Die Enkelin - Edda Rönckendorff - E-Book

Die Enkelin E-Book

Edda Rönckendorff

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Beschreibung

Dieser Generationenroman fesselt nicht nur durch die außerordentliche Einfühlung in ungewöhnliche Menschen; er zeigt am Schicksal der Wossilos und der Entwicklung der Enkelin Ruth auch den tiefen gesellschaftlichen Wandel Deutschlands zwischen zwei Weltkriegen und in der Nachkriegszeit. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 410

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Edda Rönckendorff

Die Enkelin

Roman einer deutschen Familie durch drei Generationen

FISCHER E-Books

Inhalt

1 Dorothea2 Ruth3 Friedrich4 Hermann Wendelin5 Hubert Dumartin6 Jesko, Viktor und Anna7 Anke8 Dorothea

1 Dorothea

Die alte Frau saß in Kissen und Decken verpackt auf der Terrasse. Hubert Dumartin, der aus dem Büro nach Hause kam, hob winkend die Hand, aber sie sah ihn nicht oder wollte ihn nicht sehen.

Hubert ging ins Haus und suchte seine Frau. Es war merkwürdig still; ein Spätnachmittag im Sommer, von draußen kaum ein Geräusch, nicht einmal Vogelgezwitscher. Im Haus ein Schweigen, das laut davon sprach, daß alle Kinder fort waren. Er fand Ruth in ihrem Zimmer vor der großen Arbeitsplatte, an der sie zeichnete. Sie drehte sich zu ihm um. Er legte ihr die Hand auf die Schulter.

«Ist was mit Dorothea? Als ich in die Garage gefahren bin, zeigte sie die Zähne. Ob aus Wut oder Freude ließ sich nicht erkennen, und zu ihr traue ich mich im Augenblick nicht. Seit vorgestern ist sie böse mit mir. Ich werde keines Wortes gewürdigt. »

«Worüber habt ihr euch wieder gezankt?» fragte Ruth rein rhetorisch und stand auf. «Ich kümmere mich um sie. Hoffentlich ist ihr nicht kalt geworden. Es war so friedlich. Die Kinder sind zum Schwimmen, und ich habe meine Entwürfe fertig gemacht. Wie wäre es – wollen wir nicht endlich mal ins Kino? Die ‹Blechtrommel› läuft wieder.»

Sie ging durch das Wohnzimmer auf die Terrasse, kauerte sich neben den Stuhl, griff nach der Hand ihrer Großmutter und fragte: «Wie geht es dir? Möchtest du hereinkommen?»

«Eben habe ich einen der jungen Füchse gesehen, oben am Rand des Steingartens. Ein wunderschönes Tier. Er hat noch dicke Pfoten und ein Kindergesicht.»

«Ich möchte zu gern wissen, wie viele es dieses Jahr sind», sagte Ruth. «Sah er anders aus als der, den du neulich gesehen hast?»

«Es kommt mir so vor, aber ich bin nicht sicher.»

Die Generalin war neunzig Jahre alt. Sie sah und hörte noch gut, war vom Alter nur wenig gebeugt, ging am Stock und kämpfte zäh gegen die Last der Jahre, aber nicht gegen den Tod, der ihr willkommen war. Ruth liebte die Großmutter mit einer herben, kämpferischen Liebe. Bis sie erwachsen wurde, bestand ihre Familie allein aus der Generalin. Ruths Vater war fünfundzwanzigjährig im Krieg gefallen. Ihre Mutter war auf der Flucht aus Schlesien an einem durchgebrochenen Blinddarm gestorben. Andere Flüchtlinge nahmen sich des dreijährigen Mädchens an und brachten sie in ein Kinderheim am Rande von Dresden. Diese Familie, die über sie Bescheid gewußt hatte, war vermutlich ein paar Tage darauf bei dem Luftangriff auf Dresden ums Leben gekommen. Das Kind war zu klein, um Auskunft über sich geben zu können; es hatte ein Pappschild um den Hals, auf dem «Ruth Wossilo» stand. Außer dem besaß es nichts als eine zerfetzte Stoffpuppe und das, was es auf dem Leibe trug. Niemand wußte, woher das Kind kam und wann es geboren war. Die Generalin Wossilo fand die Enkelin durch Suchdienste erst nach drei Jahren. Die nun fast sechsjährige Ruth sprach sächsisch, war lang und mager und sah die Frau, die behauptete, ihre Großmutter zu sein, aus ängstlichen braunen Augen an. Dorothea Wossilo war sich nicht klar, ob dies ihre Enkelin war oder nicht.

Ihr Sohn Jesko hatte gegen ihres Mannes und ihren Willen eine österreichische Rote-Kreuz-Schwester geheiratet, die er im Frontlazarett als Verwundeter kennengelernt hatte. Sie stammte von einem Bauernhof in Kärnten. Bei der einzigen Begegnung mit ihren Schwiegereltern, als ihr Mann schon gefallen war, ohne sein Kind gekannt zu haben, preßte sie das winzige Mädchen, das ihre braunen Haare und braunen Augen geerbt hatte, an sich und sagte: «Ihr mögt fein sein und gebildet, aber bei euch friert’s mich. Ich nehm die Ruth mit. Sehen könnt ihr sie, aber geben tu ich sie euch nicht.»

 

1947, als Dorothea die Enkelin fand, war auch sie allein. Der General wurde seit 1944 vermißt. Kurz bevor sie die Nachricht erreichte, daß in einem Kinderheim bei Dresden eine Ruth Wossilo lebte, war ihr über das Rote Kreuz der Brief eines Hauptmanns zugeleitet worden, der gesehen hatte, daß der General bei einem Gefecht in der Nähe von Jassy in Rumänien gefallen war.

«Weißt du, wie deine Mutter mit Vornamen hieß, Ruth?» fragte die Generalin das Kind. «Hieß sie Anna?» – «Ja, Anna», sagte das Mädchen unsicher. Die Leiterin des Heims zeigte Dorothea Wossilo das Pappschild und die Puppe. Sie hatte nie die Schrift ihrer Schwiegertochter gesehen, aber sie erkannte die Puppe wieder; die Mutter hatte sie der kleinen Ruth genäht. Das Kind spielte schon bei dem einen, so unglücklich endenden Besuch damit.

Die siebenundfünfzigjährige Dorothea nahm das Kind zu sich und begann mit ihm ein neues Leben.

 

Als Ruth zurückkam, saß ihr Mann in einem der Segeltuchsessel neben ihrem Zeichentisch. Er sah die Entwürfe für Glückwunschkarten durch, die sie in den letzten Tagen gezeichnet hatte. «Hübsch», sagte er. «Die gefällt mir besonders gut.» Es war die Zeichnung einer Katze, die durch hohes Gras lief. «Ist es die rot-weiß getigerte?»

«Ja. Wie gut du beobachten kannst! Ich habe die Streifen nicht mal angedeutet.»

«Die Graue und die Schwarze bewegen sich ganz anders. Übrigens, was war eben mit Großmutter?»

«Sie hat einen der jungen Füchse gesehen. Im Blumenbeet. Schade, aber ich bekomme sie nie zu Gesicht, weil ich nicht die Zeit habe, stundenlang auf der Terrasse zu sitzen. Worüber habt ihr eigentlich gestritten?»

«Ach, das übliche. Ich nehme nicht genug Rücksicht auf dich. Ich lade dir zuviel Arbeit auf, weil ich gern Gäste habe. Ich dulde, daß die Kinder Freunde mitbringen, obwohl ich weiß, wie überlastet du bist. Ich selbst bin indolent. Dann lassen meine Manieren zu wünschen übrig. Ich stehe nicht auf, wenn du ins Zimmer kommst. Ich frage dich nicht, was du zu trinken wünschst, und ich sehe zu, wie du dir selber einschenkst.»

