Der Wisent-Wahn - Wolfgang Breuer - E-Book

Der Wisent-Wahn E-Book

Wolfgang Breuer

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Beschreibung

Ein Wisent-Bulle, ein Förstersohn und ein Star-Metzger. Wie passen diese drei Individuen zusammen? Eigentlich gar nicht. Meint auch die Kripo in Bad Berleburg. Zumal die beiden Männer sich schon seit ihrer Jugend nicht ausstehen können. Trotzdem klingelt da etwas im Hinterkopf der Kommissare Lukas und Born, als der streng geschützte Bulle urplötzlich verschwunden ist. Und dann stellt sich auch noch heraus, dass das Tier von einem Wilderer erschossen und irgendwie abtransportiert worden ist. Doch der ziemlich verarmte Förstersohn, der ganz schnell in Verdacht geraten war, kann es nicht gewesen sein. Sagen Zeugen. Für die Fahnder beginnt eine aufreibende Ermittlungsarbeit inmitten eines Politikums. Nämlich dem Streit um den Erhalt einer Wisent-Herde am Rothaarsteig. Mit einem schockierenden Ergebnis. Einer der Beteiligten verliert sein Leben.

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Wolfgang Breuer

Der Wisent-Wahn

Ein Wittgenstein-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Der Wisent-Wahn

Ein Wittgenstein-Krimi

Coverfoto: Lars-Peter Dickel

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© Winter 2023

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

[email protected] (bevorzugt)

Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

ISBN 978-3-96136-180-9

E-Book: ISBN 978-3-96136-181-6

published by

Inhalt

Samstag, 5. August

Sonntag, 6. August

Montag, 7. August

Dienstag, 8. August

Mittwoch, 9. August

Donnerstag, 10. August

Freitag, 11. August

Samstag, 12. August

Montag, 14. August

Dienstag, 15. August

Samstag, 11. November

Bisher erschienene Krimis von Wolfgang Breuer

Samstag, 5. August

Der trockene Ginster knisterte leicht, als er direkt neben dem Strauch mit seinem Karabiner in Stellung ging und an einem Zweig entlangschabte. „Mist, verdammter“, tuschelte er leise, als seine anvisierte Beute ihren riesigen Kopf hob und in seine Richtung schaute. Das massige Tier schien interessiert, machte aber nicht den geringsten Versuch, die Position zu wechseln.

Im Gegenteil. Nach kurzem Verharren kümmerte sich der Wisentbulle wieder schnaubend um sein Frühstück. Wenige Meter weiter, jedoch außer Sichtweite des Schützen, schienen es sich noch einige Tiere mehr schmecken zu lassen.

Deutlich konnte er hören, wie sie das Gras am Wegesrand mit ihren Zungen umschlangen und abrupften.

Schon zwei Stunden vor Sonnenaufgang war der Mann mit dem alten K98 und jeder Menge Munition zum Rothaarkamm hinaufgefahren. Gut getarnt hinter den tiefhängenden Wedeln einer Randfichte hatte er seinen Unimog abgestellt und gebeugt die Wegseite gewechselt. Dort hatte er einen besseren Blick entlang des Rothaarsteigs.

Aus mehreren Berichten von Wanderern kannte er die Lichtung, die von den Wisenten immer wieder heimgesucht wurde. Eine kleine Buschgruppe rechter Hand hinderte ihn jedoch daran, die Fläche vollends einsehen zu können. Doch der mächtige Bulle vor der Flinte reichte ihm vollkommen. Was wollte er mehr?

Der Mann, der jetzt flach auf dem Boden lag, schätzte die Entfernung zu seiner Beute und stellte das Schiebevisier der Weltkrieg-2-Waffe auf 50 Meter ein. Leise entsicherte er die Waffe. Er hatte bereits eine Patrone im Lauf. Denn ein Durchladen mit dem ausgeleierten Schloss hätte zu laut geklappert.

Der Bulle schaute erneut auf. Doch nicht seinem Widersacher galt seine Aufmerksamkeit. Er reckte seinen Kopf vielmehr nach links. Aber auch diesmal machte er keinerlei Anstalten, seinen Standort zu verlassen. Im Gegenteil. Nach einem kurzem Blick machte er sich wieder über seine Grasmahlzeit her.

‚Das ist die Gelegenheit‘, war sich der Wilddieb sicher. Er bebte vor Aufregung am ganzen Körper. Noch längeres Warten kam für ihn nicht in Frage. Jetzt oder nie.

Auf die Ellbogen stützen, Gewehrkolben fest in die Schulter ziehen, Luft anhalten, zielen und …

Mit zitterndem Zeigefinger riss er den viel zu harten Abzug durch, und damit den Karabiner nach oben. „WUMM!“

Zwanzig, dreißig Meter hinter dem Wisent klappte knörzend ein teilamputierter Buchenast nach unten, während das riesige Tier auf der Stelle kehrtmachte und mit einem Riesensatz im Wald verschwand. Gefolgt von zwei Dutzend weiterer flüchtender Tiere.

Sekundenlang hallte der Schuss von den Bergen ringsum wider. Dann war es still. Bis auf das Pfeifen im rechten Ohr, das gleichzeitig mit dem schmerzhaften Rückschlag aufs Schlüsselbein eingesetzt hatte.

Enttäuscht riss er die Waffe hoch und war mit einem Satz auf den Beinen. „So eine Scheiße!“, schrie er, „Hennecke, du Vollidiot!“

Keine 150 Meter von ihm entfernt, drückte sich ein Paar auch noch zwanzig Sekunden nach dem Schuss platt auf den Waldboden. „Kannst Du ihn sehen?“, fragte Ute.

Langsam hob Peter neben ihr den Kopf, um über den schütteren Bodenbewuchs hinwegschauen zu können. „Nee, nix. Nur gehört hab´ ich ihn. Der hat sich selbst angeschrien, dieser Vollidiot. Hennecke heißt er, oder so ähnlich.“

„Pssst, nicht so laut. Wenn der uns hört. Wer weiß, vielleicht lädt er seine Waffe dann nochmal. Und dann … Nein, nein, lass uns lieber verschwinden“, zischelte die Frau in hauchdünnen Fahrradklamotten ihrem Mann zu.

Doch der hatte bereits sein Handy aus der Bauchtasche seines Fahrradtrikots gepopelt. „Abhauen? Nä! Das wär´ ja noch schöner“, raunte er. „Der Kerl ist ein Wilderer. Der gehört angezeigt. Und außerdem hat er uns fast umgebracht. Hast Du gehört, wo der Querschläger neben Dir in den Boden eingeschlagen ist?“

Ute Weller verlor an Gesichtsfarbe. „Waaas?“ Diesmal war sie zu laut für den mittlerweile friedlich stillen Hochwald auf dem Rothaarkamm. Mit starrem Blick folgte sie dem Fingerzeig ihres Mannes. Knapp einen Meter neben ihr war der Boden frisch aufgerissen. Wenige Zentimeter nur. Ute verdrehte die Augen. Ihr Magen revoltierte.

Plötzlich hörten ein Motorengeräusch aus der Richtung, aus der geschossen worden war. „Sei mal eben ruhig“, bat Peter und fasste zur Beruhigung nach ihrem linken Arm. Angestrengt lauschte er in das volltönende Brummen hinein. „Was ist das? Das ist kein Pkw und auch kein SUV.“

Weller ging auf die Knie, um nach dem Fahrzeug Ausschau zu halten, das sich offenbar langsam vom Ort fortbewegte. „Das ist doch ein Unimog. Ein ziemlich dicker sogar. Hey, da ist er ja!“ Mit einem Satz war er ganz auf den Beinen und sprintete mit gezücktem Handy dem Wegfahrenden hinterher.

Dann bremste er abrupt ab und machte zwei, drei Fotos, bevor er schimpfend und grummelnd wieder zurückkam. „Ich Trottel hätte dem gleich mit dem Rad hinterherfahren sollen. Den hätte ich glatt eingeholt.“

„Ja, ja. Und dann hättest Du ihn überholt, ihm den Weg versperrt und ihn aus seinem Karren geholt. Mein Held.“ Verkniffen lachend schüttelte sie den Kopf. „Sei froh, dass Du’s nicht getan hast.“

Peter runzelte die Stirn. Was wusste sie denn schon? Er hätte dem Knaben da vorne sowas von den Marsch geblasen. Der hatte sich strafbar gemacht. Basta! Zwar gut möglich, dass der überhaupt keine Ahnung davon hatte, dass die Wisente unter Naturschutz stehen. Aber jagdbares Wild waren sie auf keinen Fall.

Und wie ein Jäger hatte sich der Querschläger-Produzent auch nicht verhalten. Sonst wäre ihnen sein Geschoss nicht um die Ohren geflogen. In der Nähe von nicht mit Warnschildern gesperrten Wanderwegen, war Schusswaffeneinsatz ein absolutes Ding der Unmöglichkeit.

