Die Erinnerung - Edda Rönckendorff - E-Book

Die Erinnerung E-Book

Edda Rönckendorff

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Beschreibung

In diesem Roman zeigt die Autorin von «Die Enkelin» auf eindrucksvolle Weise, was für eine großartige Erzählerin sie ist. Mit Renate Winter hat Edda Rönckendorff eine Frauengestalt geschaffen, die sich durch ein einschneidendes Ereignis plötzlich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befindet, die sie mit allen Mitteln zu verstehen und zu meistern sucht. Dabei entdeckt sie eine Frau in sich, die sie bisher nicht gekannt hat ... Ein Roman mit einer verblüffenden Lösung, der größte Spannung, menschliche Einsicht und Klugheit meisterhaft miteinander verbindet und einen Nachhall hinterläßt, wie es nur außergewöhnliche Bücher tun. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Seitenzahl: 344

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Edda Rönckendorff

Die Erinnerung

Roman eines wiedergefundenen Lebens

FISCHER E-Books

Inhalt

Das erste JahrErster Brief an Robinson – AprilZweiter Brief an Robinson – MaiDritter Brief an Robinson – MaiVierter Brief an Robinson – JuniFünfter Brief an Robinson – JuliSechster Brief an Robinson – AugustSiebter Brief an Robinson – SeptemberAchter Brief an Robinson – 26. Oktober, mein GeburtstagNeunter Brief an Robinson – DezemberZehnter Brief an Robinson – JanuarDas zweite JahrElfter Brief an Robinson – FebruarZwölfter Brief an Robinson – MärzDreizehnter Brief an Robinson – AprilNachtrag zum dreizehnten BriefVierzehnter Brief an Robinson – MaiFünfzehnter Brief an Robinson – JuniSechzehnter Brief an Robinson – Ende JuliSiebzehnter Brief an Robinson – Ende AugustAchtzehnter Brief an Robinson – SeptemberNeunzehnter Brief an Robinson – OktoberZwanzigster Brief an Robinson – NovemberEinundzwanzigster Brief an Robinson – DezemberDas dritte JahrZweiundzwanzigster Brief an Robinson – Ende JanuarDreiundzwanzigster Brief an Robinson – FebruarDas achte JahrVierundzwanzigster Brief an Robinson

Das erste Jahr

Erster Brief an Robinson – April

«Drei Monate! Ich wache nur widerstrebend aus einem Alptraum auf, in dem ich nach außen hin funktioniert habe, aber innerlich nicht anwesend war. Vielleicht werde ich nie mehr richtig wach.

Immer fand ich die Geschichten unbegreiflich, in denen von Männern die Rede war, die zum Zigarettenautomaten an der Ecke gingen und nie wieder zurückkehrten. So etwas widerfährt Fremden, nicht einem selbst. Nun ist es mir geschehen, und ich finde die Geschichte immer noch unbegreiflich. Warum verschwindest Du an einem häßlichen, naßkalten Januartag aus unserem Leben? Du fährst morgens in Dein Büro und kommst abends nicht nach Hause.

Wo bist Du?

Du hast unser gemeinsames Konto leergeräumt und Dir von Deiner Firma einen Kredit über zehntausend Mark geben lassen. Erpressung vermutet der graugesichtige Mann von der Polizei. Aber wer sollte Dich erpressen? Du hattest nichts mit Betriebsgeheimnissen zu tun. Und bisher glaubte ich, Dein Privatleben zu kennen. Wärst Du entführt worden, hätte man doch von mir Geld gefordert, nicht von Dir. Mord war die nächste Erwägung, danach Selbstmord. Mit fast hunderttausend Mark in der Tasche?

Nach zwei Monaten und einem weiteren Toten, zu klein, zu kahlköpfig, als daß Du es hättest sein können, ist mir in der Leichenhalle schwindlig geworden. Oh, sie haben mir nicht nur die gezeigt, die irgendwo ertrunken sind; ich habe verunstaltete Verkehrsopfer und an Unterkühlung gestorbene arme Stadtstreicher ansehen müssen. Immer der Graugesichtige, der hinter mir stand und meine Reaktionen beobachtete. Die Nummern am großen Zeh hielt ich für eine Erfindung aus dem Kino, aber sie haben Nummern. Keiner sah Dir auch nur entfernt ähnlich. Trotzdem bestand ich darauf, hinzugehen. Auch noch, als ‹mein› Polizist sagte, er glaube nicht mehr daran und ich solle damit aufhören; es sei zu unwahrscheinlich. Er und einige unserer Freunde vermuten, daß Du in einem warmen Land zu Füßen eines Wunderheiligen meditierst, dem Du als Morgengabe unser ganzes Geld gebracht hast. Schreckt Dich aus der Meditation nie die Erinnerung auf, daß eine Frau und zwei Söhne auf Dich warten? Wenn Du uns wenigstens geschrieben hättest. Nur eine Postkarte oder ein Telegramm: Bin auf der Suche nach mir selbst in Indien – Paul.

Ich kann es nicht glauben. Es paßt nicht in meine Vorstellungswelt. Meine Phantasie läßt mich im Stich. Ich sehe Dich nicht als Mordopfer; ich kann nicht glauben, daß Du Selbstmord begangen hast. Und ein Guru? Wir waren vierzehn Jahre verheiratet – warum schreibe ich ‹waren›? –, und ich kenne Dich nicht. In Deinem Büro haben sie Bücher gefunden, über Bhagwan, die Mun-Sekte, über den schrecklichen Jones und sogar über Manson und seine Family. Einen ganzen Stapel. Daher die Vermutung, daß Du irgendwo auf der Welt einem Heiligen nachläufst. Wenn Du das tust, möchte ich Dich lieber nicht kennen, nie gekannt haben. Ich hätte Dich vielleicht verstehen können, wenn Du erklärt hättest, warum Dir das Leben so nicht mehr möglich war, warum Du nicht länger mit uns leben wolltest und etwas Neues beginnen mußtest. Aber heimlich, einfach so, wie ein Dieb … Nein, ich weiß nichts von Dir.

Drei Monate habe ich mich nicht aus dem Haus getraut, weil es an der Tür läuten, weil das Telefon klingeln oder der Postbote einen Brief von Dir bringen konnte. Hast Du Dir gar keine Gedanken gemacht, wie Kai, Felix und ich leben würden? Ohne Dein Gehalt, mit Schulden bei Deiner Firma, ohne einen Notgroschen auf der Bank? Oder kann man in Deiner Verfassung nicht mehr nachdenken? Will man das nicht mehr? Vielleicht sind auch alle meine Fragen falsch, weil Du nicht mehr lebst.

