HERRENPFÄDEL - Wolfgang Breuer - E-Book

HERRENPFÄDEL E-Book

Wolfgang Breuer

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Beschreibung

Auf einer Wiese am HERRENPFÄDEL, einer schmalen, kurvigen Straße zwischen zwei Baden-Badener Ortsteilen, wird ein junger Mann tot aus seinem umgekippten Pickup geborgen. Verblutet - an einem Schuss in die Brust. Noch kurz zuvor war er durch höchst riskante Fahrweise aufgefallen. Vor allem in Haueneberstein hatte er einen Autofahrer in Angst und Schrecken versetzt. Steckte etwa zu dieser Zeit bereits das Geschoss in seinem Körper? Kriminalhauptkommissar Tom Jensen und sein Team geraten unter Druck. Zumal wenige Stunden später bekannt wird, dass der unbekannte Schütze auf einen weiteren Wagen angelegt und abgedrückt hatte. Ein Amokläufer? Einer, der wahllos auf Menschen in Autos schießt? Erste Spuren finden die Kriminalisten zwar im benachbarten Kuppenheim. Doch die Jagd nach Täter und Motiv führt sie letztlich quer durch den Nordschwarzwald.

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Wolfgang Breuer

HERRENPFÄDEL

Ein Krimi aus Baden

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer sind weitgehend frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Baden eine fiktive Rolle.

Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank.

Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

© 2020 Wolfgang Breuer

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359

Hamburg

ISBN

 

Paperback:

978-3-7497-9898-8

e-Book:

978-3-7497-9899-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Coverfoto: Wolfgang Breuer

Autorenfoto: Sarah Fricke

Mittwoch, 12. September

Pascal Hertweck drückte das Gaspedal durch bis aufs Bodenblech. Bar jeder Vernunft und Vorsicht raste er mit seinem Golf in Hochgeschwindigkeit durch das Herrenpfädel. Denn er wurde gejagt. Gejagt von einem beigen Ford Ranger, dessen Fahrer trotz des irren Tempos so dicht auffuhr, dass es ihm abwechselnd heiß und kalt wurde.

Die enge, kurvige Straße, die Haueneberstein mit der Baden-Badener Weststadt verbindet, vertrug solche Geschwindigkeiten eigentlich gar nicht. Denn man konnte nie sicher sein, dass einem nicht hinter der nächsten Kurve einer jener Menschen entgegenkommt, der die Breite seines Wagens notorisch falsch einschätzt. ‚Wenn Dir da mal ein LKW in der Kurve begegnet, dann ist die Messe gelesen‘, hatte sein Vater stets gewarnt.

Doch diese Gefahr versuchte der junge IT-Spezialist auszublenden. Er wollte nur eins, nämlich diesem Wahnsinnigen entkommen. Zumal er zu wissen glaubte, warum der Mann so aggressiv fuhr. Und das machte ihm Angst. Er war dem Ranger-Fahrer vor gut zwei Wochen nämlich schon einmal begegnet.

Trotz roter Ampel hatte der ihm auf einer Kreuzung in Rastatt die Vorfahrt genommen und Hertweck zu einer beispiellosen Vollbremsung gezwungen. Als Pascal beim nächsten Ampel-Halt zu ihm aufgeschlossen und dem Fahrer einen Vogel gezeigt hatte, reagierte der mit gefletschten Zähnen und der typischen ‚Kopf-ab‘-Geste.

Und jetzt klebte dieser Wichtigtuer mit seinen 180 oder mehr PS starken Pickup hinter ihm und jagte ihn schon seit dem Ortseingang vor sich her. Selbst Abbiegemanöver hatten ihn dabei nicht im Mindesten beeindruckt.

Nach einem Höllenritt durch das Dorf donnerten sie mit Vollgas auf ein kleines Waldstück zu, vorbei an einem uralten Wegkreuz und hinein in ein Stück Hohlweg. Erst ein Buckel, dann eine Links- Rechtskombination. Hier hätte es bei Gegenverkehr unweigerlich geknallt.

„Es reicht!“, brüllte der Gejagte und schaltete runter in den dritten Gang, um nach der nächsten Linkskurve nochmal richtig beschleunigen zu können. Millionen Schweißperlen rannen an seinem Körper hinab, als er leicht am Lenkrad zupfte.

Die Schärfe der Kurve war nicht das Problem. Wohl aber ihre Länge. Und sie fiel etwas nach außen ab.

Geschafft! Auf der nächsten Gerade schaltete Pascal hoch und schaute zum gefühlt hundertsten Mal in den Spiegel. Doch dort war plötzlich niemand mehr. Der Irre war verschwunden. Weg! Einfach weg!

Für einen Moment glaubte der Golf-Fahrer, er hätte sich geirrt. Doch auch der nächste Blick in den Rückspiegel zeigte nichts weiter als eine leere Fahrbahn. Für einen Moment war er mit seinem Golf allein auf weiter Flur. Dann kamen drei Wagen im Gegenverkehr.

„Das gibt´s doch nicht!“, rief er verwundert. „Motor verreckt, oder was?“ Erst jetzt merkte er, dass sein Puls in den Ohren hämmerte und seine Hände vom Umklammern des Lenkrades schmerzten. Langsam nahm er den Fuß vom Gas und blickte erneut in den Spiegel. Doch der Jäger blieb verschwunden!

‚Seltsam‘, dachte er. ‚Wollte mir dieser Narr nur Angst einjagen und hat die Jagd nun abgeblasen? Oder ist dem ernsthaft was passiert?‘

Beides hätte ihm eigentlich egal sein können. Doch die Neugier war stärker. Kurzerhand kehrte er an der Einmündung in die Straße zur Weststadt um, ließ noch zwei Autos in Richtung Haueneberstein vorbei und fuhr dann hinterher.

Als er wenige Hundert Meter hinab ins schmale Tälchen gefahren war, bremsten plötzlich die beiden vorausfahrenden Wagen ab und blieben mit Warnblinker stehen. Hertweck erschrak. Auch er hielt an und sprang, von einer bösen Ahnung getrieben, aus seinem Auto.

Was war dort los? Hatte es etwa seinen Jäger erwischt? Er musste Klarheit haben. Mit wenigen Schritten nach links von der Fahrbahn herunter schaffte er es, hinter die nächste Kurve zu schauen. Dann sah er ihn in der Wiese liegen. Der Ford Ranger lag hinter einer Buschgruppe auf der Beifahrerseite. Dünner Rauch stieg auf.

„So ein elender Mist!“, brüllte Hertweck. „Das hast Du jetzt von Deiner Raserei, Du blöder Hund!“ Sekunden später wäre es ihm lieber gewesen, er hätte den Mund gehalten. Denn der Fahrer des Volvos vor ihm war ebenfalls ausgestiegen und hatte den Gefühlsausbruch mitbekommen. Vorwurfsvoll drehte er sich zu Pascal um und rief: „Ich würde an Ihrer Stelle lieber mal helfen, statt hier rum zu motzen. Los, kommen Sie! Zack, zack!“

Ohne etwas zu antworten rannte Pascal an dem Mann vorbei. Sein Herz wummerte. Wie konnte es nur sein, dass sich der Ford-Fahrer so aus der leichten Linkskurve hatte tragen lassen? Die konnte man doch locker mit 80, 90 fahren. Selbst 100 wären noch drin. Vorsichtig umlief er den umgekippten Wagen auf der Straßenseite. Büsche verdeckten dabei seinen Blick auf das Wrack. Doch plötzlich war da ein riesiges Loch im Blatt- und Astwerk. Wie ein Tunnel im dunklen Grün. Den hatte das fast zwei Tonnen schwere Fahrzeug förmlich hinein gefräst. Die Fahrspuren, die am Ausgang der Kurve direkt ins Gehölz hineinführten, waren untrüglicher Beweis dafür.

Am hinteren Tunnelausgang lag der Wagen. Sein Motor lief noch leise brummelnd vor sich hin. Plötzlich ein Schrei. „Oh Gott, oh Gott! Der Mann ist ja tot!“ Der Volvo-Fahrer, der auf der Wiesenseite um die Buschgruppe und das Wrack herumgelaufen war, hatte die grausige Entdeckung gemacht und stierte entsetzt auf den Fahrer.

„Das kann doch nicht sein!“, brüllte Pascal, der sich durch das Loch im Gebüsch gekämpft hatte. Er lief auf die andere Seite des Wracks, um durch die Frontscheibe in den Wagen hinein schauen zu können und ging langsam neben dem Volvo-Fahrer in die Hocke.

Dann sah auch er den Mann, der vom frühen Abendlicht fast gnädig beleuchtet wurde. Er hing im Gurt des Fahrersitzes, den Kopf auf der rechten Schulter liegend, die Augen halb geschlossen.

Aus seinem Mund und aus einer Verletzung am Oberkörper waren offenbar große Mengen Blut geflossen. Das weiße Poloshirt des Fahrers triefte nur so von Rot. Und vom Mund herunter hing ein roter Faden, der eine Blutlache auf der Beifahrerscheibe speiste.

„Was machen wir denn, wenn er doch noch lebt? Wir müssen ihn irgendwie da rausholen!“, rief er dem Volvo-Fahrer zu.

„Okay. Aber vorher müssen wir erst mal den Motor auskriegen“, antwortete der. „Mir ist das sonst zu gefährlich, an dem Auto rum zu machen.“

Von hinten kam ein Mann mit einer Art Verbandkasten. „Warten Sie“, rief er beim Näherkommen, „ich hab´ hier einen Nothammer drin. Damit können wir die Scheibe einschlagen.“

Doch der Versuch misslang. Der Hammer machte zwar jede Menge kleiner Spinnennetze in der Scheibe. Doch das Verbundglas ließ sich partout nicht durchbrechen. „Mist, verdammter“, brüllte der Freiwillige. „Wir müssen irgendwie anders da reinkommen. Am besten durch die Heckscheibe. Das ist Securit und geht kaputt.“

„Prima Idee. Und dann da hinten rein kriechen, unter der Leiche durch robben und den Schlüssel umdrehen? Nee danke.“ Der Volvo-Mann schüttelte schaudernd den Kopf. „Bitte, ich lasse Ihnen da gerne den Vortritt.“

Schlagartig machte sich der Mageninhalt des jungen Hauenebersteiners bemerkbar. Doch er bekämpfte die aufkommende Übelkeit mannhaft. Im Gegensatz zu seinem Gegenüber, der sich kurz darauf seitlich in die Büsche schlug.