Immer noch ganz außer Atem kontrollierte er, ob auf den Fotos überhaupt etwas Brauchbares zu erkennen war. Er hatte sie gemacht, als der Wilddieb mit seinem Gefährt gerade hinter einer Kurve zu verschwinden drohte.

Mit einem Tupfer aufs Handydisplay verschaffte er sich Gewissheit. „Hier, guck, das isser. Ein Unimog. Wie ich gesagt habe.“

„Macht sich gut, im grünen Look im grünen Wald“, quittierte sie ihren flüchtigen Blick auf den Bildschirm des Smartphones. „Aber …, mach mal größer“, war sie plötzlich wie elektrisiert. „Da, das Nummernschild ist zu erkennen. Das gibt’s ja gar nicht. Fast gestochen scharf.“

Lutz Hennecke hatte auf seiner rasenden Fahrt über Stock und Stein noch keine 300 Meter hinter sich gebracht, als er voll in die Eisen steigen musste. Von rechts war ihm aus einem kleinen Waldweg heraus ein aufgemotzter Jeep direkt vor seinen Truck gefahren und stehen geblieben.

Heraus sprang ein sehniger Mann, Mitte dreißig mit weißer Gummischürze. Josch Dörnbach. So etwas wie ein Karajan des Metzgerhandwerks. Schnurstracks kam er auf ihn zu und bedeutete ihm, das Fahrerfenster herunterzukurbeln. Widerwillig folgte der Mann am Steuer.

„Und? Haste das Vieh sauber erwischt?! Ich hab´ nur einen Schuss gehört. Blattschuss, oder?“

Der Angehaltene zuckte nur mit den Schultern.

„Was ist?! Lass uns das Tier holen. Ich hab´ extra meine Winde reaktiviert. Sonst kriegen wir den Mordsbrocken ja nicht in die Karre. Nun komm, mach hinne!“

Der für diesen Sommer ohnehin viel zu blasse Unimog-Kutscher wechselte die Gesichtsfarbe endgültig auf ‚Weißkäse mit Spucke‘. „Josch“, stotterte er, „hör mir zu.“

„Was haste?“

„Es …, es gibt keinen toten Wisent.“

„Was ist? Kein toter Wisent? Was heißt das denn? Nicht mal ´n kleiner?“

„Nee, nix.“

„Niiix?“ Der Ausbremser kam auf Touren und sprang auf das stählerne Trittbrett, um mit Hennecke Auge in Auge parlieren zu können. „Biste noch ganz sauber, mir das einfach so ins Gesicht zu sagen? Ich hab´ doch gehört, dass Du geschossen hast. Willst Du mich verarschen oder was?“

„Geschossen ja. Aber nicht getroffen. Das Vieh ist abgehauen.“

„Abgehauen?“ Dörnbach wäre ihm von draußen fast ins Gesicht gekrochen. Sein Atem roch ekelhaft nach Kaffee. Und jede Silbe, die er sprach, transportierte Spuckefetzen ins Gesicht des Wilddiebs.

„Was ist denn jetzt mit den mindestens drei Zentnern Wisent-Fleisch, die Du mir versprochen hast? Ich hab´ schon jede Menge Abnehmer. Die Leute sind richtig scharf auf Wisent.“

Hennecke versuchte, seine Angst vor dem rasenden Metzger so gut es ging im Zaum zu halten. „Ha, dann müssen die sich halt noch was gedulden. Hat halt nicht geklappt.“

Der Metzger bekam Schaum vorm Mund. „Hat halt nicht geklappt, hat halt nicht geklappt“, äffte er seinen verhinderten Lieferanten nach. „Ich kapier´ gar nicht, wie Du so locker mit mir umspringen kannst, Alter.

Haste vergessen? Du schuldest mir 7.000 Tacken. Dafür wolltest Du mir mindestens drei Zentner Wisentfleisch liefern. Heute war Deadline, Arschloch!“

„Leck mich doch, Du blöder Hund!“ Hennecke haute den Rückwärtsgang rein und ließ die Kupplung fliegen. Was zur Folge hatte, dass Josch ebenfalls flog. Und zwar vom Trittbrett. Mit einer Hand hielt er sich am Bügel des Außenspiegels fest und baumelte wie ein Fuchsschwanz daran herum.

Kräftemäßig hätte er das locker aushalten können. Doch plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch sein linkes Handgelenk. Es hielt die Schlingerbewegung seines Körpergewichts nicht aus. Wollte er keine schlimmere Verletzung riskieren, musste er dringend loslassen.

Was er auch tat und unsanft auf dem nicht gerade dicken Humusboden aufschlug. Doch das überstand er mannhaft. Nur der Träger seiner Metzgerschürze hatte den Geist aufgegeben.

Als Hennecke abgestoppt hatte und den Vorwärtsgang reinhaute, knarrte das Schaltgetriebe des Bundeswehr-Veteranen gewaltig. Aber er gehorchte und machte unter Vollgas einen Satz nach vorne. Noch bevor sich der Abgeworfene aufgerappelt hatte, verschwand der Wilderer in die Richtung, aus der er gekommen war. Mit Karacho vorbei an dem geschockten Radler-Ehepaar.

„Du elender Mistbock!“, brüllte Dörnbach dem Unimog und seinem Fahrer hinterher und rieb sich Hand und Hintern. Aus dieser Höhe einfach so aufs verlängerte Rückgrat zu knallen, gehörte nicht unbedingt zur Lieblingsdisziplin des Filetkönigs. Außerdem war er bitter enttäuscht. Seit Jahren bettelte ihn seine erlauchte Kundschaft vergeblich um Wisent-Fleisch an. Aber jetzt, wo es hätte klappen können, schoss dieser Idiot daneben.

Was für eine Chance war ihm da durch die Lappen gegangen. Denn einfach einen solchen ‚König der Wälder‘, wie die Wittgensteiner die Tiere nannten, abzuschießen und zu verwerten, kam legal überhaupt nicht in Frage. Da musste schon jemand bereit sein, dieses Wagnis einzugehen und sich nicht erwischen zu lassen.

Mancher Sauerländer Waldbesitzer hätte sicher gerne mal ein solches Tier erlegt. Als Wiedergutmachung dafür, dass die Viecher sich schadlos an den Rinden ihrer Buchen oben am Rothaarkamm und anderswo hielten. Und weil die meisten von den Waldbauern ohnehin Jagdrecht auf dem eigenen Terrain besaßen.

Aber Natur- und Artenschutz waren da gnadenlos. ‚Finger weg von den Gewehren‘, war selbst vom Bundesgerichtshof gemahnt worden, der sich über Jahre mit der Causa ‚Wisente in freier Wildbahn‘ beschäftigt hatte.

„Was denn? Und der ist anschließend knapp an Ihnen vorbeigerast?“ Hannes Langenberg konnte gar nicht so schnell schreiben, wie die Wellers von ihrem ungewöhnlichen ‚Nahtod-Erlebnis‘ berichteten. „Komm Theo, mach Du bitte mal weiter“, bat er den Kollegen Schöneborn. „Ich krieg schon Krämpfe in den Fingern.“

Erstaunlich schnell waren die beiden Polizeikommissare aus Berleburg hinauf zum Tatort gekommen. Und das in dieser Herrgottsfrühe. Durchs Homrighäuser Tal und oben auf Kühhude rechts. Immer dem Kammweg nach.

Obwohl Hannes ziemlich rumgeeiert hatte, von wegen „fehlender Zuständigkeit“. Könne ja immerhin sein, dass man sich bereits auf „kölschem Territorium“ bewege.

Theo hatte den Kopf geschüttelt. Manchmal konnte der Kollege einem mit seiner Übervorsicht echt auf den Zeiger gehen. „Wir gucken uns das genau an, wenn wir vor Ort sind. Okay?“

Als sie bei den Wellers angekommen waren, wurde beim Blick auf das Navi-Display deutlich, dass der Tatort tatsächlich gut 60 Meter diesseits der Grenze zum Sauerland lag. „Verdammt knapp, aber unser Fall“, brummelte Langenberg schließlich.

Ziemlich wortreich und gespickt mit verständlichen Emotionen hatten die beiden Radler aus der Kurstadt den Vorfall vom frühen Morgen geschildert. „Wir haben den Menschen ja gar nicht bemerkt. Der muss schon deutlich länger dort auf der Lauer gelegen haben. Denn wir standen hier schon gut 20 Minuten, um die Herde zu beobachten. Immer wieder ein erhabener Augenblick, diesen mächtigen Tieren zu begegnen.“

Ute Wellers Augen glänzten vor Begeisterung. „Wir wissen ziemlich genau, wie wir uns dann zu verhalten haben.“ Schließlich sei es nicht das erste Mal gewesen, dass sie die Tiere in den Wäldern am Rothaarsteig angetroffen hätten.

