkeit zur Flucht. Alle Geschwister waren so, empfindlich, verletzlich, sofort zum Rückzug bereit. Immer stand die Tür zur Ironie offen. – So habe ich es doch nicht gemeint. Du solltest mich besser kennen. Es war nur dummes Gerede, das du nicht tragisch nehmen mußt. Ein andermal. Es wird sich was ergeben. – Gabor wußte das, weil er selbst so reagierte, aber wußten es auch die anderen?

«Heute wird es nicht gehen, ihr kommt doch alle zu mir», antwortete er nun. «Das Essen ist bestellt.»

«Dann ein andermal.» Manuel beugte sich vor und sagte: «Hallo, Marlenchen. Ich bin Manuel, und du bist meine Schwester. Ich freue mich, daß ich dich endlich kennenlerne.»

«Was? Du kennst sie nicht?»

«Ich hab sie nur einmal gesehen, aber da war sie drei Monate alt.»

Das Kind, das sich weiter an Gabor festhielt, sah aus wasserblauen Augen den Mann an, der behauptete, ein Bruder zu sein. Lange und ernst, dann begann sie plötzlich zu lächeln und flüsterte: «Guten Tag, Manuel.»

Zu mehr kam es nicht, denn nun war Cornelia Küfer da. Sie löste die Hände ihrer Tochter aus Gabors Griff und nahm das Mädchen auf den Arm, wofür es viel zu groß war, schleppte es einige Schritte weiter und setzte es ab, weil es sich ungebärdig wehrte.

«Armes Marlenchen!»

Eine wunderbar getragene und tragende Stimme, dachte Gabor.

«Nun sind wir beide ganz allein.»

Sie wußte genau, wie schön sie in diesem Augenblick aussah, blaß, traurig, mit den hellen langen Haaren unter der schwarzen Pelzmütze, eine junge, gertenschlanke Frau mit schmalen Knabenhüften unter dem enggegürteten schwarzen Pelzmantel.

Die Brüder wechselten einen Blick. «Steht Franziska mit ihrer Mutter zusammen?» fragte Manuel. «Ich kann mich nicht erinnern, sie jemals getroffen zu haben. Franziska kenne ich ganz gut, weil wir uns gelegentlich bei Vater über den Weg gelaufen sind.»

Gabor übernahm die Vorstellung und trat dann zurück.

Von den drei späteren Frauen Konrads kannte er Manuels Mutter am besten und schätzte sie sehr. Als er nach der Wiederheirat des Vaters aus dem Internat in die Sommerferien kam, erwartete Ilse schon das Kind. Sie sah an sich herunter und erklärte etwas verlegen: «Ich kann jetzt nicht mehr auftreten, Gabor. Steffi ist hier auf der Schule, und wenn ich das Baby habe, sind wir wieder eine richtige Familie. Ich dachte, daß du vielleicht – wenn es dir im Internat nicht gefällt – oder falls du dich an mich gewöhnen kannst … Ach, dummes Zeug. Möchtest du wieder zu Hause wohnen und in deine alte Schule gehen?» Sie mußte den Hoffnungsschimmer, aber auch sein rasches Verglimmen in seinen Augen gesehen haben. «Meinst du, daß dein Vater etwas dagegen hat? Ich werde mit ihm reden.»

Sie hatte nichts erreicht. Gabor erfuhr den wahren Grund nie, konnte sich aber sehr wohl die Argumente vorstellen. – «Der Junge ist in der Pubertät; er gehört in feste Hände. Wann bin ich denn da oder habe Zeit? Du wirst mit einem Säugling und Steffi genug zu tun haben. Und du möchtest doch auch wieder Theater spielen. Warum willst du dir noch ein Kind von mir, und gerade diesen schwierigen Jungen, auf Jahre aufladen?»

«Es tut mir leid, Gabor», hatte Ilse kurz vor dem Ende der Ferien gesagt, «dein Vater meint, du solltest vor dem Abitur nicht mehr die Schule wechseln. Sicher hat er damit recht. Aber vergiß bitte nie, daß hier dein Zuhause ist. Ich werde mich auf deine Ferien freuen.»

Als Gabor schon in Tübingen Jura studierte, saß Ilse Küfer eines Abends in der Küche seiner Zimmervermieterin und wartete auf ihn. «Laß uns essen gehen, Gabor, unter fremden Leuten werde ich nicht so schnell heulen.» Sie erzählte ihm von der bevorstehenden Scheidung und daß sie den sechsjährigen Manuel mitgenommen habe und mit ihm zu ihrer Schwester gezogen sei. Gabor hatte nach Gründen gefragt, obwohl er sie sehr gut zu kennen glaubte. Zu viele Freundinnen, junge schöne Frauen, Kolleginnen. Konrad war fünfzig, Ilse einundvierzig. «Eine vorübergehende Liebelei hätte ich vielleicht verkraften können, aber ich kann und will nicht mit Fünfundzwanzigjährigen konkurrieren. Es sind zu viele, und sie werden immer jünger. Wenn ich jetzt nicht neu anfange, schaffe ich es nicht mehr.» Erst als er sie am späten Abend zu ihrem Hotel begleitete, begann sie zu weinen. «Manuel kann ich mitnehmen, aber Steffi muß ich im Stich lassen.»