Ruth seufzte tief auf.

«Was möchtest du denn trinken?» fragte Hubert grinsend.

«Einen Eimer Champagner. Bloß geht das nicht, weil ich soviel nicht vertrage. Gib mir einen Fingerhut Klaren, und dann laß uns spazierengehen. Großmutter ist in ihrem Zimmer und hat ihren Tee. Die Kinder kommen erst zum Abendessen. Wir haben eine Stunde Zeit.»

«Und deine Zeichnerei?»

«Eilt nicht. Ich habe keinen Termin.»

 

Die Generalin, Dorothea Wossilo, geborene Rechtern, war von Ruth in ihr Zimmer gebracht worden. Wie immer, sobald sie allein war, glitten ihre Gedanken in die Vergangenheit. Sie sah verwischte Bilder, auf denen die Gesichter unscharf waren wie auf sehr alten Fotografien. Sie versuchte, ihren Sohn vor sich zu sehen, diesen schwierigen einzigen Sohn, der sich gegen die Familie und die Tradition aufgelehnt hatte, der sich weigerte, Offizier zu werden, und als Gefreiter an einem Frontabschnitt kämpfte, an dem sein Vater eine Division kommandierte. Der Bruch kam, als er die zwei Jahre ältere Krankenschwester heiratete, diese Anna Oberbichler, die von einem armseligen Bauernhof nahe der slowenischen Grenze stammte. Keine fünf Monate nach der Heirat war Jesko gefallen. Nein, sie konnte sein Gesicht nicht heraufbeschwören. Auch nicht das seines Vaters. Dorothea drehte sich zur Seite und blickte auf die Fotografien auf dem kleinen Tisch. Es half nichts. Aus den Bildern wurden keine lebendigen Menschen. Nur diese Anna Oberbichler, von der es allein das Hochzeitsfoto gab, sah sie. Ein junges, trotziges Gesicht, einen weichen Mund, der härter wurde, je länger sie den Forderungen des Generals zuhörte, das Kind fest an sich gedrückt. Nein, hatte sie damals gesagt, nein, niemals! Dorothea erinnerte sich, neben ihrem Mann gestanden zu haben, kaum beachtet von dieser jungen Person, die ihre Schwiegertochter war und die letzte Wossilo auf dem Arm hielt. Sie wußte nicht mehr, ob sie damals gern eingelenkt hätte. Sie glaubte es nicht. Dorothea schüttelte den Kopf. Sie war zu alt, sich noch etwas vorzumachen: Sie hätte nicht eingegriffen.

Erst als sie nach dem Krieg ganz allein war, begann sie, nach Anna Wossilo und ihrem Kind zu suchen.

Für die alte Frau im Sessel verschoben sich die Bilder. Aus Anna wurde Ruth mit den braunen Haaren und ängstlichen braunen Augen, die dennoch sehr klar blickten. Sie wollte damals nicht bei geschlossener Tür schlafen; sie verlangte nach Licht und mußte hören können, was um sie geschah. «Papperlapapp», sagte Dorothea und machte die Tür zu. Ruth schrie oder weinte nicht; sie bekam denselben harten Mund wie ihre Mutter und machte die Tür wieder auf. Dorothea gab erst nach, als Friedrich, ihr und Jeskos alter Freund, der General Friedrich von Hortmann, begütigend auf sie einredete. «Dorothea, hab doch Mitleid mit dem Kind. Denkst du nie an deinen Sohn?» Sie hörte endlich, was der Freund nicht hatte aussprechen wollen, und ließ Ruth gewähren. Als die Kleine sieben wurde, verlor sich allmählich die Angst aus ihren Augen.

In der Geborgenheit ihres Zimmers schloß Dorothea die Augen, um besser sehen zu können. Sie war mit Ruth im Park. Das Mädchen blieb vor zwei Hunden stehen, die sich paarten. Sie sah aufmerksam zu. Dorothea wußte nicht, was tun. Sie wartete ab. Das gelang ihr nach einem Jahr mit Ruth bereits besser. Endlich drehte das Kind sich um. «Bei Hunden gefälld mir das», sagte sie in breitem Sächsisch. «Bei Menschen siehd es gomisch aus.»

«Hast du das denn schon gesehen?»

«Ofd. Im Bark. Wir haben uns rangeschlichen. Bei Hunden isd es ordendlich, bei Menschen isd es ein Gewurschdel mit den Gleidern … vielleichd wenn sie Fell hädden.»

Als Dorothea es Friedrich erzählte, lachte der. «Du hast dir ein weises, welterfahrenes und unglaubliches Kind aus diesem Heim geholt.»

Für den alten General blieb Ruth das unglaubliche Kind.

Dorothea wurde in die Schule bestellt. Die Lehrerin zeigte ihr Zeichnungen. Ruth hatte auf schlechtem Holzpapier die sich begattenden Hunde gezeichnet. Ungeschickt, aber richtig, die Bewegung stimmte. «Das ist hanebüchen!» sagte die Lehrerin. «Wenn Ruth nicht erst sieben Jahre alt wäre, müßte ich einschreiten. Sie verdirbt mir die Klasse. Und immer diese Erzählungen aus dem Kinderheim! Was sagen Sie dazu, Frau Wossilo?»

Wenn sie wollte, konnte die Generalin beeindruckend sein. Sie richtete sich auf, sah an ihrer schmalen, geraden Nase entlang und sagte eisig: «Ich sage dazu, daß meine Enkelin sehr talentiert ist. Hätten Sie in diesem Alter Hunde so zeichnen können, gleichgültig, welcher Beschäftigung sie gerade nachgingen? Ich nicht. Ich hoffe, Sie berücksichtigen das, wenn Sie dem Kind Noten geben. Und im übrigen: Ruth kann nur aus dem Heim erzählen, weil sie dort war. Sie hat noch ganz andere Beobachtungen gemacht. Seien Sie dankbar, daß sie die nicht zu Papier bringt.»

Von da an durfte das Kind zu Hause so oft und so viel zeichnen, wie sie wollte.

 

Die Generalin hatte es nach dem Krieg in den Westen verschlagen, in eine kleine alte Stadt südlich der Ruhr. Sie und Ruth lebten erbärmlich. Es gab für Offiziere oder ihre Hinterbliebenen noch keine Pensionen; die Wohlfahrt mußte einspringen. Bis Ruth eine Waisenrente bekam, verging viel Zeit. Dorothea verkaufte Schmuck und Hausrat auf dem schwarzen Markt. Friedrich von Hortmann ging es nicht besser. Die beiden alten Freunde trafen sich fast täglich und teilten mit dem Kind jeden kleinen Luxus, dessen sie habhaft werden konnten. Ruth schloß sich an den alternden Mann an. Selbst kinderlos und früh verwitwet, nahm er die ungestüme Liebe des kleinen Mädchens verwirrt, gerührt und fast demütig entgegen.

«Ist dir klar», sagte er zu Dorothea, «daß das Kind Menschen wie Briefmarken sammelt? O nein, nicht nur dich und mich. Vornehmlich Männer. Im Heim gab es einen Gärtner, von dem es erzählt.» Dorothea nickte. Auch sie kannte den Gärtner. «Dieser Gärtner war der einzige Mann dort. Sonst gab es nur Frauen. Er war der Vater für ich weiß nicht wie viele sehr junge Kinder. Ruth erhebt Besitzanspruch. Ich konkurriere mit dem Briefträger, den sie auf seinem Weg begleitet, wann immer sie kann. Im Lebensmittelladen richtet sie es so ein, daß Herr Wollinsky sie bedient. Frau Wollinsky sagt, noch nie wäre sie auf eine Siebenjährige eifersüchtig gewesen.»