Ich habe mir vorgenommen, Dir zu schreiben. Du könntest das Gedächtnis verloren haben und nach Jahren in einer fremden Stadt wieder zu Dir kommen; dann mußt Du doch wissen, was inzwischen geschehen ist. Ich will meine Briefe in eine Mappe legen. Besser wäre es, ich würfe sie in einer Flasche ins Meer. Es ist viel wahrscheinlicher, daß eine Flaschenpost von Robinson ankommt, als daß ihn eine Flaschenpost auf seiner fernen Insel erreicht. Gerade das jedoch muß ich versuchen; eine andere Chance habe ich nicht.

Meine Eltern waren Dir zu einfach. In ihrer Gegenwart wurdest Du zu betont freundlich, ein bißchen zu herablassend und gönnerhaft. Wenn ich Dir das vorwarf, sagtest Du, dies sei eine fixe Idee von mir, ich bildete mir das ein. Du hast studiert, Dein Vater war ein höherer Beamter – meiner ist nie über den mittleren Dienst hinausgekommen. Aber seit drei Monaten leben die Kinder und ich, weil meine Eltern für uns sorgen. Sie zahlen die Miete und geben mir Wirtschaftsgeld. Deine elegante Mutter ruft gelegentlich an, wehklagt über Dich und läßt durchblicken, daß Dein Verschwinden allein meine Schuld sei, denn in einer glücklichen Ehe wäre das nie passiert, und sie kenne doch ihren Sohn. Keinmal hat sie gefragt, wovon wir leben. Sie fragt auch nicht, wie Kai und Felix damit fertig werden, von einem Tag auf den anderen keinen Vater mehr zu haben. Zu mir sagt sie am Ende jedes Telefongesprächs so etwa: ‹Halte den Kopf hoch, Renate. Paul wird wiederkommen. Ich weiß es. Mütter haben dafür ein untrügliches Gespür.›

Nur bei ihren Enkeln und bei mir setzt dieses Gespür aus.

Unsere Ehe. Drei Monate habe ich mich mit Selbstvorwürfen herumgequält, jeden Streit aus vierzehn Jahren wiedergekäut und mich zerfleischt. Bis zum Januar hätte ich gedacht, unsere Ehe sei gut gewesen. Aber nun sitze ich auf einem Scherbenhaufen. Und ich bin krank vor Sehnsucht nach Dir. Meine Tage sind grau, einer klebt mit zähem Leim am anderen. Neunzig Tage ohne Dich.

Heute habe ich hundert Mark verdient. Wenn die Jungen nach Hause kommen, werden wir einen Betriebsausflug machen. Erst ins Kino, dann ins chinesische Restaurant. Das meinte ich, als ich schrieb, ich wachte aus dem Alptraum auf.

Einem Dreizehnjährigen und einem Elfjährigen kann man keine Mutter zumuten, die von nichts als dem Vater redet und ständig in Tränen ausbricht. Den Söhnen ist aus heiterem Himmel der Vater abhanden gekommen, mir der Mann. Das schweißt uns zusammen, ob wir wollen oder nicht. Wir wissen, daß sie im Haus über uns reden. ‹Der ist der Mann fortgelaufen.› So etwas erfreut Menschen. Eine Sensation im heimischen Treppenhaus. Daß sie mich anstarren, als könne man mir vom Gesicht ablesen, warum Du fortgegangen bist, würde ich noch verstehen. Aber sie stellen die Kinder, wann immer sie ihrer habhaft werden, und fragen sie aus. Ob wir Nachricht haben, was wir machen werden, ob wir hier wohnen bleiben. Kai erzählt mir das. Felix ist zu jung. Er rettet sich in die Rolle des kleinen Kindes, das nascht, verbockt ist, nur bei Licht schläft und lügt, wo es nur kann.

Darum der Betriebsausflug vom ersten Geld, das ich seit November verdient habe.

Dir war es immer ein bißchen peinlich, daß ich gut stricken und mir Muster ausdenken kann. Als ich meine Pullover an die Boutique verkaufte, hattest Du nichts gegen das Geld, wohl aber gegen mich. Das kam zu nahe an Heimarbeit heran, und die hatte ich als Deine Frau doch nicht nötig. Und ja kein Wort darüber zu den Kollegen oder dem Chef! Das Geld tat ich auf unser gemeinsames Konto. Möge es irgendwo einem Heiligen das Leben verschönen! Denn wenn es so ist, dann lebst Du noch.

‹Wo waren Sie so lange, Frau Winter?› fragte mich die schöne, langmähnige Besitzerin der Boutique Chez Lou, die vermutlich Luise heißt, aber Etiketten mit Lou in alle Kleider und auch in meine Pullover einnäht. Sie schenkte Kaffee ein, sah mich unter blauem Lidschatten und durch schwarzgetuschte Wimpern prüfend an. ‹Was Schlimmes?›

Man sieht es mir an. Trotz Trauer und Traum kann ich immer noch in den Spiegel schauen. Das verlernt sich nicht.

Ich habe meine Geschichte erzählt und ihr meinen Pullover verkauft. Er ist aus grober schwarzer Seide, glatt gestrickt, mit Dreiviertelärmeln, die nach unten weiter werden und gebauscht sind. Auf den Rücken habe ich mit Silberfäden einen Tiger gestickt, dessen eine Pranke über die Schulter greift. Das hat Dich nie interessiert, aber jetzt mußt Du hinnehmen, daß ich Dir erzähle, wovon Du nichts wissen willst.

Lou will mehr Modelle, und in Zukunft soll ich mehr Geld dafür bekommen. Heute waren es die hundert Mark und Materialkosten für fünf Pullover. Ich kann stückweise liefern und sofort kassieren. Eine angenehme Form des Mitleids, gepaart mit Geschäftstüchtigkeit. ‹Wir machen das unterderhand.›

Sofort setzt mein Widerspruchsgeist ein. Wenn es mir gelingt, damit regelmäßig Geld zu verdienen, möchte ich es offen und ehrlich tun. Zukunftsmusik, Du hast recht. Aber seit heute denke ich zum erstenmal an eine mögliche Zukunft. Bisher waren es wirre Fetzen und Fragen, die in die dumpfe Traumwelt gehörten. Was soll aus uns werden? Warum ist uns das geschehen? Paul? Was ist mit Paul? Ist er tot? Wo ist er? Wie sollen die Kinder und ich ohne ihn leben?