 

Die Familie stand noch eine Weile frierend zusammen, dann löste sie sich in kleine Gruppen auf und ging über die verschneiten Friedhofswege zum Parkplatz.

Gabor schloß sich Ilse Vollmer an und setzte das Gespräch fort, das sie vor siebzehn Jahren in Tübingen geführt hatten.

«Steffi ist unbeschadeter durch diese schwierigen Zeiten gekommen, als ich es je erwartet hätte. Sie ist auf eine simple Erklärung gestoßen, an der sie festgehalten hat: Schauspieler müssen gut aussehen und interessant sein; sie treffen immer wieder gutaussehende und interessante Menschen. Die Versuchung ist für sie größer als für andere Sterbliche. Daher die vielen Geliebten und die Scheidungen unseres Vaters. Er konnte nichts dafür. Steffi ist nach dem Tod unserer Mutter an zwei Stiefmütter weitergereicht worden. – Oh, entschuldige, Ilse, das klingt schrecklich. So hatte ich es nicht gemeint.»

«Das weiß ich», sagte sie. «Sprich weiter, Gabor.»

«Steffi brauchte einen ruhenden Pol, etwas Solides zum Festhalten», fuhr er fort. «Also ist sie Gärtnerin geworden. Mit der Schönheit von Blumen sind Menschen nicht vergleichbar, auch nicht die wunderschöne Stefani, die sich von Kindheit an gegen ihre vielen Verehrer wehren mußte. Und dann ist ihr auch noch dank ihres Berufs der richtige Mann über den Weg gelaufen, der zwar nicht schön ist, jedoch ganze Wälder voll schönster Bäume besitzt. – Weißt du, wie viele Bäume er in seiner Baumschule haben mag?»

Ilse zog wortlos die Schultern hoch.

«Schön, jetzt haben sie zwei niedliche Kinder. Sie hat einen riesigen Blumengarten, einen Mann, der sie anbetet, und, sagen wir, Tausende von Bäumen, die mein Schwager hegt und hätschelt. Vorläufig verbringt Steffi ihr Leben noch in dankbarem Staunen.»

Er kehrte ihr sein ruhiges Gesicht zu und wich ihrem forschenden Blick nicht aus.

Die Jahre waren gut mit ihr umgegangen, fand er, während er nachrechnete. Sie mußte etwa sechzig sein. Er hatte sie mehrmals im Fernsehen gesehen; sie spielte manchmal noch auf der Bühne, war aber meistens auf dem alten Hof in der Nähe von Freiburg, in den sie gezogen war, als Werner Vollmer aus Altersgründen die Arztpraxis aufgab.

«Schön, wenn es so einfach wäre», sagte sie nun leise, «aber leider glaubst du das selbst nicht. Steffi ist viel komplizierter. Ihr seid alle Verstellungskünstler, ihr vier. Das habt ihr von Konrad geerbt. Wenn du schon dein stilles Gesicht machst! Und wenn du eine so lange Rede hältst wie eben. Ach, Gabor, dir und Steffi gegenüber habe ich heute noch ein schlechtes Gewissen.»

«Das mußt du nicht.» Gabor hob abwehrend die Hand. «Erzähle mehr von den Verstellungskünstlern, Ilse. Du bist der einzige Mensch in dieser Runde, der sich keine Vorwürfe zu machen braucht. Wie verstellt sich dein Sohn Manuel?»

«Er hat Konrad geliebt, mehr wohl als du und Steffi. Er sieht ihm von euch allen auch am ähnlichsten, und gerade das will er nicht. Als er noch in der Schule war, hat mir einer seiner Lehrer erzählt, daß ihm die Ähnlichkeit zwischen Konrad und Manuel aufgefallen sei. Er fragte ihn, ob er ein Sohn des Schauspielers Küfer wäre. Manuel hat ihn groß angesehen und gelogen. Nein. Küfer sei kein so ausgefallener Name. Er stamme aus einer anderen Familie, würde aber manchmal auf die Ähnlichkeit angesprochen. Da habe sich eben die Natur einen Scherz erlaubt. – Stell dir das vor! Damals war er sechzehn. Und weißt du, was er gemacht hat, wenn er auf Besuch zu seinem Vater fuhr? Sobald er aus dem Haus war, kämmte er sich die Haare anders und setzte eine Hornbrille auf, nur um Konrad nicht ähnlich zu sehen.»

«Woher weißt du das?»

«Er hat sich selbst verraten. Nach einer Reise mit Konrad bat Manuel mich, die entwickelten Ferienfotos für ihn abzuholen. Ich traute meinen Augen nicht, als ich meinen Sohn mit Stirnfransen und dunkler Hornbrille sah.»

«Habt ihr etwas unternommen, du und dein Mann?»

«Wir haben ihn gefragt.»

Gabor sah sie neugierig an, aber sie ließ sich Zeit, und dann kamen Fragen statt einer Erklärung.

«Warum ist keiner von euch Schauspieler geworden? Ihr hattet das Talent und die besten Verbindungen. Warum hat mein Sohn Freundinnen, die mindestens fünf Jahre älter sind als er? Warum bist du nicht längst wieder verheiratet?»