Am Straßenrad hatten sich einige Gaffer eingefunden. Fahrzeuginsassen, die nicht weitergekommen waren. Oder nicht weiter wollten. Pascal schaute zu den Neugierigen herüber und rief: „Ey, hat schon jemand Rettungsdienst und Polizei angerufen?“ Keine Reaktion. Sie stierten nur alle auf den Unfallort, machten Fotos und klopften Sprüche.

In Hertweck kam unbändige Wut auf. Er wiederholte seine Frage. Nun noch etwas lauter, während er suchend seine Hosentaschen abklopfte. Doch da war nichts. Sein Mobiltelefon musste im Golf liegen.

„Kann bitte mal jemand die Polizei und einen Notarzt alarmieren!“, brüllte er in die Menschenmenge, die sich Schritt für Schritt näher und näher an den Pickup heran schob. Doch es tat sich nichts. Obwohl mehr als die Hälfte der Leute das Smartphone gezückt hatte und eifrig drauf los fotografierte oder filmte.

Da wurde es ihm zu bunt. Er riss dem nächstbesten Gaffer, einem klapperdürren spätpubertierenden Burschen, das Smartphone einfach aus der Hand, drehte es herum und brüllte dem zeternden Besitzer ins Gesicht: „Pass auf, Du Kasper. Entweder Du rufst jetzt sofort die 112 an, das ist der Rettungsdienst. Oder ich verklage Dich wegen unterlassener Hilfeleistung. Geht das in Deine dämliche Birne?“

„Wieso denn? Der ist doch sowieso tot“, motzte der Stenz und grabschte ständig nach seinem Handy. „Ich kann doch filmen, wen ich will. Anrufen kannst Du doch selbst, Du Arsch.“

„Mach´ ich auch“, konterte Pascal und ging ein paar Meter zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis er von Videoaufnahme auf Telefon umgeschaltet hatte. Weil ihm der Besitzer ständig und von allen Seiten zusetzte. Sekunden später hatte Hertweck den Rettungsdienst erreicht und ihm Art und Ort des Unfalls gemeldet.

Kurz darauf war über die 110 auch der Polizeinotruf in der Leitung. Doch den hatte kurz zuvor offensichtlich doch schon ein anderer informiert. Denn der Polizist vom Notruf fragte im breitesten Beamtendeutsch: „Ist es richtig, dass der Verunfallte hohen Blutverlust hat?“

„Das ist richtig.“ Hertweck schluckte. „Sehr hohen Blutverlust. Aber wir kommen nicht an den Mann heran. Der Wagen liegt auf der Beifahrerseite. Und wir kriegen die Frontscheibe nicht raus. Außerdem läuft der Motor noch.“

Der gab allerdings kurz darauf von allein den Geist auf. Dafür roch es immer intensiver nach Diesel.

Nur wenige Minuten später tauchten Retter und Polizeibeamte auf und bahnten sich einen Weg durch die immer dichter werdenden Zuschauerreihen. Und dann war auch die Feuerwehr da. Die Jungs hatten größte Schwierigkeiten, mit ihrem LKW bis zum Unfallort vorzudringen. Begleitet von wütenden Sprüchen der Umherstehenden.

Aber sie waren es ja gewohnt, bei ihren Einsätzen ständig umlagert, behindert und auch noch beleidigt zu werden. Zum Glück hatten ihnen zwei Polizisten die übelsten Drängler vom Leibe gehalten und dafür gesorgt, dass der Mob keinen Blick auf den blutenden Mann im Ford Ranger bekam.

Im Handumdrehen hatten sie die Frontscheibe des umgestürzten Wagens entfernt. Und der Notarzt konnte kriechend zum Fahrer vordringen. Doch für den Mann kam längst jede Hilfe zu spät. „Tut mir leid“, verkündete der Mediziner in Richtung der Uniformierten, als er sich wieder aus dem Wrack herausgeschält und aufgerichtet hatte. „Tut mir leid. Da ist nichts mehr zu machen. Der Mann ist tot.“

Betroffenheit in den Gesichtern der Angesprochenen. Wieder spürte Hertweck seinen rebellierenden Magen. Obwohl er ohnehin mit dieser Nachricht gerechnet hatte. Doch der Unterschied zwischen Ahnung und Gewissheit war für ihn in diesem Moment brutal.

„Was ist denn jetzt mit meinem Handy?“, nölte der Rothaarige. „Das ist Diebstahl. Das weißt Du. Ich zeig´ Dich gleich hier bei den Bullen an“, drohte der Junge und baute sich in der Pose eines ziemlich unterernährten Preisboxers vor Pascal Hertweck auf.

Sein Gesicht war vor Aufregung gerötet. Und seine geschätzt 50 Akne-Pickel trugen allesamt ekelhaft weiße Spitzen.

„Mach´ mal. Da komme ich mit. Dann können wir den Polizisten gleich mal zeigen, wie Du Dich geweigert hast, den Rettungsdienst zu rufen.“

„Hä, hä“, lachte der Typ schräg. „Zeigen? Wie willste´n das machen?“

„Hab´ ich in Bild und Ton. Mit Deinem eigenen Smartphone aufgenommen.“

„Mit mei…?“ Die Gesichtsfarbe des Klapperdürren hatte mittlerweile bedrohliche Nuancen angenommen. „Mit meinem Smartphone!?“, brüllte er.“

„Genau. Erinnerst Du Dich? Du warst gerade beim Filmen. Als ich Dir das Ding abgenommen hab´, lief die Aufnahme noch. Und ich hab´ sie auch nicht unterbrochen. Weil Du mich so blöde angemacht hast. Ist´n toller Beweis für unterlassene Hilfeleistung und idiotische Sensationsgier.“ Damit überreichte er das iPhone seinem Besitzer.

„Das kannste aber knicken“, grinste der Pickelige triumphierend und tippte wie wild auf dem Display des Teils herum. „Ich lösch´ das nämlich grade. Und dann kannste gucken, wo Du mit Deinem Beweis bleibst.“

Pascal schaute dem Versuch gelassen zu und versuchte gar nicht erst einzugreifen. „Vergiss es. Du kannst löschen so lange wie Du lustig bist. Ich hab´ das Video nämlich längst an mein eigenes Smartphone geschickt.“ Und damit ließ er den richtig doof dreinblickenden Kerl einfach stehen.

Er hatte nämlich die Schnauze gestrichen voll und wollte sich einen Moment hinsetzen. Am besten in seinen Wagen. Zumal jetzt mehrere Feuerwehrleute und Polizisten versuchten, den beigen Ford Ranger wieder auf die Räder zu stellen. Er mochte nicht auch noch Zaungast sein, wenn der Tote aus dem Wrack herausgeholt wird.

Doch weit kam Hertweck nicht. Denn nach wenigen Metern sprach ihn ein Polizist an. „Sie haben den Unfall gesehen?“

Ein beklemmendes Gefühl überkam ihn. Gesehen hatte er den Unfall ja nicht. Aber irgendwie fühlte er sich plötzlich mit verantwortlich, wusste aber nicht warum. Schließlich war er ja der Gejagte. „Nein. Wie kommen Sie darauf?“

„Sie wurden als Zeuge benannt. Von dem Herrn da vorne.“ Der Polizist zeigte zum Volvo-Fahrer herüber.

„Ich hab´ genauso viel und genauso wenig gesehen wie er“, gab er zurück. „Der Mann fuhr doch im Wagen vor mir, als wir am Unfallort ankamen. Aber da lag der Pickup schon auf der Seite.“ „Ja, gut. Das werden wir dann später noch klären. Ich nehme jetzt erstmal Ihre Personalien auf. Und Sie bleiben dann bitte hier an der Unfallstelle.“

„Klären? Da gibt´s nix zu klären. Ich hab´ den Unfall nicht gesehen. Allerdings war der Ford zwei, drei Minuten zuvor noch hinter mir. Tut mir ja leid, das sagen zu müssen. Aber der Typ ist gefahren wie ein Irrer.“

„Hinter Ihnen? Wie das denn? Sie sagten doch gerade, dass Sie nach dem Mann mit dem Volvo zum Unfallort gekommen sind.“ „Stimmt ja auch“, versuchte Pascal Hertweck die Sache zu erklären. „Aber ich bin vorher von Haueneberstein her gekommen. Und da hat er an meiner Stoßstange geklebt.“

„Wie – an Ihrer Stoßstange geklebt?“

„Naja, er fuhr, wie gesagt, wie ein Irrer. Ich hatte richtig Angst, dass er mich mit seinem Gebirge von Auto rammt.“

„Aha. Und deswegen haben Sie ihn ausgebremst. Wahrscheinlich ist der Wagen deshalb von der Straße abgekommen und umgestürzt.“

„Schwachsinn!“, ärgerte sich Pascal. „Der hat mich gejagt. Und plötzlich war er weg. Als ich hinten rauf Richtung Balger Straße gefahren bin, war er plötzlich aus meinem Spiegel verschwunden.“

„Abenteuerliche Geschichte.“ Der Polizist schüttelte den Kopf. „Und dann sind Sie zurückgekommen, um zu sehen, ob ihm was passiert ist?“

„Genau.“

„Hören Sie doch auf! Die Geschichte glauben Sie doch selbst nicht.“

„Wissen Sie was?“, wurde Hertweck laut. „Glauben Sie doch was Sie wollen! Ich habe Ihnen gesagt, was ich weiß. Und zwar Dinge, die ich gar nicht erzählen müsste. Nur, um Ihnen zu helfen. Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als mich zum Schuldigen zu machen?