Ich weiß keine Antwort darauf. Ich sehne mich so sehr nach Dir, aber nüchtern über Dich nachzudenken, gelingt mir nicht. Jede Faser meines Wesens hofft, daß Du lebst. Aber dann müßte ich Dich hassen. Wenn Du tot bist, habe ich Dir Unrecht getan.

Aus diesem Grund schreibe ich Dir. Vielleicht komme ich eines Tages dahin, nicht nur zu jammern.

Die Kinder.

Kai ist ganz plötzlich in den Stimmbruch gekommen. Er übernimmt die Rolle des Mannes im Haus. Er überlegt, wo wir sparen können, und macht Pläne, wie er neben der Schule noch Geld verdienen könnte. Gleichzeitig hat er Angst. Er bewacht mich, als ließe sich so verhindern, daß auch ich plötzlich nicht mehr da bin. Das wird mir zuviel. Ich habe den Graugesichtigen angerufen und ihn gebeten, nur vormittags zu telefonieren oder Leichen vorzuführen. Ich will nicht, daß die Kinder in die polizeilichen Nachforschungen nach Dir hineingezogen werden.

Mit Kai habe ich mich auseinandergesetzt. ‹Ich bin doch keine Türkin, Kai.› Er sah mich fragend an. ‹Wenn bei den Türken der Vater nicht da ist, muß der älteste Sohn die Mutter begleiten. Er muß mit zu den Behörden, mit zum Arzt und mit zur Vorstellung, wenn sie Arbeit sucht. Das geht nicht, Kai. Ich möchte nicht, daß du meinetwegen den Turnverein aufgibst. Wir beide sind selbständig. Du und ich, wir kommen zurecht.› Ach, wie leicht es sich lügt, wenn es einem sinnvoll erscheint! ‹Und was machen wir mit Felix?› fragte er.

Was machen wir mit ihm? Er hat Dich angebetet. Vielleicht könnte er sich mit Deinem Tod abfinden, aber der Ungewißheit ist er hilflos ausgeliefert.

Am liebsten würde ich ihn streicheln und hätscheln und liebhaben. Wie soll ich das, wenn er mir die Schuld gibt, daß Du nicht mehr da bist? Er mag mich nicht mehr. Zum erstenmal kommen aus der Schule Klagen. Das zwingt mich, mit unserem Unglück hausieren zu gehen. Ich war bei seinen wichtigen Lehrern. Ich sagte ihnen, mein Mann sei vermißt. Ja, ganz plötzlich. Sie möchten Felix helfen, soweit es in ihrer Macht stünde. Ich habe gelernt, aus ausdruckslosen Gesichtern abzulesen, was sie über mich denken. Es ist mir egal. Alle, die Lehrer, die Freunde, die Leute aus dem Haus rätseln, was ich wohl getan haben könnte, Dich zu vertreiben. Die Ausnahmen sind Kai, meine Eltern, die langmähnige Lou und der Graugesichtige. Weil es bei den Lehrern um ein Kind geht, einen bis vor kurzem aufgeweckten und fröhlichen Jungen, kann ich Mitleid herausschinden. Sie sagen, bis Felix sich gefangen hat – und das könne in seinem Alter nicht allzu lange dauern –, werden sie ihn mitziehen, auch wenn er plötzlich teilnahmslos ist und schlechte Noten bekommt. In der Schule eine Gnadenfrist. Sonst nicht, denn er stiehlt in Warenhäusern.

Er kommt mit einem Buch und einem Taschenmesser nach Hause. Er ist so naiv, daß ihm nicht einmal einfällt, die Dinge vor mir zu verstecken. Er sitzt auf dem Sofa, spielt mit dem billigen Messer herum und hält das Buch aufgeschlagen auf dem Schoß.

‹Woher hast du das, Felix?›

‹Geschenkt bekommen.›

‹Von wem?›

‹Beim Geburtstag von Tommi.›

‹Das stimmt nicht.›

Die Geburtstagseinladung war vor zehn Tagen, und da hat er bei der Verlosung einen Zirkel gewonnen. Er sieht mich halb frech, halb zornig an und schweigt. Ich möchte ihn nehmen und schütteln, bis er die Stehlerei zugibt, bis er weint und seinem Herzen Luft macht. Vielleicht wäre das richtig, aber ich verdanke es Dir, daß ich mir selbst nicht mehr traue. Ich weiß nicht mehr, wie mit meinen eigenen Kindern umgehen. So bleibt es bei meinem: ‹Das stimmt nicht.› Er soll wissen, daß ich seine Lügen durchschaue. Aber ich kann ihn nicht für etwas bestrafen, das nicht seine Schuld ist. Wäre er älter, könnte ich ihm erklären, daß viele Kinder, die einen ebenso schrecklichen Verlust erlitten haben, wie er reagieren.

Statt dessen koche ich Lieblingsessen, bringe kleine Geschenke mit, schlage vor, zusammen spazierenzugehen, abends vorzulesen, ihm bei den Schularbeiten zu helfen. Alles scheitert an seiner Ablehnung. Er will nichts mit mir zu tun haben. Nun hilft mir Kai. Wenn er mitmacht, geht es einigermaßen, weil Felix spürt, daß Kai Dich ebensosehr vermißt. Deine Söhne: Einer wird wieder zu einem Kind, der andere rettet sich ins Erwachsensein und in eine Altklugheit, die ihm nicht steht.

Unsere gemeinsamen Freunde.

Sie kümmern sich um mich, laden mich ein, fordern mich auf, mit ihnen auszugehen, rufen mich an und geben sich jede Mühe. Aber ich mußte immer wieder sagen, ich könne die Kinder nicht alleinlassen; sie müßten zu uns kommen, ich ginge nicht gern aus dem Haus. Allmählich wird es stiller. Aber sie kommen immer noch.

Karin und Anne stellen vorsichtige Fragen. Über unser Zusammenleben, unsere Kräche, über unsere Liebe. Ob ich Dich betrogen hätte oder Du mich. Ich glaube, das geht über Neugierde hinaus. Sie möchten Erfahrungen sammeln. Die Frauen hat Dein Verschwinden zutiefst erschreckt. Auch sie glaubten, so etwas geschähe nur anderen. Nun ist es greifbar für sie geworden, in ihre Vorstellungswelt eingedrungen und hat sich dort eingenistet. Es kommt der Wirklichkeit unangenehm nahe. Was soll ich antworten? Keine Kräche, gelegentlich ein Streit, eine Meinungsverschiedenheit, und die meistens wegen der Kinder. Unser Liebesleben? Ich sehne mich nach Dir. Manchmal mache ich Deinen Schrank auf, weil es dort noch nach Dir riecht. Ich möchte mit Dir schlafen. Mein Körper kennt jede Deiner Berührungen, Deiner Zärtlichkeiten. Er und ich leiden.