«Nur Geduld, das mit der Schauspielerei wird Marlene für uns alle erledigen. Wir vermuten, daß ihre Mutter aus ihr einen Kinderstar machen will. Für Manuel kann ich nicht sprechen. Und ich? Ich bin einer der wenigen Menschen, die aus Schaden klug geworden sind. Nicht so sehr wegen meines kurzen Mißerfolgs in Sachen Heirat, sondern eher dank des schlechten Beispiels meines Vaters. Bist du zufrieden, Frau Professor Freud?»

«Nicht sehr», sagte sie.

Gabor verlor sich wieder in Gedanken.

Ich empfinde keine große Trauer. Es ist mehr das Bedauern um verpaßte Gelegenheiten. Manuel hat den Mimen viel besser gekannt als ich. Er könnte ihn geliebt haben. Franziska liebte ihn. Und Steffi? Vor mir behauptet sie, nie in seine Vorstellungen gegangen zu sein. Wenn, habe sie ihn privat besucht, aber als Schauspieler wäre er ihr unerträglich gewesen. Davon ist kein Wort wahr. Sie ist viel zu temperamentvoll und verrät sich. Sie parodiert ihn, zu oft und mir zu boshaft. Als ich zum letzten Mal bei ihnen draußen war, hat sie ihn in dem Thomas-Bernhard-Stück nachgemacht, an dessen Titel ich mich nicht erinnere, obwohl ich extra hingefahren bin, meinen Vater bewundert und ihm nachher in der Garderobe gratuliert habe.

Mir geht jetzt erst auf, daß es die Szene gewesen sein muß, in der er allein auf der Bühne war, herumwanderte und Selbstgespräche führte. Merkwürdig, ich mochte ihn lieber als Schauspieler, Steffi liebte den Menschen und konnte den Schauspieler nicht ertragen. Ging es bei ihr möglicherweise um Neid, weil sie selbst gern Theater gespielt hätte?

Gabor schreckte aus den Grübeleien auf, weil Ilse Vollmer neben ihm auf dem Eis rutschte und nach seinem Arm griff. Sie gingen eingehakt das letzte Stück Weg. Immer noch mit der Schwester befaßt, fragte Gabor unvermittelt: «Siehst du Steffi manchmal? Kommt sie euch besuchen?»

«Früher war sie öfter bei uns. Jetzt, mit den beiden kleinen Kindern, geht das nicht mehr so einfach. Aber wir rufen uns oft an. Und Steffi und Manuel waren von jeher gute Freunde. Sie besuchen sich, sooft es geht.»

Ilse Vollmer verhielt den Schritt und blickte fragend zu ihm auf. «Wußtest du das nicht, Gabor? Mir kommt es so vor, als wisse ich besser über euch Bescheid als ihr Geschwister untereinander. Siehst du denn Franziska und Marlenchen auch nicht? Ihr wohnt doch alle nicht weit auseinander.»

«Was ich vorhin am Grab gesagt habe, war ernst gemeint. Ich gelobe Besserung.»

2

Am Nachmittag und Abend, in Gabors Wohnung, als die zusammengewürfelte Familie Gemeinsamkeiten suchte, die das Sprechen leichter machten, blieb für die Geschwister Küfer das Thema des besseren Kennenlernens im Vordergrund. Stefani mit dem großen Haus, das sich als Treffpunkt anbot, schlug vor, daß sie zweimal im Jahr bei ihr zusammentreffen sollten.

«Das erste Wochenende im Mai und im November. Da seid ihr noch nicht oder nicht mehr im Urlaub. Wenn wir das nicht zu einer Regel machen, wird nie was draus. Einverstanden?»

«Marlene ist zu jung», wandte Cornelia Küfer ein. «Ich will wieder Theater spielen und weiß nicht, wo ich dann mit ihr bin. Sie kann nicht allein reisen. Außerdem ist sie für euch nur eine Last. Was wollt ihr Erwachsenen mit einem kleinen Kind?»

«Unsere Schwester bei uns haben», sagte Stefani kurz angebunden. «Aus Hollywood, falls du daran denkst, werden wir sie nicht holen können, aber von anderswoher jederzeit.»

«Ich könnte sie auch bringen.»

«Bitte, Cornelia, versteh das nicht falsch, aber dies ist als Treffen von uns vier – nein, uns fünf Geschwistern gedacht. Franzi gehört auch dazu.»

Cornelia verstand nur zu gut. Man sah ihr an, wie unerwartet die Abfuhr für sie kam. Sie schluckte eine ärgerliche Erwiderung herunter und wandte sich den beiden Frauen zu, zu denen sie nicht gehören wollte, denen sie jedoch von der herzlosen und ärgerlichen schönen Tochter ihres Mannes zugeordnet worden war.

«Gut», fuhr Steffi nüchtern fort und ließ sich den Triumph nicht anmerken. «Jetzt bist du an der Reihe, Franzi. Willst du mitmachen?»

«Natürlich will sie», griff Manuel ein und bedachte Franziska mit seinem unwiderstehlichen Lächeln.

«Wenn ihr mich haben wollt, sehr gern. Nur sagt bitte nicht Franzi. Ich kann den Namen nicht ausstehen.»

«Aber so habe ich dich doch immer genannt.» Stefani strahlte sie an.

«Eben drum.»