Wo sind wir denn hier? Wenn ich überhaupt noch mit jemandem von Ihrer Zunft rede, dann mit einem Menschen, der mir zuhört und nicht irgendwelche bekloppten voreiligen Schlüsse zieht!“

Der Uniformierte schnappte nach Luft. „Bekloppte Schlüsse? Wie reden Sie eigentlich mit mir. Sie bleiben hier! Und Sie rühren sich keinen Millimeter von der Unfallstelle weg!“

„Ich rede mit Ihnen so wie Sie mit mir. Und machen Sie sich keine Sorgen. Ich hau´ nicht ab. Dafür ist mir die Sache viel zu ernst. Ich warte nur auf jemanden, der mich als Zeugen tatsächlich ernst nimmt.“

‚Was für ein dämlicher Vogel’, dachte Hertweck. Er hätte diesem ‚Superbullen‘ am liebsten eine rein gehauen. Aber er beherrschte sich. ‚Wenn ich dem jetzt auch noch von der Geschichte in Rastatt erzählt hätte, läge ich schon längst in Ketten‘, dachte er.

Hinter der Buschgruppe hatten sie den Wagen endlich aufgerichtet und den toten Fahrer herausgeholt. Er lag jetzt auf der Wiese. Abgeschirmt durch weiße Tücher, die mehrere Feuerwehrleute gegen die Blicke der Sensationsgeilen aufgespannt hatten.

Doktor Hippler, der Notarzt, hatte begonnen, den jungen Mann gründlich zu untersuchen. Schließlich war er es, der den Totenschein ausstellen musste.

Irritiert hatte Hippler immer wieder auf die von Blut durchtränkte Stelle des Poloshirts geschaut. Beginnend links, etwas über Ellbogenhöhe. „Er kann sich bei dem halben Salto auf die rechte Seite doch unmöglich links verletzt haben. Und wenn doch, woran denn?“

Doch dann sah er ein Loch im Poloshirt. Genau dort, wo der Blutfluss den Spuren nach begonnen haben musste. Schnell hatte er das Shirt hochgezogen und entsetzt auf den Oberkörper darunter geschaut. Hippler schluckte. „Das ist ein Einschussloch“, murmelte er vor sich hin. „Kein Zweifel. Das gibt´s doch gar nicht“, fröstelte es ihn richtiggehend. Trotz der angenehmen Abendtemperaturen. Jetzt, kurz nach halb sieben, herrschten noch immer fast 25 Grad.

„Wo gibt´s denn sowas? Verfluchte Sauerei!“, brüllte er, während er sich zu stattlicher Größe aufrichtete. „Auf den Mann wurde geschossen. Ich schätze mit einem Gewehr!“ Der Mediziner schüttelte ungläubig den Kopf. „Wer um alles in der Welt schießt denn im Herrenpfädel auf Autofahrer? Sind denn jetzt alle wahnsinnig geworden hier?“

Den Satz hatten selbst die Gaffer in der hintersten Reihe gehört. Und plötzlich lichteten sich die Reihen. „Hier schießt jemand? Nee, nee, das muss ich mir nicht geben“, kommentierte ein besonders wichtig Dreinschauender seinen Abgang und verschwand ganz schnell zu seinem Wagen, der vorhin noch der Feuerwehr im Weg gestanden hatte.

Andere schienen ähnlich angefressen zu. Schimpfend und diskutierend verließen sie den Ort des Geschehens. Gab ja eh nichts mehr zu sehen.

Kurz darauf aber jagten die abstrusesten Stories durch die angeblich so sozialen Netzwerke und machten den Rest der Menschheit rund um Baden-Baden schalou.

Kriminalhauptkommissar Tom Jensen war auf dem Rückweg von einem vereitelten Raub in den Kurhauskolonaden, als er per Funk von dem Fall erfuhr. Es war zwar ein Vitrinenglas zu Bruch gegangen. Aber die Angestellte des Juweliers hatte nicht einen einzigen Ring und nicht eine Kette herausgerückt, sondern einfach laut geschrien.

Der Gangster, wohl ein blutiger Amateur, muss einen furchtbaren Schrecken bekommen haben und war unverrichteter Dinge stiften gegangen. Die Fahndung nach dem Mann lief bereits.

„Toter im Herrenpfädel? Fahre ich hin“, meldete Jensen zurück. „Ist der Kollege Eirich noch im Haus? Dann seid bitte so lieb und informiert ihn. Ich brauche den nämlich dort. Danke.“

Ohne eine Antwort abzuwarten beendete Jensen das Gespräch, setzte die Kojak-Leuchte aufs Dach seiner neuen E-Klasse und gab ihr die Sporen.

Weil die Absperrpoller in der weltbekannten Kaiserallee partout nicht herunterfahren wollten, musste er einen Umweg durch die total verstopfte Innenstadt nehmen. Durch den Tunnel flutschte es dann schließlich. Denn auf der B500 wollten alle nur rein, aber kaum jemand raus aus der Stadt.

Mit einem Affenzahn raste der Kripo-Mann über den Zubringer und zog mit eitler Begeisterung an den Autos vorbei, die er zuvor mit Blaulicht und Martinshorn auf die rechte Spur geschickt hatte. Selten genug bekam er Gelegenheit, seinen neuen Wagen so richtig zur Brust zu nehmen. Da kostete er solche Einsatzfahrten regelrecht aus.

Wenige Minuten später war Jensen an Ort und Stelle. Und er war entsetzt, als ihm der Kollege Morawetz von der Schutzpolizei in kurzen Zügen den augenblicklichen Wissensstand erläuterte. „Schau hier“, zeigte der Polizeikommissar auf eine kreisrunde Stelle in der Fahrertür, „hier ist ein Einschussloch. Und hier“, er ging herüber zu der abgedeckten Leiche und hob das Tuch hoch, „hier ist das Einschussloch im Fahrer. Volltreffer während der Fahrt.“

„Das ist ja entsetzlich.“ Jensen war ehrlich bestürzt. „Wer macht denn sowas?“ Kopfschüttelnd sah er sich wieder und wieder das Loch im Pickup an und dann nochmal das in der Leiche. Dann stand plötzlich der Notarzt neben ihm. „Sagen Sie, Herr Doktor, war es ausschließlich dieser Schuss, der den Mann getötet hat?“

„Ich denke ja. Ich kann an ihm keine weiteren Verletzungen finden. Nach allem, was ich bisher feststellen konnte, hat der Mann einen Lungensteckschuss abbekommen. Ich schätze mal“, kniff er ein Auge zu, „mit Kaliber 7/62 oder einer 7/65. Und an dem ist er verblutet. Fast wie im Krieg. So einfach ist das. Und so brutal.“ „Herrgottnochmal“, flüsterte es plötzlich erschreckt im Rücken des Ermittlers. Es war Kommissar Sven Eirich, sein Partner bei der Kripo. Jensen hatte ihn nicht kommen hören, stellte aber mit Genugtuung fest, dass auf den Mann nach wie vor hundertprozentig Verlass war.

„Na, alles gut? Bist Du sehr müde? Oder geht´s?“

Die Fragen hatten durchaus ihren Grund. Der Kollege hatte sich schon die komplette vergangene Nacht um die Ohren gehauen. Wegen eines Tankstellenüberfalls im Murgtal. Fall aufgenommen, Spuren gesichert, mögliche Zeugen befragt. Bis zum frühen Morgen. Und dann hat er schließlich auch noch den Täter selbst zur Strecke gebracht.

Ein Zufallstreffer zwar. Aber immerhin! Weil er dessen Visage und Montur von der Aufzeichnung der Kamera im Kassenraum der Tanke kannte, staunte Eirich nicht schlecht, als eben dieser Typ in der Bäckerei Brötchen holen wollte, in der der Kommissar am Bistrotisch stand. Vor Beginn der Tagschicht hatte der Cop noch einen Hallo-Wach-Kaffee trinken wollen.

Die Handschellen klickten schon, bevor der Gangster sein Wechselgeld in die Hand nehmen konnte.

Er leugnete die Tat zwar lauthals auf dem Kommissariat. Aber dann passierte ihm ein peinliches Missgeschick. Als er nämlich seine Taschen ausräumen sollte, beförderte der Missetäter einen Zettel mit dem Logo der überfallenen Tankstelle zutage. Auf dem hatte deren Kassierer die Tages- und Nachteinnahmen fein säuberlich notiert und sogar noch einen Stempel und eine Unterschrift daruntergesetzt.

Als er seinen Bock erkannte, drehte der Festgenommene ab, zerknäulte das Papier und wollte es runterschlucken. Aber Eirich packte ihn kurzerhand mit einer Art Karnickelgriff im Genick. Der schmerzte derart heftig, dass der Mann das Papier freiwillig wieder ausspuckte.

Sogar die geklaute Kohle lag mittlerweile im Tresor der Asservatenkammer. Der etwas unbeholfene Gangster hatte sie in ein Handtuch gewickelt und zusammen mit Werkzeug unter dem Sitz seines Motorrollers verstaut. Eine erfolgreiche One-Man-Show also, nach der Eirich allerdings noch Stunden fürs Berichteschreiben brauchte.

Und jetzt stand der Kommissar schon wieder da, um in einen neuen Fall mit einzusteigen.

„Nee, nee, mach´ Dir keine Gedanken“, antwortete er Jensen, „ich bin fit wie ein Turnschuh. Aber das hier, das macht mich traurig. Und böse!“ Breitbeinig stand er auf der Wiese am Herrenpfädel und schüttelte fortwährend den Kopf. „Einfach erschossen. Wahrscheinlich im Vorbeifahren, wenn ich das richtig sehe.“

„Ja, unglaublich!“ Auch Tom Jensen zeigte sich nach wie vor tief betroffen von der Brutalität dieser Tat. „Traurig und böse. Das trifft´s. Bin ich auch! Es gibt Fälle, die sind nicht zu begreifen.“

„Und vermutlich noch schwerer aufzuklären“, ergänzte Sven und kräuselte die Stirn. „Allein die Stelle zu finden, wo der Schütze gestanden oder gelegen hat, wird wie `ne Suche nach der berühmten Stecknadel im Heuhaufen.