«Das ist nicht alles, Friedrich. Ich habe sie neulich auf dem Bock vom Wagen des Klüngelskerls gesehen. Der Mann trinkt; man muß immer Angst haben, daß er plötzlich auf die Straße fällt. Aber er nimmt Ruth mit. Ich habe ihm gesagt, er soll sie nach Hause schicken, wenn sie ihm lästig wird. ‹Nee, Frau General›, hat er gesagt, ‹dat Kind kann bleiben, dat erzählt mir so schöne Geschichten.›»

«Laß sie, Dorothea. Ich glaube nicht, daß es ihr gelingt, den Klüngelskerl zu verderben.»

Ruth sagte Friedrich zum General. «Warum nennst du ihn nicht Onkel Friedrich?» fragte Dorothea. «Ich hielte das für richtiger.»

«Du sagst auch Friedrich, Großmutter. Warum soll ich etwas anderes sagen als du?»

«Weil er ein alter Herr ist.»

Das Kind machte den bösen Mund, den sie nur zu gut kannte. «Mir gefällt aber Friedrich besser. Ich werde ihn fragen.»

Die Großmutter fühlte sich ausgeschlossen; es war eine neue Erfahrung für sie. Allerdings gab es Zeiten, in denen sie gebraucht wurde, ohne zu wissen, ob sie die richtige Hilfe gab. Sie mißtraute ihren Instinkten, die bei ihrem Sohn versagt hatten. Sie war zu klug und hatte ein zu gutes Gedächtnis, um sich noch auf Gefühle zu verlassen.

Das Kind litt unter Angstträumen. «Ich möchte zu dir ins Bett», sagte es eines Nachts. Ruth stand in ihrem verschossenen Nachthemd mager und großäugig mitten im Zimmer.

Dorothea knipste die Nachttischlampe an. «Warum?»

«Ich bin allein.»

«Ich werde mit dir gehen und bei dir bleiben, bis du wieder einschläfst.» Weder bei den Rechterns noch bei den Wossilos hatte man um Kinder viel Aufhebens gemacht. Angstträume kamen vor; man erinnerte sich ihrer aus der eigenen Kindheit; irgendwann gingen sie vorüber.

Das Kind lag unter der Decke, beschützt vor bedrohlichen Ungeheuern, solange die aufrechte Gestalt der Großmutter in einem alten karierten Morgenrock des Generals Wossilo neben ihrem Bett saß. Es schlief ein.

Dorothea blieb wach und fragte ihren strengen protestantisch-preußischen Gott um Rat. Sie las im Alten Testament und fand nichts, was Kinder gegen Alpträume schützte. Das Kind war katholisch; sie nahm es wenigstens an. Sie wußte nicht, ob es getauft war, hatte Ruth aber auf alle Fälle in der Schule zum katholischen Religionsunterricht angemeldet. Es widerstrebte ihr, zu billigen Ausflüchten zu greifen. Was sagte man denn zu einem Kind, das an einen Jesus in Sandalen und blaßblauen Umhängen glaubte und mit einer süßlich lächelnden Maria aufwuchs? Sagte man: Bete einen Rosenkranz? Jesus wird dich beschützen? Dein Schutzengel wacht über dir?

Ruth bekam Übung, sich selber zu helfen. In der Schule gab es Fleißkärtchen. Sie hatte eins für gutes Lesen bekommen. Es war eine Oblate mit einem feisten, ins Leere grinsenden Engel, der sich mit fetten Grübchenarmen auf eine Wolke stützte. Ruth war hingerissen. Sie spürte, daß die Großmutter und Friedrich ihre Begeisterung nicht teilten, und hob den Engel in der Nachttischschublade auf. Beim nächsten Angsttraum, in dem wieder unheimliche, wolkenartige Gebilde sie bedrängten und zu ersticken drohten, bevölkerte sie das Zimmer, nachdem sie in Schweiß gebadet aufgewacht war, mit ihren eigenen, ungefährlichen, auf Wolken gestützten Engeln, bis kein Platz mehr für die anderen bösen Wolken blieb. Das half, bis sie den Angstträumen der Kinderzeit für immer entwachsen war. Aber als sie selber Kinder hatte und ihnen Bilderbücher malte, stellte sie erheitert ihre Vorliebe für Engel und Putten fest.

Während Dorothea in jener Nacht die schlafende Enkelin bewachte, dachte sie an Friedrich, der fragte: «Hast du eigentlich jemals von Ruths Familie in Österreich gehört?»

Die Generalin senkte den Blick. «Ich kenne nur den Namen ihrer Mutter und weiß ungefähr, wo sie in Kärnten zu Hause war. Sonst nichts. Meinst du nicht, es wäre besser, man ließe das ruhen?»

«Das meine ich nicht. Vielleicht hat das Kind dort noch Großeltern und Tanten und Onkel. Sollen sie glauben, die Tochter und ihr Kind wären umgekommen? Stell dir vor, du hättest nie erfahren, daß es das unglaubliche Kind gibt! Dorothea, jetzt geht die Post wieder. Man muß sie finden können.»

«Was hat Ruth davon, daß es vielleicht noch Oberbichlers gibt, mit denen sie verwandt ist, Friedrich?»

Der General wehrte ab. «Wenn du sie nicht suchst, suche ich sie.»

«Arme Kleinbauern, die wahrscheinlich keine Briefe beantworten?»

«Dein Sohn Jesko hat eine von ihnen geliebt und mit ihr dieses wunderbare Kind bekommen.»

Die Generalin schrieb ans Rote Kreuz. Nach Monaten bekam sie einen Brief von Annas Mutter.

Seitdem hatte Ruth eine neue Großmutter, zwei Onkel, eine Tante und zwei Vettern. Sie schrieb und zeichnete Bilder und schickte der neuen Großmutter ein Foto, bekam das Brautbild ihrer Eltern und träumte von einem Besuch in Kärnten. Aber sie wurde sechzehn, bis sie die Erlaubnis erhielt, allein die weite Reise zu machen.

Dorothea hätte früher mit ihr reisen können, aber sie wußte, daß es zwischen ihr und den Oberbichlers keinen Berührungspunkt geben würde. Auch Ruth hätte keine Brücken schlagen können. Es waren zwei Welten, die sich besser nicht begegneten. Dennoch: Als aus Österreich Päckchen kamen mit Geselchtem, selbst eingekochtem Powidel und hausgeschlachteter Wurst, sorgte sie dafür, daß das Kind den Verwandten regelmäßig schrieb und Weihnachtsgeschenke bastelte.

«Laß mich Bilder für sie zeichnen, Großmutter. Du weißt, daß ich nicht gut stricken und häkeln kann.»

«Ruth, sie können inzwischen ihr Haus mit deinen Bildern tapezieren. Topflappen kannst sogar du häkeln, und die werden in jedem Haushalt gebraucht. Wenn ich dir helfe, kannst du deinen Onkeln Socken stricken. Dein Vater konnte Socken stricken. Das lernten bei uns auch die Jungen.»

Ruth betrachtete das Hochzeitsbild mit dem großen, ernsten jungen Mann, der ihr Vater gewesen war und stricken konnte.

 

Die uralte Dorothea in ihrem Sessel dachte an ihren Mann Jesko und an ihren treuen Freund Friedrich von Hortmann. Friedrich war mit Jesko auf der Kriegsschule gewesen. Die Kadettenanstalt war Jesko erspart geblieben, während der früh vaterlos gewordene Friedrich sie durchlitten hatte. Vielleicht war er darum so sanft und freundlich geworden, aus stetem Protest gegen das, was man ihm als Kind angetan hatte. Als sie diesem Gedanken nachhing, sah sie den Sohn vor sich, obwohl sie ihn gar nicht hatte sehen wollen, weil sich zu viele böse Erinnerungen in den Vordergrund drängten. Der zarte, hoch aufgeschossene blonde Sohn, begabt, künstlerisch und nicht für die Familie geschaffen, in die er hineingeboren wurde. Ein Kind, das Liebe und Zärtlichkeit brauchte, die sie nicht geben konnte, weil sie ihrem herben Wesen nicht entsprachen. Zwischen dem strengen Vater und dem weichen Sohn hatte schon in der Kinderzeit des jungen Jesko kein Verständnis aufkommen können. All diese Disziplin, all diese Regeln, die Gebote und Verbote, die strengen Strafen und die Schläge. Vielleicht, wenn sie mehrere Kinder bekommen hätte.