„Wie denn?“, wollte der Kommissar wissen, „kommen Sie häufiger um diese Zeit mit Ihren Rädern hier rauf?“

„Nur am Wochenende“, klärte ihr Mann auf. „So´n bisschen auspowern.“

„Ja, aber das sind doch gut sieben Kilometer von der Stadt hier auf den Kamm.“

„Stimmt. Sogar noch etwas mehr. Und rund 270 Höhenmeter.“

„Ordentliche Strampelei“, bemerkte Schöneborn anerkennend, erkannte jedoch beim Blick auf die Fahrräder, dass die beiden Sportskanonen E-Bikes an einen Baum gelehnt hatten. „Na ja, fast ordentlich“, legte er grinsend nach. Froh, dass die Anspannung bei den Wellers gewichen war.

Doch die kam wieder, als das Ehepaar berichtete, wie es plötzlich von dem Schuss überrascht worden war.

„Und dann dieser Einschlag direkt neben meiner Frau. Der kam nahezu gleichzeitig mit dem Knall. Von irgendwo dort hinten kam der“, erzählte deren Gatte. „Die Wisente sind in Panik in den Wald geflüchtet und wir haben uns auf den Boden geworfen. Wir wussten ja nicht, ob dieser Irre nochmal schießen würde.“

„Der Irre? Waren Sie sich da so sicher?“

„Na ja, es hätte natürlich auch eine Frau sein können. Das war noch nicht so ganz klar, bis er kurz nach dem Schuss lautstark geflucht und dabei seinen Namen genannt hat.“

„Wie bitte? Seinen Namen genannt?“ Schöneborn mochte das gar nicht glauben. „Wie das denn?“

„Er hat erst ‚Scheiße, scheiße, scheiße‘ und dann ‚Hennecke, du Vollidiot‘, gebrüllt.“

„Gibt´s ja nicht. Er hat tatsächlich ‚Hennecke du Vollidiot‘ gerufen?“

„Allerdings.“

Der Polizist schrieb leicht erheitert den Namen auf.

„Später haben wir bei der Vorbeifahrt des Unimogs hier auch einen Mann am Steuer erkennen können. Das muss er ja gewesen sein. Es war ja sonst weit und breit keine Menschenseele zu sehen.“

„Was passierte denn in der Zwischenzeit?“

„Was meinen Sie?“

„In der Zeit zwischen dem Schuss und der Vorbeifahrt hier bei Ihnen“, hakte Schöneborn nach. „Was ist da passiert und wie viel Zeit ist da verstrichen?“

Die beiden schauten einander an. „Wie viel Zeit?“, flüsterte Ute. „Höchstens vier, fünf Minuten. Als wir den Motor hörten, ist Peter sofort aufgesprungen und hinter dem Geräusch her, um den Typen noch zu erwischen.“

„Ja, aber ich hab´ nur zwei, drei Fotos mit dem Handy hinbekommen. Ach Gott, das haben wir ja vor lauter Aufregung vergessen, ‘tschuldigung.“

„Was denn?“, stutzte Hannes, „Sie haben den Unimog auch noch fotografiert?“

„Na klar. Auch, als er hier vorbeigebrettert kam.“

Weller kramte sein Handy hervor und lud ein Foto nach dem anderen aufs Display.

„Das ist ja mal wirklich außergewöhnlich.“ Die beiden Polizisten waren baff. Das Paar hätte ihnen kaum etwas Besseres liefern können.

Peter überließ Langenberg sein IPhone, damit er die Fotos zur Fahndung an die Wache in Berleburg durchgeben konnte.

Schöneborn hatte sich derweil die Stelle zeigen lassen, wo sich der Querschläger in den Boden gebohrt hatte. „Ich hatte ihn zunächst ja nur gehört. Aber als ich das hier sah …“, deutete Weller auf den Waldboden.

Gut fünf Minuten später hatten sie das Teil geborgen. Es hatte nicht tief im Waldboden gesteckt. Weil es schräg eingedrungen war. „Typischer Querschläger halt“, kommentierte Theo den Fund. „Ein ganz ordentlicher Brummer übrigens, Frau Weller. Da können Sie echt von Glück sagen, dass der Sie nicht …“

Weiter musste er gar nicht reden. Ute hatte das Geschoss angeschaut, hörbar geschluckt und war dann mit großen Schritten im Wald verschwunden. Der Anblick hatte die Korrespondenz ihrer Seh- mit den Magennerven endgültig überstrapaziert. Ihr Mann folgte ihr mit einer Flasche Wasser.

Vor dem alten Forsthaus am Schlümper Bruchsiepen schreckte Josch Dörnbach aus dem Halbschlaf hoch. Hinter ihm knirschte der Splitt unter den Reifen eines Fahrzeugs. Interessiert schaute der Top-Metzger in den Rückspiegel, konnte aber nur die Frontscheibe eines Wagens erkennen. Der musste direkt hinter ihm angehalten haben.

Mit einem Satz war er aus seinem Jeep raus und auf dem Weg nach hinten, blieb aber dann erschrocken stehen. Denn statt des erwarteten Hausbewohners schälten sich gerade zwei Uniformierte aus einem Streifenwagen und steuerten auf ihn zu.

Schwer zu sagen, ob sie erkannt hatten, dass er drauf und dran war, sich in die Hosen zu machen. Jedenfalls ließen die sich nichts anmerken. „Hallo“, sagte der eine ziemlich freundlich, „sind Sie Lutz Hennecke?“

„Ich? Äh nein.“

„Aha, wer sind Sie dann?“

„Äh …, ich?“

„Ja, Sie. Wie heißen Sie bitte?“

Das dritte „Äh“ war eindeutig zu viel, das war ihm auch klar. Aber er hatte es nicht mehr zurückhalten können. „Äh …, mein Name ist Josch Dörnbach. Weshalb fragen Sie?“

„Weil Sie offenbar nicht Lutz Hennecke sind und wir gerne wissen möchten, mit wem wir es zu tun haben. Mein Name ist übrigens Rainer Polewka, das ist der Kollege Seidenschnitzer. Wir sind von der Polizei in Schmallenberg. Wissen Sie denn, wo wir Herrn Hennecke finden können?“

„Ich?“

„Ja, Sie.“

„Nö.“ Mehr hätte er auch nicht herausbringen können. Denn seine Kehle war ausgedörrt. Blitzartiges Auftreten von Angsttrocknung.

Polewka kratzte sich an der Stirn. Was für ein hypernervöser Vogel war das denn? Dem ging ja der Stift 1:100.000.

„Aber was Sie hier machen, das wissen Sie doch sicher.“

Sein Gegenüber musste sich räuspern. „Wieso? Ist das verboten, hier zu steh´n?“, fragte er mit heiserer Stimme nach.

„Keineswegs. Wenn man mal davon absieht, dass Sie den für den allgemeinen Verkehr gesperrten Anliegerweg hierher benutzt haben. Da sollte man schon wenigstens ein Anliegen haben. Zum Beispiel, um einen Anlieger an einem solchen Weg aufzusuchen. In diesem Fall Herrn Hennecke.“

„Wieso?“

„Weil das der einzige Anlieger hier ist.“

Der Metzger schluckte. „Der einzige?“

„Ja, der einzige. Kann es sein, dass Sie hier auf jemand anderes warten?“

„Ich?“

„Ja, Sie.“

„Äh …, nö.“

„Wissen Sie was, das Frage-Antwortspiel ist mir zu blöd. Geben Sie mir bitte mal Ihre Papiere. Führerschein, Fahrzeugschein und Personalausweis. Und dann überlegen Sie sich ganz schnell mal eine plausible Antwort auf die Frage, was Sie hier machen.“

Während Dörnbach mit zittrigen Fingern die Papiere in seinem Fahrzeug zusammensuchte, hatte Jörn Seidenschnitzer den Jeep und den Tandemanhänger etwas genauer unter die Lupe genommen. „Was transportieren Sie in dem Wagen, Herr Dörnbach?“, fragte er über dessen Schulter hinweg.

Der Gefragte drehte sich um, gab Polewka die Papiere und antwortete mit plötzlich erstarkter Stimme: „Fleisch- und Wurstwaren. Ich bin Metzger in Schüllar auf der anderen Kammseite. Der Hänger hat ‘ne Kühlung.“

„Das sehe ich. Die ist aber im Moment aus. Und was haben Sie geladen?“

„N… nix.“

„Dürfen wir mal reinschauen? Machen Sie bitte hinten auf.“

„Wieso? Da is´ doch nix drin. Hab ich doch gesagt.“

„Machen Sie auf, bitte!“

Mit steifen Knien stakste der Filet-König um sein Gespann herum und öffnete in Zeitlupe den doppelten Stahlverschluss des Kühlanhängers.

„Danke!“, rief Seidenschnitzer, „gehen Sie jetzt bitte fünf Schritte zur Seite!“ Dann schwenkte er erst den einen, dann den anderen Türflügel auf und blickte verdutzt hinein. Der Hänger war tatsächlich leer. Er hatte mit etwas anderem gerechnet. Nur mit was, das wusste er selbst nicht so genau.