Hast Du mich betrogen? Wie vertrauensselig ich war. Ich habe nie daran gedacht oder es befürchtet. Bis vor drei Monaten gab es keine Zweifel. Nein, ich habe Dich nicht betrogen. Manchmal fand ich andere Männer anziehend, stellte mir vor, wie es mit ihnen sein könnte. Mehr war nicht.

Hans und Richard – ihre Reaktion ist für mich fremdartig. Ich kann ihre Gefühle nicht richtig deuten. In den ersten Tagen, als wir noch alle an ein Unglück, einen Unfall oder Mord glaubten, waren beide zur Stelle. Da herrschte die Sorge vor. Später, nach ein, zwei Wochen, als wir vom geplünderten Konto und dem Kredit wußten, als ich die ersten Leichen gesehen hatte, kam jeder einzeln.

Hans glaubt nicht an Deinen Tod. Er hat großes Mitleid mit mir und den Kindern. Aber wenn er von Dir spricht, dann mit einem Beiklang von Bewunderung. Der Wunsch, aus dem täglichen Trott zu fliehen, alles Alte hinter sich zu lassen, irgendwo neu anzufangen, muß auch in ihm leben. Er verurteilt Dich wegen Deiner brutalen Rücksichtslosigkeit und gibt sich Mühe, Dich bei mir zu entschuldigen. Es sei ein Rausch. Man dürfe nicht normale Maßstäbe anlegen. Der Freiheitswunsch habe Dich überrumpelt. Ganz sicher würdest Du Dich melden, wenn die Ernüchterung einsetze. Er sprach von Bhagwan und Poona und bekam verträumte Augen. Als ich sagte, in Poona sei längst Ausverkauf und heulendes Elend, und der Heilige samt Rolls-Royce und Troß säße in Amerika und gäbe das seinen Anhängern abgegaunerte Geld aus, wurde er böse auf mich. Wo immer Du seist, es wäre eine Erfahrung, durch die Du Dich finden, reifen und als ein besserer Mensch zu uns zurückkehren würdest.

Richard ist dagegen überzeugt, daß Du Selbstmord begangen hast. Auch er bewundert Dich. Deine Klugheit, es so einzurichten, daß Dich niemand findet. Deine bedingungslose Absage an diese triste Welt und dieses Leben. Er nennt es Dein Großes Aussteigen. Er bedauert uns, aber er findet es beeindruckend, daß einmal einer so konsequent alles zu Ende denkt und Schluß macht. Liegt dort auch seine Sehnsucht? Möchten Männer ihr Leben wie ein Abenteuer verbringen und es fortwerfen, wenn aus dem Abenteuer eine Litanei wird? Wenn ich es doch nur verstünde!

Du siehst, wieviel um mich herum geschieht. Ich aber behalte das Gefühl, hinter Schleiern zu leben. Ich sehe alles, bin aber von der Wirklichkeit getrennt.

Hinter dem Schleier bist nur Du bei mir. Du lebst, Du stehst plötzlich unter der Tür. Du hast eine Erklärung für diese drei Monate, die sehr einleuchtend sein muß, denn ich glaube sie Dir. Während ich Dir erzähle, was hier stattgefunden hat, lösen sich alle Schwierigkeiten von selbst. Warum soll Felix lügen und stehlen, wenn sein vergötterter Vater wieder hier ist? Und ein Dreizehnjähriger braucht nicht plötzlich zum Mann zu werden, wenn es in der Familie schon einen Mann gibt, Dich, seinen Vater.

Und ich?

Ob Du lebst oder tot bist, ich liebe Dich.»

Zweiter Brief an Robinson – Mai

«Als wir noch nicht verheiratet waren, fragten wir uns, was sich alte Ehepaare nach zwanzig oder dreißig Jahren noch zu erzählen hätten. Es war uns beiden nicht so recht klar. Jetzt, nach vierzehn Jahren, auch schon einer langen Zeit, stelle ich fest, daß ich Dir viel zuviel zu sagen habe. Aber ich will Dir nicht jeden zweiten Tag schreiben, obwohl ich nichts lieber täte als das. Nur würden dies am Ende die üblichen Familienbriefe, in denen alles darauf hinausläuft, wer wann Kopfweh hatte und welches Kind mit Grippe oder Masern im Bett liegt. Es ist zu unwichtig, um es Robinson in einer Flaschenpost mitzuteilen. Darum habe ich mich vier Wochen lang beherrscht, und nun ist es Mai, und Du bist seit vier Monaten nicht mehr hier. Dein Bild steht auf dem Schreibtisch. Ich sehe Dich hundertmal am Tag an. Manchmal sage ich: ‹Paul, ach Paul!› Manchmal weine ich auch, abends, wenn ich ganz allein bin, weil Du mir so schrecklich fehlst. Aber es kommt auch vor, daß ich voller Wut bin und auf Deinem lachenden Sommergesicht nach Zügen suche, die mir hätten verraten müssen, was mir mit Dir widerfahren würde. Ich finde nichts. Deine Augen mit den kleinen fröhlichen Falten in den Außenwinkeln geben keine Erklärungen ab.

So geht es nicht. Ich wollte Dir doch schreiben, wie wir leben.

Seit meinem ersten Brief habe ich zehn Pullover gestrickt und verkauft. Damit habe ich den Lebensunterhalt verdient. Nicht die Miete und das Heizungsgeld und was sonst noch abgebucht wird, aber unser Essen und Trinken und Schuhe für Kai, der wie ein Spargel in die Höhe geschossen ist. Ich stricke in jeder freien Minute, aber es bringt zu wenig ein. Ich kann nicht auf die Dauer von meinen Eltern leben. Wir brauchen viel zu schnell alles auf, was sie mühsam gespart haben.