Aber dieser einzige Sohn besaß eine innere Härte, die stärker war als die äußere des Vaters. Er hatte sich nach der Schule geweigert, in die Wehrmacht zu gehen und Offizier zu werden. «Wenn du mich zwingst», sagte er zu seinem Vater, «sorge ich dafür, daß ich unehrenhaft entlassen werde. Daran kannst du mich nicht hindern. In zwei Jahren bin ich mündig, dann bekomme ich das Geld, das mir Tante Leonore hinterlassen hat, und kann damit mein Studium finanzieren. Wenn du mich jetzt studieren läßt, ersparst du dir viel. Ich glaube nicht, daß es der Karriere eines Generalmajors dienlich ist, wenn der Sohn geschaßt wird.»

Der junge Jesko brachte den Arbeitsdienst hinter sich und wurde bei der Musterung für die Wehrmacht wegen einer Meniskusverletzung, die vom Autobahnbau stammte, zurückgestellt. Er begann zu studieren. Dann kam der Krieg. Er wurde sehr bald eingezogen, mußte erst nach Frankreich, dann nach Rußland, wurde verwundet und wieder an die Front geschickt. Bei den seltenen Urlauben, in denen sie den Sohn noch sah, bahnte sich zwischen Dorothea und ihm ein neues, auf gegenseitige Achtung gebautes Verhältnis an. Dorothea schrieb ihm lange, sehr offene Briefe, in denen sie zu erklären suchte, warum es zu dem Zerwürfnis gekommen war. Sie schrieb ihm von ihrer strengen, ungeliebten Mutter, von ihrer frühen Flucht in die Ehe, in der sie sich ihrem Mann unterworfen hatte, weil sie dazu erzogen worden war. Doch dann kam die letzte Verwundung, die Jesko mit dieser Anna Oberbichler zusammenführte. Als die Eltern sich einer Verlobung und Heirat widersetzten, zeigte der Sohn seine Verlobung mit Fräulein Anna Oberbichler in der «Berliner Börsenzeitung» an. Als Anna schwanger wurde, kam die Kriegstrauung. Kurz darauf war der junge Jesko gefallen. Bei der einzigen Begegnung mit der Schwiegertochter hatte der General von seinem gefallenen Sohn gesprochen und die junge Frau zu überreden versucht, mit Ruth zu Dorothea auf das Gut in Brandenburg zu ziehen.

«Gefallen! So nennt ihr das», hatte Anna mit dem trotzigen Mund gesagt, den ihre Tochter geerbt hatte, «ein feines Wort für etwas Grausiges. Nein, nicht nur Sie, Herr General, haben Tote gesehen. Ich auch. Die ‹fallen› nicht. Sie werden zerrissen, und sie verbluten, weil keiner sie rechtzeitig holen kann. Sie haben keine Gesichter mehr, aber sie leben noch ein paar Tage und sterben qualvoll, wie man keinen Hund sterben läßt. Ich habe Jesko geliebt und habe ein Kind mit ihm. Aber an seinen Tod mag ich nicht denken, weil ich zu genau weiß, wie der gewesen ist. Sie sind ein mächtiger Mann. Sie schicken jeden Tag viele junge Männer wie meinen Jesko in den Tod. Sie sind hart und streng –» Als der General etwas sagen wollte, hob sie die Hand. «Wie streng Sie sind, hat mir Jesko oft genug erzählt.» Und dann kam ganz am Ende der Satz: «Bei euch friert’s mich», den Dorothea nie mehr vergessen konnte, der in ihr vergraben lag, bis sie ihn nach dem Krieg, als sie das Schicksal wieder mit dem Freund Friedrich zusammenführte, zum ersten und einzigen Mal laut aussprach.

Aber durch diese junge Frau hatte sie, als sie eigentlich schon zu alt dazu war, eine neue Chance bekommen. Das Kind, das der Mutter glich und nur die Gestalt und ein paar Gesten und die gerade Wossilonase vom Vater geerbt hatte, ließ sie weicher werden, als sie es je gewesen war. Dorothea in ihrem Lehnstuhl lächelte vor sich hin.

Wenn sie sich bei ihm über Ruth beklagte, mahnte Friedrich manchmal liebevoll und ein bißchen spöttisch: «Zieh die Krallen ein, Dorothea. Ruth ist ein kleines Mädchen. Du brauchst keinen Krieg gegen sie zu führen. Abrüstung ist angebracht.»

Immer wieder Friedrich und Ruth: Ein neu geschenktes und mit Dankbarkeit entgegengenommenes Leben.

Eines Tages war es geschehen. Der Klüngelskerl war tot vom Bock seines Wagens gestürzt. Ein rascher gnädiger Tod. Das Kind war in der Schule. Als es davon erfuhr, schluchzte es hemmungslos.

«Ich will nicht, daß er tot ist!» schrie Ruth. «Ich will es nicht!» Dann schluchzte sie weiter.

«Hör jetzt auf!» befahl Dorothea barsch. «Eine Wossilo läßt sich nicht so gehen. Das ist kein guter Stil. Du weißt, daß alle Menschen einmal sterben müssen. Für ihn war es gut so. Er hat zuviel getrunken und war alt und allein. Wenn er länger gelebt hätte, wäre es ein elendes Sterben geworden.»

Friedrich kam und nahm Ruth in die Arme. «Du hast einen guten Freund verloren», sagte er. «Vielleicht weiß er, wo immer er jetzt sein mag, daß du um ihn trauerst. Vielleicht tut ihm das gut.»

Das Kind hatte ihn aus rotgeweinten Augen angesehen, die Lippen zusammengepreßt, den Kopf in den Nacken gelegt.

«Glaubst du das, Friedrich?»

«Glauben, Ruth? Ich weiß nicht. Niemand weiß, was kommt. Es wäre sicher einfacher, wenn man sich fest darauf verlassen könnte, daß nach dem Tod alles ein bißchen so weitergeht, wie es vorher war. Aber das weiß niemand.»

«Wie soll ich dann an ihn denken? Wo ist er?»

«Das ist einfach, Ruth. Denk an ihn auf seinem Wagen, mit dem alten geduldigen Pferd. Stell dir vor, was er dir erzählt hat, was du ihm erzählt hast, wie es war, wenn die Sonne schien und er auf seiner Flöte spielte, wie es gerochen hat – das alte rostige Eisen, das schwitzende Pferd. Weißt du, wie seine Hände aussahen, wenn er die Zügel hielt? Könntest du das zeichnen?»

Ruth nickte. «Ich weiß genau, wie es ausgesehen hat, aber ich kann keine Hände zeichnen. Ich merke es mir, und wenn ich besser zeichnen gelernt habe, mache ich dir ein Bild von ihm und dem alten Moritz.»

«Darauf freue ich mich, Ruth.»

