Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Toter auf dem Friedhof in Birkelbach. Irgendwie nichts Besonderes, dachte sich der Diensthabende der Berleburger Polizei. Er glaubte eher an einen makabren Scherz, als ihn diese Meldung über die Notrufnummer 112 erreichte. Doch der Anrufer machte ihm schnell klar, dass der Leichnam nicht etwa in einem Grab, sondern auf dem Weg des Friedhofs liege und offensichtlich ermordet wurde. Die Fahndung nach dem oder der Täterin wird für die Kriminalpolizei zur Suche nach einem Phantom, denn es gibt weder Zeugen für die Tat, noch verwertbare Spuren. Lediglich eine Passantin hat aus dem Auto heraus eine bemerkenswerte Beobachtung gemacht. Die Kommissarinnen und Kommissare ermitteln bis zur Belastungsgrenze. Aber dann kommt es knüppeldicke. Auf dem Osterholz bei Weidenhausen verüben Unbekannte einen beispiellosen Sabotageakt.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 416
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Wolfgang Breuer
Ein Wittgenstein-Krimi
Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.
Wolfgang Breuer
Gnadenlos
Ein Wittgenstein-Krimi
Foto Cover und Coverrückseite: W. Breuer
Autorenfoto: Fotoatelier Christiane
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte vorbehalten!
© Herbst 2021
Impressum
ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30
[email protected] (bevorzugt)
Tel.: (0 22 46) 94 92 61
Fax: (0 22 46) 94 92 24
www.ratio-books.de
E-Book: ISBN 978-3-96136-129-8
Print-ISBN 978-3-96136-128-1
published by
Dienstag, 16. Juli
Mittwoch, 17. Juli
Donnerstag, 18. Juli
Freitag, 19. Juli
Samstag, 20. Juli
Montag, 22. Juli
Donnerstag, 25. Juli
Freitag, 26. Juli
Donnerstag, 28. November
Es war einer jener Tage im Juli 2019, an denen man sich selbst in Wittgenstein nur ausgesprochen ungern im Freien aufhielt. Eine unbarmherzige Sonne brannte vom Himmel und dörrte das Land und die Menschen aus. Jede auch noch so kleine Bewegung führte in diesen Horrortagen zu Schweißausbrüchen. Wohl dem, der da eine intakte Klimaanlage in seiner Nähe wusste.
Theo Schöneborn gehörte nicht zu den Privilegierten. Denn das Kühlaggregat an seinem Arbeitsplatz hatte kapituliert. Es war zwar erst 14:47 Uhr. Doch das digitale Thermometer am Wachtisch der Berleburger Polizei meldete eine Außentemperatur von 36,4 Grad. Und 31,3 Grad für drinnen.
Innen zwar nicht ganz objektiv gemessen. Weil irgendeine Intelligenzbestie den Messfühler in die Scheibe des großen Fensters mit Südblick geklebt hatte. Trotzdem litt Theo unter dem Gefühl, im eigenen Saft zu kochen.
Das verstärkte sich für den ‚Diensthabenden‘ zunehmend, seit er einen Mann am Telefon hatte, den er partout nicht verstehen konnte. „WER sind Sie?“, versuchte er es nun zum dritten Mal. Und wieder hörte der Kommissar nur ein geknödeltes „Wöwach“ oder so ähnlich.
Theo verdrehte die Augen. „Das darf doch alles nicht wahr sein“, motzte er halblaut. „Will der mich hier verarschen, oder was?“ Am liebsten hätte er aufgelegt. Aber was, wenn es sich bei dem Anruf tatsächlich um einen Notruf handelte? Immerhin war das Gespräch über 110 reingekommen. „Hören Sie“, versuchte er es also nochmal, „ich kann Sie nicht verstehen. Kann es sein, dass Ihr Telefon eine Macke hat?“ ‚Oder hat der Typ eine‘?, ergänzte er in Gedanken.
„Ach fo! … Wowent!“ Es folgte sekundenlanges Knarzen und Kratzen in der Verbindung – und schließlich ein klar verständliches aber irgendwie gehetztes „‘tschuldigung, mein Headset ist wahrscheinlich im Eimer. Können Sie mich jetzt verstehen?“
„Ja, jetzt verstehe ich Sie klar und deutlich.“
Der Diensthabende wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. „Okay, dann versuchen wir es noch einmal. Wer sind Sie und was kann ich für Sie tun?“
„Mein Name ist Dörnbach, Klaus Dörnbach. Ich habe hier einen Toten gefunden“, hechelte der Anrufer kurzatmig in sein Mobiltelefon.
„Einen Toten? Wo haben Sie den gefunden?“
„Auf dem Friedhof in Birkelbach. Ich bin im Moment sowas wie der Totengräber hier, verstehen Sie?“ Die Worte des Mannes kamen schleppender. Dem Anrufer schien die Hitze irgendwie noch mehr zuzusetzen als seinem Gesprächspartner.
„Aha, ein Toter. – Auf dem Friedhof in Birkelbach. – Irgendwie nichts Besonderes, oder?“ Theo wischte nochmal über Stirn und Nacken und atmete tief durch.
„Stimmt. Aber der hier liegt nicht etwa schon im Grab oder in irgendeinem Sarg. Der liegt da einfach so rum. Auf dem Weg!“
‚Was ist das denn für eine schräge Geschichte‘, dachte Theo. Wollte ihn da vielleicht einfach nur ein Kollege mit verstellter Stimme foppen? Aber auf der offiziellen Notrufleitung … Immerhin wurden die Gespräche ja aufgezeichnet.
„Wo genau liegt die Leiche denn dort?“
„Direkt vor der Kapelle. Und das noch nicht lange“, quälte sich der Mann zu sagen.
„Woher wissen Sie das?“
„Weil ich vor knapp zweieinhalb Stunden hier vorbeigekommen bin, um ein Grab fertig auszuheben.“
„Ja und?“
„Da war der noch nicht da. Da war überhaupt keiner da.“
„Und jetzt?“
„Ääh, keiner. Nur ich und der Tote. … Hören Sie, wenn Sie noch einen Moment so weitermachen, kann ich mich gleich daneben legen.“
„Sind Sie sicher, dass er tot ist?“
„Natürlich bin ich sicher. Für wie blöde halten Sie mich denn?“, schnaufte der Leichenfinder. „Keine Atmung, kein Puls und viel, viel Blut aus einem Riesenloch im Nacken. Mehr tot geht eigentlich nicht.“
Dörnbachs Stimme wurde immer schwächer. ‚Der klappt mir gleich zusammen‘, mutmaßte der Kommissar. ‚Also kein Jux‘, entschied er und fuhr die inneren Systeme hoch.
„Okay. Rühren Sie ihn bitte nicht mehr an und bleiben Sie vor Ort, Herr Dörnbach. Die Kollegen sind gleich bei Ihnen.“
„Ja. Aber machen Sie schnell. Ich halte das nicht mehr lange durch. Schicken Sie am besten gleich auch noch einen Krankenwa…“, hörte der Beamte noch ganz schwach. Dann war es still.
„Herr Dörnbach! Alles in Ordnung mit Ihnen?“
Keine Reaktion. Auch nach einem zweiten und dritten Versuch. Nichts. Im Hintergrund hörte Theo lediglich ein vorbeifahrendes Auto. Die Handyverbindung war also nicht unterbrochen.
Schöneborn ließ die Leitung weiter offen und funkte sämtliche Streifen an, die im nördlichen Wittgenstein unterwegs waren. Dazu die Kripo im eigenen Haus und den Rettungsdienst mit Notarzt an Bord.
Vier Minuten später, um 14:51 Uhr, traf der erste Streifenwagen am Friedhof ein. Dirk Finkbeiner und Bernd Kleinheisterkamp hatten ihren Wagen auf dem Parkplatz abgestellt und waren die wenigen Schritte über eine Treppe bis zur Nordseite der Kapelle gerannt. „Wir sind vor Ort“, meldete Bernd mit knappen Worten an die Wache, bevor er überhaupt irgendetwas von Bedeutung wahrgenommen hatte.
Da kniete Finkbeiner bereits wenige Meter vor ihm. Als er näher kam, wurde Kleinheisterkamp schlagartig anders. „Ach du Sch…“, presste er hervor. Auf dem Boden lag ein Mann mit angezogenem linkem Bein und einer klaffenden Wunde im Genick, aus der Unmengen an Blut ausgetreten waren. Um den Kopf herum hatte sich eine große dunkelrote Lache gebildet. Ein ekelerregender Anblick, von dem auch noch ein schäbiger süßlicher Geruch ausging. Wie Leim klebte der in der Luft.