Polewka, der sich neben dem Kollegen eingefunden hatte, zuckte mit den Achseln und drehte sich zum Fahrzeugbesitzer um. „Alles in Ordnung mit Ihren Papieren. Aber jetzt mal Butter bei die Fische. Was wollten Sie hier?“

Dörnbach hatte während der Inaugenscheinnahme des Anhängers seinen Blick schweifen lassen und einen riesigen Stoß Buchenholzknüppel entdeckt. Der lagerte links im Hang unter Wellblechplatten seiner Trocknung entgegen. Das war die Rettung. „Holz wollte ich!“, schoss es aus ihm heraus. „Ich wollte Holz holen. Buche. Brauche ich dringend – für Schinken und Wurst, zum Räuchern.“

„Aha. Und warum sagen Sie das nicht gleich?“

„Weil …, weil ich immer ‘nen trockenen Mund krich, sobald Polizei auftaucht.“

„Jetzt geht´s aber los, Herr Dörnbach. Weil wir aufgetaucht sind“, grinste Polewka mit schaukelndem Kopf. „Geben Sie´s zu, Sie wollten das Holz klauen. Und wir kamen gerade hinzu, als Sie aussteigen und laden wollten.“

Der Metzger bemühte sich, durch Luftanhalten einen roten Kopf zu bekommen. Beschämt dreinblickend schlug er theatralisch die Augen nieder. ‚Sie haben´s gefressen‘, dachte er triumphierend. „Na ja, also … “, knödelte er rum, „ich hab´ ja nix angepackt – bis jetz.“

„Bis jetzt. Richtig. Was hätten Sie denn gemacht, wenn wir hier nicht aufgetaucht wären und an unserer Stelle der Herr Hennecke.“

„Auf den habbich aber doch gewartet.“

„Gut, dann warten wir gemeinsam auf ihn. Alles klar?“

„Ja, aber das dauert mir zu lange. Ich bin nämlich schon ‘ne ganze Weile hier“, log Dörnbach und stieg in seinen Jeep. „Da muss ich mir das Holz eben woanders holen.“

„Machen Sie das. Ihr habt doch in Wittgenstein bestimmt genug Buchenknüppel rumliegen.“

„Ja, aber die hier waren mir versprochen. Die sind pulvertrocken und ideal für mich.“

„Hauen Sie bloß ab, Mensch, bevor wir´s uns noch anders überlegen“, belegte Seidenschnitzer den Mann mit einem ultimativen Abmarsch-Befehl und setzte den Streifenwagen zurück. Hätten er oder der Kollege mal unter den Lodenmantel auf dem Rücksitz des Jeeps geschaut, wäre des Metzgers Abfahrt mehr als nur verzögert worden.

Im Kriminalkommissariat im Herrengarten herrschte relative Ratlosigkeit. Langenberg und Schöneborn hatten die Kollegen Pattrick Born und Sven Lukas über ihre Erkenntnisse informiert. Die einzigen Beweismittel, ein Reifenabdruck in Gips und das Karabinergeschoss, waren fotografiert worden und längst auf dem Weg ins Labor.

„Das ist wirklich mehr als dürftig“, hatte Lukas resümiert. Sie wussten zwar, wie der Unimog-Besitzer hieß und wo er wohnte. Aber wie sollten sie dem nachweisen, dass er der Schütze war? „Wir müssten ihn halt persönlich vor die Flinte kriegen“, meinte Lukas, „dann würden wir das schon aus ihm rausschütteln.“

„Ganz schön schräg, Dein Plan“, grinste Hannes Langenberg.

„Was meinst Du?“

„Na, das mit dem vor die Flinte kriegen.“

„Ach so, nee. Ihr wisst, wie ich das meine.“

„Klar. Aber so schnell werden wir ihn wohl nicht vor der Flinte haben. Die Kollegen aus Schmallenberg waren ja an dessen Haus, im Wald bei Schanze. Niemand da. Nur so´n Metzger aus Schüllar hat mit seinem Jeep samt Kühlanhänger dort im Hof gewartet. Der hatte denen erzählt, er wolle Buchenholz fürs Schinken- und Wursträuchern abholen.“

„Ein Metzger aus Schüllar? Das kann nur Dörnbach gewesen sein. Sonst gibt´s dort keinen Metzger. Auch keinen Hausschlachter, soweit ich weiß.“ Born kniff die Augen zu und überlegte. „Wieso fährt der denn ins Sauerland, um Holz zu holen? Wir haben doch hier genug davon. Hat´s dem jetzt die Fleischerkrone verbogen, oder was?“

„Vielleicht hat er´s dort besonders billig bekommen. Da lagen wohl ziemliche Holzstapel rum, berichten die Kollegen. Trotzdem. Die hatten den Eindruck, dass der Mann ziemlich nervös war. Weiß der Himmel“, zuckte Hannes mit den Schultern, „vielleicht geht dem einfach der Stift, sobald er nur ‘n Streifenwagen zu Gesicht bekommt.“

„Glaub´ ich nicht“, widersprach Pattrick Born. „Der hat die Schmallenberger schlicht belogen.“

„Wie kommst Du denn darauf?“

„Weil man fürs Räuchern kein massives Buchenholz braucht, sondern Buchen-Sägemehl. Und das kriegt man nicht von irgend einem x-beliebigen Holzhaufen, sondern in der Regel vom Schreiner oder aus dem Sägewerk. Glaubt mir, der Kerl hat die Jungs bekrückt. Der wollte was ganz anderes. Und wisst Ihr, was?“

„Natüüüürlich!“ Sven, Hannes und Theo war es gleichzeitig wie Schuppen von den Augen gefallen. „Der hat auf Frischfleisch gewartet. Auf den toten Wisent. Ich Rindvieh. Deswegen auch der Kühlanhänger.“

„Leute …“, beschwichtigte Lukas, „wisst Ihr, was Ihr da mutmaßt? Das wäre ja der Hammer schlechthin. Wilderei in Tateinheit mit einem eklatanten Verstoß gegen das Artenschutzgesetz. Der Wisent steht unter Schutz der europäischen Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie. Ich hab´ mich da mal schlau gemacht.“ Dabei wedelte er mit einem Computerausdruck. „Wer dagegen verstößt, der kriegt den Kopf abgerissen.“

„Klar. Aber wo kein Täter, da kein rollender Kopf“, lachte Pattrick. „Kann ja durchaus sein, dass Du, wenn du ein solcher Star in der Metzgergilde bist, deiner verwöhnten Kundschaft immer wieder mal was Neues bieten musst. Mit trivialem Angusrind oder Hällischem Landschwein gibt sich die High Society vielleicht nicht immer zufrieden. Da muss es auch schon mal Känguru sein. Oder … Wisent.“

Plötzlich war Lukas klar, wo man jetzt ansetzen musste. „Dem Herrn werden wir mal einen Hausbesuch abstatten. Okay?“

„Und den Wilddieb schreiben wir vorsorglich zur Fahndung aus. Diesen Hennecke, oder wie der heißt.“

„Hennecke, Lutz Hennecke“, bestätigte Pattrick. „Für uns ist der bisher ein weißes Blatt. Hat keinen Eintrag bei POLAS, keinen in Flensburg, allerdings auch keinen Waffenschein und keine Waffenbesitzkarte.“

„Schweinebacke, damit kriegen wir dich. Sobald du uns mit deiner Flinte über den Weg läufst“, grinste der ‚Freak‘ entschlossen und wandte sich ab, um zu gehen.

„Wohin des Wegs, Ihro Gnaden?“, rief ihm Born mit hochgezogenen Augenbrauen hinterher.

„In Gottes freie Natur. Lass uns erst mal in den Wald fahren und ‘n bisschen umgucken.“

„Nach was?“

„Nach Hennecke. Es gibt ja nur zwei Möglichkeiten, wo sich der Vogel rumtreiben könnte. Im Sauerland, da suchen die Kollegen schon, oder in Wittgenstein. Und da sind wir unterwegs. Komm!“ Im Rausgehen meldete Sven sich und den Kollegen noch schnell bei der Leitenden am Funktisch ab. „Sind unterwegs im grünen Tann.“

„Du meinst, unter vertrockneten braunen Fichten“, korrigierte ihn Tina Bald und verkniff sich einen Lacher.

‚Fichten. Leider. Aber wer weiß, ob das Waldsterben unter Tannen nicht auch so um sich gegriffen hätte‘, dachte sie und schaute den beiden nach. Sie war neu im Team. Erst Anfang Juni von Köln hergewechselt. Sie hatte dort ordentlich Karriere gemacht, wollte aber unbedingt zurück in die Heimat. Eine Heimat, in der die Wälder in atemberaubender Geschwindigkeit verreckten.

„Übrigens, wir fahren danach mal beim Filet-König in Schüllar vorbei“, rief Pattrick, bevor er die Glastür ins Schloss fallen ließ. Das „oh, bring mir mal was Schönes von dort mit“, hatte er leider nicht mehr gehört.