Kurz und gut, ich bin zur langmähnigen Lou gegangen, die immer mehr zu meiner Vertrauten und Freundin wird. Durch sie habe ich jetzt einen Anwalt, der sich damit befaßt, ob ich eine Rente beantragen kann, obwohl Du nur vermißt bist und eine offizielle Toterklärung noch nicht möglich ist. Wahrscheinlich erhalte ich schon bald einen Unterhaltsbeitrag für die Kinder. Deine Firma hat noch drei Monate lang Dein Gehalt überwiesen. Dein Chef, der auf mich so pedantisch und trocken wirkte, rief vor zehn Tagen unerwartet an und fragte, ob er mich besuchen dürfe. Er brachte Blumen mit und für die Kinder Schokolade. Dann saß er in Deinem Sessel, quälte sich herum, brachte die Rede, die er sich offenbar überlegt hatte, nicht mehr zustande und wurde immer netter und liebenswerter. ‹Wenn ich an Sie denke, kann ich nachts nicht mehr schlafen. Wie stehen Sie das durch, Frau Winter? Wie lebt man mit diesem Schicksal?›

Ich sagte ihm, daß ich das noch nicht richtig wisse, weil ich gerade erst wieder anfinge zu leben. Als ich ihm von den Kindern erzählte, von meinen Eltern, Deiner Mutter, unseren Freunden und meiner Strickerei, ist es mir gelungen, nicht in Tränen auszubrechen. Solche kleinen Siege erfüllen mich mit Stolz. In Gedanken klopfe ich mir auf die Schulter und sage: Siehst du, es geht schon ein bißchen besser.

Als die Kinder nach Hause kamen – Kai nimmt neuerdings Felix mit in den Turnverein –, aß er mit uns zu Abend. Wurst- und Käsebrot und hinterher Schokoladepudding, als gehöre er dazu. Aber er gehörte auch dazu, denn er erzählte von Dir. Jedes anerkennende und freundliche Wort über Dich saugen wir drei wie trockene Schwämme auf.

Um halb elf ging ich mit ihm nach unten, um ihm die Haustür aufzuschließen. Beim Verabschieden sagte er: ‹Jetzt habe ich über vier Stunden gebraucht, Ihnen zu sagen, weswegen ich gekommen bin. Vergessen Sie das Ihrem Mann gegebene Darlehen, Frau Winter.›

Es ist viel leichter, über einen Blumenstrauß in Dankesjubel auszubrechen als über eine Last, die einem jemand von der Seele nimmt.

Er will wiederkommen.

 

Auf unserem Balkon, oben in der Ecke, in der das Ende eines T-Trägers aus der Betondecke herausragt, ist ein Starennest. Wir hören die Jungen, können sie aber nicht sehen. Mitten in der Stadt Stare auf dem Balkon. Die Stareltern lassen sich nicht mehr beim Füttern stören. Wir dürfen zusehen. Felix will herausbekommen, wie sie die Flügel stellen, wenn sie vor dem Nest aus dem vollen Flug abbremsen. Sie ziehen sich hoch und klappen sie dann irgendwie zurück. Er zeichnet die Winkel bis zum Überdruß und zeigt sie Kai und mir zur Kontrolle, aber wir sind ihm nicht genau genug. Dein Sohn! Bei Dir mußte auch alles genau richtig sein. Felix ist in der Schule zu seinem Biologielehrer gegangen, der ihm aus seiner Privatbibliothek ein Buch über den Flug der Vögel mitgebracht hat. Nun gibt es in der Schule wenigstens wieder einen Lehrer, den er nicht doof findet. Aber ich wage nicht aufzuatmen, denn ich bin ziemlich sicher, daß er immer noch stiehlt.

Lou kennt nicht nur Anwälte, die sie beschwatzt, für wenig Honorar viel für mich zu arbeiten; sie denkt auch sonst über uns nach. ‹Wenn Sie selbst stricken, verdienen Sie nie genug. Sie bekommen nur eine Sehnenscheidenentzündung und fallen ganz aus. Verlegen Sie sich aufs Entwerfen und stellen Sie sich die Strickerinnen an.›

Ich sagte: ‹Aber ich kann doch nicht … und woher sollte ich das Anfangskapital nehmen?›

Wieviel ich von dieser tüchtigen selbständigen Frau lernen muß. Die geschäftlichen Dinge hast immer Du erledigt. Ich habe ein paar Überweisungen geschrieben und Unterlagen für die Steuer gesammelt. Darauf war ich schon stolz. Aber zur Bank gehen und um einen Kredit bitten und erklären müssen, daß ich keine Sicherheiten habe, jedoch glaube, mir mit dem Entwerfen von Pullovern eine Existenz aufbauen zu können, ach, das hört sich einfacher an, als es ist. Anfangs war ich voller Wut über diese höflichen jungen Männer in ihren schönen grauen Anzügen und weißen Hemden mit den dezenten Krawatten, die einem so wohlwollend zuhören, um dann am Ende voller Bedauern zu erklären, es ginge leider doch nicht. Als einer durchblicken ließ, daß ich mit den Kindern unter der Pfändungsgrenze läge, war das wie eine kalte, sehr ernüchternde Dusche. Wenn ich bei einer Bank wäre, gäbe ich uns auch keinen Kredit.

Wiederum Lou. Wolle kauft man nicht im Laden, sondern bei der Fabrik. Fabriken gehen eher ein Risiko ein als eine Bank. Und Lou kennt da jemand. Sie ruft den Jemand an, schildert ihm, was ich kann. Ich winde mich vor Verlegenheit, während ich zuhöre. Dann erwähnt sie noch meine ‹mißliche› Lage, womit Du gemeint bist. Das macht den Jemand neugierig. Er will mich sprechen. Durchs Telefon kommt eine freundliche, tiefe Stimme. Am besten wäre, ich käme recht bald und suchte aus. Dann lernten wir uns kennen, und er bekäme eine Vorstellung, was ich machte. Ob ich nicht Muster aus meiner Kollektion mitbringen könnte.

In zehn Tagen habe ich eine Besprechung mit der freundlichen tiefen Stimme, hinter der ich mir einen gütigen, dicklichen älteren Herrn vorstelle. Diese zehn Tage habe ich herausgeschunden, weil es keine Kollektion gibt. Ich muß sie mir erst ausdenken und stricken. Dann muß ich Frauen suchen, die in der Lage sind, aus meinen Vorlagen, Angaben und Maschenzahlen etwas herzustellen, das originell und teuer aussieht.

‹Wie viele Modelle können Sie für jede Saison entwerfen, Renate?› Lou ist auf Renate übergegangen, seit wir als Unternehmerinnen gleichgestellt sind. (Du wirst erkennen, daß die Wortwahl nicht von mir stammt.)