‚Zwei Liter mindestens‘, schätzte Bernd, bevor ihn eine aufsteigende säuerliche Flüssigkeit in seinen Backentaschen zum Wegschauen zwang.
Finkbeiner hatte mitbekommen, dass der Kollege durch heftiges Schlucken gegen die Übelkeit ankämpfte und bat ihn, sich auf die Suche nach dem Anrufer zu machen. Von dem war bisher weit und breit nichts zu sehen. „Hier können wir sowieso nichts mehr machen“, meinte er und streifte ein paar Vinylhandschuhe über, um ein Handy zu sichern, das neben dem Toten lag. Links vor ihm ein Strauß bunter Sommerblumen.
Mit größtem Unbehagen machte sich Bernd auf die Suche. Zumindest beim ersten Rundblick hatte er niemanden entdecken können. Keine Menschenseele sonst auf dem kleinen Friedhof. ‚Was Wunder auch‘, dachte er, ‚wer wird bei dieser Hitze schon freiwillig Grabpflege betreiben?‘ Nur oben am Hang lag ein frisch geschaufeltes Grab offen.
Entschlossen und mit nicht mehr ganz so saurer Spucke im Mund ging er ein paar Schritte weiter, um eine riesige Thuja zu umrunden. Dann sah er ihn. Auf einer Bank neben dem mächtigen Lebensbaum saß tatsächlich ein Mann in orangefarbener Arbeitshose und weißem T-Shirt. Total in sich zusammengesunken und völlig regungslos. In seinem Schoß ein Handy.
„Hallo“, sprach er den offenbar Schlafenden etwas unbeholfen an, „hallo, können Sie mal wach werden, bitte?!“ Der Mann reagierte nicht. „Hallo!“, versuchte er es erneut. Diesmal lauter. Nichts. Nur aus dem Handy kam deutlich vernehmbar ebenfalls ein „Hallo. Hallooo, Bernd, bist Du das?“ Das war Schöneborns Stimme. Noch immer stand die Verbindung mit der Wache in Berleburg.
„Ja, Kleinheisterkamp hier.“
„Wie sieht es aus bei Euch?“
„Besch…eiden. Ein Toter, männlich, erwachsen, vermutlich erschlagen, fast geköpft. Und der Mann hier bewusstlos. Ich sehe jetzt erstmal zu, dass ich den wach bekomme. Ich lasse das Handy weiter auf Empfang, okay?!“, rief er in das Gerät.
Während er von Bernd nur ein „in Ordnung“ zu hören bekam, begann er, dem Zusammengesunkenen leichte Ohrfeigen zu verpassen. Rechts, links, rechts, links. Jeder Klaps begleitet von lautem „Halloooo, haaaallooo“.
„Brüll doch nicht so!“, rief Dirk, „hier liegt schließlich ein Toter.“
„Und hier ein Bewusstloser!“, konterte Bernd. „Ich kann machen was ich will. Ich kriege ihn einfach nicht wach.“
Plötzlich waren Martinshörner zu hören, die schnell näher kamen. Kurz vor der Friedhofskapelle gaben die Alarmtröten schließlich auf und wenig später standen zwei Männer von der Rettung auf dem Friedhof.
„Okay, ich glaub’, ich lass’ das mal mit dem Wachmachen“, rief Kleinheisterkamp ins Handy. „Der Notarzt ist gerade gekommen. Ich mach’ dem mal Platz hier.“
Doch der Mediziner reagierte nicht auf sein Winken. Er nickte zunächst nur Dirk zu und ging neben dem Toten in die Hocke. Doch des Arztes Hoffnung, in der blutigen Hülle noch eine Spur von Leben zu finden, war bald geschwunden. Nach wenigen Tests schüttelte er sachte den Kopf und stand auf.
„Kommen Sie, Herr Doktor, bitte!“, rief Bernd dem Mann in Weiß zu. „Hier ist noch ein Mann. Aber der lebt.“
Der Arzt setzte sich in Gang. ‚Doktor P. Kulenkamp‘ stand auf seinem Namensschild. Nach einem knappen „Hallo“ beugte er sich über den Mann auf der Bank, fühlte nach dessen Puls und kontrollierte die Pupillen.
„Schnelle Atmung, erhöhter Puls, niedriger Blutdruck und“, dabei legte er seine Hand auf Dörnbachs Stirn, „mindestens 40 Fieber“, raunte er dem zweiten Retter zu, der neben ihm aufgetaucht war. „Machst Du schnell ein EKG?“, bat er den drahtigen Assistent, der mit einem ganzen Bauchladen von Instrumentarien bepackt war.
„Sagen Sie, war er noch bei Bewusstsein, als Sie hier ankamen?“ Kleinheisterkamp, der sich dafür verfluchte, dass er am Morgen noch ein Unterhemd unter das Poloshirt angezogen hatte, schaute den Doc an und schüttelte den Kopf. „Nö. Er saß da, als ob er schliefe. Ich wollte ihn wach machen. Doch er zeigte keine Reaktion. Das Revier hatte uns schon darüber informiert, dass der Mann bei der Meldung des Totenfundes am Telefon plötzlich immer leiser geworden sei.“
„Typisch für einen Hitzschlag!“, rief der Arzt seinem Assistenten zu. Sein Blick auf das Display des hastig angeschlossenen EKG’s bestärkte ihn offenbar in seiner Diagnose. „Mach’ mir bitte eine Ringer-Infusion fertig. Und dann müssen wir ihn kühlen. Raus hier aus der Sonne!“
Wenig später lag Klaus Dörnbach auf der Fahrtrage des Rettungswagens und wurde im Schatten der Einsegnungshalle mit Wasser auf den Unterarmen langsam heruntergekühlt. Der Fahrer des Rettungswagens hatte praktischerweise gleich eine ganze Gießkanne voller Blumenwasser aus dem Becken geholt, an dem sich sonst die Friedhofsbesucher bedienen können.
„Übertreib’s bitte nicht!“, rief der Arzt, während er den Totenschein für den Mann am Boden ausfüllte, „aber die Temperatur muss deutlich runter.“ ‚Todesursache unklar‘ schrieb er.
„Ich vermute, der Mann ist mit einem scharfkantigen schwereren Gegenstand erschlagen worden. Vielleicht war es ein Spaten, mit dem ihm das Genick gebrochen wurde“, erklärte er den beiden Polizisten. „Etwas ähnliches habe ich mal in einer Dokumentation über militärischen Nahkampf gesehen.“
Kleinheisterkamps Innenleben kam erneut in Bewegung. Doch der Beamte wollte sich keine weitere Blöße geben und versuchte sich in Routine. „Doktor, können Sie etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“
„Schwierig bei der Hitze. Ich schätze, zwischen 13:15 Uhr und 14:00 Uhr.“
„Das deckt sich ungefähr mit dem, was der Anrufer unserem Diensthabenden am Telefon erzählt hat“, schaltete sich Dirk Finkbeiner ein und schabte sich am Hinterkopf. „Aber vielleicht hat er ja was gesehen“, deutete er in Richtung des bewusstlosen Totengräbers.
Als habe der zugehört, kam plötzlich Bewegung in Klaus Dörnbach. Brüllend bäumte er sich auf und griff sich mit beiden Händen an den Kopf. „Boooaaah, ich glaub’, mir fliegt der Schädel weg!“ Ungelenk wedelte er mit den Armen und versuchte, sich von der Infusion zu befreien. Doch der Rettungssanitäter unterband diese Aktion. „Vorsicht!“, rief er, „legen Sie sich bitte wieder hin. Es geht Ihnen nicht gut. Sie waren die ganze Zeit über bewusstlos.“
„Aber ich hab’ so wahnsinnige Kopfschmerzen. Mensch, gebt mir doch was, damit das aufhört.“
„Okay, okay“, rief Dr. Kulenkamp, „das ist zwar nicht die erste Wahl. Aber Sie kriegen was.“ Mit einem Griff in seine ‚Doc Adams-Tasche‘ beförderte er eine Spritze zutage und leerte deren Inhalt in den Venenzugang, über den auch die Kochsalz-Infusion in den linken Arm des Patienten tropfte. „Es wird Ihnen gleich besser gehen“, beruhigte er den Mann in der Arbeitskluft.