Seit er von dem missglückten Abschussversuch am Rothaarkamm erfahren hatte, war einer in allerhöchster Alarmstimmung. Jörg Böhl, der Wisent-Ranger aus Wingeshausen. Seit jeher betrachtete er bereits den geringsten öffentlichen Angriff gegen die Existenz der Tiere im Rothaargebirge als einen auf seine Person.

Dass jetzt aber zum wiederholten Mal ein Wilddieb den Versuch gemacht hatte, einen dieser mächtigen Pflanzenfresser zu erlegen, war für ihn schlicht unerträglich. Schon das Verschwinden und der spätere qualvolle Tod eines Jungbullen, der im Westerwald gefunden worden war, hatte ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Das Tier war, wie sich nach dem Gnadenschuss durch einen Jäger herausstellte, mehrere Wochen zuvor durch ein Geschoss verletzt worden. Danach war es nicht mehr in der Lage, ausreichend Futter aufzunehmen. Schließlich konnte der Bulle nicht einmal mehr aufstehen und magerte bis auf die Knochen ab. Seine Tötung war letztlich eine Gnade für ihn gewesen.

War dieser Wildfrevler derselbe, der jetzt oben bei Kühhude zugeschlagen hatte? War er es, der nach einem erneut verunglückten Schuss mit seinem Unimog geflohen und nicht mehr aufzufinden war? Jörg Böhl würde das herausfinden.

Zwar hatte sich die Polizei geweigert, ihm die Personalien des Mannes zu geben. Schon allein wegen des Datenschutzes. Trotzdem war der Wisent-Ranger sicher, dass er ihn ausfindig machen würde. So viele Unimogs aus Militärbeständen gab es dann doch nicht in der Gegend.

Er hatte aus vielen Gesprächen mit und vor allem Verwünschungen von manchem Sauerländer Waldbauern zudem einen ziemlich klaren Überblick über die Zahl derer, die liebend gerne mal zur Flinte gegriffen hätten, um einem der Viecher den Garaus zu machen. Angeblich nur wegen besonderen Appetits auf die Rinde der Sauerländer Buchen.

Das war zwar nur eine Handvoll schießgeiler Männer. Doch die gehörten zu jenen Waldbesitzern, die seit Jahren gerichtlich gegen die Existenz der Wisentherde am Rothaarsteig zu Felde zogen. Sie waren es, die beim Bundesgerichtshof vorstellig geworden waren, um die Tiere aus ihren Buchenwäldern verbannen zu lassen.

Und genau denen wollte Böhl auf den Zahn fühlen. Einem nach dem anderen. Also packte er kurzerhand seinen Arbeitsrucksack, sprang in seinen Pickup und startete Richtung Jagdhaus. Er wusste zwar noch nicht, wie er bei seiner Suche vorgehen wollte. Aber da würde ihm schon was einfallen, auf dem Weg zum Kamm hinauf.

Josch Dörnbach brummte wie ein Transformator. Der Star-Metzger, der mit bürgerlichem Vornamen eigentlich Heinrich hieß, hätte sich vor lauter Zorn beim Filetieren beinahe in die Finger geschnitten.

Das unheimlich scharfe Messer landete aber knapp daneben. In der Lende eines Angusrinds. Ein wenig erschrocken war er schon. Doch da musste er durch. Ein Künstler wie er trug nun mal keine Kettenhandschuhe.

Und hieß auch nicht Heinrich, wie schon sein Vater, sein Großvater und wer weiß wie viele Vorväter, die alle schon Metzger gewesen waren.

Nein, er hieß, und das stand jetzt so auch in seinem Pass, Josch. Nicht einmal Joschka oder Joschua. Nein, einfach nur Josch!

Das mit dem Nachnamen Dörnbach hatte er gerade noch so verkraftet. Daran, so hatte er nach Übernahme der elterlichen Metzgerei überlegt, würde seine erlauchte Kundschaft keinen Anstoß nehmen. Hätte sie auch am Vornamen Heinrich nicht. Aber so weit denkt ein zu allem entschlossener Künstler nicht.

Und als solcher verstand er sich, seit es ihm gelang, den durchaus schon renommierten Betrieb der Familie für Gourmets weit über Siegen-Wittgenstein und das weite Umland hinaus bekannt zu machen. Und das bereits zu Zeiten, in denen er noch an seinem Meisterbrief und in Papas Wurstküche arbeitete.

Josch hatte nämlich eine Anzeigenkampagne in Feinschmeckerzeitschriften gestartet. Mit einem aus der Weinwerbung abgekupferten Slogan und ohne das Wissen seiner Altvorderen. ‚Die Kunst, dem Gaumen zu schmeicheln‘ hatte er darin versprochen und damit ganz offensichtlich den Nerv unzähliger fleischlüsterner Schöngeister getroffen.

Als sich kurz darauf tatsächlich Autofahrer mit fremden Kennzeichen die Parkplätze vorm Metzger in Schüllar streitig machten und demselben förmlich die Bude einrannten, musste (damals noch) Heinrich liefern.

Und er lieferte. Wie verrückt! Abermals ohne das Wissen des Vaters hatte er sündhaft teures Fleisch eingekauft. Angus, Hochland, sogar Känguru. Und damit waren die Zeichen auf Erfolg gestellt. Das Geschäft ging ab wie Schnitzel, um im Bilde zu bleiben.

Noch unter dem Namen ‚Dörnbachs Landmetzgerei‘ wurde der Laden am Polizeiweg in Schüllar zum Eldorado für Feinschmecker. Zu denen natürlich in erster Linie die Reichen und manchmal auch Schönen gehörten, die das weiß gekachelte 50er Jahre-Ambiente liebten. „Aah, Vintage. Herrlich“, hatte nicht nur eine hochhackige Promi-Maus begeistert ausgerufen.

Er hatte einfach alles richtig gemacht! Auch der ursprünglich so skeptische Vater hatte das bald begriffen und seinem Filius am Tag nach bestandener Meisterprüfung Laden und Metzgerei überschrieben.

Fortan schwamm Josch Dörnbach auf einer Woge des Erfolgs. Denn die Qualität seiner Produkte war vom Feinsten. Er hatte es einfach drauf, beherrschte alle Register, die man in diesem Genre nur ziehen konnte.

Doch nun stand er in seinem Fleischatelier und schnitt Angus-Filets, statt einen Wisent auszunehmen. Wie sollte er das Fiasko nur seinem erlauchten Kundenkreis beibringen? Menschen, die er teils per Mail, teils per Telefonkontakt richtiggehend heiß auf das besondere Produkt gemacht hatte. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit, versteht sich.

Während er so gründlich, wie er es unter diesem Druck überhaupt vermochte, das teure Fleisch schottischer Rinder zerlegte und ladenfertig machte, fluchte er zum Gotterbarmen.

In zehn Minuten würden die ersten Kunden vor der Ladentheke stehen. Und mit Sicherheit nicht wenige von ihnen würden nach Wisent fragen und sich möglichst weit vorne in das Bestellbuch eintragen lassen. Damit ihnen um Himmels Willen diese einmalige Chance auf Fleisch vom heimischen Wildrind nicht flöten ginge.

Den Gourmets war natürlich klar, dass das Fleisch mindestens zwei Wochen abhängen und ‚reifen‘ muss, wie der Fachmann sagt. Gerade deshalb war es wichtig, rechtzeitig eine Bestellung aufzugeben.

Woher sollte er jetzt so schnell Fleisch vom wilden Wisent bekommen? Von freilebenden Tieren? So gut wie ausgeschlossen. Die größten Herden lebten streng geschützt im Białowieża-Urwald in Polen. Nur zur Regulierung der Population durften dort Tiere gejagt und getötet werden. Kaum eine Chance also für den Fleisch-Fellini, dort erfolgreich einkaufen zu können.

Und selbst wenn. Bei dem augenblicklichen Preis ein Ding der Unmöglichkeit. 115 Euro das Kilo. Dazu die Kosten für den Kühltransport durch unsicheres Gebiet. Bei der Menge, die er brauchte und bei den derzeitigen Verhältnissen durch den Ukraine-Krieg. Das wäre für ihn einfach nicht zu stemmen.

Dörnbach brummte der Kopf. Nur kurz dachte er darüber nach, Fleisch von Zuchttieren aus Gattern zu kaufen und anzubieten. Doch den Gedanken verwarf er schnell wieder. Das Produkt habe alles andere als einen exklusiven Geschmack, hatte er in einer Fachzeitschrift gelesen.

Er hatte sich einfach zu weit aus dem Fenster gelehnt mit seinem Angebot. Und jetzt diese Blamage … Er musste nach vorne, um seine Leute hinter der Theke zu informieren. Noch bevor die ersten Kunden kamen. In zwei Minuten würden sie öffnen.