Gabor ließ sie reden, nickte, wenn es nötig war, murmelte Einsilbiges, wenn es nicht anders ging, half seiner Putzfrau, die das gelieferte Essen servierte, und sorgte für die Getränke.

Als die Frau die Küche aufgeräumt hatte und gegangen war, wich Marlene nicht von Gabors Seite. Sie begleitete ihn beim Weinholen und wartete dann, bis er sich wieder in seinen Sessel setzte, saß neben ihm auf dem Teppich oder stand an ihn gelehnt. Es war ihm ihrer Mutter gegenüber nicht angenehm, und er versuchte, Marlene zu den anderen Familienmitgliedern zu schicken. Sie kehrte jedoch schnell zu ihm zurück, blieb stumm auf Tuchfühlung und kam ihm wie ein kleiner Nachtmahr vor, blaß, silberhaarig, schwarzsamten und nicht abzuschütteln.

Dabei wollte er sie gar nicht abschütteln; ihre Nähe war nur so ungewohnt. Ein kleines Mädchen, das er kaum kannte, das darauf beharrte, ihn Onkel zu nennen, obwohl es wußte, daß er ihr Bruder war. Sie hätte seine Tochter sein können, aber seine kurze, übereilte Ehe war zum Glück kinderlos geblieben.

Marlene hatte sich neben ihm an den Rand des Sessels gequetscht und beide Beine über seinen Oberschenkel gelegt, der einzuschlafen drohte. Er hätte sich gern von ihr befreit, wollte sie aber nicht zurückstoßen und spürte plötzlich, daß ihn jemand ansah. Er hob den Blick und begegnete dem Lächeln des Bruders, der ihm wortlos zutrank. Gabor zog hilflos die Schultern hoch, und Manuel schritt zur Rettung.

Er vergewisserte sich, daß Cornelia wohlversorgt auf dem Sofa saß und auf Franziska einredete. Er stand auf. «Kommst du mal, Marlene?»

Das Mädchen sah ihn zögernd und eine Spur abweisend an. Dann wirkte Manuels Charme und zog das Kind in seinen Bann. Es ergriff die ausgestreckte Hand, ließ sich hochziehen und folgte dem neuen Bruder in Gabors Arbeitszimmer. Anfangs war nur Manuel zu hören, aber bald mischte sich die helle Kinderstimme ein, und plötzlich drang fröhliches Gelächter durch die angelehnte Tür.

Kein kleiner Nachtmahr, dachte Gabor beinahe schuldbewußt, nur ein verwirrtes Kind.

Cornelia horchte auf, seufzte erleichtert und sah wunderschön aus. «Na, Gott sei Dank! Endlich! Ich habe mich gehenlassen und mich viel zuwenig um sie gekümmert. Sie ist noch so jung und versteht nichts. Welches Glück, daß ihr da seid. Ich bin euch allen von ganzem Herzen dankbar.»

Theater, befand Gabor. Sie hat sich in der Rolle der jungen Witwe häuslich eingerichtet, zieht das Kind mit hinein und plant Fortsetzungen. Demnächst wird die tapfere Mutter an die Reihe kommen, die fleißig ihrem Beruf nachgeht, um der Tochter eine Zukunft zu schaffen.

Er stand auf, schenkte nach und merkte mit einem Mal, daß er zuviel und zu schnell getrunken hatte. Die schwierige Situation war schuld daran. Achtmal in Trauer vereinte Familie, aber er am Rande, der einzige, dem die Komik aufzugehen schien. Ach, es war eher grotesk als komisch. Er kam sich wie ein Karpfen im Teich der Hechte vor. Sie würden alle an ihm nagen und Wünsche und Forderungen äußern. Er wußte, daß der Vater ihn zum Testamentsvollstrecker bestimmt hatte. Das lag auf der Hand, wenn es einen Sohn gab, der Jurist war. Vermutlich würde Cornelia die Alleinerbin sein, und das hatte seine Richtigkeit, denn sie mußte für Marlenchen sorgen. Keiner von ihnen würde den Pflichtteil verlangen. Er und Stefani brauchten nichts. Für Manuel war seit jeher sein Stiefvater Vollmer aufgekommen, und lange würde es nicht mehr dauern, bis er selbst genug verdiente. Babette Küfer arbeitete nach wie vor als Bibliothekarin, hatte auch nach der Scheidung vom Vater keinen Unterhalt verlangt, und Franziska war promovierte Biologin und hatte, so hieß es, eine sehr gute Stellung in der Forschungsabteilung eines großen Konzerns. Gab es Vermächtnisse, und was war überhaupt übriggeblieben? Na ja, das würde sich bald genug herausstellen.

Gabor ging in die Küche, schaltete die Kaffeemaschine an und suchte Tassen zusammen.

«Kann ich dir helfen?» Franziska lehnte am Türpfosten und sah ihm amüsiert zu. «Armer Gabor, du wackelst ein bißchen. Ziemlich viel Familie und ziemlich viel Wein auf einmal, was? Ich kann es dir nachfühlen. Hast du irgendeinen klaren Schnaps?»

«Im Eisschrank.»

Er beobachtete sie, als sie seinem deutenden Daumen folgte, erst die Flasche und dann eins der Küchengläser holte, zu einem Drittel füllte und mit zwei Ansätzen austrank.