Inzwischen hatte einer der Beamten die Papiere des Getöteten an sich genommen und die Fotos von Führerschein und Personalausweis mit dessen Gesicht verglichen. Das Ergebnis war eindeutig. „Der Mann heißt Torsten Klemm, ist am 23. Februar 1995 geboren und stammt aus Kuppenheim-Oberndorf. Das ist, beziehungsweise war auch sein Wohnsitz. Das Fahrzeug ist auf seinen Namen angemeldet.“

„Ganze 23 Jahre alt geworden, der arme Kerl. Nicht zu fassen!“ Eirich schabte an seinem Dreitagebart und schaute herüber zu dem Wrack, an dem sich mehrere Leute zu schaffen machten. „Es ist einfach schwer zu begreifen, dass ein Leben so enden muss.“ An der Unfallstelle herrschte plötzlich wieder so etwas wie Hektik. Drei Männer von der Spurensicherung hatten ihre Arbeit aufgenommen und drängten die nur noch wenigen Neugierigen immer weiter von dem demolierten Wagen und von den Spuren ab, die der Pkw bei seinem Weg durch das Gebüsch hinterlassen hatte.

Der übereifrige Verkehrspolizist packte Pascal Hertweck derweil fest am Arm, um ihn den Kripo-Beamten zu übergeben.

„Lassen Sie mich los, Mann!“, wurde der vermeintliche Unfallzeuge giftig und wand sich aus der Umklammerung des Hauptmeisters, auf dessen Namensschild Leif Becker zu lesen war. „Ich kann sehr gut allein dort hingehen und verzichte darauf, von Ihnen vorgeführt zu werden. Ich wollte nur warten, bis die Herren sich ein Bild gemacht haben.“

Mit großen Schritten marschierte er vor dem protestierenden Uniformierten her und ging Jensen und Eirich entgegen.

„Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier wollen?“, fragte Tom Jensen den Entgegenkommenden.

„Mein Name ist…“. Weiter kam er nicht. Denn von hinten rief Becker, „er hat was mit dem Unfall zu tun. Er hat den Fahrer wahrscheinlich ausgebremst und hier her abgedrängt.“

„So ein Schwachsinn!“, rief Hertweck und drehte sich zu dem Polizisten um. Der hatte ein aufgeregt rotes Gesicht und grinste voller Begeisterung, weil er nun endlich seinen Vorwurf an höherer Stelle anbringen konnte.

„Moment, Moment“, rief Jensen. „Machen Sie mal halblang, meine Herren. Sagen Sie mir bitte erstmal Ihren Namen und was Sie mit der Sache hier zu tun haben.“

„Er heißt Pascal Hertweck und…“

„Herr Becker, bitte!“, bremste Jensen lautstark den Kollegen aus, „ich habe nicht Sie, sondern den jungen Mann hier gefragt. Es ist ja nett, dass Sie mit aufklären wollen. Aber ich denke, Herr Hertweck kann für sich selbst antworten. Ist das verstanden worden? Ja?“

Der Angeschnauzte zog zur Bestätigung den Kopf ein und hielt sich in sicherer Entfernung, als die beiden Kripobeamten mit dem Golf-Fahrer etwas zur Seite gegangen waren.

„Also, Herr Hertweck, erzählen Sie“, forderte Jensen den mittlerweile etwas erleichterten Hauenebersteiner auf. Der Anschiss gegen den ‚dämlichen Bullen‘, wie er Becker in Gedanken nannte, hatte Pascal richtig gutgetan. Und so fiel es ihm auch gar nicht schwer, seine ganze Geschichte flüssig herunter zu spulen.

Natürlich stellten sowohl Tom Jensen als auch Sven Eirich mehrere Verständnisfragen. Vor allem wollten sie wissen, wie der IT-Mann darauf gekommen war, dass der Ford-Fahrer ihn wohl aus Rache oder aus welchen Gründen auch immer jagen würde. Aber Hertweck hatte auf alles eine plausible Antwort. Auch auf die letzte Frage.

„Ich weiß nicht, ob ich Ihnen das erklären kann.“

„Versuchen Sie´s doch einfach.“

„Okay. Eigentlich ist das eine reine Kinderei“, schämte sich Pascal schon vorsorglich für das, was er zu berichten hatte. „Irgendwie existiert da seit Jahrzehnten so `ne Art Feindschaft zwischen Golf GT-Fahrern und denen mit einem Ford. Früher war das wohl so, dass die ‚Golfer‘ einen Ford immer als ‚Opa-Kutsche‘ belachten. Was die Betroffenen sehr in ihrem Stolz verletzte. Da gab´s halt auch noch keine coolen Pickups und so.“

„Wie“, fragte Eirich dazwischen, „Ihr kriegt Euch in die Haare, weil der Eine das Auto des Anderen beleidigt?“

„Ich nicht. Aber andere schon. Deswegen hab´ ich ja auch Angst bekommen, als der Mann hier…“, Hertweck senkte traurig die Stimme und zeigte auf das Fahrzeugwrack, „…als er mit seinem riesigen Bock hinter mir auftauchte. Ich hatte dem ja einen Vogel gezeigt und dachte, der wollte Krieg.“

‚Oh Gott‘, dachte sich der Hauptkommissar, ‚die Typen haben wirklich alle einen an der Waffel.‘

„Aber Sie können mir das glauben“, setzte Pascal nochmal an, „ich habe den Mann wirklich nicht ausgebremst. Der war einfach auf einmal weg.“

„Ja, ja, jetzt machen Sie sich deshalb mal keine Gedanken. Wir vermuten nämlich, dass der Mann in dem Moment, als er in der Kurve geradeaus gefahren ist, schon nicht mehr richtig bei Bewusstsein war und dass er kurz darauf starb.“

„Ja, aber warum war er denn bewusstlos. Und warum ist er an dem bisschen Unfall denn gestorben?“

„Wie denn nun?“ Sven Eirich war verwundert, „Wissen Sie das etwa noch nicht?“

„Was sollte ich denn wissen?“

„Na, dass der Mann höchstwahrscheinlich an einem Geschoss in seinem Körper gestorben ist.“

Hertweck hatte den Eindruck, dass ihm der Boden unter den Füßen schwindet. Ein Schwindel erfasste ihn. Heftig schluckend drehte er sich zur Seite und konnte das Schlimmste gerade noch verhindern. Von dem gefundenen Einschuss hatte er tatsächlich nichts mitbekommen. Denn nach dem Wortgefecht mit dem ‚doofen Bullen‘ hatte er sich in seinen Wagen gesetzt und zunächst mal mit Zuhause telefoniert.

„An einem Geschoss?“, fragte er schließlich. „Wie denn das?“

„Das wissen wir auch nicht. Fakt ist, dass der Mann irgendwo unterwegs eine Kugel abbekommen hat, die vorher die Fahrertür seines Wagens durchschlug.“

„Oh Gott, das ist ja… .“ Wieder musste er schlucken. „Das ist ja…, tut mir leid, da fehlen mir die Worte“, kapitulierte der Golf-Fahrer schließlich kopfschüttelnd.

Tom Jensen schaute ihn prüfend an. „Wo genau ist Ihnen der Pickup eigentlich aufgefallen? Wann war er, wie Sie sagten, plötzlich hinter Ihnen?“

Pascal überlegte einen Moment, um bloß nichts Falsches zu sagen. „Also gesehen hab´ ich ihn, bevor ich nach Haueneberstein reinkam. Da tauchte er plötzlich hinter mir auf. Kurz vor dem Kreisverkehr. Und von da an blieb ganz dicht hinter mir.“

„Fiel Ihnen dabei etwas ungewöhnliches auf?“

„Klar. Er fuhr so dicht auf, dass ich es mit der Angst bekam.“

„Haben Sie den Fahrer denn im Spiegel beobachtet?“

Wieder musste Hertweck nachdenken und schabte mit einer Hand am Hinterkopf. „Nee, richtiggehend beobachtet hab´ ich ihn nicht“, sagte er nachdenklich. „Ich hab´ nur kurz in den Spiegel geschaut, um sein Gesicht zu identifizieren. Denn den Wagen hatte ich ja erkannt. Aber beobachtet… ? Nee. Dafür hatte ich viel zu viel Angst, dass er mir hinten reinfährt.“

„Konnten Sie ihm denn nicht irgendwie ausweichen?“

„Ha, das wollte ich ja. Deswegen bin ich ja am Rathaus links ab und dann gleich rechts rein ins Herrenpfädel. Aber der ist stur hinten drangeblieben und hat auch noch ständig mit der Lichthupe gespielt.“

Hauptkommissar Jensen schaute in den blitzblauen Himmel. Noch erhellte die Sonne das Tal. Aber die Schatten der Bäume wurden länger.

„Das ergibt doch alles keinen Sinn“, murmelte er vor sich hin.

Es entstand eine Pause, in der sich die Kriminalpolizisten mal schulterzuckend anschauten, mal rüber blickten zu der Stelle, wo der bedauernswerte Ranger-Fahrer gerade in einen großen weißen Plastiksack und dann in einen Blechsarg gelegt wurde.