Wenn ich sie nicht alle selber zu stricken brauche … wenn ich eine oder mehrere begabte Frauen finde … wenn dieser ganze verrückte schöne Plan nicht wie eine Seifenblase platzt …

‹Vielleicht fünfundzwanzig. Ist das zuwenig oder zuviel? Ich habe doch keine Ahnung, Lou.› Sie denkt, wenn ich ausschließlich für Haute-Couture-Häuser arbeite, die handgestrickte Modelle brauchen, müsse das reichen. Sie gibt mir aus der Ladenkasse Geld für die Wolle der ‹Kollektion›, nennt das ein zinsloses Darlehen und warnt mich vor dem Mann von der Wollfabrik. Er beliefert Großstrickereien, die für die Konfektion arbeiten. ‹In unserer Branche klaut jeder Muster.› Ich soll haarscharf aufpassen, daß er nicht heimlich fotografiert, und ich darf auf keinen Fall meine Tasche herumstehen lassen, falls er mich durch den Betrieb führen oder zum Essen einladen sollte. ‹Immer mitnehmen›, sagt Lou. ‹Sie machen sich nicht lächerlich. Wenn Sie die Tasche oder den Koffer nicht aus der Hand geben, werden Sie ihm imponieren, und wenn Sie ihm imponieren, fällt der Kredit langfristiger aus.›

Nun ist es später Abend geworden. Die Kinder sind im Bett. Sie waren länger auf als sonst, weil ich ihnen erzählt habe, was ich plane. Den größten Eindruck hat ihnen meine gleich auf dem Heimweg von Lou angeworbene erste Hilfskraft gemacht. Frau Schober, unsere Hausmeistersfrau. Die gräßlichste Klatschbase im Haus, die den Kindern auflauert, um Neues über Dich zu erfahren. Wenn es das doch gäbe! Wie gern würde ich es ihr brühwarm erzählen. Weißt Du noch, wie wir sie heimlich vom Balkon aus auf dem kleinen Rasenfleck hinter dem Haus beobachtet haben? Sie strickte immer, und Du hast über die schauderhaften Farben gelacht. Grasgrün mit Lila kombiniert. Ich habe Mut gefaßt und einfach an ihrer Tür geklingelt. Als sie aufmachte, überfiel ich sie damit, daß ich mehrere Frauen bräuchte, die gegen Bezahlung für mich strickten. Ich hätte sie so oft auf dem Hof stricken sehen, und ob sie mir nicht mal was zeigen könne.

Die ganze Wohnung ist handgestrickt, Tischdecken, Kissen, ein Flauschteppich, ihr Bademantel, sein Bademantel, und – das war das Schönste und hat auch Kai und Felix tief beeindruckt – der Tisch und alle Stühle hatten Socken in Norwegermustern.

‹Tscha, wissen Sie, mein Fiete, der trägt ja immer diese schwarzen Stiebels, nöch? Un’ da gibt das Ränder an die Tisch- un’ an die Stuhlbeine. Da habe ich man diese Söckchens gestrickt, weil ich die so viel besser waschen kann.›

Die Geburtsstunde meines Konzerns! Bist Du beeindruckt?

Aber ich möchte keinen Konzern. Ich möchte Dich wiederhaben. Ich möchte hören, daß der Aufzug hält, die Türen aufgehen, möchte hinauslaufen und Dich lächeln sehen. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht unruhig werde, wenn die Zeit Deines Nachhausekommens näherrückt. In Gedanken erlebe ich den Abend wieder, an dem Du nicht kamst. Die erste Unruhe, als es zwei Stunden wurden, ohne daß Du angerufen hattest. Nach drei Stunden rief ich in der Firma an, aber dort war nur der Nachtportier, der nichts wußte. Dann die ganze Nacht und der nächste Tag! Nein, ich will es nicht schreiben, ich denke immerzu daran und kann den Alptraum nicht loswerden.

Laß mich lieber erzählen, wie die Kinder auf meine Pläne reagiert haben. Kai, klar und praktisch wie eh und je, sah sofort die Schwierigkeiten, die ich auch gesehen, aber vorerst fortgeschoben hatte. An unserer Armut gemessen, verschulde ich mich sehr hoch. Lou, die Wollfabrik, das Geld, das ich an die Strickerinnen, so ich mehrere finde, sofort bei Lieferung bezahlen muß, während ich selbst wahrscheinlich erst nach Wochen oder Monaten Geld bekomme. Wie sollen wir inzwischen leben?

‹Wenn ich nebenher weiter für Lou stricke›, sagte ich vage.

‹Du hast Schulden bei ihr, Mama. Sie wird deine Pullover in Zahlung nehmen. Du mußt dir weiter von Opa und Oma helfen lassen.› Kai machte sein allerernstestes Gesicht. Wir dachten beide nach, kamen wohl gleichzeitig auf denselben Gedanken, aber er ist ja immer schneller als ich. ‹Du und Opa, ihr müßt Partner werden.›

Morgen gibt es mittags nur Bratkartoffeln und Fleischsalat. Ich muß zu Vater und ihm mitteilen, daß er sich in ein waghalsiges Geschäft einläßt. Er muß Geld geben, die Buchführung und allen Papierkram übernehmen und noch die Zuversicht aufbringen, daß wir beide auf die Füße fallen werden. Mama muß sich erinnern, daß sie es war, die mir gesagt hat, nach Mustern könne jeder stricken. Ich hätte Sinn für Farben und könne gut rechnen. Mehr brauche es nicht. Sie muß das, was sie mir einmal beigebracht hat, wieder ausgraben und mir beim Entwerfen helfen.

Ich muß auch noch zu Frau Schober ins Souterrain und ihr die versprochene Wolle und einen Musterpullover bringen. Ich nehme den Abendpullover, den ich damals zum schwarzen langen Samtrock getragen habe. Erinnerst Du Dich an das Fest? Moosgrün mit einem Silberfaden. Sehr zu Deinem Ärger haben die Frauen an mir Maschen gezählt und sich erklären lassen, wo ich angefangen und wie ich ihn gemacht habe. Du hast auf der Heimfahrt sehr unfreundlich über meinen ‹Handarbeitsunterricht› gemault. Ich war deprimiert. Ich fand mich hübsch und hatte ein Lob erwartet. Es war das billigste Abendkleid in unserer ganzen Ehe.

Für Felix war das Aufregendste, daß Muster von Pullovern klauenswert sind. Ob ich meine Kollektion in eine Aktentasche bekäme. Ja, ich dächte schon. Dann sollte ich Deinen feinen Aktenkoffer nehmen, den mit dem Zahlenschloß. Er kenne die Kombination, Du hättest sie ihm gesagt. Es sei doch blöd, immer mit einer Tasche oder einem Koffer herumzulaufen, wenn ich die Fabrik besichtige oder in ein feines Restaurant ginge. Den Aktenkoffer bekäme keiner auf.