«So, das hat mir gutgetan. Übrigens bin ich keine Gewohnheitstrinkerin. Aber eine halbe Stunde Cornelia im Alleingang ist mehr, als ich verkraften kann. Hast du sie schon einmal einen normalen Satz in normalem Tonfall sagen hören?»

«Selten.»

Franziska nickte. «Das dachte ich mir.» Sie stellte Tassen in Reih und Glied auf den Küchentisch und rief zum Wohnzimmer hinüber, wer Kaffee wolle, müsse ihn sich in der Küche abholen. Gabor ließ sich auf einen Stuhl fallen und sah ihr zu, während sie Milch in eine Kanne goß und Zucker dazu stellte.

«Du bist ein praktischer Mensch», murmelte er erschöpft.

«Weil ich in einer fremden Küche Zucker und Milch finden kann?» Ohne sich zu ihm umzudrehen, zog sie zwei Schubladen auf, nahm Löffel aus der einen und schob beide wieder zu. «Es gibt Schwierigeres.» Erst als die Maschine gluckernd das letzte Wasser in den Filter spie, setzte sie sich auf den anderen Stuhl.

Gleich darauf erschien Manuel. «Marlenchen ist eingeschlafen», sagte er. «Was ist das für ein nettes Kind! Hoffentlich macht Cornelia sie nicht kaputt. – Oh, störe ich etwa ein Tête-à-tête?»

«Keineswegs. Gabor und ich haben uns gemütlich angeschwiegen. Eine wahre Wohltat nach dem vielen Gerede. Kann ich dir Kaffee einschenken?»

«Bleib sitzen, Franziska. Ich schenke mir selber ein. Wollt ihr auch noch?»

Sie nickten.

Gabor trank in kleinen Schlucken, lehnte sich zurück, atmete tief aus und sagte: «Allmählich komme ich mir wieder wie ein Mensch vor.»

«Und vorher? Was warst du da?» Franziska fragte es streng.

Wenn ich jetzt sagte, ein Karpfen unter Hechten, dachte er, würden sie mich für einen Übertreiber halten. Und die beiden sind gewiß keine Hechte. Er blickte in die ihm zugekehrten forschenden Gesichter, fand es an der Zeit, vom Denken zum Reden überzugehen, und erklärte: «Ein Besucher von einem anderen Stern.»

«Das ist mir zu pathetisch. Fang du nicht auch noch an zu schauspielern, Gabor.» Franziska lächelte spöttisch. «Du warst bisher so schön normal.» Dann wandte sie sich Manuel zu, der auf der Spülmaschine thronte. «Hast du etwa auch das Gefühl, dich in einem Panoptikum aufzuhalten?»

«Gar nicht. Ich habe heute meinen Vater beerdigt und bin traurig. Ich mag euch beide und Steffi und habe noch eine reizende kleine Schwester kennengelernt. Soweit das Positive. Mit Cornelia habe ich nichts im Sinn, solange sie sich weiter so benimmt wie bisher. Aber wenn man ihr nicht zuhört, ist sie eine Augenweide. Himmel, ist die Frau schön!»

Franziska reagierte ärgerlich. «Immer habt ihr es mit der Schönheit! Seht doch mal in den Spiegel, ihr Küferkinder! Ihr seid alle schön. Oder habt ihr zwei es lieber, wenn ich sage, daß ihr gut ausseht? Steffi ist schön, und Marlene hat alle Voraussetzungen, einmal schön zu werden. Nur meine Mutter und ich sind die Außenseiter. Eine ganz nett aussehende Bibliothekarin mit ihrer genauso durchschnittlichen Tochter. Dafür hatten wir es leichter, denn mit uns konnte Konrad von vornherein keinen Staat machen. Er hat es auch nie versucht. Mit meiner Mutter ist es offenbar einige Zeit sehr gut gegangen …»

«Und dann?» fragte Manuel.

Franziska streckte die Beine lang aus, legte den Kopf in den Nacken und zögerte die Antwort hinaus. «Wenn ich das so genau wüßte. Meine Mutter ist verschlossen. Immerhin war sie acht Jahre lang mit ihm verheiratet. Als die Ehe in die Brüche ging, war ich längst erwachsen, vierundzwanzig Jahre alt und mitten im Studium. Sie hat nie offen mit mir geredet, nur Erklärungen abgegeben. Zu verschiedene Temperamente und Interessen. Er extravertiert, sie introvertiert. Er brauchte Menschen und Betrieb; sie hätte nie mithalten können.»

«Wie lange ist die Scheidung jetzt her?» fragte Gabor.

«So etwa sieben Jahre.»

«Da müßte es doch schon Cornelia gegeben haben», wandte Manuel ein. «War sie der Scheidungsgrund?»

«Eben nicht. Meine Mutter hat mit Konrad Schluß gemacht.» Franziska trank Kaffee, bevor sie fast beiläufig sagte: «Eins muß man ihm wohl lassen, seine ernsthaften Verhältnisse hat er jedesmal geheiratet; die langbeinigen Mädchen waren nur Zwischenspiele.»

«Und bei jeder Ehe war die Frau jünger als ihre Vorgängerin. Am Anfang, bei meiner und Steffis Mutter, waren es nur drei Jahre. Bei deiner schon zehn, Manuel, und wie viele bei euch, Franziska?»