„Sagen Sie“, setzte schließlich Sven Eirich das Gespräch fort, „haben Sie eventuell unterwegs irgendeinen Schuss gehört oder jemanden mit einer Waffe gesehen, der in Richtung Straße zielte?“ „Nee, ganz bestimmt nicht.“ Pascal musste an sich halten, um nicht belustigt zu wirken. ‚So ein Blödsinn‘, dachte er, ‚hätte ich denen doch längst gesagt, wenn es so gewesen wäre. Aber sie mussten diese Frage wohl stellen.‘

„Allerdings“, fiel es ihm siedend heiß ein, „an der Förcher Kreuzung hab´ ich wieder diesen grünen Offroader gesehen. Die Kreuzung liegt zwischen Haueneberstein und Kuppenheim, nicht weit weg vom Schloss Favorite.“

„Danke, weiß ich“, lächelte Tom Jensen. „Und das Schloss liegt bei Förch. Einen grünen Offroader? Was war das für einer?“

„Die Marke kann ich nicht sagen. Aber der Karren steht häufig dort. In so einem Seitenweg rechts. Neben der Straße, die rauf nach Ebersteinburg führt. Ich glaub´, der gehört `nem Jäger oder `nem Förster. Da springt immer mal wieder einer mit `ner Flinte rum.“

„Stimmt“, bestätigte Eirich, „den habe ich auch schon ein paarmal gesehen. Wenn´s denn derselbe ist.“

„Naja, es dürfte ja kein großes Problem sein rauszukriegen, wem der Wagen gehört und warum der dort öfter steht.“ Jensen drehte sich herum und wollte Leif Becker etwas zurufen. Musste er aber nicht. Denn der stand direkt hinter ihm. Das ‚Verhör seines Verdächtigen‘ durfte er schließlich unter keinen Umständen verpassen.

„Oh prima“, brachte der Hauptkommissar zähneknirschend hervor. Er konnte es nicht ertragen, wenn ihm jemand quasi im Genick saß, um ja nichts zu verpassen. „Da muss ich Sie ja nicht groß einweihen in die Bitte, die ich an Sie habe, Herr Becker.“

„Und die wäre?“, fragte der mit erwartungsvollem Blick.

„Fahren Sie doch bitte schnell mal raus zur Förcher Kreuzung.“ Er fasste den Hauptmeister leicht bei der Schulter und führte ihn ein wenig weg von Sven Eirich und Pascal Hertweck. „Und dann schauen Sie mal, ob der grüne Offroader dort noch steht.“

„Aha“, antwortete der Angesprochene. „Und wenn?“

„Und wenn was?“ Jensen war leicht angesäuert.

„Wenn der Offroader noch da steht?“

„Dann ermitteln Sie doch einfach, auf wen der Wagen zugelassen ist.“

„Und wenn er nicht mehr da steht?“

‚Wie kann man nur so dämliche Fragen stellen?’, dachte sich Jensen. ‚Der Mann hat doch mitgekriegt, worum es hier geht.‘

„Dann kommen Sie halt wieder hierher zurück, Mann. Oder wollen Sie dort draußen eine Straßenbefragung unter den Leuten machen, ob jemand den Wagenbesitzer kennt?“

„Ja, aber da sind doch keine Leute, die man befragen könnte.“

„Oh Herr, schmeiß Hirn vom Himmel!“, riss dem Hauptkommissar der Geduldsfaden. Er schaute sich um und machte unter den Menschen am Autowrack Kommissar Morawetz aus, auf den er nun zulief.

„Sag mal, habt Ihr jetzt einen Moment Zeit?“, fragte er den uniformierten Kollegen. Als der bejahte, erklärte ihm Tom Jensen kurz sein Anliegen, das der auch sofort verstand und einen weiteren Beamten zu sich rief. „Ich sag Dir Bescheid, sobald ich was weiß“, rief Morawetz noch, bevor er gemeinsam mit dem Kollegen einen der Streifenwagen bestieg und davonfuhr.

Becker verstand die Welt nicht mehr. „Ich dachte, ich sollte das klären. Das mit dem Offroader“, rief er zu Jensen rüber.

„Vergessen Sie´s Herr Becker. Erklären Sie mir lieber mal, warum Sie in der ganzen Zeit, in der Sie hier waren, nicht mitbekommen haben, dass der junge Mann durch einen Schuss getötet wurde.“

„Wieso? Hab´ ich doch!“, setzte der sich zur Wehr.

„So, so. Und warum schleppen Sie uns dann den Golf-Fahrer als Unfallverursacher an?“

„Weil der für mich verdächtig war. Der hat mir erzählt, ein paar Minuten vor dem Unfall sei der Ford noch hinter ihm hergefahren. ‚Gerast‘ sei der, hat er gesagt. Da kann er den doch ausgebremst und ins Gebüsch gejagt haben.“

„Klar, kann er das. Aber warum, meinen Sie, taucht er nach dem Unfall, den er verursacht haben soll, hier wieder auf und erzählt Ihnen auch noch von der Verfolgungsfahrt, die niemand sonst beobachtet hat. Etwa, um sich selbst verdächtig zu machen, oder was?“

„Was weiß ich?“, zuckte der Hauptmeister mit den Achseln. „Eigene Blödheit… ?“

‚Oh mein Gott‘, dachte Jensen konsterniert, ‚das sagt genau der Richtige.‘ „Ist okay, Herr Kollege, vielen Dank.“ Sprach´s und ließ ihn stehen, um zu Pascal Hertweck und Sven Eirich zurück zu kehren.

Als sie sich der Kreuzung näherten, stieg bei den beiden Kommissaren Morawetz und Kleinmann der Puls. Dort stand nicht nur der grüne Offroader, dort war auch gerade ein Mann dabei, seinen Hund in den Wagen springen zu lassen. Alles sah nach Abfahrt aus.

„Mach schnell, den kriegen wir noch“, forderte Morawetz den Kollegen auf, zügig abzubiegen, um dann sofort wieder rechts in den Wirtschaftsweg einzufahren. So war die Ausfahrt für den Mann blockiert. Er wäre nur rückwärts herausgekommen. Jost Kleinmann stoppte den Mercedes unmittelbar vor dem Geländewagen.

Der Mann in Jagdbekleidung hatte gerade die Fahrertür geöffnet, um einzusteigen. Jetzt aber hielt er inne und schaute verblüfft auf die beiden Beamten, die sich aus dem silber-blauen Streifenwagen herausschälten und auf ihn zukamen.

„Guten Tag, mein Name ist Morawetz und das ist mein Kollege Kleinmann. Können wir bitte Ihre Papiere sehen. Führerschein, Fahrzeugschein und Jagdschein, soweit vorhanden.“

„Bernhard Fütterer, angenehm“, antwortete der etwas blasse Jägersmann und griff in die Innentasche seiner Weste. „Ist was passiert?“

„Erklären wir Ihnen gleich. Zunächst mal Ihre Papiere, bitte.“

„Gerne“, entgegnete der etwa 60jährige und zog die Hand wieder aus der Weste. Doch was er dort zum Vorschein brachte, war nicht etwa eine Brieftasche, sondern ein Revolver, den er auf die erschrockenen Polizisten richtete.

„Passt auf, Freunde“, sagte er ganz ruhig. „Euch passiert nichts, wenn Ihr tut, was ich sage. Legt zunächst mal Eure Waffen hier vor mir auf den Weg. Gaaaanz vorsichtig, wenn ich bitten darf.“

Zögernd folgten die Beamten der Aufforderung. Denn sie sahen keine Chance, den etwas grimmig dreinblickenden Mann zu überwältigen.

Aber so einfach war das nicht. Die Dienstwaffen stecken am Koppel in einer speziellen Sicherung. Wenn sie nicht wollten, dass der Angreifer das Herausnehmen der Waffe als aggressiven Akt versteht, mussten sie mit einer erhobenen Hand die Gürtelschnalle öffnen und den Lederriemen aus den Gürtellaschen herausziehen.

Dem Mann ging das nicht schnell genug. „Nun macht schon. Zack-zack! Keine Mätzchen hier!“

„Was soll das denn, Herr Fütterer?“, fragte Morawetz, während er seine Pistole auf den Asphalt legte. „Machen Sie sich nicht unglücklich, Mann.“

„Seien Sie ruhig. Sie haben doch überhaupt keine Ahnung!“, schrie der zurück und bedeutete Kleinmann, seine Waffe endlich auch dazu zu legen.

Wenige Meter entfernt rauschte der Verkehr vorbei. Doch niemand schien sich für das Schauspiel auf dem Wirtschaftsweg zu interessieren.

„Wovon haben wir keine Ahnung?“, versuchte Söhnke Morawetz Konversation zu machen. ‚Wer mit dem Aggressor in ein Gespräch verwickelt, kann den Druck aus der Situation nehmen‘, hatte er auf der Polizeischule gelernt. Und nur das konnte der Weg sein, dachte der Kommissar.

„Ihr habt keine Ahnung davon, wie leid mir das Ganze tut. Aber es ist nun mal passiert. Ich habe geschossen. Aus lauter Wut habe ich zweimal gefeuert. Das hätte mir niemals passieren dürfen. Aber ich gehe dafür nicht ins Gefängnis. Basta!“

Dann bückte er sich und hob die Pistolen mit links auf, während er die Beamten im Blick hatte. Seine Smith and Wesson behielt er dabei immer im Anschlag.

In Söhnkes Hosentasche vibrierte es. Anruf auf seinem Smartphone. Wer immer es sein mochte, es war eine Chance. Und die wollte er nutzen. Wie ein Straßenjunge stellte er sich hin und beulte mit beiden Händen seine Hosentaschen aus. Mit der Rechten, hoffte er, das Gespräch klammheimlich annehmen zu können. Aber wohin fasst man auf dem Display, um dafür ‚blind‘ die richtige Stelle zu finden. Das Vibrieren setzte zumindest aus.