Missmutig feuerte er das letzte Filetstück auf das bereits portionierte Fleisch in der Wanne und schmiss sein Messer quer durch sein ‚Atelier‘. Schnarrend blieb es in der Tür zu seinem Büro stecken. Doch ehe er wieder richtig klar im Kopf wurde, bimmelte die kleine Glocke über der Eingangstür.

„Hennecke, du Hundesohn!“, zischte er, „wenn ich dich erwische, schneide ich dir die Klöten ab und stopfe sie dir in die Schnauze.“ Dann brachte er das Fleisch nach vorne und lächelte den ersten Kunden entgegen.

Hennecke befand sich seit Stunden auf einer Art Irrfahrt durch die Wälder am Rothaarkamm. Natürlich war ihm auf seiner wilden Flucht das Radlerpaar am Wegesrand aufgefallen. Interessiert hatten die beiden ihm hinterhergeschaut. Der Mann hatte sogar sein Handy hochgerissen und seinen Unimog fotografiert.

Hypernervös schaltete er einen Gang hoch und gab Gas. „Verdammt nochmal.“ Die würden ihn jederzeit identifizieren können. Und wenn sie auch noch die Geschichte mit dem Schuss mitbekommen hatten, war für ihn die Messe gelesen. ‚Dann ha´m se mich‘, dachte er verbittert.

Wenig später aber machte sich ein Grinsen in seinem unrasierten Gesicht breit. ‚Vielleicht aber auch nicht. Mit der Knarre in der Hand können die mich ja gar nicht gesehen haben. Sonst hätte ich sie ja auch gesehen. Da war aber niemand in der Nähe‘, war er fest überzeugt. ‚Sonst wären die Wisente ja abgehauen.‘

Es konnte ihm also niemand etwas nachweisen. „Da muss jemand anders geschossen haben“, würde er argumentieren. Und das beruhigte den verhinderten Wildschütz schon ein wenig.

Aber eben nur ein wenig. Denn sein anderes Problem, das mit dem Metzger, wog mindestens ebenso schwer wie eine mögliche Anklage wegen Wilderei.

Was hatte er für weite Bögen gespuckt, als er Josch, der für ihn immer noch Heinrich hieß, in die Hand versprochen hatte, an diesem frühen Samstagmorgen seine Schulden begleichen zu wollen. „Und zwar mit etwas, wovon Du bisher nicht mal zu träumen gewagt hast.“

„Aha. Mit was denn?“

„Mit Wisentfleisch“, war es aus ihm herausgeplatzt. „Und zwar in Mengen, die Du auf Anhieb gar nicht verarbeiten könntest.“

Ungläubig hatte ihn sein alter Klassenkamerad aus der Berufsschule angeschaut. „Mit Wisentfleisch? Wo willst Du das denn herhaben? Doch nicht hier aus´m Wald, oder?“

„Doch“, hatte Hennecke grinsend geantwortet: „Das schieß‘ ich mir sogar selbst.“

„Du bist ja nicht ganz dicht, Alter“, war der Fleischkünstler fast ausgerastet. „Bist Du Dir eigentlich im Klaren, was Du da vorhast, Du Blödmann? Die stecken Dich in den Knast, wenn sie Dich erwischen.“

„Ach, Schwachsinn. Mich erwischt keiner.“

„Und wenn doch? Das ist nicht nur Wilderei. Das ist auch ‘n klarer Verstoß gegen den Artenschutz. Mann, Du warst doch selbst mal Metzger. Die Wisente sind untouchable, wenn Dir das noch was sacht. Du siehst doch, was die Viecher alles machen, ohne dass denen einer ans Leder kann. Die fressen den Waldbauern die Bäume kaputt. Und die müssen zugucken.“

„Ja, eben. Deshalb wird mir auch keiner von unseren Leuten böse sein. Ein Vieh weniger ist ein Fresser weniger“, hatte Hennecke mathematisch sauber errechnet. „Und die müssen ja auch nicht wissen, dass ich das war.“

„Ja, von Euren nicht. Aber bei uns in Wittgenstein gehen sie Dir an die Wäsche. Darauf kannst Du wetten.“

Doch auch mit diesem Argument hatte Josch nicht landen können. „Was denn? Läuft bei Euch hinter jedem Wisent ‘n Wärter her? Du hast doch selbst schon mitgekriegt, dass immer wieder mal so´n Tier ausbüxt. Da weiß doch keine Sau, wo die sich rumtreiben.“

Irgendwie hatte der säumige Schuldner schließlich bei seinem Gegenüber einen Nerv getroffen. Wisent-Filet. Wer konnte so etwas schon anbieten? Natürlich nicht öffentlich. Nur unter der Ladentheke, das war klar. Aber da würde sich schon ausreichend Kundschaft finden. Er kannte die Vorlieben des Einen oder der Anderen ziemlich genau.

Also kamen die beiden überein, dass Hennecke liefern würde. An diesem Samstag, in aller Herrgottsfrühe. Die 5.000 Euro, die er ihm plus Zins und Zinseszins schuldig war, sollten mit drei Zentnern Wisentfleisch abgegolten sein. Über die Verwertung der großen restlichen Fleischmenge wollten sie sich gütlich einigen, hatten sie sich in die Hand versprochen.

„Nur halte mich aus der ganzen Klamotte raus“, hatte Josch noch gefordert. „Wenn Du das nicht akzeptierst, platzt der Deal auf der Stelle und Du blechst die 5.000 Tacken heute noch cash auf die Kralle. Ist das klar?“

Na klar, war das klar. Musste klar sein. Denn die geforderte Summe hätte Lutz Hennecke niemals aufbringen können. Nicht mehr. Weder aus der eigenen Tasche, noch hätte ihm irgendeine Bank auch nur einen roten Cent geliehen. Denn der Mann aus dem alten Forsthaus war verschuldet bis zur Halskrause.

Das Desaster hatte damit begonnen, dass seine eigene kleine Metzgerei plötzlich kaum mehr Umsatz machte. Ein nagelneuer Supermarkt mit riesiger Fleischabteilung schnappte ihm innerhalb kürzester Zeit derart viel Kundschaft weg, dass sich das morgendliche Aufsperren des Ladens nicht mehr lohnte. Als die Insolvenz drohte, hatte Hennecke hingeschmissen.

Kurz darauf waren seine Eltern gestorben und hatten ihm das alte Forsthaus hinterlassen. Welch ein Glück, dachte er trotz allen Leids. So brauchte er nirgends mehr Miete zu zahlen. ‚Nur ein wenig sanieren wäre schön‘, hatte er sich vorgenommen. Als er aber die Handwerkerrechnungen in Händen hielt, musste er feststellen, dass sein gesamtes Erbe dafür draufgegangen war.

Er hatte sich total verzockt. Und er geriet in Panik. So schnell wie möglich wollte er das einsame Juwel am Bruchsiepen verkaufen. Doch auch daraus wurde nichts. Denn so einsam, mitten im Wald, ohne Pool und mit gelegentlichem Besuch von Wisenten, die man nicht einmal schießen durfte, das hatte sich dann doch keiner der potenziellen Investoren vorstellen können.

Hennecke haderte mit sich und der Welt, begann zu saufen und verlor schließlich seine Anstellung bei einem Fleischer in Oberkirchen. Was ihn bis dahin halbwegs über Wasser gehalten hatte, ließ ihn plötzlich gänzlich absaufen. Das Einzige, was er noch besaß, waren das Haus und sein Unimog, den er aus alten Armeebeständen gekauft hatte. Keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.

Wie es schließlich dazu kam, dass er in seiner Betrübnis über seinen eigenen Schweinehund sprang und seinen einst verhassten Klassenkameraden Dörnbach um Hilfe anbettelte, konnte er später selbst nicht mehr erklären. Den Banknachbarn aus der Berufsschule hatte er eigentlich gefressen.

Dörnbach war einer gewesen, der immer alles besser wusste und besser machte. Inklusive der Traumnote eins. Was Lutz rot vor Zorn hatte dastehen lassen. Und dann war der Wittgensteiner auch noch Protestant. „Das sieht man gar nicht gern im Sauerland.“ Hatte zumindest Jürgen von der Lippe so gesungen. Und dem mochte er nicht widersprechen.

Aber was soll´s? ‚In der Not frisst der Teufel fliegen‘, dachte er sich schließlich und quälte sich mit einem ganzen Fliegenschwarm zwischen den Zähnen nach Schüllar. Wo er einen hocherfreuten Metzger vorfand, der ihn vor Wiedersehensfreude beinahe umarmt hätte.

Hennecke wusste nicht, wie ihm geschah und brauchte eine Weile, sich an dieses unverhoffte Gefühl zu gewöhnen. Josch war ein ganz anderer, als der, den er meinte in Erinnerung zu haben. Freundlich, zugänglich, kumpelhaft. Als er von Henneckes Misere erfuhr, bot er ihm sofort Hilfe und sogar einen Job an.