«Fünfzehn.»

«Ja», sagte Gabor, «und dann kam der ganz große Sprung. Als er vierundsechzig war, hat er die achtundzwanzigjährige Cornelia geheiratet.»

Sie saßen schweigend zusammen, jeder in seine Gedanken versunken. Manuel beugte sich über die Tasse, die er in beiden Händen hielt; Gabor starrte hinter dem Rauch seiner Zigarette her, und nur Franziska lächelte kopfschüttelnd vor sich hin.

Sie war die erste, die aufstand. Sie reckte und dehnte sich. «Offenbar sind wir die einzigen Kaffeetrinker. – Es ist spät geworden. Ich schleppe jetzt meine Mutter ab. Ihre Leidensfähigkeit ist begrenzt, und mehr als eine halbe Stunde von Cornelias Überschwang wird sie nicht durchhalten. Wenn wir aufbrechen, werden die anderen wohl folgen. Du siehst erschlagen aus, Gabor. Was ist mit Steffi? Übernachten die Behrens bei dir?»

«Nein, sie müssen wegen der Kinder zurück. Es sind nur anderthalb Stunden bis ins Münsterland, und mein Schwager Karl ist stocknüchtern.»

«Gut.» Manuel rutschte von der Spülmaschine. «Ich bringe meine Mutter ins Hotel. Aber bei unserer Verabredung bleibt es, Gabor. Ich rufe dich in den nächsten Tagen an.»

«Ach du liebe Güte!» Franziska hatte an den Fingern abgezählt. «Wie kommen Cornelia und Marlene nach Hause?»

«Für die brauche ich nur ein Taxi zu bestellen.»

Gabor verabschiedete die Gäste der Reihe nach. Zuletzt gingen Manuel und Ilse. «Laß dich bei uns sehen, lieber Gabor», sagte sie herzlich. «Du weißt, wie sehr wir uns freuen.»

Nur Cornelia und das auf der Couch im Nebenzimmer schlafende Kind blieben zurück. Als Gabor nach dem Telefonhörer griff, um das Taxi zu bestellen, legte ihm Cornelia die Hand auf den Arm.

«Warte noch, Gabor. Ich bin gar nicht dazu gekommen, mich mit dir zu unterhalten. Hast du Kaffee oder einen Schnaps?»

«Beides. In der Küche.»

Sie ließ sich in seinen Lieblingssessel sinken. «Bringst du mir eine Tasse Kaffee? Schwarz und ohne Zucker.»

Nachdem er den Auftrag ausgeführt und sich aufs Sofa gesetzt hatte, strich sie sich die langen, im Lampenlicht fast weiß schimmernden Haare aus dem Gesicht. Es war eine geübte Geste und eine schöne, leicht gerundete Stirn.

Und jetzt, dachte er, wird sie mir das Profil zukehren, damit ich die Nase, den aparten Schwung ihrer Lippen und das Kinn auch gebührend bewundere. Sie weiß so verdammt genau, wie schön sie ist und wie sie sich am besten präsentieren kann. Gleich darauf wird sie Nägel mit Köpfen machen. Sie wird über das Testament, den Nachlaß, über Marlenes Ausbildung sprechen und durchblicken lassen, daß sie es als höchst unfair empfinden würde, wenn einer von uns den Pflichtteil verlangte. Dieses zarte, großäugige Reh hat Katzenkrallen und den Verstand eines Mafiabosses.

«Weißt du, daß ihr alle sehr lieb seid, ihr Küfers?»

«Nein», sagte er, hob den Schild höher und klappte das Visier herunter. Jetzt würde der Stoß mit der Lanze kommen. «Dafür hat uns noch niemand gerühmt.»

«Doch, doch. Aber keiner von euch verträgt, daß man ihm etwas Freundliches sagt. Du am allerwenigsten, Gabor. Wenn ich Stefanis brillantes Aussehen und ihre gute Figur, trotz der beiden Kinder, bewundere, schüttelt sie sich wie ein nasser Hund und läuft davon. Als ich Manuel zu seinem guten Examen gratulieren wollte, ließ er mich nicht zu Wort kommen und überschüttete mich mit Schauergeschichten aus der Chirurgie, die er nur aus einem Buch über Bader aus dem Mittelalter haben kann. Und du, mein Lieber, bekommst ein Gesicht, als wäre deine Versteinerung fast vollendet.»

Kein Profil. Sie wandte sich ihm voll zu, nahm seine Haltung ein, ahmte seine Stimme nach, sah plötzlich so aus, wie er soeben ausgesehen haben mußte, und sagte genau in seinem Tonfall: «Nein. Dafür hat uns noch niemand gerühmt.»

Gabor lachte.

Während Cornelia sich in Lob über seine Familie erging, setzte er eine freundliche Zuhörermiene auf und nickte hin und wieder. Heute, erst vor einigen Stunden, haben wir ihren Mann beerdigt, dachte er. Er ist vor fünf Tagen gestorben, und sie zieht die Trauer an und aus wie ein Kleid. Jetzt gerade baut sie Brücken zwischen sich und den anderen Kindern ihres Mannes. Wenn ich nur wüßte, um was es geht. Um das Erbe? Das sollte ihr sicher sein und verlangt nicht einen so großen Einsatz. Braucht sie uns etwa? Wozu? Sollen wir uns um Marlene kümmern, damit sie selber Karriere machen kann? Oder will sie vor allem mich überzeugen, daß das Kind in ihrer Obhut keinen Schaden nimmt, wenn sie es zum Kinderstar dressiert?