„Was hat Sie denn dazu getrieben, zweimal zu feuern?“ Morawetz hoffte, dass er durch das Handy in der Hosentasche einen Mithörer gefunden hatte. „Sie müssen ja eine irrsinnige Wut gehabt haben, wenn Sie hier an der Förcher Kreuzung einfach drauflosgeschossen haben.“

„So ein Schwachsinn! Doch nicht hier an der Kreuzung“, ließ sich Fütterer tatsächlich auf das Gespräch ein. „Das war da oben im Wald“, erklärte er mit weit ausholender Bewegung. „Die Schweinehunde haben mir alle meine Hochsitze zerstört. Mit Seilen und ihren Autos. Einfach umgerissen!“

„Ich glaub´, sie haben ihn“, flüsterte Jensen dem Kollegen Eirich zu, während er weiter angestrengt ins Handy lauschte. „Aber irgendwas stimmt da nicht. Warum hat Morawetz das Gespräch nicht normal angenommen? Man kann ganz undeutlich eine Unterhaltung hören. Da erzählt ein Mann, warum er geschossen hat.“

Wieder hörte der Kripobeamte angestrengt zu, bis er zusammenzuckte. „Mist verdammter. Er will die Kollegen fesseln. Komm, wir müssen da hin, bevor Schlimmeres passiert!“

Eine Minute später saßen sie in Jensens Mercedes und rasten mit Blaulicht durch das schmale Herrenpfädel in Richtung Haueneberstein. Unterwegs alarmierte Sven Eirich per Funk die Schnelle Eingreifgruppe aus Rastatt. Tom Jensen hatte nach wie vor das Handy am Ohr, um weiter über die Lage an der Förcher Kreuzung informiert zu sein.

Am Ortsausgang entschied Sven, zunächst mal rechts ran zu fahren. „Was sollen wir tun?“, fragte er. „Von hier aus kannst Du fast dort hingucken. Noch hundert Meter, dann hast Du durchgehend freie Sicht. Unbeobachtet kommst Du da kaum ran.“

„Und? Was schlägst Du vor?“

„Haja, wir könnten versuchen, uns über den Wirtschaftsweg dort oben an die Stelle vorzutasten.“ Dabei zeigte er hangaufwärts. „Der verläuft fast parallel zur Straße.“

Jensen hatte zwar zugehört, war aber etwas unkonzentriert. Denn er lauschte angestrengt den Wortfetzen, die er via Handy mitbekam.

„Shit“, flüsterte er plötzlich, „der will die Kollegen irgendwo in den Wald karren. Wir müssen was tun. Bis die Rastatter da sind, ist es womöglich schon zu spät.“

„Okay“, antwortete Eirich, während er die Kojak-Lampe vom Dach nahm, „wir schauen jetzt erstmal nach, wo sie genau stehen. Ist `ne Sache von drei Minuten.“ Kurz darauf jagte er den Mercedes in Richtung Kuppenheim. „Mann, geht der ab“, lobte er den Wagen des Chefs.

„Da, guck mal nach rechts!“, rief er wenig später. „Da sind sie!“

„Mist, Mist, Mist!“, rief Tom, „der Typ zielt tatsächlich mit `ner Waffe auf die beiden.“

„Und? Kannst Du sehen, was mit den Kollegen los ist?“

„Die hat er offenbar mit ihren Handschellen zusammengeschnallt“, antwortete Tom, bevor er unsanft gegen das Beifahrerfenster gedrückt wurde. Sven war kurzerhand links abgebogen und fuhr jetzt die Straße in Richtung Förch.

Als sie außer Sichtweite des vermeintlichen Geiselnehmers waren, drehte er um und raste wieder zurück. Erneut konnten sie von der Kreuzung aus auf die drei Männer schauen. Aus dieser Perspektive hatte man den Eindruck, dort eine Gruppe von Leuten bei einer Unterhaltung zu beobachten.

Tom gab Eirich Recht. Sie würden nur über den Wirtschaftsweg an den Tatort herankommen, ohne vorher aufzufallen. „Aber dafür brauchen wir viel Glück.“

„Schau mal hier“, erklärte Sven, der nach der nach der Rückkehr zum Ortsrand seinem Chef das Smartphone unter die Nase hielt. „Das hier sind die Wege zur Kreuzung auf ‚Google Earth‘. Hinter diesen beiden Vereinsheimen gibt es eine kleine Umfahrung, die uns drüben bis zum Waldrand führt. So geraten wir dem Gangster nicht direkt vor die Flinte, sondern haben die Überraschung auf unserer Seite. Wir kommen einfach um die Ecke und packen uns den Burschen.“

„Oha, wenn das mal gut geht“, grinste Tom Jensen etwas verlegen. „Kannst Du nochmal nachfragen, wo die Kollegen aus Rastatt bleiben?“

„So, jetzt ab in meinen Wagen!“, befahl Fütterer, nachdem die Drei wieder einmal eine Gruppe Radfahrer hatten passieren lassen müssen. Keinem von ihnen war etwas aufgefallen. Der Mann verstand es, sich mit Händen in der Westentasche so vor den Polizisten zu postieren, dass niemand deren Fesselung sehen konnte.

„Sie gehen bitte voraus, meine Herren“, befahl er. Doch die bewegten sich nur widerwillig. „Sie machen einen riesigen Fehler, Herr Fütterer“, rief Kleinmann. „Polizisten zu kidnappen und zu entführen, das kann mit mindestens zehn Jahren Knast belegt werden. Ganz abgesehen davon, was Sie sonst noch alles verbockt oder sogar verbrochen haben. Wenn Sie uns aber frei lassen, wird sich das für Sie positiv vor Gericht auswirken. Also machen Sie keinen Blödsinn und lassen uns bitte frei.“

„Vergessen Sie´s! Da wird nichts draus. Und jetzt ab, hier in meinen Wagen.“ Fütterer öffnete die Tür, musste sich aber schnell wieder vor den Polzisten aufbauen, weil vom Ort her ein riesiger Traktor angedonnert kam. Er nahm fast die volle Breite des Wirtschaftsweges ein. Der Fahrer sah, dass er mit seinem Gefährt weder am Offroader noch am Streifenwagen vorbeikam und bremste direkt vor den drei Männern scharf ab.

Der Jäger wollte den Mann zur Umkehr aufzufordern. Doch der signalisierte, nicht verstanden zu haben und öffnete seitlich die Fahrerkabine. Als der Kidnapper näherkam, schaute er plötzlich in den Lauf einer Pistole.

„Waffe weg!“, brüllte Sven Eirich, der den Traktor gefahren hatte. „Werfen Sie sofort die Waffe weg!“, wiederholte er. Doch Fütterer zuckte nicht einmal. Im Gegenteil. Er erhob langsam seine rechte Hand, zielte auf Eirich und spannte knackend den Hahn.

Doch hinter ihm knackte es plötzlich ebenso. „Ich würd´s gar nicht erst versuchen“, hört er und zuckte zusammen. Tom Jensen, der hinten auf der Ackerschiene des Traktors gestanden und sich von der Gegenseite her angeschlichen hatte, drückte dem Entführer den kalten Lauf seiner Pistole ins Genick. „Machen Sie jetzt keinen Blödsinn und geben mir Ihre Waffe. Und zwar zügig, wenn ich bitten darf.“ Das zeigte Wirkung. Langsam senkte der Jäger seine Smith and Wesson und führte mit dem Daumen den Hahn wieder sachte zurück. Dann ließ er den Revolver am Abzugsbügel kopfüber an einem Finger baumeln, bis ihn der Hauptkommissar zu fassen bekam.

Jensen warf die Waffe ins Gras und bog Fütterers rechten Arm nach hinten, um ihm Handschellen anzulegen. Der ließ das klaglos über sich ergehen und stand plötzlich wie ein geprügelter Hund zwischen den Polizisten. „Ich hätte keinem von Ihnen etwas getan“, murmelte er. Aber immerhin noch so laut, dass Eirich ihn verstehen konnte.

„Sie hätten keinem etwas getan?“, rief der. „Das ist ja interessant. Und warum haben Sie dann das ganze Theater veranstaltet? Immerhin haben Sie zwei Beamte als Geiseln genommen und uns alle mit der Waffe bedroht!“

Fütterer zog den Kopf zwischen die Schultern. „Ich weiß es nicht. Ich bin einfach in Panik geraten, als die beiden Polizisten hier aufgetaucht sind. Ich hatte nie damit gerechnet, dass die Polizei kommt. Nur weil ich ein paar Irre mit zwei Schüssen verscheucht habe.“

„Ein paar Irre mit zwei Schüssen verscheucht? Sagen Sie mal, sind Sie noch ganz bei Trost?“, schaltete sich nun Jensen ein. Immerhin ist einer dieser ‚Irren‘, wie Sie sagen, tot.“

Fütterer erschrak bis ins Mark. „Tot?“, fragte er fast tonlos. „Wie das denn?“

„Ja, tot. Mausetot! Durch einen Lungensteckschuss, den Sie ihm verpasst haben. Durch die Autotür.“

Der Jäger rang um Fassung. „Das gibt´s doch gar nicht. Das ist doch totaler Schwachsinn! Ich hab´ auf gar kein Auto geschossen. Was wollen Sie mir denn da anhängen?“

Noch bevor der Kriminalbeamte darauf antworten konnte, tippte ihm Söhnke Morawetz auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr. „Ja, dann ist doch alles klar“, antwortete der laut, „sag´s ihm doch. Halt´ ihm das vor, was er selbst gesagt hat.“

Also wandte sich der Uniformierte an den Festgenommenen. „Herr Fütterer, Sie haben uns doch gesagt, dass Sie geschossen haben. ‚Aus lauter Wut habe ich zweimal gefeuert. Das hätte mir niemals passieren dürfen‘, haben Sie gesagt.“

„Das stimmt ja auch“, setzte sich der Mann zur Wehr. „Aber ich habe doch nicht auf Menschen geschossen und auch nicht auf ein Auto. Ich habe zwei Schrotladungen in die Luft gefeuert, weil ich diese Idioten dabei erwischt habe, wie sie einen meiner Hochsitze umgerissen haben. Und das war nicht das erste Mal.“

„Und warum haben Sie dann so rum gejammert?“

„Weil man sowas unter keinen Umständen machen darf.“

„Ach. Da wäre ich von alleine gar nicht drauf gekommen“, entgegnete Morawetz zynisch. „Nein, sowas darf man wirklich nicht machen.“

„Stimmt. Und als Jäger schon mal gar nicht. Das ist doch das Problem. Damit bin ich nämlich meinen Jagdschein los. Nur haben mich diese Arschlöcher derart zur Weißglut gebracht, dass ich einfach ausgerastet bin. Vier Hochsitze haben sie mir kaputt gemacht. Seit Montag vergangener Woche.“

„Erzählen Sie uns doch hier keine Märchen. Wo soll denn das gewesen sein?“

„Das habe ich doch auf der Wache in Baden-Baden längst zu Protokoll gegeben. Die ersten drei Hochsitze jedenfalls. Allesamt hier oben in meinem Revier“, erklärte der Jäger und zeigte hinauf in den Bergwald. Plötzlich wirkte er recht wackelig auf den Beinen. „Und heute? Wo genau war das heute? Und wann?“

Doch Jensen, der ziemlich aggressiv nachgefragt hatte, erhielt keine Antwort mehr. Bernhard Fütterer war wie von einer Axt gefällt zu Boden gegangen, fasste sich an die Brust und rang nach Luft.