Das Kind wuchs mit den Erinnerungen zweier alter Menschen auf, die weit in die Vergangenheit zurückreichten, die ihm die Eltern, hätten sie gelebt, nie so hätten lebendig machen können. Es hörte den Geschichten zu, sog sie auf wie ein Schwamm und war unersättlich. Es lernte Kindersprüche aus Kinderstuben, die es sich nicht vorstellen konnte. Dorothea achtete streng auf gute Tischmanieren. Wenn das Kind manschte, sagte sie: «Herr von Pabel ißt die Suppe mit der Gabel und das Fleisch mit dem Löffel, ist er nicht ein Töffel?» Das Kind lachte und manschte etwas weniger. Von Friedrich lernte es die Geschichte von dem Mann mit dem Hund, der am Bahndamm stand und die Lokomotive anbellte, woraufhin er vom Lokomotivführer mit kleinen Kohlestücken beworfen wurde. «Damit», fuhr es strahlend fort, «begann er einen schwunghaften Handel mit Kohlen. Als er reich geworden war, kaufte er sich ein Schiff und stach damit in See.» – «Wie geht es weiter?» fragte Friedrich. «Dann kommt er nach Arabien und sieht dort ein Zelt. In dem Zelt saß ein Scheich und sagte: ‹Salem Aleikum›, er aber verstand, er solle mal reinkommen, und da vertobakte der Scheich ihn fürchterlich.»

Dorothea erzählte von ihrer väterlichen Familie, den Rechterns, die zur Zeit der napoleonischen Besetzung in Königsberg gelebt hatten. Sie bekamen Einquartierung. In der Küche gab es Heerscharen von Schaben. Als die Köchin für die Franzosen Suppe kochte, gerieten Schaben in den Topf. Am nächsten Tag waren keine Schaben in der Suppe. Die Franzosen beklagten sich bitter und sagten, sie wollten wieder Suppe «mit kleine Krebs».

«Wie lange ist das her, Großmutter?»

Dorothea rechnete. «Vierundneunzig und zweiundfünfzig – fast hundertfünfzig Jahre, Ruth.»

«Und du hast die noch gekannt!»

«Nein, natürlich nicht, aber mein Vater hat es von seiner Großmutter gehört, und die hat es miterlebt.»

Friedrich erzählte von den Ferien bei seiner Mutter, aber nie von der Kadettenanstalt. Er erzählte vom Burschen, der bei einem Fest eine Schale mit Maiglöckchen abgeben sollte. «Bringen Sie die Blumen zu Frau von Hortmann», war ihm aufgetragen worden. Er brachte Friedrichs Mutter die Blumen und ging erst wieder, als er die Schale zurückbekommen hatte.

«Eigentlich hat er es ganz richtig gemacht», sagte Ruth. «Sollen sie ihm doch genau sagen, was er tun muß.»

Der alte Jesko, ihr Großvater, den sie nur von Fotos kannte, auf denen er die Generalsuniform trug, war in einer brandenburgischen Stadt zur Schule gegangen. Er hatte Dorothea von einem Lehrer erzählt, den die Jungen Staketpfötchen nannten, weil er mit seinem Spazierstock an den Eisenstäben der Vorgartengitter entlangratschte. Das Kind hörte zu und hortete in sich Erinnerungen.

Die uralte Dorothea war müde geworden. Sie schlief in ihrem Sessel ein und nahm alles Erlebte in ihre Träume mit.

 

Die achtunddreißigjährige Ruth ging mit ihrem Mann spazieren. Kinder spielten auf der Straße, Nachbarn standen vor ihren Häusern und nickten ihnen zu. In der Reitschule führten größere dicke Mädchen Ponies, auf denen kleine dicke Mädchen saßen, am Halfter im Kreis herum. Es war wie immer: ein von der Großstadt ausgespartes Tal mit einem Zauber und Eigenleben, von dem phantasielose Stadtplaner die Finger nicht lassen wollten. Ein Park sollte daraus werden, ordentlich, langweilig, steril. Kein Platz mehr für die Schafe, die Schrebergärten, kein Platz mehr für die Füchse, die bei den Dumartins im alten Steinbruch in den Brombeerdickichten ihren Bau hatten. Kein Sommermorgen mehr, an dem man vom Hähnekrähen aufwachte, keine Katzen, die auf den Wiesen Mäuse fingen, kein Ziegenbock mehr, der auf der Straße spazierenging.

Ruth und Hubert bogen auf den schmalen Weg ab, der durch die Schrebergärten führte. Überall arbeiteten die Menschen, überall blühten Blumen, überall roch es nach Sommer.

«In drei Wochen sind wir schon unterwegs», sagte Ruth. «Ich freue mich schrecklich. Du auch?»

«Ja. Hoffentlich kommt nichts dazwischen. Was ist, wenn Großmutter krank wird?»

«Im Augenblick geht es ihr ganz gut, und sie ist noch nie krank geworden, wenn wir verreist waren und deine Eltern auf sie aufgepaßt haben. ‹Kein guter Stil.›»

«Wenn wir beide uralt sind oder unsere Kinder schon Enkel haben, werden ihre Sprüche noch in unserer Familie leben. ‹Kein guter Stil› und ‹Kinder sieht man nur, man hört sie nicht›. Wenn wir einen Kriminalroman lesen, der unter Verbrechern spielt, die nicht sehr gepflegtes Deutsch sprechen, dafür aber Sexorgien feiern, werde ich zu dir sagen: ‹Ich hatte immer das Gefühl, mich in schlechter Gesellschaft zu befinden.›»

Ruth griff nach seiner Hand, machte einen kleinen Sprung, um wieder mit ihm in den richtigen Tritt zu kommen, und sang: «Wir fahren in die Ferien. Ich freue mich, ich freue mich auf Kärnten!» Und sie dachte: Danke, Hubert, danke, daß du daran denkst, mit mir alt zu werden, daß du wieder daran denkst.

Vor zwei Jahren war sie sich dessen nicht sicher gewesen. Damals hatte es eine andere Frau in Huberts Leben gegeben. Woran hatte sie es gemerkt? Sie hätte es nicht zu erklären vermocht, war sich aber ganz sicher. Eine Frau, die ihre entscheidenden Jugendjahre mit zwei Menschen wie Dorothea und Friedrich verbracht hatte, machte keine Szenen – kein guter Stil. Hubert war eine Spur zu freundlich, zu besorgt, zu rücksichtsvoll. Auch in der Liebe war er anders als sonst.

Ruth, die ein wenig von Dorotheas grimmigem Humor geerbt hatte, stellte Mutmaßungen an. Wenn einer mit meinem Füller schreibt, merke ich es. Wenn einer auf meiner Maschine tippt, schreibt sie anders als vorher. Wenn einer, nein, eine mit meinem Mann schläft … Sie begann damals, Hubert genauer zu beobachten, und stellte immer nur fest, daß ihm das schlechte Gewissen in vieler Hinsicht gut bekam. Er wurde freundlicher und höflicher, geduldiger mit Dorothea und liebevoller im Umgang mit seinen Kindern. Er war oft verreist, aber das brachte sein Beruf mit sich; es war nichts Neues. Weil sie ihn nie bei heimlichen Telefongesprächen oder unmotivierten Unternehmungen ertappte und auch keine Briefe mit einer fremden Schrift für ihn eintrafen, fragte sie sich, ob es vielleicht nur Einbildung wäre. Aber dann gebrauchte er auf einmal eine ungewohnte Redewendung, sagte etwas in einem Tonfall, den sie noch nie von ihm gehört hatte – und sie war wieder sicher.