Er sah sie an und kam nicht umhin, ihre Schönheit in sich aufzunehmen. Sie mußte fast fünfunddreißig sein. Ein makelloses, kaum zurechtgemachtes Gesicht, klare Augen ohne Zeichen vergossener Tränen, keine noch so kleinen Falten. In den sieben Jahren ihrer Ehe mit dem Vater hatte es nie den Hauch eines Skandals gegeben. Weder von ihrer noch von seiner Seite, und das war ungewöhnlich.

«Hat er dich nie betrogen?» Gabor erschrak zu spät vor der Direktheit und Aufdringlichkeit seiner Frage, spürte, daß er sich eine Blöße gegeben hatte, konnte aber nichts mehr zurücknehmen oder ändern, nur abwarten.

«Er hat es versucht», sagte sie ohne jedes Unbehagen und verblüffte ihn schon wieder. «Aber weißt du, mich betrügt man so leicht nicht. Ich bin wachsam, mache Szenen, kreische, dringe in Zimmer ein und werfe Flittchen raus.» Sie hob die Tasse zum Mund und sah ihn über den Rand hinweg an. Er konnte nicht erkennen, ob sie lächelte. Als sie die Tasse absetzte, war ihr Gesicht gelassen. «Das muß der Fehler von Ilse und Babette gewesen sein. Sie haben geduldet und verziehen und wieder geduldet, bis es auf einmal nicht mehr ging. So weit habe ich es nicht kommen lassen. Ich war in Konrad verliebt, habe aber lange über den Altersunterschied nachgedacht, ehe ich ihn heiratete. Ich wollte eine richtige Ehe – und ein Kind. Das habe ich erreicht und festgehalten.»

Weil Gabor keine Erwiderung fand, stand er auf und ging an die Tür zum Arbeitszimmer. Marlene hatte im Schlaf rote Wangen bekommen. Sie lag zusammengerollt unter der Wolldecke. Manuel mußte ihr die Schuhe ausgezogen haben. Sie standen nebeneinander am Fußende der Couch auf dem Teppich. Ein weißbestrumpftes Bein hatte sich von der Decke befreit. Gabor dachte an den kleinen Nachtmahr und wußte nicht mehr, wie er darauf gekommen war.

«Rührend, nicht?»

Er merkte nun erst, daß Cornelia neben ihn getreten war.

«Ja, sehr. – Aber jetzt bestelle ich euch das Taxi. Ich kann nicht mehr fahren, weil ich zuviel getrunken habe. Ich trage sie runter. Vielleicht wacht sie gar nicht auf.»

Als er mit der schlafenden kleinen Schwester auf den Armen durch das Treppenhaus ging, hielt Cornelia ihn kurz vor der Haustür zurück.

«Wirst du mir bei allem, was jetzt kommt, helfen und zur Seite stehen, Gabor? An Konrads Stelle? Darf ich dich anrufen, wenn ich nicht mehr weiterkann, wenn ich zu einsam bin?»

«Das ist doch klar, Cornelia.»

«So meine ich es eigentlich nicht. Du verstehst mich schon.»

Gabor schloß die Haustür auf und trug das Kind zum wartenden Taxi, legte es vorsichtig auf die Rückbank, ging um den Wagen herum und öffnete Cornelia die Tür neben dem Fahrer.

Sie umarmte ihn, küßte ihn flüchtig auf den Mund und sagte: «Ach, Gabor, lieber Gabor. Hab Dank. Und gute Nacht.»

 

Am Abend nach der Beerdigung ihres Mannes, dachte Gabor, der in seinem Sessel saß und zu müde war, ins Bett zu gehen, macht sie mir verlockende Angebote. Meine Stiefmutter, wenn es nicht so komisch klänge, eine der schönsten Frauen, die mir je begegnet sind. Sie hat die Ehe mit meinem Vater ad acta gelegt und hält bereits jetzt Umschau unter den Söhnen des Landes. Warum fällt ihr Blick auf mich, ausgerechnet auf mich? Ich müßte für sie uninteressant sein. Ich habe nichts mit dem Theater zu tun, bin auch kein Steigbügelhalter, den sie brauchen und ausnützen kann, habe eine Anwaltspraxis, von der ich lebe, mit ihr aber nicht das große Geld verdiene, auf das sie es abgesehen haben muß. Was will sie mit mir? Oder macht sie das mit allen Männern, die ihr über den Weg laufen, weil es ihr angeboren ist und sie nicht anders kann? Gehört das zu dem Bild, das sie sich von sich selbst macht? Sie, die nicht mit zwei, sondern mit vier Beinen auf der Erde steht. Cornelia wittert schon Chancen, bevor sie in weiter Ferne sichtbar werden. Und dann ist sie wie Steffi, bei der ich auch nie weiß, wann sie schauspielert und wann nicht. Den ganzen Tag über habe ich beobachtet, wie geschickt sie sich in Szene setzt. Ich bilde mir ein, ganz klug und besonnen zu sein. Klugheit und Besonnenheit gebieten mir, in wilder Flucht davonzurennen. Aber wie läuft man vor diesen Augen und diesem weichen warmen Mund davon? Und will ich das denn?