„Komm, gib mal `n bisschen Gummi. Die haben die Leiche schon abtransportiert, bevor wir am Tatort aufschlagen“, nörgelte Pattrick Born ungeduldig. „Wir hätten schon längst da sein müssen.“
„Wusstest Du, dass diese Scheiß-Bahnschranke vor der Alten Mühle kaputt ist?“, blaffte Rüdiger Mertz zurück. „Da kommt da alle Schaltjahre mal ein Zug. Und dann geht dieses Miststück einfach nicht mehr auf“, erinnerte er diese beknackte Situation. „Und du stehst da und kommst nicht vor und nicht zurück.“
Gefühlte zehn Minuten hatten sie warten müssen, bis sich schließlich die Schranke öffnete und sich die mittlerweile entstandenen Fahrzeugpulks wieder in Gang setzten.
Immerhin hatten sie derweil per Handy die gröbsten Infos bei den Kollegen auf dem Friedhof in Birkelbach abfragen und alles Mögliche in die Wege leiten können. Die SpuSi war informiert und Vertragsarzt Dr. Louis Peter, als Leichenbeschauer. Die Rechtsmedizin in Siegen hatte keine Kapazitäten frei. „Fahren Sie außen rum über Hemschlar und Schameder“, hatten sie dem Arzt nahegelegt, „sonst stecken Sie im selben Schlamassel wie wir.“
„Guck, da isser schon“, meldete Mertz, als sie auf den Parkplatz unterhalb des Friedhofs fuhren. Vor ihnen war gerade ein schlanker Mann in komplett weißen Klamotten aus einem BMW geklettert. Zwei Streifenwagenbesatzungen begannen gerade, um den Friedhof herum nach auffälligen Fundstücken zu suchen.
„Warten Sie Doktor!“, rief ihm Born hinterher, „wir kommen mit.“
„Sorry, habe nicht viel Zeit“, rief der über die Schulter und verschwand schnellen Schrittes über eine Treppe. Die Kripo-Männer trabten hinterher. Doch weit kamen sie nicht.
„Entschuldigung“, sprach sie eine Frau an, „sind Sie von der Polizei?“
„Allerdings“, antwortete Pattrick Born, „was können wir für Sie tun?“
„Was ist hier passiert?“, fragte die recht kleine, untersetzte Dame mit Rollator, die so etwas wie ein Piratenkopftuch trug.
„Es gab einen Todesfall auf dem Friedhof.“
„Ach Gott“, gluckste sie, „ein Todesfall auf einem Friedhof. Wie überraschend. Seit wann müssen sich denn Polizei und Rettungsdienst um Verstorbene auf Friedhöfen kümmern? Und dann noch mit einem solchen Aufwand.“ Dabei machte sie mit ihrem rechten Arm eine ausladende Bewegung und wäre dabei fast vornüber gestürzt. Verlegen lachte sie auf und fand schließlich Halt an ihrem Gefährt.
Pattrick winkte verärgert ab. „Seien Sie bitte nicht albern“, bat er. „Das ist eine sehr ernste Sache hier. Für sowas haben wir wirklich keine Zeit. Verzeihen Sie also bitte, dass wir uns verabschieden. Schönen Tag noch und alles Gute.“
Zack, waren die beiden Kriminaler unter einem Polizei-Absperrband hindurchgeschlüpft. Zum Glück waren sie noch rechtzeitig zur Leichenschau gekommen.
In gebührendem Abstand zum Toten, der von Louis Peter umgedreht und sogar einmal aufgesetzt wurde, standen der Notarzt und die Kollegen Kleinheisterkamp und Finkbeiner.
Nach wie vor kühlten die beiden Sanis den überhitzten Dörnbach, bei dem inzwischen die schmerzstillende Spritze angeschlagen hatte. Er war samt Fahrtrage so umgedreht worden, dass er das Szenario nicht mitansehen musste.
Gleichwohl war nicht zu verhindern, dass er Ohrenzeuge der Suche nach der Todesursache wurde.
„Keine Frage, dem Mann wurde mit großer Wucht ein Schlag in den Nacken versetzt“, dozierte Doktor Peter. „Tatwaffe vermutlich ein schweres scharfkantiges Metallteil. Damit wurde ihm das Genick gebrochen. Der Tod trat sehr wahrscheinlich sofort ein.“
Die Luft über dem Friedhof flirrte vor Hitze. Vor den Augen der Umherstehenden waberten die Grabsteine und schienen wie in einer Fata Morgana über dem Boden zu schweben. Nicht der kleinste Luftzug bewegte die Blätter an den alten Bäumen. Und kein Vogel gab auch nur einen Laut von sich. Auch unten im Ort schien das Leben erstorben zu sein.
Selbst der Leichenbeschauer hielt für einen Moment inne. Man hatte den Eindruck, als habe die ganze Welt in diesem Moment aus Ehrfurcht vor der Situation den Atem angehalten. ‚Das nennt man wohl Grabesstille‘, sinnierte Pattrick Born.
Doch plötzlich riss ein deutlich vernehmbares Räuspern die Anwesenden aus ihren Gedanken. Das „Chrp-hmmm“ wirkte fast wie Lärm, obwohl es von weiter oben auf dem Friedhof kam. Richtiggehend erschreckt schauten die Anwesenden alle gleichzeitig in diese Richtung. Wer traute sich da, diese unheimliche Andacht zu stören?
Es war die Frau mit dem Rollator. Sie war wohl durch das obere Tor auf den Gottesacker gekommen und lehnte nach vorn gebeugt auf den Griffen ihres fahrbaren Untersatzes. Als sie sah, dass sie entsprechende Aufmerksamkeit erregt hatte, baute sie sich mühsam auf und winkte heftig. „Hallo, kann bitte mal einer der Herren Polizisten zu mir kommen?!“, rief sie. „Ich muss Ihnen was Wichtiges berichten.“
„Ach, nicht schon wieder“, brummte Pattrick Born. „Die Frau ist extrem neugierig.“ Verärgert fragte er: „Hat eigentlich jemand vergessen, das Tor dort oben mit Absperrband dicht zu machen? Oder hat sie das einfach ignoriert?“
„Nee“, meinte Kleinheisterkamp kleinlaut.
„‚Nee‘ in Form von was? Nee, nicht abgesperrt, oder nee, ignoriert.“
„Nee, nicht abgesperrt.“
„Okay, dann geh jetzt bitte zu ihr und frag sie, was sie zu berichten hat. Der Dame scheint es ja nicht besonders gut zu gehen, wenn ich sie mir so angucke. Und vergiss das Trassenband nicht, damit Du hinter ihr absperren kannst.“
‚Ja, ja, mein Herr, ich lauf ja schon‘, kochte es in dem Polizeihauptmeister. ‚Ihr von der Kripo nehmt euch heute mal wieder besonders wichtig, was?! Keine Sau hatte vorhin die Zeit dazu, dort oben zu gucken, ob es noch ein zweites Tor gibt. Aber zu spät kommen und dann motzen, das könnt ihr euch erlauben, ohne, dass man als Fußvolk den Mund auftun darf.‘ Kleinheisterkamp, wegen seiner dauerblassen Haut von den Kollegen heimlich auch ‚Kleingeisterbahn‘ genannt, spuckte innerlich Gift und Galle.
„Komm Kollege, ich gehe mit Dir“, hörte er plötzlich die Stimme von Sven Lukas neben sich. Der ‚Freak‘ war aufgetaucht wie Phönix aus der Asche. Genauso wie der Kripo-Chef, der sich hinter Sven gerade zu der Leiche herunterbeugte.
„Wo kommt Ihr denn plötzlich her?“, fragte Bernd verdattert.
„Geflogen, mein Lieber, geflogen“, lächelte der ‚Freak‘ und schnappte nach der Rolle mit dem Plastikband, die der andere gerade von einer Bank aufgepickt hatte.
„Quatsch, Du musst nicht mitkommen. Ich bin schon alleine groß“, wehrte sich Bernd.