Unwillige Bewunderung für die andere Frau erfüllte sie. Wie machte sie das? Warum begnügte sie sich mit der wenigen Zeit, die für sie abfiel? Woher nahm sie das Taktgefühl, sich Hubert nicht aufzudrängen, keine Forderungen an ihn zu stellen? War das nur Klugheit, weil jeder Besitzanspruch Hubert sofort vertrieben hätte? Ruth konnte sich diese Frau nicht vorstellen und verstand sie auch nicht, während sie Hubert nur zu gut verstand. Es mußte eine Erholung sein, eine Frau zu lieben, die keine drei Kinder, keinen ausfüllenden Beruf und keine strenge preußische Großmutter hatte. Zumindest nicht alle drei Dinge auf einmal. Vielleicht war sie schön und jung. Verjüngte ihn die andere Frau etwa? Hubert wurde nicht gern alt, aber seine ständig größer werdenden Kinder führten ihm das Altwerden vor. Ruth sah ihn genauer an und fand ihn zu seinem Vorteil verändert. Nein, dreimal nein! Sie wollte keiner anderen Frau dafür dankbar sein müssen, daß sie einen guten Einfluß auf ihren Mann ausübte. Das nicht. Was wollte sie dann? Die andere aufspüren und mit ihr reden? «Geben Sie mir meinen Mann zurück. Ich brauche ihn dringender als Sie.» Ruth fand es komisch. Also, keine Szene mit Hubert. Keine Szene mit seiner Geliebten – so sie sie überhaupt finden würde.

Ruth tat, was Hubert ihr vorgeführt hatte. Sie brach aus. Der Ausbruch war von Anfang an falsch aufgezäumt und zum Scheitern verurteilt. Er brachte ihr nichts als Kummer und Scham. Sie setzte eine Freundschaft aufs Spiel, nur weil sie sich an ihrem Mann rächen wollte. Sie zerriß ein aus spinnwebenfeinen Fäden geknüpftes Gewebe aus Träumen, Wehmut und Liebe – und Hubert, eingekapselt in seine schwierige Welt, in der er zwischen Ruth, seiner Geliebten und dem Troß aus Kindern und Großmutter balancieren mußte, merkte nichts.

Nur Dorothea, die durch ihr Alter soviel Zeit hatte, erkannte mehr, als jeder einzelne aus der Familie ahnte. Sie wachte mit steter Sorge über das Wohl der Menschen, die sie liebte; sie beobachtete, sann, hörte und sprach endlich. «Dein Mann hat eine Freundin, Ruth. Daraufhin hast du ihn betrogen. Mit wem? Kenne ich ihn? Hat es genützt?»

Ruth bekam den harten Mund. «Nein, du kennst ihn nicht. Nein, es hat nichts genützt. Ich halte es auch für besser, wenn Hubert und ich das allein miteinander abmachen, Großmutter.»

Dorothea lächelte verloren. «Es liegt mir fern, mich einzumischen. Aber du bist mir wichtig, und ich möchte dir darum etwas sagen, was ich selber erfahren und erlitten habe. In einer ähnlichen Situation habe ich wie du reagiert. Ich habe Jesko betrogen, weil er mir nicht treu war. Es hat mir viele Jahre lang eine Freundschaft entzogen, die ich bitter nötig hatte. Weil Jesko ein paar unbedeutende Liebschaften hatte, hätte ich um ein Haar Friedrich verloren.»

«Du – und Friedrich!»

Ruth starrte die alte Frau an und suchte hinter dem Altersgesicht mit seinem nur von einer dünnen Hautschicht überzogenen Knochengerüst nach einer jungen Dorothea mit schönen Augen und einem Mund, der zu Leidenschaften fähig gewesen war.

«Du hast Friedrich geliebt?»

«Ja. Immer.» Die alte Frau lachte leise auf. «Ich weiß, daß du dir das nicht vorstellen kannst. Ich konnte mir das schon bei meinen Eltern nicht vorstellen. Wie sollst du denn glauben, daß deine Großeltern Menschen aus Fleisch und Blut waren?»

«Neue Welten tun sich auf», hatte Ruth gesagt, weil sie sich in eine Ausflucht retten wollte. Aber dann hockte sie wie so oft als Kind neben Dorotheas Stuhl. «Großmutter, ich leiste dir Abbitte. Verzeih mir, wenn du kannst. Friedrich war meine erste große Liebe, auch wenn ich nur ein Kind war. Sicher hast du dich oft zurückgesetzt gefühlt und mich deswegen nicht gemocht. Aber ich wußte es doch nicht.»

«Es war anders, Ruth. Du hast ihn mir nicht genommen, sondern ihm und mir etwas eingebracht, an das wir beide nicht mehr glaubten: einen Neubeginn unseres Lebens, unseres gemeinsamen Lebens. Es waren nur elf Jahre, aber das ist eine lange Zeit, wenn man sie an der Lebensspanne mißt. – Doch darüber wollte ich nicht mit dir sprechen. Ich wollte dich nur warnen. Frauen sollten bewahren und hüten, statt zu zerstören.»

 

«Woran denkst du?» fragte Hubert, der Hand in Hand mit Ruth am Rand der Wiese ging, von der aus sie ein Stück des Tals und das Haus sehen konnten. «Du warst weit fort.»

«Ja, sehr weit. Komm, wir müssen umkehren. Es ist Zeit. Und laß uns heute früh zu Bett gehen.»

«Wir sind ein sehr altes Ehepaar», sagte er lachend und legte ihr den Arm um die Schulter. «Das wollte ich dir auch schon vorschlagen.»

Die Kinder waren vom Schwimmen zurück. Die Brüder, Jesko und Viktor, hatten die zehnjährige Anna mitgenommen.

«Wie war’s?» fragte Ruth, während sie in der Küche den Tisch deckten.

«Wie soll’s schon sein, wenn man dauernd auf ein kleines Kind aufpassen muß.» Jesko war über den Stimmbruch hinaus. Seine Eltern hatten sich noch nicht an seine Männerstimme gewöhnt.

«Blödmann!» Anna ging auf den Bruder los und versuchte mit ihm zu boxen. Beide Brüder liebten die kleine Schwester, die im Umgang mit den größeren Jungen geübt war. Jesko hielt sie lachend mit langen Armen von sich ab und sagte: «Und dieser Furie habe ich von meinem Taschengeld Eis gekauft!»

«Was? Du auch? Mich hat sie angebettelt und so lange beredet, bis ich mürbe geworden bin.» Viktor schüttelte den Kopf. «Wenn man sich vorstellt, wieviel Eis in ein so kleines Kind paßt!»

«Wenn ich mich richtig erinnere», sagte Ruth, «habe ich euch allen drei Geld für Eis gegeben.»

«Ja, aber nur für eins, und das reicht für einen ganzen Nachmittag nicht. Wenn du noch mal ‹kleines Kind› zu mir sagst, Viktor, verhaue ich dich.»

«Los, Viktor, Frau Mahlzahn zum Essen holen!» kommandierte Jesko.

Die strenge Drachendame aus Michael Endes «Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer» hatte es den Kindern Dumartin angetan. Das Buch war ein Mitbringsel von einer Reise, das ihnen der Vater abends vorlas. Sie tauften die Urgroßmutter um.

«Anna, hol Frau Mahlzahn.» Viktor gab ihr einen Schubs. «Du bist Urgroßmutters Liebling, dann kannst du auch was für sie tun.»

«Ich bin nicht ihr Liebling. Ihr sollt mich nicht immer ärgern.»

Als Anna wiederkam, führte sie Frau Mahlzahn fürsorglich am Arm, obwohl sie viel zu klein war, die große alte Frau wirklich stützen zu können.

Ruth liebte ihre Kinder sehr. Manchmal fragte sie sich, ob sie ein Lieblingskind hätte, aber alles Überlegen endete damit, daß sie immer eins mehr liebte als die beiden anderen, weil es sie gerade dringender brauchte als die Geschwister oder weil es fort war und die anderen zu Hause, oder weil es an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Stunde etwas sagte oder tat, was ihr Herz rührte.

Anna mit dem Oberbichlergesicht, die ihren Bruder Viktor verteidigte, weil er mit einem Dreiangel im neuesten Hemd nach Hause kam. «Mama, du darfst nicht mit ihm schimpfen! Er kann nichts dafür. Zwei große Jungen haben ihn herumgeschubst. Er hat sich bloß gewehrt, und dabei ist das Hemd zerrissen.»