„Ach du Scheiße, der hat `n Herzanfall“, rief Eirich. „Schnell, ruft einen Notarzt!“

„Blödsinn“, konterte Jensen. „Ziehen Sie doch hier nicht so eine unheimliche Schau ab. Das hilft Ihnen auch nicht weiter!“

Aber Sven Eirich griff nach dessen Arm und sagte: „Das ist keine Schau, das ist echt. Guck mal, der hat ja ganz blaue Lippen.“ Und während er sich um eine stabile Lagerung des Liegenden kümmerte, rief er den Kollegen zu: „Nun los, ruft einen Notarzt, bitte!“ Am Rande der Förcher Kreuzung war es plötzlich turbulent geworden. Von Rastatt her war die Schnelle Eingreifgruppe angekommen. Direkt von einem anderen Einsatz draußen am Rhein.

Nur war sie jetzt nicht mehr vonnöten. „Hätte man uns ja auch mal sagen können“, zog der Gruppenführer nölend von dannen und sprang in den Mannschaftsbus, der direkt wieder davonfuhr. Doch seit dem Zugriff vor vier Minuten hatte niemand Zeit für ein Telefonat gefunden. Auch nicht, um dem Landwirt Bescheid zu geben, der wissen wollte, was mit seinem Traktor passiert war. Außer Atem kam Erik Reiß gerade den Wirtschaftsweg heruntergerannt. Sein Pech war, dass er am Rande seiner Wiese gerade den Kreiselmäher abgekoppelt hatte, als Tom Jensen und Sven Eirich vorbeikamen. Unter dem Hintern weg hatten sie ihm den riesigen Fendt einfach beschlagnahmt.

Er war froh, dass sein Eigentum keinen Schaden genommen hatte. Trotzdem war er sauer auf Jensen. Der hätte ihm ja wenigstens den Schlüssel für seinen Daimler dalassen können. Aber darin war der Kriminalist eigen. „Dienstfahrzeuge von Zivilisten steuern zu lassen, das geht gar nicht“, hatte der gesagt und ihn einfach stehen gelassen.

„Na wartet“, hatte der Besitzer vom Landseehof lachend gedroht, als er in die Fahrerkabine kletterte, „ich nehm´ Euren Benz da oben an den Haken. Dann könnt Ihr sehen, wo Ihr bleibt.“

„Machen Sie keinen Scheiß!“, rief Jensen verkniffen lachend zurück. „Wir setzen uns mit Ihnen wegen Ihrer Unkosten in Verbindung.“

„Blödsinn“, lachte der Mann auf dem Gebirge von einem Traktor, „nicht nötig.“ Dann brauste er davon.

„Vielen Dank!“, rief ihm der Kripo-Chef hinterher.

Noch immer lag Fütterer mit großen Atemproblemen am Boden. Eirich, der neben ihm kniete, hatte ihm ein Sani-Kissen aus dem Streifenwagen unter den Kopf gelegt und ein paar Schlucke Mineralwasser gegeben. Derweil telefonierte Jensen intensiv mit dem Revier in Baden-Baden. Von dort erfuhr er auch, dass die SpuSi mit ihrer Arbeit am Unfallort noch eine Weile brauche und verschiedene Kollegen unterwegs seien, um entlang des Herrenpfädels in Haueneberstein eventuell Zeugen zu finden.

Dann kam endlich der Notarzt, um sich des Jägers anzunehmen. Zügig hatte der Mediziner Bernhard Fütterer samt aufgesetzter Sauerstoffmaske und einer Infusion in den Rettungswagen verfrachten und ins Krankenhaus bringen lassen. Trotz seiner gegenteiligen Aussage wurde Fütterer in der Mordsache als dringend tatverdächtig gesehen.

Bevor der Doc selbst davonfuhr, informierte er Jensen noch kurz über den Zustand des Zusammengebrochenen. „Vermutlich nichts Schlimmes. Nur eine Herzattacke, von der er sich bald erholen wird. Wir bringen ihn übrigens in die Stadtklinik Baden-Baden. Nur für den Fall, dass Sie ihm eine Wache vor die Tür stellen wollen“, fügte der Medizinmann augenzwinkernd an.“

„In Ordnung, danke“, rief Tom zurück. „Wäre ja nicht schlecht gewesen, wenn unser Opfer von vorhin nur ein paar Hundert Meter weitergekommen wäre. Vielleicht hätte er gerettet werden können.“ Doktor Hippler nickte traurig und machte sich auf den Weg zurück zur Notaufnahme.

„Was hast Du eben zum Notarzt gesagt?“, fragte Sven Eirich, als er endlich seine Telefonate beendet hatte. „Wäre nicht schlecht gewesen, wenn unser Opfer die paar Hundert Meter weiter geschafft hätte?“

„Ja, dann wäre er nämlich bis zur Stadtklinik gekommen.“

„Du meinst, das könnte der Grund für Torsten Klemm gewesen sein, so zu rasen und diesen äääh … Pascal Hertweck vor sich herzutreiben?“

„Genau! Das meine ich. Oder … genauer …, ich vermute es zumindest.“

„Keine schlechte These“, konstatierte Eirich, während er mit links sein Haupthaar gewaltig durcheinanderbrachte. „Da könnte was dran sein.“

„Ja wie - keine schlechte These… . Hast Du `ne bessere?“

„Nee, hab´ ich nicht. Und ich finde Deine sogar ziemlich plausibel.“

„Aha, ziemlich plausibel“, wiederholte Tom den Satz. „Ich finde sie sogar umwerfend gut, je länger ich darüber nachdenke. Überleg´ doch mal. Nehmen wir mal an, der äääh…, der…, na, hilf mir doch mal…, also dieser… dieser Torsten Klemm wird während der Fahrt auf Gottes freier Flur von diesem Geschoss getroffen und klappt in seinem Auto fast zusammen.

Egal, ob er irgendwo angehalten hat, oder weitergefahren ist, er überlebt diesen Schuss, ist aber schwerstverletzt. Und das wird ihm schlagartig klar. Was würdest Du in dieser Situation tun?“ „Ich?“, fragte Eirich nachdenklich zurück. „Ich würde 112 wählen und den Notarzt alarmieren.“

„Klasse. Und auf den wartest Du und bist vielleicht schon tot, ehe der Arzt bei Dir ist. Wäre es da nicht viel besser, ihm entgegen zu fahren, oder vielleicht sogar selbst zur Klinik zu fahren? In der Hoffnung, dass das noch reicht.“

„Ich sag ja, Du hast recht! Der war in allerhöchster Lebensgefahr. Und das hat er gemerkt. Deshalb ist er… .“ Sven runzelte die Stirn und schaute Tom Jensen an. „Sag mal, weißt Du eigentlich, wie lange man mit einer solchen Verletzung überleben kann?“

„Soweit ich weiß, kann man einen Lungensteckschuss sogar überleben. Mein Vater jedenfalls erzählte davon, dass im Krieg einige Soldaten solche Schussverletzungen überlebt hätten. Es liegt dabei wohl auch daran, wieviel Blut der Verwundete verloren hat, bevor er ärztliche Hilfe bekommt. Und Torsten Klemm hat wohl sehr viel Blut verloren.“

„Sag mal, hast Du `n Moment Zeit?“, wollte Söhnke Morawetz wissen und zog Tom Jensen gleich mit einem Griff am Arm in Richtung Offroader von Fütterer.

„Klar“, antwortete der lächelnd, „was hast Du denn anzubieten?“ „Jost Kleinmann und ich haben uns mal den Wagen und seinen Inhalt zu Gemüte geführt. Dabei haben wir zwei Waffen gefunden.“

Morawetz griff nach einem Gewehr mit Kipplauf und erklärte: „Zum einen diesen Drilling hier, also eine Schrotflinte mit Doppellauf und einem Lauf für Kleinkalibergeschosse. Und diese Bockbüchsflinte mit einem Schrotlauf und einem Lauf für Geschosse. Kaliber kann ich nicht sagen“, endete er und schaute sich das Gewehr noch einmal von allen Seiten an. „Steht auch nix drauf“, grinste Söhnke.

„Okay, schickt sie bitte alle zur KTU. Samt Revolver. Wir brauchen eine klare Spurenlage. Wenn mit einer dieser Waffen auf den Mann im Ford geschossen wurde, dann wollen wir das wissen. Und zwar sofort.“

„Machen wir“, drehte Morawetz mit den Flinten und der Smith and Wesson ab. „Ach, by the way, wer kümmert sich eigentlich um Fütterers Dackel?“

„Dackel?“, kam es gleich aus mehreren Kehlen. „Wo ist denn hier ein Dackel?“, wollte schließlich Sven Eirich genau wissen?

„Hier liegt er“, zeigte Söhnke auf den Rücksitz des verwaisten Jägermobils. „Ist ein ganz Lieber.“

Neugierig kam Eirich und schaute erstmal um die Ecke der offenen Tür. Er wollte das Tier unter keinen Umständen beunruhigen. Und dann sah er sie. Eine Rauhaardackel-Dame mittleren Alters, die etwas dösig in die Abendsonne blinzelte und zur Begrüßung kurz ein liebenswürdiges „Wuff“ hören ließ.