Die Idee zu letzterem ließen sie aber wieder sausen. Die Gurkerei mit dem Unimog vom Forsthaus runter nach Oberkirch, rauf zum Albrechtsplatz und wieder runter über Dödesberg nach Schüllar. Das hätte aufstehen um halb drei bedeutet. Für Lutz keine Option.

„Sehe ich ein“, hatte der hilfsbereite Metzger-Kumpel gemeint und ihm schließlich eine Finanzspritze angeboten, die er nach einer gewissen Schamfrist wieder zurückzahlen könne.

Mit Tränen in den Augen und 5.000 Euro in der Tasche war der dankbare Sauerländer schließlich wieder über den Rothaarkamm heimgekehrt. Den Kopf voller Pläne. Vor allem mit einem Plan, wie man den unerwarteten Reichtum schlagartig mehren könnte. Denn ohne Job wäre das Geld schnell aufgebraucht und eine Rückzahlung unmöglich.

Doch auch der Versuch der ad-hoc-Sanierung, der im Casino Hohensyburg stattfinden sollte, ging gründlich schief. Und das, obwohl er am Roulettetisch 3 einen Traumstart hingelegt und sein Kapital mehr als verdoppelt hatte. In knapp drei Stunden und unter Einsatz von vier doppelten Whiskys.

Die Mitspieler am Tisch beneideten ihn um sein unglaubliches Glück. Doch als er lauthals und stark angetrunken „15.000 auf Rot“, ankündigte, hielten alle die Luft an.

„Rrrrr, Rrrrr, Rrrr“, die Kugel drehte im Kessel ihre Runden, kollerte immer langsamer werdend holpernd über die 37 Kammern. Und dann war für einen Moment Stille. Nur kollektives tiefes Durchatmen am Tisch.

In Lutz´ Kopf brauste und hämmerte es. Ein eisiger Schauer überkam ihn. Das „Huit, Noire“ des Groupiers hörte er nicht mehr. Brauchte er auch nicht. Er sah sie ja, die schwarze 8. Das wars! Alles hinüber.

Als er, dem totalen Zusammenbruch gerade entronnen, plötzlich aufsprang und seinen Stuhl auf dem Spieltisch zertrümmern wollte, wurde er von Saalordnern kurzerhand vor die Tür gesetzt und vom Casino lebenslang gesperrt. Die Rechnung für seine Drinks hatte ihm Hohensyburg gnädig erlassen. „Scheiß Zockerei!“

Wütend riss der Unimog-Fahrer das Steuer hart nach rechts. Links abbiegen auf dieser Wegegabelung könnte gefährlich sein. Keine Ahnung, ob und wo Dörnbach ihm auflauern würde. Dreimal hatte der schon versucht, ihn per Handy zu erreichen und natürlich keine Antwort aus dem Wald bekommen.

Eigentlich müsste er sicher vor ihm sein. Immerhin hatte Dörnbachs Landmetzgerei an Samstagen bis 14 Uhr geöffnet. Und ganz spezielle Kunden bekamen auch noch eine Stunde später was. „Von hinten, aus dem Kühlhaus“, hatte ihm Josch anvertraut.

„Du glaubst gar nicht, was das ausmacht. Solche Kunden sind richtig glücklich, nach teils kilometerlanger Anfahrt nach Ladenschluss noch bedient zu werden. Dafür zahlen sie auch gut – und kommen gerne wieder.“ Der Mann hatte sich wirklich eine Goldgrube geschaffen. Zugegeben, mit viel Arbeit zu ungünstigen Zeiten.

Hennecke schreckte hoch. „Mist, wo bin ich eigentlich?“ In Gedanken versunken war er auf dem eingeschlagenen Weg immer tiefer in den Wald hineingefahren, den er eigentlich gar nicht kannte. Klar, das war Wittgenstein. So viel war sicher. Und das hier gehörte alles dem „Berleburger Fürsten“, wie man landauf, landab sagte. Einem der größten Waldbesitzer Deutschlands. Aber wo er sich in dessen Reich bewegte … Keine Ahnung.

Mit tuckerndem Motor ließ er sein Fahrzeug bergab rollen. Bis er am Rand einer Lichtung, einer Waldwiese ankam und stehen bleiben musste. Die schon recht hoch stehende Sonne blendete ihn derart, dass er für eine Weile freiwillig die Augen schloss.

Als er den nachfolgenden Tränenfluss gestoppt hatte und wieder klar sehen konnte, versuchte er, sich mit Hilfe dreier Bergkuppen zu seiner Rechten zu orientieren. Hier war man auf gut 700 Meter Höhe, der Weitblick oben am beginnenden Steilhang fantastisch.

Wie er so spähte und überlegte, erschrak er plötzlich bis ins Mark. Schlagartig war sein Körper in Gänsehaut gehüllt. Waren da nicht tiefe Stimmen? Ein Gespräch, irgendwo in der Nähe? Oder war das nur seine Paranoia, die ihn seit Monaten gefangen hielt.

Lutz lauschte durch das offene Fahrerfenster. Nichts! Bis auf das Knistern der überhitzten Unimog-Maschine. Ansonsten Waldesruhe.

Vorsichtig stieg er aus und schaute sich um. Da war doch nichts, oder? Doch! Ein tiefes undeutliches Gebrummel drang den Berg hinauf an sein Ohr. Was war das? Menschen jedenfalls nicht.

Hennecke ging in die Hocke und schirmte mit einer Hand seine Augen gegen das grelle Licht, das durch das helle vertrocknete Gras auf der riesigen Lichtung zudem vom Boden her reflektiert wurde. Doch er wurde nicht schlau aus dem, was er dort hörte.

Im Hockergang arbeitete er sich weiter vor, um über einen kleinen Buckel weiter nach unten schauen zu können. Die Töne mussten doch von dort kommen. Kamen sie auch. Sie wurden immer deutlicher. Verdammt, wer oder was war das?

Langsam konnte er die ganze Wiese einsehen. Und dann entdeckte er den Grund. Die gesamte Wisent-Herde, die im Schatten des Waldes da unten friedlich brummelnd und schnaubend graste.

‚Ich werd´ verrückt. Das gibt’s ja gar nicht! So viel Glück kann man doch gar nicht haben. Mann, ich komme aus dem Schlamassel raus‘, jubelte er innerlich. Mit einem Blick versicherte er sich, da unten keine Fata Morgana gesehen zu haben. Dann robbte er zurück zum Unimog, um seinen Karabiner zu holen.

‚Jetzt sachte und ruhig bleiben‘, mahnte er sich, als Hennecke mit seiner Waffe wieder zu seinem Aussichtspunkt zurückkehrte. Er musste an sich halten, um nicht zu niesen und zu husten. Aus dem Gras, über das er robbte, zog er sich mit jedem Luftholen eine Phiole Staub in die Atemwege.

Doch dann war es geschafft. Die großen Tiere waren noch da. Mit ordentlichen Abständen verleibten sie sich alles ein, was die Grasnarbe so hergab. Bemerkt hatten sie ihn bei ihrer Mahlzeit nicht. Und bei der aufsteigenden leichten Brise sicher auch nicht gewittert.

Der Wildschütz machte sich fertig und visierte eines der vorderen Tiere an. Doch das verschwand beim Blick in die Visiereinrichtung fast vollständig hinter dem Korn. ‚Kacke, das ist zu weit weg‘, unterband Lutz seinen glühenden Jagdtrieb.

Mehr als 120, 130 Meter sollten das nicht sein. Versuche hinter seinem Haus hatten das gezeigt. Noch einen unkontrollierten Schuss konnte und wollte er sich nicht leisten.

Schweiß rann ihm den Rückenstrang herunter und verursachte ein unseliges Kribbeln zwischen seinen Pobacken. Egal, er musste die Position verändern.

Gut zwanzig Minuten brauchte er, die Herde stets im Blick, um auf eine akzeptable Entfernung heranzukommen. So, dass er das von ihm ausgewählte Tier in die Flanke treffen konnte. ‚Hochblatt‘, würde der Waidmann sagen.

Hennecke brachte sich wieder in Stellung, entsicherte den bereits durchgeladenen Karabiner und zielte testeshalber mal. Oben hinter den Muskel des rechten Vorderbeins wollte er den jungen Bullen treffen und mit möglichst einem Schuss sauber erlegen. Der Hüne sollte sich nicht quälen müssen.

Mit schweifendem Blick suchte der Gunman noch einmal die Fläche ab. Da war nichts und niemand – außer den Raufutterfressern.

Wieder versuchte er, seinen Atem zu beruhigen und präzise zu zielen, um dann mit wenig zittrigem Zeigefinger den Druckpunkt im Abzug zu finden. Jetzt galt es. Lutz drückte ab. „WUMM!“

Der Wisent brach, wie von einer unsichtbaren Macht k.o. geschlagen, auf allen vieren zusammen. Sein mächtiger Kopf krachte auf die Grasnarbe. Er starb allein. Denn seine Herde hatte sich unter einer gewaltigen Staubwolke in die Sicherheit des Waldes gerettet.