„Kein Widerspruch“, lächelte Sven, „ich sehe doch, wie angefressen Du bist. Jetzt stell Dich nicht so an. Ich komme mit. Pattrick hat das nicht so gemeint.“
„Hat er wohl. Der kann einem manchmal ganz schön auf die …“
„Pssst!“, fuhr Sven dazwischen, „mach Dich nicht unglücklich und komm mit. Jetzt interviewen wir beide erst mal die Dame da oben und dann sperren wir das Tor ab. Okay?“
„Okay.“ Widerwillig lief Bernd Seite an Seite mit Lukas bergan. „Bist Du eigentlich über die Lage informiert?“, fragte er eher beiläufig.
„Klar, Schöneborn hat uns während unserer Anfahrt über Funk eingeweiht.“
„Na, dann ist es ja gut“, wirkte Kleinheisterkamp immer noch etwas unwirsch. Irgendwie stank es ihm, dass einem die Leute von der Kripo immer den Zucker von der Schnitte leckten, sobald sich mal ein interessanter Fall auftat.
Als sie oben ankamen, erhellte sich die Miene der Frau mit dem Piratentuch. „Schön, dass Sie kommen konnten“, grüßte sie breit lächelnd. „Ich bin Britta Homrighausen. Guten Tag.“ ‚Wie kann man in einer solchen Scheiß-Situation nur so fröhlich sein?‘, fragte sich der Kommissar, dem nicht entgangen war, dass die Frau größte Probleme hatte, aufrecht stehen zu bleiben, während sie ihre rechte Hand zum Gruß anbot. ‚Und das Tuch auf dem Kopf ist sicher auch kein gutes Zeichen.‘
„Auch guten Tag“, gab er lächelnd zurück und schüttelte vorsichtig die kräftige Hand der kleinen Frau. „Ich bin Sven Lukas von der Kriminalpolizei Bad Berleburg. Und das ist der Kollege Bernd Kleinheisterkamp.“
„Hallo“, sagte der. Während er behutsam die gereichte Hand schüttelte, fragte er galant: „Warum nehmen Sie nicht einfach Platz? Sie haben ja zum Glück eine Sitzgelegenheit dabei.“
„Mach’ ich, danke. Sie glauben gar nicht, wie gerne. Wollte nur höflich sein.“ Etwas umständlich quetschte sich die recht umfangreiche Dame zwischen die Griffstützen ihres Rollators auf die Sitzfläche. Als sie schließlich saß, fragte Lukas: „Frau Homrighausen, Sie haben uns zugerufen, Sie hätten etwas zu berichten. Um was geht es denn dabei?“
„Tja, wissen Sie“, begann die Frau, „ich weiß ja gar nicht, ob das für Sie irgendeine Bedeutung hat. Aber ich sehe mich als Staatsbürgerin schon verpflichtet, der Polizei Dinge und Ereignisse anzuzeigen, die mir verdächtig erscheinen.“
‚Oh Gott‘, schauderte es beide Beamten gleichermaßen, ‚mal wieder so eine Fadengerade‘, wie Jürgen Winter Leute nannte, bei denen das Grundgesetz unter dem Kopfkissen liegt und die sich vor Wichtigkeit keinen Rat wissen.‘ Schon der bedeutungsschwangere Aufgalopp ließ Übles ahnen.
„Ah ja. Und was ist Ihnen verdächtig vorgekommen?“
„Ich gehe mal davon aus, dass der Mann, der dort unten gerade untersucht wird, ermordet worden ist.“
„Wer sagt Ihnen das?“
„Niemand. Das ist ja das Problem. Der Kollege, den ich vorhin danach gefragt habe, hielt es ja nicht für nötig, mir zu erzählen, was dort passiert ist.“
Sven machte große Augen. „Warum hätte er das tun sollen?“
„Ganz einfach“, lächelte Frau Homrighausen, „weil ich ihn bei seiner Ankunft danach gefragt habe.“
„Naja, also wissen Sie“, meinte der ‚Freak‘ und schabte an seinem Kinn, „wir sind ja auch keine Auskunftei. Wir sind die Polizei und haben für Recht und Ordnung zu sorgen. Unter anderem auch für die Aufklärung von Verbrechen. Aber damit können wir natürlich erst anfangen, wenn wir uns ein Bild von der Lage gemacht haben.
Und wenn ich Sie richtig verstanden habe, war der Kollege ja auch gerade erst am Friedhof aufgetaucht, als Sie ihn fragten. Da konnte er doch noch kein Bild von der Lage haben. Es war also ein wenig viel verlangt, von ihm zu erfahren, was da passiert war.“
„Außerdem“, fügte Bernd hinzu, „ist es nicht immer ganz schlau, mit jedem darüber zu reden, was uns gerade beschäftigt.“
„Verstehe. Aber vielleicht wissen Sie inzwischen trotzdem, ob der Mann da unten ermordet worden ist.“
„Ja, das wissen wir.“ Lukas wurde ein wenig ungeduldig.
„Und wie?“
„Also bitte, das führt nun wirklich zu weit.“
Die Dame ließ sich allerdings nicht beirren. „Wie denn nun? Erschossen, erwürgt, erschlagen?“
„Frau Homrighausen, ich bitte Sie. So neugierig kann man doch gar nicht sein. Was hat denn das für einen Belang für Sie? Oder arbeiten Sie etwa für eine Zeitung oder sonst ein Medium?“
„Blödsinn. Ich frage nur deshalb so energisch nach, weil es sein kann, dass ich eventuell Maßgebliches dazu beitragen könnte, den Täter zu fassen. Falls der arme Mann …“, unterbrach sie sich mit theatralisch erhobenem Zeigefinger und schaute ins Nirgendwo, „falls …“
„Falls er was?“
„Falls er erschlagen wurde.“
Die Polizisten schauten sich an, als hätten sie eine Erscheinung der dritten Art gehabt. Wie, um alles in der Welt, kam die Frau denn ausgerechnet auf Erschlagen? War sie etwa die Täterin? Eher nicht. Sie konnte sich ja so kaum auf den Beinen halten. Aber vielleicht hatte sie den Toten bereits gesehen, bevor überhaupt ein Polizist am Tatort gewesen war.
‚Schwachsinn‘, verwarf der Kommissar diesen Gedanken wieder. ‚In beiden Fällen hätte sie nicht so nervig nach der Todesart und der Mordmethode fragen müssen. Oder ist das alles hier nur eine miese Schau?‘
„Ich sag’s Ihnen“, rang er sich schließlich durch, „er wurde tatsächlich erschlagen.“
„Also doch“, flüsterte sie. „Dann muss ich Ihnen was zeigen. Kommen Sie mal mit!“
„Wohin?“
„Raus aus dem Friedhof. Nur ein paar Meter. Da vorne steht mein Wagen.“
Genauso umständlich, wie sie sich gesetzt hatte, schälte sie sich wieder aus ihrer Sitzposition heraus und startete mit dem Rollator in Richtung Ausgang. Gemessenen Schrittes trotteten die Beamten hinterher, bis die Frau an einem grünen Polo stehen blieb und mit klimperndem Schlüsselbund versuchte, die Heckklappe zu öffnen.
„Kommen Sie“, bot sich Bernd an, „ich helfe Ihnen.“ Fast behutsam nahm er der dankbaren Frau die Schlüssel aus der Hand und öffnete den hinteren Fahrzeugbereich.