„Ach Gott, bist Du eine Nette“, traute sich Hundefreund Sven schließlich doch nah an sie ran und begann, das Tier zu streicheln und zu kraulen. Die kleine Dame mochte das ganz offensichtlich. Denn sie drehte sich gleich auf den Rücken, um auch am Bauch gestreichelt zu werden.

Eirich tat sein Bestes und entschied nach wenigen Minuten: „Den Hund nehme ich mit, falls keiner was dagegen hat.“

„Wer sollte was dagegen haben?“, fragte Tom. „Das arme Tierchen braucht doch ein Körbchen für die Nacht, ein Schälchen Wasser und ein paar Hundekekse. Damit die Trennung von Herrn Fütterer nicht gar so schlimm ist. Kann immerhin sein, dass sie den für längere Zeit nicht zu sehen bekommt.“

Das mit der längeren Trennung hatte Sven Eirich nicht bedacht. Entsprechend seine Miene. Wahrscheinlich hatte er sich in seiner Tierliebe zu weit aus dem Fenster gelehnt. Aber das wollte er sich nicht anmerken lassen. „Komm“, munterte er den Dackel auf, nachdem er ihn an seine Leine genommen hatte.

Und er hatte Erfolg. Erst etwas widerwillig, dann aber mit einem beherzten Satz sprang der Hund aus dem Offroader und setzte sich sofort an die Seite seines neuen Pensionswirts. Der schmolz fast dahin und ließ die Leine fallen. ‚Was für eine tolle Erziehung‘, dachte Sven.

Doch diese Überzeugung konnte er sofort wieder in die Tonne kloppen. Denn der Dackel begann plötzlich lautstark zu kläffen und raste wie von tausend Teufeln gejagt mit seinen kurzen Beinchen durch die angrenzende Wiese. Die Leine hinter sich herziehend. Wenige Meter vor ihm machte ein Feldhase Riesensprünge und schlug einen Haken nach dem anderen.

„Kommst du hierher!“, brüllte Eirich. „Komm sofort hierher!“ Aber der Dackel lebte seinen Jagdtrieb aus und tobte wild bellend kreuz und quer durch das dürre knietiefe Gras. Zu dumm, dass er den Namen des Tieres nicht kannte. Wer weiß, vielleicht war es ja darauf abgerichtet, nur auf Kommandos im Zusammenhang mit ‚Bella‘, ‚Asta‘ oder sonst was zu reagieren.

Im Herrenpfädel hatte lediglich eine Zeugin das Autorennen beobachtet. Sie habe im Vorgarten Rosen geschnitten, als die beiden Kontrahenten vorbei gerast seien. „Die sin do driwwa nuff g´schosse, wie wenn se se net mie all hätte“, berichtete Inga Wirth, deren Zigarette dabei wie bei einem Franzosen im Mundwinkel klebte. Vorne ein silberner Golf und nur wenige Zentimeter dahinter ein beiger Pickup. Es habe fast so ausgesehen, als ob der größere Wagen das andere Fahrzeug vor sich herschiebe.

Und sie glaubte, „die Ongscht im G´sicht vom Golffahrer g´seh´ ze hawwe.“ Daher sei ihr klar gewesen, dass das nicht lange gutgehen konnte. „Ei Beriehrung un so´n Karch macht´n Abflug.“ Verblüfft war sie allerdings zu erfahren, dass es nicht den Golf, sondern den Ford Ranger erwischt hatte. Der Kleinere müsse doch wenigstens Macken in der Heckstoßstange haben, meinte sie.

Jedoch hatte eine genaue Untersuchung des Golfs vor Ort ergeben, dass es im Lack des hinteren Stoßfängers und an der Heckklappe nicht eine Schramme gab. Das Fahrzeug war auch sonst ohne jede Läsion. Was die Wirth´sche Theorie von einer Karambolage eindeutig widerlegte. Und die des ‚doofen Bullen‘, wie Pascal Hertweck seinen Lieblingspolizisten getauft hatte.

An der Kreuzung war inzwischen ein Abschleppfahrzeug vorgefahren, das den Offroader Fütterers zur KTU bringen sollte. Hauptkommissar Tom Jensen wollte sich unter keinen Umständen eine Laus in den Pelz setzen, weil die Beweisführung für die Tat des Jägers eventuell lückenhaft sein könnte. Kein Krümel Erde vom Boden irgendwo in Wald und Feld sollte ohne Analyse bleiben.

Sven Eirich hatte den jagdbegeisterten Dackel mittlerweile wieder eingefangen und die Leine am Außenspiegel eines Streifenwagens angebunden. Der Hase hatte der Hündin offensichtlich alles abverlangt, letztlich aber die Hatz überlebt. Jetzt lag sie auf dem Bauch und hechelte. Ein Schluck Wasser hätte ihr gutgetan. Aber hier gab es kein Wasser.

Tom hatte sich von einem anderen Streifenwagen zu seinem Mercedes fahren lassen und kam gerade wieder zurück, um Eirich und den Hund aufzupicken. Letzteren jedoch nur unter der Voraussetzung, dass ihm ein Pinkelschutz untergelegt würde.

Den zu organisieren fiel Sven nicht schwer. Die Rettungssanitäter hatten das große Papiertuch liegengelassen, mit dem sie den zusammengebrochenen Fütterer zugedeckt hatten.

So löste sich die Traube der Polizisten und Ermittler an der Straßenkreuzung langsam auf. Es wurde auch Zeit. Denn immer dunkler werdende Blau des Himmels Licht wurde nur noch gespeist durch einen purpurnen Feuerhimmel im Westen, der hinter den riesigen Pappeln und Buchen am Rande des einstigen Landsees immer schwächer wurde.

Nur Tom Jensen stand noch ein schwerer Gang bevor. Er musste den Eltern von Torsten Klemm die Todesnachricht überbringen.

Zum Glück hatten die Kollegen vom Kommissariat telefonisch einen Notfallseelsorger gefunden, der bereit war, den Beamten in Kuppenheim bei der ungeliebten Mission zu begleiten. Doch das machte die Begegnung mit der Mutter des Getöteten letztlich nicht leichter. Zumal sie allein war. Der Vater hatte geschäftlich in Hannover zu tun.

Frau Klemm war mit einem Weinkrampf zusammengebrochen. Und so wurde jeder weitere Versuch zu einem Gespräch unmöglich. Es musste ein Arzt geholt werden, der ihr eine Spritze zur Beruhigung gab.

Als Jensen die Frau versorgt wusste und schon gehen wollte, tauchte Klemms Freundin auf und war überrascht, so viele Fremde im Haus vorzufinden. Behutsam wie man nur sein konnte, versuchte der Kripomann, ihr von dem Geschehen zu berichten. Doch sie schaute ihn nur ungläubig an und ohrfeigte ihn, weil sie die Nachricht für eine Lüge hielt. Dann brach auch sie weinend zusammen.

Donnerstag, 13. September

„Moin Sven, moin Leute.“ Beschwingt betrat Tom Jensen trotz all der hässlichen Erlebnisse vom Vortag an diesem Morgen das Kommissariat und stellte seinen für die meisten Polizeibeamten obligatorischen Aluminium-Aktenkoffer am Fuße seines Schreibtischs ab. „Na, alle gut geschlafen?“

Allgemein freundliches Volksgemurmel. Eine richtig schlechte Nacht hatte demnach offenbar niemand hinter sich. Jetzt, wo die unglaubliche Hitze des Rekordsommers langsam nachließ, war auch mal wieder an eine erholsame Nachtruhe zu denken.

Auch Sven nickte und gähnte nochmal richtig hinter vorgehaltener Hand. War auch Zeit, dass er mal mehr als drei, vier Stunden Schlaf zusammen bekommen hatte. Schon allein die Nacht zu gestern hatte ihm ein gewaltiges Defizit eingebracht.

Doch dann stand er ganz langsam auf, legte eine von ihm nicht gekannte Leichenbittermiene auf und lief mit einem Aktendeckel hinüber zu Tom.

„Und?“, lächelte der, „was guckst´n plötzlich so sauertöpfisch? Das war doch richtig klasse gestern Abend. Oder? So schnell mit einem derart obskuren Fall zu einem Ende zu kommen, davon kann man doch nur träumen.“

„Ja, ja“, antwortete Eirich, „träum´ nur weiter.“

„Wie, träum´ nur weiter? Was soll das denn heißen?“

„Wir haben den Falschen.“

„Wir haben WAS?“ Jensen war aufgesprungen. „Sag das nochmal.“

„Wir haben den Falschen. Fütterer war nicht unser Schütze.“

„Ja, aber…“, Tom strich sich mit einer Hand durch die frisch gewaschenen Haare. „Es passte doch alles. Der Ort, das Kaliber seiner Bockbüchsflinte, sein halbes Geständnis.“

„Stimmt. Es schien alles zu passen. Aber ich muss Dich leider enttäuschen. Und glaub mal bloß, mir geht es genauso. Hier schau selbst.“ Damit hielt er Tom den offenen Aktendeckel hin. „Erstens stimmt das Kaliber nicht ganz. Fütterers Flinte hat 7,65, in Torsten Klemm wurde aber ein 7,62er Geschoss gefunden. Zweitens stimmen die Geschossprofile nicht überein. Es waren eindeutig zwei verschiedene Gewehre, aus denen die Projektile abgefeuert wurden.

Und drittens hat es gestern Abend noch eine Anzeige mehrerer Umweltaktivisten gegeben. Demnach habe ein Mann, auf den Fütterers Beschreibung passt, etwa fünf Minuten vor dem Unfall im Herrenpfädel auf sie geschossen. Und zwar im Wald, etwa einen Kilometer oberhalb der Förcher Kreuzung.