Jesko, der den Namen von Ruths Vater trug und die hellen Haare und blauen Augen geerbt hatte. Er war Huberts und Ruths erstes Kind. Als er Zähne bekam, lag er in seinem Bettchen, brüllte sie nachts wach, und als sie dann bei ihm standen und ihn trösteten, sah er sie aus seinem winzigen zornigen Gesicht mit klaren, kühlen Augen an, und beide Eltern waren von ihrem Sohn hingerissen, der den eigenen Zorn mit nüchterner Erkenntnis zu betrachten schien. Er konnte noch nicht sprechen, aber sie sahen, was er empfand.

Viktor, Huberts Sohn, rothaarig, von Sommersprossen übersät, der sie mit elf Jahren über die Familie ausfragte. «Wir sind also aus Frankreich; ich meine Papa und wegen dem Namen. Der Mann von Urgroßmutter kommt aus Westpreußen und sie aus Brandenburg – aber die Mutter von Mama ist aus Österreich, aus Kärnten.» – Alle Kinder kannten und liebten die Kärntener Verwandten. – «Was sind wir denn nun eigentlich?»

«Deutsche», sagte sein Vater.

«Du hast aber gerade gesagt, Westpreußen wäre polnisch und Wossilo wäre pruzzisch, und die Oberbichlers sind doch auch keine Deutschen.»

«Na ja, aber sie sprechen deutsch.»

Viktor grinste. «Wenn du das deutsch nennst.»

«Wenn du wie Kumpel Anton redest, ist das auch kein verständliches Deutsch», sagte Ruth.

Viktor grinste flüchtig und griff den Faden wieder auf. «Wir sind also Franzosen und Polen und Österreicher und – wie heißen die noch? – Pruzzen? Deutsche sind wir auch. Ein europäisches Kompott.»

Ruth erzählte es Dorothea, die lachte und dann nachdenklich sagte: «Was hätte sich Friedrich darüber gefreut!»

 

Immer wieder Friedrich, der in den Gedanken der beiden so verschiedenen Frauen weiterlebte. Für Dorothea war der eher zierliche Offizier aus dem Generalstab der Ausgleich gewesen, den sie brauchte, mit der ungebärdigen Enkelin fertig zu werden, die wie ein Rollkutscher fluchte, nachts nicht ohne Licht schlafen konnte, stärker als andere Kinder unter Angstträumen litt und Menschen sammelte.

Als die Lehrerin anrief, weil das Kind «alte Drecksau» zu ihr gesagt hatte, rutschte Dorothea die Hand aus, und sie gab Ruth eine schallende Ohrfeige. Das Mädchen warf den Kopf zurück, bekam den bösen Mund und zischte: «Mach das nicht noch einmal! Du bist eine blöde Kuh!» Dann brach sie leider nicht in Tränen aus, sondern lief türenschlagend in ihr Zimmer.

Die Generalin ging ihr nach. «Komm sofort zurück! Mach die Tür leise zu und entschuldige dich für diesen Ausdruck! So redet man nicht mit mir, Ruth. Ich habe es dir hundertmal gesagt. Du bist nicht mehr im Kinderheim. Und dort haben sie euch das auch nicht durchgehen lassen. Du hast selbst erzählt, daß ihr kein Abendessen bekommen habt. Los, schließe die Tür leise!»

Das unglaubliche Kind sah die Großmutter an, ging zur Tür, öffnete und schloß sie leise. «So», sagte es, «und jetzt möchte ich allein bleiben. Wenn du mich noch mal schlägst, geh ich für immer fort.»

«Wohin willst du denn gehen?»

«Wieder ins Kinderheim. Vielleicht auch zu Friedrich. Der schlägt mich bestimmt nicht.»

Als Friedrich zu ihnen kam, hörte Dorothea die helle, ziemlich laute Stimme Ruths. «Friedrich, sie hat mich geschlagen. Muß ich mir das gefallen lassen?»

«Vielleicht könntest du mir den Grund erzählen, Ruth?»

«Frau Halbzwerch hat sie angerufen und mich verpetzt. Ich hab alte Drecksau zu ihr gesagt. Dafür hab ich schon eine Ohrfeige von ihr gekriegt, und ich muß hundertmal schreiben: ‹Ich darf keine Schimpfworte gebrauchen. › Hundertmal, Friedrich!»

«Warum sagst du ‹sie›, wenn du von deiner Großmutter sprichst? Ich finde es nicht gut, wenn du jetzt auch noch mir gegenüber unhöflich wirst, Ruth. Für mich ist deine Großmutter ‹Dorothea›, für dich ist sie ‹Großmutter›. Du könntest einen der beiden Namen nehmen. Und was das Petzen anbelangt, ich habe stark den Eindruck, daß du auch gerade petzt. Jetzt erzähl mir mal, wie du das mit Frau Halbzwerch in Ordnung bringen willst …»

«Friedrich, die blöde Gans hat zu mir –»

«Ruth! Du weißt, daß ich mich gern mit dir unterhalte, aber nicht so. Das paßt nicht zu mir und nicht zu dir.»

«Ach, Scheiße! Du bist genauso schlimm wie Frau Halbzwerch und sie – wie Dorothea oder Großmutter.» Das Kind knallte die Tür seines Zimmers zu.

Als Friedrich zu Dorothea ins Wohnzimmer kam, sah sie ihn an, erkannte seinen Ärger und lächelte voller Genugtuung. «So, das befriedigt mich. Ich wäre vor Wut geplatzt, wenn sie bei dir das sanfte Lamm gespielt hätte. Dieses Mädchen ist kein sanftes Lamm, sondern ein ausgekochter Satansbraten.»

Friedrich lachte schallend. «Meine liebe Dorothea, du kannst nicht alles auf ihre Mutter oder das Heim schieben. Findest du einen ausgekochten Satansbraten besonders liebevoll? Es ist vielleicht um Nuancen besser als alte Drecksau und Scheiße und dumme Kuh oder blöde Gans, aber nur um Nuancen.»

Dorothea wurde von ihm angesteckt und lachte ebenfalls. Plötzlich ging die Tür auf, und das grinsende Kind kam herein und triumphierte: «Jetzt habt ihr das alles selber gesagt, ätsch! Ich hab’s gehört!»

«Geh raus!» sagte Friedrich mit einer Stimme, die auch Dorothea noch nie gehört hatte. «Du hast dich schlecht benommen, du hast gepetzt und jetzt auch noch gelauscht. Wir beide wollen uns heute nicht mehr mit dir unterhalten.»

Ruth sah ihn an, sah die Großmutter an und verschwand leise aus dem Zimmer.

«Komm mit zu mir, Dorothea. Bei mir können wir gemütlicher Tee trinken als in dieser stürmischen Atmosphäre.»

«Können wir sie allein lassen?»

«Natürlich. Sie wird weder das Haus anzünden noch Selbstmord begehen. Wenn man sich so verrannt hat wie sie, tut eine Kampfpause ganz gut. Außerdem ist sie noch lange nicht mit ihrer Strafarbeit fertig.»

«Ich wollte sie nicht schlagen, Friedrich», sagte Dorothea, als sie in seiner Bibliothek Tee tranken. «Ich hatte mir geschworen, sie nie zu schlagen. Aber –»

«Wenn es dich beruhigt, bei mir hat auch nicht viel gefehlt. Was hat sie denn nur mit dieser Lehrerin? Ein beinahe neunjähriges Mädchen müßte sich doch auf andere Art durchsetzen können oder einen Weg finden, mit der Frau auszukommen. Dumm ist sie ja nicht.»

«Aber stinkfaul. Vielleicht gerade, weil es ihr leichtfällt. Sie macht nur das, was sie gern tut. Sie liest gut, schreibt schlecht, zeichnet wunderbar, findet Rechnen blöd und Singen albern.»