„Da, schauen Sie“, deutete sie auf die untere Ablage, „das meine ich. Das wollte ich Ihnen zeigen.“
„Oh Shit“, entfuhr es Kleinheisterkamp. Mit weit aufgerissenen Augen rammte er dem ‚Freak‘ einen Ellenbogen in die Flanke. „Ein Spaten. Da drin liegt ein Spaten.“
Der Kollege nickte. „Ja, sehe ich. Woher haben Sie den denn, Frau Homrighausen? Haben Sie den von zu Hause mitgebracht?“
„Quatsch, hab’ ich nicht!“, antwortete sie scharf. „Den habe ich unten vom Parkplatz aufgepickt.“
„Wie – aufgepickt? Lag der da einfach so rum?“
„Nicht einfach so. Den hat einer dort in die Hecke geschmissen, bevor er sich mit seinem Auto aus dem Staub gemacht hat.“
„Oha, jetzt wird es interessant. Sie haben jemanden gesehen, der diesen Spaten weggeworfen hat, bevor er sich ins Auto setzte und davonfuhr?“
„Davonraste. Richtig!“
„Wie sah der Mensch aus?“
„Kann ich nicht sagen. Ich kam gerade erst von oben die Straße runter. Ich hatte meine Freundin besucht und wollte nach Hause, als mir im Vorbeifahren das Auto auffiel, das da mit der Schnute zur Straße und mit offener Fahrertür auf dem Parkplatz stand. Ich guckte rüber und konnte gerade noch sehen, wie jemand, der ziemlich durch die Wagentür verdeckt war, den Spaten in Richtung Hecke warf.“
„Und dann?“
„Danach konnte ich nichts mehr sehen. Weil mir die Hecke nach wenigen Metern die Sicht versperrte.“
„Ja, aber Sie sagten doch, der Mensch sei davongerast“, insistierte Kleinheisterkamp. „Das konnten Sie doch dann gar nicht mehr sehen.“
„Konnte ich wohl. Als ich unten auf der Hauptstraße gerade Richtung Womelsdorf abgebogen war, hat mich dieser Irre mit seinem Mordskarren überholt und ihn unten in der Kurve beinahe auf die Seite gelegt. Dann war er weg.“
Bernd schüttelte den Kopf. „Das gibt’s doch gar nicht. Das sind doch gerade mal knapp hundert Meter bis in die Kurve.“
„Ja, ja, komm, das ist jetzt nicht so wichtig“, unterbrach der ‚Freak‘. „Was war denn das für ein Auto? Sie sagten ‚Mordskarren‘. Was denn für einer?“
„So’n Audi Q weiß der Himmel was. So’n riesiger SUV auf jeden Fall. Ziemlich neues Modell.“
„Farbe?“
„Weiß.“
„Und die Autonummer? Haben Sie sich die Autonummer merken können?“
„Äääh … ja, nee, nicht genau.“
„Was denn nun? Ja oder nein?“
„Ja, nur einen Teil. Vorne auf alle Fälle HU, dann nix, also da nix, wo früher ein Strich war und dann ein I … mehr weiß ich nicht. Der war einfach zu schnell.“
„Das ist aber immerhin schon mal was. Und mit ‚HU, Trennung I‘ sind Sie auf alle Fälle sicher?“
„Aber ja. Ich hab’ noch für mich geflachst, der fährt genauso wie seine Autonummer: ‚Hui‘.“
„Danke, Frau Homrighausen. Das hilft uns wirklich sehr. Noch was zum Fahrer?“
„Nee, zu dem wirklich nichts. … Außer …, ich hab’ auf dem Parkplatz unter der Tür seine Beine rausgucken sehen. Dunkle Hose und schwarz glänzende Lederschuhe. Mein lieber Mann, hab’ ich noch gedacht. Bestimmt ein Industrieller oder sowas in der Art.“
„Wieso meinen Sie?“
„Naja, wer läuft denn bei so einer Hitze heutzutage noch in Schwarz rum?“
„Und oben?“
„Nix gesehen. Ich glaub’, der hatte getönte Seitenscheiben.“
„Noch eine Frage. Wann war das denn genau? Wie spät war es? Können Sie sich erinnern?“
„Natürlich. Ich hab’ mich oben am Berg von meiner Freundin verabschiedet, da begannen gerade die 14-Uhr-Nachrichten. Also war ich ungefähr vier, fünf Minuten später hier.“
„Sind Sie sicher?“
„Natürlich. Als ich losfuhr, hab’ ich extra noch das Radio lauter gestellt. Spitzenmeldung war, dass sich heute diese Frau von der Leyen mit einer Rede als Kommissionspräsidentin in Brüssel bewirbt.“
„Wahnsinn. Was Sie sich alles merken können.“
„Es interessiert mich halt. Ich kann mit der Frau zwar politisch nichts anfangen. Aber eigentlich finde ich alles, was Frauen in Spitzenpositionen so leisten, richtig toll.“
„Danke. Kleinen Moment mal bitte“, meinte Sven und ging ein paar Schritte zur Seite. Per Handy rief er bei Petra Fischer im Kommissariat an. „Tu mir bitte einen Gefallen und gib’ gerade mal eine Fahndungsmeldung raus. ‚Gesucht wird ein weißer Audi SUV, Q-Modell neuerer Bauart, Farbe weiß, Kennzeichen HU, Trennung, I, mehr ist nicht bekannt. Es gibt auch keine Infos zum Fahrer. Das Fahrzeug wurde gegen 14:10 Uhr zuletzt gesehen in Birkelbach, Fahrtrichtung vermutlich Erndtebrück.“
Nach dem Zusatz der üblichen Präliminarien wie ‚Hinweise an …‘ und so weiter beendete er sein Telefonat und kehrte wieder zu den beiden zurück. „So, Frau Homrighausen, jetzt noch was ganz Wichtiges: warum sind Sie eigentlich wieder hierher zurückgekommen?“
„Ja nun“, antwortete sie und machte eine kleine Pause, „als ich zu Hause war, ist mir erst einmal richtig klar geworden, was ich da eigentlich erlebt habe. Erst der weggeworfene Spaten, dann dieser davonrasende Audi-Fahrer. Ich dachte, da ist irgendwas im Busch. Deshalb bin ich nochmal losgezogen. Und als ich hier ankam, war schon die Polizei vor Ort.“
„Und dann haben Sie den Spaten an sich genommen?“
„Klar. Und das wollte ich Ihrem Kollegen sagen. Aber der hatte ja keine Zeit für mich.“
„Ja okay, aber warum haben Sie ihm den Fund denn nicht einfach gezeigt?“
Diese Frage hätte Sven besser nicht gestellt. Denn sie brachte ihm nicht nur einen vorwurfsvollen Blick ein. Er bekam auch eine richtig pampige Antwort. „Wie denn bitte, Herr Kriminalrat? Rollator fahren, Spaten halten und noch hinterherrennen? Vergessen Sie’s!“
Der ‚Freak‘ schwankte zwischen Mitleid und Ausraster. ‚Weiß der Himmel, wie oft diese Nervensäge das Ding schon in der Hand gehabt und damit Täterspuren verwischt hat‘, dachte er. Die wären nämlich ohne Schwierigkeiten nachweisbar gewesen. Spatenstiel und Griff hatten schließlich einen Lacküberzug. Für die KTU eigentlich so etwas wie ein Elfmeter. Aber jetzt …
Als hätte sie die Gedanken des Kommissars erahnt, griff die kleine Frau kurzerhand in den Kofferraum. „NEIN, NICHT!“, brüllten die Polizisten, die einen Meter zu weit weg standen, um eingreifen zu können. Aber sie grinste nur und holte einen Arbeitshandschuh hervor. „Für Sie scheine ich ja wohl der absolute Vollpfosten zu sein. Oder?! Ich werde das Teil doch nicht mit bloßen Händen anfassen.“
Fassungslos schauten die beiden Polizisten auf den Spaten. Man musste kein Fachmann sein, um festzustellen, dass das scharfkantige Teil mit brachialer Gewalt in etwas hineingeschlagen worden war, das Blut und Haare an der linken Blattseite hinterlassen hatte.
„Boah! Das ist ja noch nicht mal ganz trocken“, beschrieb Bernd die offensichtlichen Spuren der Gewalttat. „Und der Spaten ist messerscharf. Schau mal, der scheint nagelneu zu sein.“
Vor der Kapelle hatte der Leichenbeschauer seine Arbeit mittlerweile beendet und vorab bereits ein vages Urteil zur Todesursache gefällt. „Tod durch Genickbruch, spätestens aber durch hohen Blutverlust. Hervorgerufen durch einen massiven Schlag mit einem scharfkantigen Gegenstand in Höhe des vierten Halswirbels.“
Das deckte sich mit den Vermutungen des Notarztes, der gemeinsam mit dem inzwischen heruntergekühlten Dörnbach bereits das Gelände verlassen hatte. Der Mann mit dem Hitzschlag war auf dem Weg ins Krankenhaus nach Berleburg. Auf eine Vernehmung hatten die Beamten angesichts seines Zustandes vorerst verzichtet.
Den Toten hatten die Kollegen mit einer Alufolie zugedeckt, weil der Mann noch nicht abtransportiert werden konnte. Der Staatsanwalt ließ mal wieder auf sich warten. Und auch der Leichenwagen war noch nicht da. Es gab also noch gar keine Möglichkeit, das Opfer vor den höchst interessierten Fliegen durch einen Plastiksack, oder gar einen Zinksarg zu schützen.