Gabor schüttelte den Kopf über sich, weil er so rationalistisch dachte, während er in Wirklichkeit ein Romantiker war, der mit sich und der Welt in Eintracht leben wollte, der unter der Kühle und dem Abstand zum Vater gelitten hatte und an diesem Abend, an dem er über den Vater hatte nachdenken wollen, auf Abwege geraten war, weil die schöne junge Witwe des Vaters ihr seltsames Spiel mit ihm trieb.

«Das wird sich alles herausstellen», sagte er laut und mußte lachen, weil er sich bei einem Selbstgespräch ertappt hatte. Er stand auf, schob die Gedanken an Cornelia fort und wandte sie den Geschwistern zu, über die sich so viel leichter nachdenken ließ, weil es da für ihn keine Probleme gab.

Geschwister konnte man lieben, wie er Steffi liebte, oder man brauchte sie auch nur gernzuhaben, wie er Manuel gernhatte. Als er an Marlene dachte, wurde ihm warm ums Herz, obwohl er da schon unter der Dusche stand und das eisige Wasser den Alkohol und Gefühlsüberschwang vertrieb.

3

Franziska saß am nächsten Morgen mit ihrer Mutter am Frühstückstisch. Beide Frauen waren nach dem langen Abend unausgeschlafen und redefaul, teilten sich die Zeitung und tranken mehr Kaffee als sonst.

Franziska hatte schon des öfteren erwogen, eine eigene Wohnung zu nehmen, fand jedoch nie den Absprung, weil es keinen hinreichenden Grund gab. Sie vertrug sich mit ihrer Mutter. Sie beide hatten einen Beruf, waren unabhängig und achteten die Rechte des anderen. Sie lebten in einer hellen Wohnung mit vier großen Zimmern, so daß jede ein Schlaf- und ein Wohnzimmer für sich hatte. Wenn ihnen danach war, setzten sie sich zusammen oder kochten gemeinsam, aber das wurde nie zur Regel. Babette Küfer erwartete nicht, von Franziska dazugeholt zu werden, wenn sie Freunde einlud; sie mischte sich nicht in das Privatleben der Tochter ein und gab nur Urteile ab, wenn sie eigens dazu aufgefordert wurde. Die Tochter schätzte den Freund der Mutter. Als er vor einigen Jahren in Erscheinung getreten war, stellte sie wohlwollend fest, daß er der Mutter bekam, daß der Umgang mit ihr leichter wurde und sich der ruhige freundliche Mann wie selbstverständlich in das Leben der beiden Frauen einfügte.

«Wenn du mit Franz zusammenziehen möchtest, suche ich mir eine eigene Wohnung», hatte sie damals vorgeschlagen.

Aber Babette lehnte ab. Sie glaube, sie vertrügen sich besser, wenn es einen räumlichen Abstand gäbe; Franz sei ja auch gebunden, denn er wohne mit den beiden Kindern aus seiner geschiedenen Ehe zusammen. Vorläufig studierten sie noch, und der Haushalt sei gut eingefahren. Sein Leben sei ähnlich gut organisiert wie ihr eigenes. Oder ob Franziska den Wunsch habe, für sich allein zu leben?

Dieses Gespräch hatte vor drei Jahren stattgefunden, und seither hatte sich nichts geändert.

Franziska stellte nach einem Blick auf die Uhr fest, daß ihr noch eine knappe halbe Stunde blieb, und fragte hinter der Zeitung hervor: «Hast du Konrad sehr geliebt?»

Die Mutter legte die Zeitung fort. Sie brauchte sich nicht zu verstecken. «Ja, sehr. Anfangs zu sehr und nachher zu wenig.»

Auch Franziska ließ jetzt die Zeitung sinken und blickte die Mutter forschend an. «Hat er sich zu sicher gefühlt und geglaubt, nach jeder Eskapade wieder zu dir zurückkehren zu können?»

Babette sprach stockend und mit nachdenklichen Pausen. Sie bemühte sich, der Tochter etwas zu erklären, das sie selber nicht richtig verstand. Sechs Jahre zähen Beharrens und Durchhaltens und die Überlegungen einsamer Nächte. Wichtig waren nur die wirklich tiefen Gefühle. Immer liebte einer mehr als der andere. Aber dann, nach sechs Jahren, hatte wieder ein junges schönes Mädchen vor ihr gestanden und sie beschworen, ihren Mann freizugeben, denn er liebe nur sie, fühle sich aber verpflichtet, aus Anstand bei ihr zu bleiben.

«Ich hab ihr ins Gesicht gelacht», sagte Babette. «Ich fand die ganze Situation nur noch grotesk. ‹Sie können ihn haben, mit Handkuß.› Stell dir vor, Franziska, daß ich in der Lage war, so etwas zu sagen! Für das Mädchen muß es eine kalte Dusche gewesen sein. Als sie auf ihren meterlangen, wunderschönen Beinen von dannen schritt, war sie gar nicht mehr siegesgewiß.»

Franziska betrachtete die Mutter und wartete auf die Fortsetzung des Berichts.