Dann hat mir dieser elfjährige Dieb und Wunderknabe eine Idee für Muster geliefert, die ich ausgezeichnet finde. Er brachte sein Lesebuch, in dem ein Bild von Kandinsky ist. ‹So was›, sagte er, ‹aber eckig.›

Wo bist Du, Paul? Wie hältst Du es ohne diese beiden Jungen aus? Wenn Du nicht an mich denkst, denkst Du nie an sie?»

Dritter Brief an Robinson – Mai

«Ich muß Dir schreiben, obwohl ich nicht weiß, ob ich Dich verstümmelt auf einer Bahre im Leichenschauhaus gesehen habe. Wie soll ich Dich wiedererkennen, wenn Dir der Kopf und ein Arm fehlen und Du schon zwei Monate tot bist? Aber gerade die zwei Monate sind es, die den Graugesichtigen glauben lassen, daß Du es nicht bist. Die Größe paßte diesmal, auch die Figur und die Behaarung des Körpers. Der Graugesichtige rief an, holte mich dann ab und warnte mich. ‹Der Mann ist etwa zwei Monate tot. Er sieht grausig aus. Er ist in einem Waldstück nahe der Zonengrenze gefunden worden. Es war ein Verbrechen. Der Torso hat überall Stichwunden. Ein Stich ins Herz hat ihn getötet.›

‹Torso?›

Als er mir sagte, daß die Leiche kopflos sei und ohne rechten Arm, sank ich im Sitz in mich zusammen. Mir wurde flau, und ich fing an zu zittern.

‹Sie müssen das nicht, Frau Winter›, sagte mein Polizist, der im wirklichen Leben Hauptinspektor Reichard heißt.

Aber ich mußte. Ich will wissen, was mit Dir ist. Nun weiß ich es weniger als zuvor; denn ich habe Dich in diesen Resten eines Menschen nicht erkannt. Trotzdem könntest Du es sein. Die einzige große Narbe, die Du hattest, war an Deinem rechten Arm. Du hattest auch Narben auf den Knien, aber die bekommt jedes normale Kind. Auch der Tote hatte sie. Ich wußte nicht mehr, wie Deine Narben aussahen. Die Finger und die Zehen, der Haaransatz auf Deinem Unterleib und der Penis – daran hätte ich Dich vielleicht erkennen können, wenn Du nur Tage tot gewesen wärst; aber zwei Monate nackt in einem Wald, Mäuse, Käfer, Würmer …

Ich fand mich im Büro von Reichard und seinem Kollegen Lingen wieder. Ich weiß nicht, wie ich dahin gekommen bin. Ich konnte mich an nichts erinnern. Als ich wieder zu denken anfing, hielt ich einen Plastikbecher mit Kaffee in der Hand. Ich stellte ihn auf der Schreibtischplatte ab und brach in Tränen aus. Vor zwei fremden Männern habe ich geschluchzt und geweint und mein Elend in die Welt ge- – nein, nicht geschrien –, gestammelt und gejault. Ich konnte nicht mehr aufhören. Ich wußte, daß es entsetzlich war und daß man so etwas nicht tut. Es gibt Dinge, die darf man nur, wenn man allein ist. Aber ich brauchte Publikum für meine große Szene. Der Graugesichtige saß versteinert auf seinem Stuhl. Lingen gab mir ein Päckchen Papiertaschentücher.

Am Ende bekam ich einen Schluckauf, der nicht aufhören wollte und weh tat.

‹Sieh mal nach, Rolf, ob Willi Schnaps hat›, sagte Lingen schließlich. Sobald wir allein im Zimmer waren, wurde er hart und streng. ‹Sind Sie in der Lage, mir zuzuhören, Frau Winter?›

Ich schluckte und nickte.

‹Ich weiß, was Sie durchmachen und wie schrecklich das für Sie ist. Es war auch ganz richtig, daß Sie sich mal ausgeheult haben. Aber auch andere Menschen müssen mit ihrem Elend fertig werden. Reichards Frau ist zwischen Weihnachten und Neujahr gestorben. An Krebs. Über viele Monate. Sie war gerade erst dreißig.›

Der Schluckauf war weg. Ich habe den Graugesichtigen wie einen Schuhputzer behandelt, bloß daß ich zu dem viel freundlicher gewesen wäre. Ich habe kein persönliches Wort mit ihm gewechselt. Seinen Namen kenne ich nur, weil er an der Tür des Büros steht und ich ihn gelegentlich anrufen mußte. Ich habe in seiner Gegenwart immer nur von Dir gesprochen oder von mir. Wie egoistisch mich Dein Verschwinden gemacht hat! Eben habe ich in den Briefen an Dich geblättert und festgestellt, daß ich auch Dir immer nur von den Kindern und mir schreibe, kaum je ein Wort über die Gefühle und Gedanken anderer. Ich habe mich in dem nüchternen Büro geschämt und schäme mich noch immer.

Am liebsten hätte ich einfach weitergeheult, aber das ging nicht, weil ich keine Tränen mehr hatte. Ich war buchstäblich ausgetrocknet.

Die beiden Männer wirkten erleichtert, daß ich nun nicht mehr schluchzte und schluckte. Sie nötigten mir wie zwei gütige ältere Herren den Schnaps auf, auch noch ein weiteres Glas, das ich schon nicht mehr vertragen konnte, weil ich im Klo neben der Leichenhalle mein Frühstück herausgewürgt hatte. Daran wenigstens erinnerte ich mich wieder. Immerhin hörte das Zittern auf, und mein Bauch wurde inwendig warm. Ich dachte an Reichards Frau. Mit dreißig sterben, lange und qualvoll. Mit sechsunddreißig einen Mann haben, der an einem Abend im Januar nicht nach Hause kommt, jetzt schon fünf Monate fort ist und mich zwingt, zu einem Dauergast in Leichenhallen zu werden …

‹Ich glaube nicht, daß das mein Mann ist›, sagte ich in die Richtung der beiden Schreibtische. Ich brachte es noch nicht fertig, einen der beiden Männer anzusehen. ‹Ich meine, wenn er es wäre, müßte ich ihn erkannt haben. Erklären kann ich das nicht.›

‹Ich bin auch nicht überzeugt›, sagte der Graugesichtige, und sein Kollege Lingen nickte. ‹Wir haben eine Fahndung aus der DDR. Wegen der Nähe zur Grenze und den Begleitumständen könnte es durchaus der Vermißte von dort sein. In den nächsten Tagen erwarten wir einen Kollegen von drüben mit einem Angehörigen des Mannes.› Er schlug einen Schnellhefter auf und sah mich forschend an. ‹Können Sie noch, Frau Winter, oder soll ich in den nächsten Tagen anrufen und bei Ihnen vorbeikommen?›

‹Ich kann wieder.› Ich zwang mich zu einem wackeligen Lächeln. ‹Nachdem ich Ihnen was vorgeheult habe, geht es viel besser. Ich bin nur vom Schnaps ein bißchen benommen.› Noch während ich das sagte, stieg die irrsinnige Hoffnung in mir auf, daß er doch etwas über Dich wissen könnte. Wie funktioniert ein Mensch nur? Ich verstehe mich selbst nicht. Ich sehe die grauenvollste aller meiner Leichen, weiß nicht, ob Du es bist, breche zusammen, bekomme einen Weinkrampf und schöpfe sofort neue Hoffnung, weil der Beamte vom Vermißtendezernat noch etwas von mir will.