Mit spitzen Fingern hatte Dirk Finkbeiner den Geldbeutel des Getöteten aus dessen Gesäßtasche gefriemelt und darin sowohl Führerschein als auch Personalausweis gefunden. Nach eindeutiger Identifizierung über die Passfotos war klar, bei dem Toten handelte es sich um Daniel Böttcher aus Bad Berleburg. Der Bedauernswerte war gerade einmal 39 Jahre alt geworden.
In der Kurstadt liefen bereits die Recherchen zu Personenstand, Beruf und eventuellen Angehörigen. Klaus Klaiser hatte das in Auftrag gegeben und nebenbei beobachtet, dass die beiden Kollegen oben beim Friedhof noch immer mit der Rollator-Dame beschäftigt waren.
Per Handy fragte er nach und staunte, als ihm der ‚Freak‘ von dem Spaten und Frau Homrighausens Beobachtungen erzählte. „Sag bloß. Die Frau hat den Mörder gesehen und die Mordwaffe einfach mitgenommen?“
„Davon müssen wir im Moment mal ausgehen.“
„Und sie selbst? Kommt sie als Täterin nicht in Frage?“
„Nee, das glaube ich nicht. Geht rein technisch gar nicht. Kleinheisterkamp sieht das auch so.“ Mehr wollte er am Telefon mit Rücksicht auf die Zeugin nicht sagen. Wie hätte er denn ihr Handicap beschreiben sollen, ohne dass sie das mitbekommen würde? Die Frau war ohnehin schon hibbelig genug.
„Ich komme mal rauf zu Euch.“ Der Kripo-Chef wollte gerade das Telefonat beenden, als ihm noch etwas einfiel. „Habt Ihr eigentlich eine Fahndung nach dem Wagen rausgegeben?“
„Klar. Läuft schon ‘ne ganze Weile. Aber sollten wir bei dieser Hitze nicht den uniformierten Kollegen den Rest des Geländesuchspiels ersparen? Ich meine, es reicht doch wahrscheinlich, wenn die sich auf den Bereich um den Parkplatz konzentrieren.“
Doch die hatten ohnehin schon ergebnislos abgebrochen und versuchten, sich mit Getränken aus den Einsatzfahrzeugen zu erfrischen. Aber die hatten sich längst der Außentemperatur angepasst, wie man dem einen oder anderen Fluch entnehmen konnte.
„Sei mal kurz ruhig“, bat Manni Burmester den Kollegen. Die Leitstelle in Siegen gab gerade die Fahndungsmeldung per Funk an alle Streifen heraus. „HU, Trennung I“, hatte er mitbekommen und wartete auf die Wiederholung. Beim Stichwort „weißer Audi SUV, Q-Modell“ streckte er sich kerzengerade durch.
„Bingo!“, rief er, „den haben wir doch heute Vormittag bei der Kontrolle oberhalb von Weidenhausen in der Mache gehabt. Der ist doch gefahren wie ein Henker, über 45 Klamotten zu schnell.“
„Stimmt.“ Georg Hutschneider streckte seinen Daumen hoch. Den Fahrer hatte er sich gemerkt. Weil er derjenige Beamte war, der im Bulli saß, den ganzen Papierkram erledigen und die Bußgelder kassieren musste.
„Der stand total unter Zeitdruck und hat die 160 Euro ohne Widerspruch sofort bezahlt. Mit seiner Karte. Hatte angeblich `n wichtigen Termin. ‚Den Führerschein kann ich doch behalten, bis Ihr mir schreibt, oder?‘, hat er noch gefragt. Dann ist er abgedüst.“
Hutschneider kramte in seiner Kladde die Durchschläge der Protokolle und Zahlungsbelege durch. … „Moment, wir haben doch seine Personalien hier, hab’s gleich.“ Mit nassem Finger blätterte er den ansehnlichen Stapel durch wie ein Geldbündel.
„Hier!“, brüllte er förmlich, „das ist er. Warte, äääh, Jörg Rainer Radtke, geboren 15.10.73, wohnhaft Willy-Brandt-Straße 53, Hanau.“
„Klasse!“ Burmester jubilierte. „Und das Kennzeichen?“
„HU-I 9537.“
„Super!“ Georg ballte triumphierend die rechte Faust. Dann griff er zum Funkmikro und rief die Leitstelle. „Wär’ doch gelacht, wenn der uns durch die Lappen ginge.“
Die Streifenpolizisten staunten nicht schlecht, als sie vor dem Mc Donald’s in Geisweid von einem schlanken Mann in schwarz-weiß angesprochen wurden. Sie hatten sich gerade mit einer großen Cola samt viel Eis eingedeckt, um den Rest ihrer Schicht auf den brüllend heißen Straßen besser ertragen zu können. Da war der weiße Audi Q5 auf den Parkplatz gefahren.
‚Henner‘ Seifert auf dem Beifahrersitz hatte sofort kapiert, wer da aus dem Wagen gesprungen war und auf sie zukam. Schließlich hatten sie die Fahndung nach dem Wagen schon zweimal im Funk mitbekommen.
Doch bevor er auch nur papp sagen konnte, klopfte der Mann bereits an die rechte Seitenscheibe und bat durch die typische Handbewegung, diese herunterzulassen.
„Entschuldigung, können Sie mir sagen, wie ich hier zum Friedhof komme?“
„Zum Friedhof?“ Seifert schaute ein wenig belämmert.
„Ja, Friedhof. Ich bin jetzt die Straße zweimal bis zum Ortsende und zurück gefahren und kann ihn nicht finden. Auch das Navi zeigt keinen Friedhof an. Und ich bin ohnehin schon viel zu spät für die Beerdigung.“
„Warten Sie“, mischte sich Kollege Jens Blecher ein, „ich zeig’ Ihnen auf der Karte, wie Sie hinkommen.“ Mit einem Stadtplan von der Ablage stieg er auf der Fahrerseite aus und kam heftig niesend um den Bulli herum. „Hier“, reichte er Henner den Plan an dem Mann vorbei, „guck im Quadranten D3 nach. Ich muss mir mal eben die Nase putzen.“
Henner war irritiert, ließ sich aber nichts anmerken, als sich der Audi-Fahrer ihm zuwandte. Denn er sah im Hintergrund, dass Blecher statt in die Hosentasche nach hinten zum Gürtel griff. Blitzschnell hatte er von dort seine Handschellen vorgeholt und in Bruchteilen von Sekunden bereits das rechte Handgelenk des arglos fragenden Mannes gefesselt.
„Hey, was soll das?!“, schrie Radtke entsetzt auf und wollte sich abrupt umdrehen. Aber da hatte der Beamte bereits seinen linken Arm mit stahlhartem Griff auf den Rücken gedreht.
„Aua! Das tut weh!“
„Dann bleiben Sie einfach ruhig stehen. Dann passiert Ihnen nichts.“
„Was hab’ ich denn getan, verdammt nochmal? Sie können mich doch nicht einfach hier auf offener Straße ohne Grund und Ursache festnehmen.“
„Doch können wir. Nach Ihnen wird nämlich bundesweit gefahndet, Herr Radtke.“
Es schien den Polizisten, als schwinde die sommerliche Bräune im Gesicht des Festgenommenen. „Nach mir wird was?“
„Gefahndet“, antwortete Henner. „Sie werden polizeilich gesucht.“
„Verstehe ich nicht. Warum das denn? Was wirft man mir denn vor? Etwa zu schnelles Fahren? Ich hab’ doch bei Ihren Kollegen schon gezahlt. Und die haben mich weiterfahren lassen. Oder kann man deswegen neuerdings auch noch nachträglich festgenommen werden?“
„Nein, deswegen nicht.“
Irritiert blickte der Mann von einem Polizisten zum anderen. Längst war sein blütenweißes Hemd an verschiedenen Stellen leicht transparent geworden. Es klebte dort an seinem athletischen Körper. „Aber weshalb denn dann?“
„Das wird man Ihnen auf der Dienststelle sagen. Bitte kommen Sie jetzt mit uns.“
Die Nachricht vom schnellen Fahndungserfolg hatte eingeschlagen wie eine Bombe. „Effektiver geht es ja nun wirklich nicht“, freute sich Klaus Klaiser, der immer noch auf dem Friedhof in Birkelbach stand und dort nach einem Intensivgespräch mit Frau Homrighausen auch noch mit einem Neuen von der Spurensicherung zusammengerumpelt war.