«Singt sie eigentlich, wenn sie zu Hause ist? Wenn ich mich wohlfühle, pfeife ich. Wenn meine Putzfrau singt, kann ich sicher sein, daß sich bei ihr keine Katastrophen ereignet haben.»

«Hm!» machte Dorothea. «Ruth zeichnet und zischt dazu durch die Zähne, was sich erschreckend anhört, aber bei ihr der Ausdruck höchsten Wohlbehagens ist. Weißt du, daß meine Mutter dem Personal verboten hat zu singen? Sie sagte, sie bekäme von dem Geträllere Kopfweh.»

«Was muß sie für eine schreckliche Frau gewesen sein. Arme Dorothea.»

«Ach, so schlimm war es nicht. Man bekommt einfach beizeiten ein dickes Fell. Aber laß mich dir von der Lehrerin, Frau Halbzwerch, erzählen. Sie ist eine Kämpfernatur und liebt ihre Kinder. Bei der letzten Elternversammlung – bei der ich mich wie immer fehl am Platze fühlte, weil ich altes Fossil die einzige Großmutter bin, obwohl es natürlich viele alleinstehende Mütter gibt – hat sie voller Stolz erzählt, daß zu Weihnachten jedes Kind ihrer Klasse ein Buch geschenkt bekommen habe. Sie hatte es vorher allen Eltern nahegelegt. Sie mag Ruth übrigens sehr gern, ist aber nicht gewillt, sich ihre Frechheiten gefallenzulassen. Ruth steckt gerade in einer besonders aufsässigen Phase. Sie hat sich mit Anke Kellermann angefreundet, die in der Nähe wohnt. Es ist eine Familie mit einem netten Vater, einer fröhlichen Mutter und, ich glaube, vier Kindern. Kannst du es ihr übelnehmen, wenn sie Vergleiche zieht?»

«Was sagst du ihr?»

«Daß man sich sein Leben nicht aussuchen kann. Daß es bei ihr bereits aufwärts geht. Im Heim war sie allein, jetzt hat sie dich und mich; wenn sie erwachsen ist, heiratet sie vielleicht einen netten Mann und bekommt selber Kinder. – Was, Friedrich, sagt man einem Kind? Daß es gar nicht so sicher ist, ob man Eltern hat, die man leiden kann? Nein. Laß sie von ihren Eltern träumen, laß sie ihnen einen Hausaltar errichten. Wenn sie noch lebten, würde sie es bestimmt nicht tun. Mir baut sie auch keinen, weil ich mit ihr Krieg führe – wie du siehst –, wenn sie flucht und schmatzt und ihren Bock austobt. Für Ruths Hausaltar bist du zuständig.»

«Na, heute bestimmt nicht», sagte er.

Als Dorothea um sechs Uhr nach Hause kam, klopfte sie an Ruths Tür.

«Ja, bitte.»

Dorothea lächelte grimmig. Sie blieb unter der Tür stehen. «Ich meine, wir sollten uns wieder vertragen. Wir zwei hier allein … Wenn wir uns nicht mal unterhalten können, weil wir gerade böse sind. Was meinst du, Ruth?»

Noch vor einem Jahr hätte sich das Kind in ihre Arme gestürzt. Jetzt war es an die Reserviertheit der Großmutter gewöhnt. Es lief auf sie zu und streckte die Hand aus. «Großmutter, es tut mir leid. Ich sage das nie wieder. Ehrenwort!»

«Na, lassen wir das mit dem Ehrenwort. Ich finde es schon gut, wenn du es versuchst. Ich kann dir auch kein Ehrenwort geben, daß du nie wieder eine Ohrfeige von mir bekommst.»

Das Kind strahlte sie an und ging dann zu seinem Schreibpult. «Meinst du, daß die Halbzwerch zufrieden ist, wenn sie das sieht?»

Dorothea betrachtete viele, viele Sätze: «Ich darf keine Schimpfworte gebrauchen», und dann kam der letzte in gestochen sauberer Schrift: «Ich darf keine Schimpfworte gebrauchen, weil sich Frau Halbzwerch ärgert und ich nicht mag das sie böse ist.»

«Ich denke, daß sie zufrieden sein wird.»

 

In der Sommernacht lag die erwachsene Ruth lange wach; sie hörte den leisen Atem ihres schlafenden Mannes und durch das offene Fenster die Nachtgeräusche aus dem Tal. Ein aus dem Schlaf geschreckter Vogel zwitscherte und verstummte wieder. Aus der Ferne kam eine Polizeisirene, irgendwo schlug ein Hund an. Im Buchenwald schrie ein Käuzchen. Ruth zählte die Rufe. Hatte es mit der Zahl etwas auf sich? Achtmal. Acht Tage, Wochen, Monate? Galt der Ruf Dorothea? Nein, kein Aberglaube, nur ein Auslösen von ängstlichen Gedanken, die sie gleich wieder von sich fort schob. Sie hatte einen Mann, Kinder, einen Beruf; sie war nicht einmal mehr jung. Kaum jemand in ihrem Alter hatte noch Großeltern. Dorothea wollte nicht mehr leben. Sie sprach manchmal davon. Und dennoch: Ruth konnte sich das Leben ohne sie nicht vorstellen.

«Das ist ganz einfach», hatte die alte Frau vor vielen Jahren zu Ruth gesagt, als sie um Friedrich weinte, der sterben mußte. «Du kannst es dir vorstellen wie eine Pflanze, die Ausleger bildet, wie Erdbeeren oder Hahnenfuß. Die kleine Pflanze wird vom Ausleger versorgt, bis sie selber Wurzeln schlägt und stark genug ist, allein zu leben. Erst dann verdorrt der Ausleger.»

«Ich weiß das alles», hatte Ruth gesagt, der die Tränen über die Wangen liefen und in den Kragen ihrer Bluse tropften. «Ich weiß, daß es für ihn eine Erlösung ist, wenn er endlich sterben darf. Aber was bleibt denn dann für dich und für mich?»

Dorothea, die viel mehr litt, als sie es Ruth zeigen konnte, hatte Zuflucht in der ihr anerzogenen Strenge gesucht. «Du weißt genau, was uns bleibt; zuallererst Dankbarkeit und zuallerletzt Dankbarkeit. So lange du lebst und so lange ich lebe. Nun wisch dir die Tränen ab, halte das Gesicht unter kaltes Wasser und zieh die aufgeweichte Bluse aus. Was soll er von dir denken, wenn er dich so verheult sieht?»

Wenn Großmutter stirbt, dachte Ruth jetzt, wird auch Dankbarkeit und Erinnern bleiben. Aber dann schrie das Käuzchen abermals schrill und klagend. Sie stand auf und schlich sich aus dem Schlafzimmer. Erst jetzt, im oberen Flur, sah sie, daß Vollmond war. Bei Vollmond schlief sie immer schlecht. Sie ging barfuß zu den Kinderzimmern, öffnete leise die Tür von Anna, die auf dem Bauch lag und ein rundes, braunes Kinderbein unter der Bettdecke hervorstreckte. Wieder fiel Ruth die Großmutter ein. Als sie gefragt hatte: «Wie war deine Mutter?» und in Wirklichkeit doch nur Erzählungen über die eigene Mutter heraufbeschwören wollte, hatte Dorotheas Antwort sie erschreckt und beunruhigt.

«Meine Mutter mochte mich nicht, Ruth. Das kommt vor. Wer sagt denn, daß Kinder ihre Eltern und Eltern ihre Kinder lieben müssen? Manchmal tun sie es nicht. Deine Mutter hat dich sehr geliebt, Ruth. Ich kannte sie nicht gut, aber daß sie dich geliebt hat, weiß ich.»

«Woher wußtest du denn, daß deine Mutter dich nicht mochte?»