‹Wir wissen jetzt mit Sicherheit, daß Ihr Mann nicht unter seinem Namen und mit seinem Paß aus Deutschland, Holland, Belgien, der Schweiz, Frankreich oder Italien mit dem Flugzeug ausgereist ist.›

‹Nützt uns das denn?› fragte ich. ‹Was ist mit Ost-Berlin oder England? Ich meine, er wurde doch nicht so schnell polizeilich gesucht; er hat ja kein Verbrechen begangen –›

‹Nein, es nützt nicht viel.›

Wir haben alle Möglichkeiten viele Dutzend Male durchgesprochen. Du kannst mit dem Zug nach Berlin gefahren sein. Du kannst Dir die Flugkarte in Kopenhagen gekauft haben. Geld genug hattest Du. Du kannst auch bei einer der Sekten untergetaucht sein, über die Du so viele Bücher gelesen hast. Sie geben keine Auskunft und haben die Organisation, ihre Mitglieder unentdeckt in ein anderes Land zu schaffen. Aber warum? Glaubst Du, ich hätte Dich verfolgt, wäre Dir nachgereist, um Dich zur Heimkehr zu überreden? Wie hätte ich das machen sollen, ohne Geld, mit zwei Kindern? Wenn es Dir darum ging, nicht auffindbar zu sein, hast Du das fabelhaft eingefädelt.

Siehst Du, jetzt mache ich Dir wieder Vorwürfe und hasse Dich. Aber im nächsten Augenblick denke ich an den armen Leichnam, den ich heute gesehen habe. Wenn er ein Fremder ist, geht es seiner Familie wie mir. Sie werden ihn vermissen, nach ihm suchen und leben nun auch schon seit zwei Monaten in dieser beklemmenden Leere, die ich inzwischen so gut kenne. Selbst wenn er ein Verbrecher gewesen sein sollte – haben Verbrecher keine Menschen, die sie lieben? Eine Frau, Kinder, Geschwister und Eltern?

Reichard hat mich im Auto nach Hause gebracht. Ich wollte das nicht und sagte, ich könne sehr gut mit der U-Bahn fahren. Er lehnte ab. Vielleicht hatte er Sorgen wegen der zwei Gläser Schnaps, vielleicht fürchtete er nach dem Weinkrampf, ich könne mich vor den nächsten Zug stürzen. Nein, nein, er wohne nicht weit von mir; es sei kein Umweg. Ich hätte ihn gern gefragt, ob er Kinder hat. Weil ich kein Typ für Selbstmord bin, haben mir nach Deinem Verschwinden allein die Kinder den Verstand bewahrt. Aber eine Frau, die mit dreißig stirbt und vorher schon lange krank war? Vielleicht hatten sie keine Kinder, und dann wäre die Frage ebenso gedankenlos gewesen wie mein ganzes Benehmen ihm gegenüber. Ich fragte also nicht, saß stumm neben ihm und aß Bonbons aus der Tüte in meiner Handtasche. Er wollte keine.

Vor unserem Haus war ein Parkstreifen frei. Er fuhr darauf. ‹Hören Sie mit dem vielen Essen auf›, sagte er. ‹Es hilft nichts.›

Ach, Robinson, ich habe in fünf Monaten sechs Kilo zugenommen. Ich esse alles, was überhaupt greifbar ist. Trockenes Brot, übriggebliebene kalte Kartoffeln, billige Bonbons, sogar das Innere aus den Brötchen. Wenn irgendwo Reste sind, schlinge ich sie kalt herunter. Ich passe nicht mehr in meine Kleider, habe ein aufgeschwemmtes Gesicht und sehe um zehn Jahre älter aus.

‹Ich komme nicht dagegen an›, sagte ich kleinlaut zu Reichard. ‹Ich stopfe alles in mich hinein, lauter Zeug, das ich früher nicht angerührt hätte.›

Es war wirklich ein grauenvoller Tag. Eben noch hatte ich den beiden Beamten etwas vorgeheult, nun saß ich mit diesem fremden und mir nicht sonderlich sympathischen Mann vor unserem Haus in einem Auto, den Blicken aller Hausbewohner preisgegeben, jeden Augenblick konnten die Kinder aus der Schule kommen – und ich fing an zu lachen. Wie ein Idiot. ‹Die Mutter frißt, ein Sohn klaut, der andere spielt den Familienvater und versucht, für uns die Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht verstehen Sie jetzt meinen Mann und geben die Suche auf. Vor einer solchen Familie muß man doch die Flucht ergreifen und sich im hintersten Winkel der Welt verstecken.›

Ich weiß, das ist alles nicht logisch, aber ich fand es so komisch, daß ich immer weiterlachte und nicht aufhören konnte.

‹Sehen Sie sich das Haus mal gründlich an. Entdecken Sie Schatten hinter den Gardinen? Verschiebt sich eine Jalousie? Sie klatschen alle über uns. Wenn sie mich sehen, werden sie einer Meinung sein. So einer Frau muß man doch davonlaufen. Wie schlampig sie aussieht, und so fett!›

‹Nun lassen Sie das doch›, sagte der Graugesichtige. Er hörte sich so verdrossen an, daß es mir das Lachen verschlug. Ich fand es gar nicht mehr komisch. Ich machte die Autotür auf, stieg aus und fragte durch das offene Fenster: ‹Können Sie mir Ihre Adresse geben?›

‹Warum?›

‹Weil ich Ihnen Blumen schicken möchte. Sie hätten zwar eine Kiste Wein verdient, aber dazu langt es nicht. Noch nicht. Sind alle Ihre Kunden, die vermißte Angehörige suchen, ebenso verrückt?›