„Verdammt, das ist doch immer dasselbe“, hatte der losgemault und sich aufgepumpt wie ein Ochsenfrosch. „Wie sollen wir denn jetzt noch brauchbare Fingerabdrücke und Spuren am Tatort sichern können, wenn hier tausend Leute überall rumlatschen und alles begrabschen?“
‚Lieber Himmel was ist das denn für eine peinliche Figur?‘, wollte der ‚Freak‘ gar nicht glauben, wie dieser Mensch sich aufführte. Der Typ war gerade erst aufgetaucht und hatte keinerlei erkennbaren Grund für sein Gestänker.
„Sagen Sie mal“, fuhr er ihm deswegen in die Parade, „haben Sie das aus schlechten Krimis oder was? Sie können hier gerne ohne das Gemotze antreten. Oder gab’s bei Ihnen zum Mittagessen Heftzweckensalat mit Glasscherbendressing?“
Die wenigen Zeugen des Auftritts mussten an sich halten, um nicht laut loszulachen. Nur der SpuSi-Mann blieb bei seinem Stiefel. „Wie kommen Sie mir denn vor?“, fauchte er verächtlich, „haben Sie überhaupt ‘ne Ahnung, was es bedeutet, manchmal jeden Grashalm umdrehen zu müssen, um überhaupt was zu finden?“
„Mehr als Sie glauben. Genauso wie alle anderen Kollegen hier.“ Lukas hätte den Mann ohrfeigen können. „Wir machen unseren Job schließlich auch nicht erst seit gestern.“
„Ja, aber nicht meinen.“
„Den möchten wir ja auch gar nicht haben“, schaltete sich Klaus ein. „Und jetzt zeigen Sie doch bitte einfach mal, was Sie draufhaben.“
Der Angesprochene fuhr herum. „Dann halten Sie sich doch schon mal da raus.“
„Au, au, au“, rief der Kripo-Chef und lief verdächtig rot an, „jetzt aber mal ganz langsam, ja?! Sie lassen jetzt einfach den Dampf aus dem Kessel und stellen sich ordentlich vor. Hier hat keiner auch nur die Spur einer Ahnung, mit wem wir es zu tun haben.“
Irgendwie schien das nicht zu helfen. „Wer ist ER denn?“, fragte der SpuSi-Mann blöde grinsend in die Runde.
„Och“, meinte Sven, „nur unser Chef. Erster Kriminalhauptkommissar Klaiser.“
„Ach so.“ Sendepause. Als hätte ihm jemand irgendwo eine Nadel reingesteckt, verlor der Aufgepumpte zusehends an Spannung. Seine Hände suchten irgendeine Parkposition, fanden aber keine. „‘tschuldigung“, stotterte er, „ich … ich … konnte ja nicht wissen. Ich ääh, ich bin Markus Hilpert und vertrete den Leiter der Spurensicherung, Herrn Steiner.“
„Na dann. Wäre schön, wenn Sie ihn auch in Sachen Benimm vertreten würden. Und in Sachen Kompetenz.“ Stinksauer drehte Klaus ab, Richtung Ausgang. „Was für ein Fatzke“, zischte er. Aber dann kam der Anruf mit der Information über die Festnahme.
„Weißt Du was, lass uns sofort nach Siegen fahren und uns den Herrn in der Arrestzelle vorknöpfen“, schlug Klaiser vor. Und als Sven ihn von der Seite anschaute und auf sein durchgeschwitztes T-Shirt deutete, fügte er grinsend hinzu. „Stell Dich nicht so an. Heißer wird’s heute eh nicht mehr. Ich mach’ die Fenster auf. Der Fahrtwind wird Dich schon trocknen.“
Doch hatte der allenfalls die Wirkung eines gigantischen Heißluft-Föns und sorgte dafür, dass der Entschluss zur Wageninnenbelüftung bald wieder rückgängig gemacht wurde. Zumal die schon etwas in die Jahre gekommene Klimaanlage endlich ihre Arbeit aufnahm.
„Ich verstehe nicht ganz, warum dieser Radtke nach Siegen gefahren ist“, meinte Sven nach einer Weile. „Warum fährt der Kerl nicht so schnell wie möglich auf irgendeine Autobahn und haut so weit wie möglich ab?“
„Hab’ ich mich auch schon gefragt. Vollkommen schräg. Stattdessen bleibt er in der Nähe und sucht einen weiteren Friedhof.“
„Wie? Er suchte einen weiteren Friedhof? Wer sagt das denn?“
„Die Kollegen, die ihn einkassiert haben.“
Der ‚Freak‘ runzelte die Stirn und fragte eher belustigt, „meinst Du, der hätte eventuell noch ‘ne Leiche, die er im Kofferraum mitgebracht hat?“
„Um Gottes Willen! Nein!“
„Was macht Dich da so sicher?“
„Was mich da so sicher macht? … Naja, er hätte doch niemals eine Polizeistreife nach dem Weg gefragt. Schon allein, um nicht aufzufallen.“
„Oder gerade doch. Weil das niemand für möglich halten würde.“
„Nee, nee“, lachte Klaus und beschleunigte am Ortsausgang, „er hätte die Leiche doch schon in Birkelbach entsorgen können. Einfach in das frisch geschaufelte Grab, ein bisschen Erde drauf und fertig. Bei der Beerdigung wäre dann auch noch ein Sarg drauf gekommen. Die nächsten 30 Jahre hätte kein Mensch die Leiche darunter jemals wiedergefunden.“
„Vielleicht hatte er das ja vor, aber kam nicht mehr dazu. Weil ihn der Mann erwischt hat, den wir dort tot aufgefunden haben. Erschlagen mit dem Spaten, den er mitgebracht und dann weggeworfen hat. Radtke konnte ja nicht ahnen, dass diese Frau Homrighausen das mitgekriegt und an uns verpetzt hat.“
„Und wieso fährt er dann ins Siegerland, um die Leiche zu entsorgen, statt das hier irgendwo in der Nähe zu versuchen?“
„Das müssen wir ihn schon selbst fragen. Du hast mir doch eingetrichtert, dass Mörder häufig völlig irrationale Entscheidungen treffen. Ich ruf’ mal eben bei den Kollegen in Siegen an und bitte die, sein Auto und den Kofferraum zu durchsuchen.“
„Mach’ das“, stimmte Klaiser zu. „Um alle Zweifel auszuschließen kann man das mal machen.“
Hinter dem Bahnübergang in Altenteich gab der Chef richtig Gas. Diese ewigen Geschwindigkeitsbegrenzungen auf der B62 gingen auch eiligen Polizisten mitunter sehr auf den Zeiger. Und dann noch diese Hitze. Vor ihnen waberten Straße und Landschaft wie ein Trugbild in der Luft.
‚Fehlt nur noch eine Flasche kaltes Bier als Fata Morgana‘, dachte Klaus und musste grinsen. Der ‚Freak‘ telefonierte, schien aber ähnliches zu denken. Zumindest zeigte er während des Gesprächs nach vorne und meinte kopfschüttelnd „is’ ja irre. … Nein, nein, Kollege, nicht Du!“
Sarah Renner und Rüdiger Mertz war dagegen absolut nicht zum Lachen zumute. Eher das Gegenteil war der Fall. Denn sie saßen einer von Weinkrämpfen geschüttelten jungen Frau gegenüber. Pia Böttcher hatte ihr Gesicht in beiden Händen vergraben und war zu keinem Gespräch in der Lage. „Ich begreife das nicht, ich begreife das einfach nicht“, stammelte sie immer nur.
Natürlich hatten beide ein mulmiges Gefühl im Bauch gehabt, als ihnen das Überbringen der Todesnachricht aufgetragen wurde. Niemand unter den Kollegen übernahm solche Aufgaben gerne und schon gar nicht freiwillig. Aber Mertz gehörte zu den erfahreneren Kollegen und war, so schlimm das auch klingen mag, ohnehin an der Reihe.
Da Sarah Renner die im Moment einzig verfügbare Polizistin war, musste sie Rüdiger begleiten. Denn der Chef wollte, dass eine Beamtin dabei ist, wenn die Nachricht vom Tod eines Familienmitglieds an eine Frau überbracht wird und kein Notfallseelsorger zur Verfügung steht.
Ohne Widerspruch stellte sich die Kollegin dieser Aufgabe. „Weil auch solch unschöne Aufgaben zum Polizeiberuf dazugehören“, hatte sie gesagt.