Hennecke war wie geplättet. Sein Herz wummerte, seine Ohren pfiffen und sein schweißgetränktes Hemd klebte am Körper. Noch immer wurde der Schuss von den umliegenden Bergen als Echo zurückgeworfen und weitergereicht. Das würde an einem solchen Tag nicht ungehört bleiben. Dafür waren zu viele Wanderer unterwegs.

Aber wer hätte den Knall schon zuordnen können. Geschossen wurde viel in den Wäldern.

Trotzdem, der Wisent musste weg. So schnell wie möglich. Am besten wäre, das tote Tier bis zum Abtransport ein wenig näher an den Wald heranzuschleppen. Nur wie? Das hatte er in der Kürze der Zeit in seinem mordlüsternen Hirn nicht bedacht.

Langsam pirschte sich der Wilddieb an seine Beute heran. Er wollte sicher sein. dass der Wisent tatsächlich tot ist und nicht etwa plötzlich aufspringt und ihn über den Haufen rennt.

Doch als er näherkam, war klar: das majestätische Tier war tot. Blut sickerte aus seinen Nüstern. Da bildeten sich keine Blasen. Also war auch kein Atem da.

Schnell zückte Hennecke sein Bowie-Knife aus dem Holster an seinem Koppel und versuchte, den riesigen Kopf des Bullen an einem Horn anzuheben.

‚Der muss ausbluten‘, gab er sich den Auftrag für einen Halsschnitt, ‚sonst kann ich das Fleisch vergessen.‘

Doch so einfach, wie sich der Laie das wohl vorstellen mag, so einfach war das beileibe nicht. Das war richtige Kärrnerarbeit. Keuchend und schwitzend drehte Hennecke den Schädel des Wisents so zur Seite, dass er wenigstens erahnen konnte, wo er unter den zotteligen Grannenhaaren unter der Kehle erfolgreich zum Schnitt ansetzen konnte.

Irgendwann hatte er es geschafft. Lauwarm war ihm das Blut über die rechte Hand und das aberwitzig scharfe US-Kampfmesser geflossen.

Wieder schaute und hörte sich der Wilddieb lauernd um. Nichts. Außer Vogelgezwitscher und einem Zeter und Mordio schreienden Eichelhäher. Der hatte schon Radau gemacht, als er aus dem Unimog gestiegen war.

Bis zu den Ellenbogen mit Unmengen Blut besudelt riss er sich jetzt sein kariertes Hemd vom Leib und schrubbte wie ein Irrer an sich herum. Ganz trocken werden konnte er vergessen. Das wusste er. Aber wenigstens die Hände sollten trocken sein.

Vorsichtig pickte er sein Handy aus der weiten Hosentasche und machte zwei Fotos, die er als Beweis für Dörnbach brauchte. Dann aber kam ihm eine Blitzidee.

Mit abermals gezücktem Messer und großen Schritten rannte er zu den Fichten am Waldesrand. Er hatte es auf die tief hängenden Latschenäste der Randfichten abgesehen, die er nun mit beherzten Hieben direkt am Stamm abtrennte.

Drei Schleppfuhren brauchte er, um das Grün zum Bullen zu transportieren und damit dessen Kadaver abzudecken. Perfekt! Für den zufällig vorbeikommenden Wanderer lag da ein unverdächtiger Haufen Grünzeug. Für ihn aber war es eine Art Schutzschirm vor einer noch schlimmeren Zukunft.

Hennecke ließ sich nach Luft schnappend ins Gras fallen. Es dauerte einen Moment, bis er sich innerlich wieder sortiert hatte. Und es dämmerte ihm die Idee, dass die Zukunft für ihn nur dann weniger Anstrengendes auf Lager haben dürfte, wenn er jetzt auf die Tube drückte.

Aber bereits der erste Versuch beschleunigten Handelns scheiterte. Denn sein Handy buhlte vergeblich um Netz-Kontakt. Nix. Tot!

„Scheiße!“, brüllte er so laut, wie er es auch schon bei seinem Fehlschuss am Morgen getan hatte. Wieder hallte es x-fach zurück.

„Wer war das denn?“, fragte eine erschrockene Backpackerin drei-, vierhundert Meter entfernt ihren Wanderfreund. „Wer flucht denn hier so erbärmlich?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich irgend so ein Jäger, der bei der Nachsuche feststellen musste, dass er den Hirsch nun doch nicht getroffen hat. Hast den Schuss vorhin ja gehört.“

„Ja, ja. Im Leben geht eben so mancher Schuss daneben“, intonierte sie hämisch.

„Haaach, du nun wieder mit deinen Spitzfindigkeiten.“ Verärgert beeilte sich der Mann, einen Vorsprung herauszuwandern. Die letzte gemeinsame Nacht im Zelt hätte wohl besser nie stattgefunden. Und es würde auch keine Wiederholung einer solchen geben.

Liebesnächte in Iglu-Zelten … Wer denen etwas abgewinnen konnte, der musste schon einen gewaltigen Hang zur Selbstkasteiung oder wenigstens einen Lehrgang an einer Akrobatenschule absolviert haben.

Gedanken, die Hennecke nicht erreichten. Und die ihn auch nicht im Ansatz interessiert hätten. Er hatte ganz andere Sorgen. Denn er musste jetzt dringend mit Dörnbach telefonieren. Sofort! Er brauchte dessen Winde und den Hänger. Das tote Tier musste hier umgehend weg.

So schnell er konnte, rannte der total überdrehte Schütze mit Karabiner am langen Arm das steile Stück zu seinem Unimog hinauf. Mit pfeifenden Lungen und gelben Punkten vor den Augen.

Schließlich gelang es ihm nicht nur, seinen geländegängigen Truck zu erreichen. Er hatte auch noch die Kraft, auf seinen Fahrersitz zu klettern. Nahezu dehydriert klappte er fast zusammen. Er hatte seit Stunden keinen Schluck getrunken. Und seine Zunge fühlte sich an wie ein Reibeisen.

Zum Glück gab es Abhilfe. Hinter der Handbremse, da, wo er zwei Rohrenden eingeschweißt hatte, steckte eine Mineralwasserflasche. Mit einem inneren Juchzer zog er sie heraus und wollte den Deckel abschrauben. Doch der flog ihm plötzlich aus der Hand und eine Wasserfontäne schoss durchs ganze Führerhaus.

‚So ein Mist!‘, fluchte er in sich hinein. ‚Pisswarm und unter Vollgas.‘ Fast ein Drittel des Inhalts hatte sich schlagartig verflüchtigt.

Als der Strom abgeebbt war, schüttete Lutz die übrigen zwei Drittel einfach in sich hinein. Der Wassertemperatur und der Kohlensäure zum Trotz. Dann machte er einen erneuten Versuch mit seinem Handy.

In Dörnbachs Feinkostladen stand sich die Kundschaft förmlich auf den Füßen. Drei Fachverkäuferinnen und der Chef persönlich mühten sich seit Stunden nach Kräften, alle Wünsche bis aufs Gramm genau zu erfüllen. Und manchmal durfte es auch ein wenig mehr sein.

Als er gerade einer kleinen Lady, die vor der Mama auf der antiken Taschenablage stand, eine Scheibe feinster Kalbslyoner überreicht hatte, klingelte das Handy in Josch Dörnbachs Schürzentasche. Ohne hinzuschauen drückte er den Anruf weg und machte die Rechnung für Mama und Kind fertig.

Wieder klingelte das iPhone. Er ließ es läuten, kassierte und rief schließlich: „Macht mal eine von euch hier weiter?!“ Dann verschwand er in seinem ‚Atelier‘.

Hennecke musste das Handy einen Viertelmeter vom Ohr wegnehmen, so laut plärrte ihm die Stimme des Nobelmetzgers entgegen.

„DU TRAUST DICH TATSÄCHLICH, MICH ANZURUFEN, DU NO-HAVE, DU PFEIFE. RESPEKT! DAS HÄTTE ICH DIR GAR NICHT MEHR ZUGETRAUT! WARUM BIST DU DENN HEUTE MORGEN NICHT DRANGEGANGEN, ALS ICH ES VERSUCHT HABE? HIER BRENNT DIE LUFT. ICH HABE JETZT KEINE ZEIT!“

„Musst Du aber“, zwängte sich Hennecke in den Wutausbruch.

„WAS DENN? UM DIR DIE EIER ABZUSCHNEIDEN. DAS KANNST DU SPÄTER NOCH HABEN. UND DAS KRIEGST DU AUCH, DU ARSCHLOCH!“

„Hey, jetzt halt´ endlich die Fresse und guck mal eben auf WhatsApp. Ich hab´ Dir was geschickt.“

„WAAAS?“, kam giftig zurück. Dann wurde es ruhig in der Leitung. Aber nur für wenige Sekunden. „Wie, was. Ist der echt? Ist der von heute?“, fragte der Filet-Fellini deutlich moderater, aber ziemlich aufgeregt.