„Wer um alles in der Welt hat Daniel denn das angetan?“, flüsterte die Frau kraftlos und starrte die Beamten an. Ihre geröteten Augen suchten eine Antwort in den Gesichtern von Sarah und Rüdiger. Die Ermittlerin schüttelte nur sachte den Kopf und schämte sich fast für ihre polizeitypische Phrase voller Hilflosigkeit. „Wir wissen es nicht, Frau Böttcher. Noch nicht.“
„Dabei hat er doch nur ein paar Blumen zum Grab seiner Tante bringen wollen“, erzählte sie nach Minuten des Schweigens. „Seine pflegebedürftige Mutter habe ihn darum gebeten, sagte er mir noch am Telefon … Ach Gott …“, ein erneuter Weinkrampf schüttelte sie, „… das war unser letztes Gespräch … Die letzten Worte von ihm.“
Schluchzend wandte sie sich ab. „Daniel war während seines Urlaubs fast täglich in Birkelbach. Er liebte seine alte Mutter abgöttisch.“
Der Weinkrampf der jungen Witwe nahm kein Ende. Und sowohl Sarah als auch Rüdiger schien es gänzlich unangebracht, jetzt die üblichen Fragen zu stellen. ‚Hatte er Feinde, wer könnte ihm Böses gewollt haben, wie war er mit Kolleginnen und Kollegen zurechtgekommen?‘ Heute nicht! Das musste warten.
Gut eine halbe Stunde nach Beginn der traurigen Mission nahm sich schließlich der Hausarzt Pia Böttchers an, um ihr ein Beruhigungsmittel zu spritzen. Rüdiger hatte Dr. Gedeon telefonisch hergebeten, nachdem er auf dem Sekretär im Wohnzimmer ein Rezept über Psychopharmaka für die Hausherrin entdeckt und Sarah darauf aufmerksam gemacht hatte. Beide fürchteten, sie könnte sich unter der Last der Ereignisse etwas antun.
„Eine absolut richtige Entscheidung“, wie der Arzt den Kripo-Leuten bescheinigte. „Es muss jetzt auch reichen. Ich möchte Sie bitten zu gehen und mit Ihren Fragen bis morgen, eventuell auch später, zu warten“, bestätigte er ihren ohnehin gefassten Entschluss. Unter den gegebenen Umständen sei eine Befragung reines Gift für die junge Frau.
„In Ordnung“, willigte Mertz ein. „Aber den PC von Herrn Böttcher müssen wir auf jeden Fall mitnehmen.“
Die Witwe nickte. Und der Arzt ging den beiden voraus ins Arbeitszimmer, wo sie einen Laptop fanden und vom Netz nahmen. „So, aber jetzt gehen Sie bitte.“
Nichts, was sie lieber taten. Dieser beklemmenden Atmosphäre entkommen zu dürfen, war schon fast eine Gnade. Vor allem für Sarah. Still setzte sie sich in den Wagen. Und Rüdiger, der mit ihr eigentlich kurz das weitere Vorgehen besprechen wollte, traute sich nach einem Blick zu ihr herüber nicht, sie anzusprechen. Er ahnte, wie aufgewühlt sie tief im Inneren war.
Als sie auf ihrer Fahrt von dem netten Haus am Herrenacker hinunter in die Stadt am Tor zum Schlosspark vorbeikamen, verdrückte die Kollegin verschämt ein paar Tränen. „Du musst Dich nicht schämen für Deine Gefühle“, versuchte Mertz zaghaft ein Gespräch. „Du kannst mir glauben, dass mir so etwas genauso zu Herzen geht wie Dir.“
„Du meinst, weil ich weine?“, fragte sie tapfer zurück.
Er nickte. „Genau das meine ich. Und ich finde es groß, dass Du so lange an Dich gehalten hast.“
„Lieb von Dir. Aber es war etwas anderes. Schau mal in den Rückspiegel. Siehst Du das händchenhaltende Pärchen? Bei diesem Anblick habe ich an Tom und mich gedacht und mir überlegt, was wäre, wenn man mir die Nachricht von seinem Tod überbrächte. Ich wüsste nicht, was ich täte. Ich würde mich wahrscheinlich umbringen.“
Rüdiger wartete einen Moment, um richtig auf die überbordenden Gefühle der Kollegin reagieren zu können. Aber außer einem leichten Schnüffeln hörte er nichts mehr. Sachte zupfte er ein Kosmetiktuch aus der Box in der Mittelkonsole und reichte es zu ihr rüber. „Tom ist Dein Freund?“
„Oh ja.“ Tapfer tupfte Sarah sich die Augen trocken. Dann zeigte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht. „Und den lass’ ich auch nicht mehr los.“
„Das ist immer dasselbe Theater hier“, brummte Klaus Klaiser. „Wenn Du in Weidenau zur Polizei willst, musst Du weite Wege gehen.“ Sein Gemütszustand ließ sich am Geräusch des Schaltgetriebes ablesen, als er den Rückwärtsgang reinhaute und versuchte, im total zugeparkten Hof umzudrehen.
Sven Lukas wagte es nicht, das Aufjaulen der Getriebezähne auch nur mit einem Ton zu kommentieren. Die hohen Temperaturen machten heute wirklich allen zu schaffen. Sogar dem sonst so disziplinierten Chef, der sich zur weiteren Stellplatzsuche anderswo anschickte.
„Guck, da vorne will einer raus!“, rief der Kollege, „den Platz schnappst Du Dir doch, oder?“ Klaiser nickte, setzte den Blinker und fuhr in Warteposition.
Doch kaum war der Nissan rückwärts aus der Lücke herausgefahren, schoss von der Einfahrt her ein Golf-Cabriolet heran und belegte das begehrte Fleckchen Parkraum wieder. Grinsend stieg ein braungebrannter, junger Bärtiger aus, stolzierte vor dem wartenden Audi her und zwinkerte Klaus zu.
Der Kripo-Chef kochte. „Eine Unverschämtheit reicht mir für heute, mehr brauche ich nicht“, motzte er und sprang aus dem Wagen, bevor ihn der ‚Freak‘ zurückhalten konnte. „Entschuldigen Sie“, sprach Klaiser den ausgesprochen muskulösen Hipster von hinten an, „haben Sie nicht gesehen, dass ich vor Ihnen da war und dort parken wollte?“
Doch der würdigte ihn nicht eines Blickes, zeigte ihm im Weitergehen einen Stinkefinger über die Schulter und rief in breitem Siegerländer Slang: „Do mosste halt schneller sin, Oppa!“
„Sie glauben doch wohl nicht, dass ich mich von Ihnen so behandeln und beleidigen lasse. Mit drei großen Sätzen schoss der düpierte Kriminalist an dem Golf-Proll vorbei, baute sich auf Abstand vor ihm auf und forderte ihn auf, stehen zu bleiben.
„Wat?“, fragte der Grinsemann erheitert und ging langsam auf Klaus zu, „wat soll isch? Mach Disch ma’ net läscherlisch, Do Dost.“
Sven knirschte mit den Zähnen und ahnte Fürchterliches. So hatte er den Chef noch nie gesehen. Doch der fuhr innerlich offenbar gerade komplett runter und sagte ganz nüchtern: „Das reicht jetzt! Ich hoffe, Sie können lesen.“
„Wat willst Do Kasper dann vo mia?“, fragte der Typ. Provozierend knuffte er Klaiser mit der Faust auf die Brust. Doch der blieb ungerührt stehen und schaute ihm schnurgerade in die Augen. „Ich will Ihnen nur zeigen, wen Sie gerade beleidigt und attackiert haben.“ Damit griff er blitzschnell nach der wieder nach vorn fahrenden Faust, drehte sie nach innen und veranlasste deren Besitzer, vor Schmerz pfeifend eine Rumpfbeuge zu machen. „Was ist jetzt?“, fragte er trocken und hielt dem Gebückten seinen Dienstausweis vor die Nase, „können Sie’s selbst entziffern, oder soll ich’s Ihnen vielleicht doch besser vorlesen?“
Der ‚Freak‘ behauptete hinterher sehr zur Gaudi der Kolleginnen und Kollegen, dass man hätte hören können, wie der Muskelmann geschluckt habe. Dabei sei sein Kehlkopf am Hals hervorgetreten und rauf und runter geschossen, „als wenn er ‘ne Maus verschluckt hätte, die dringend wieder raus wollte.“