Eine Tote im Fluss - Wolfgang Breuer - E-Book

Eine Tote im Fluss E-Book

Wolfgang Breuer

0,0

Beschreibung

Kriminalkommissar Jens Lukas kommt in Schleudern. Ausgerechnet an dem Sonntag, an dem er allein Bereitschaftsdienst schiebt, finden spielende Buben die total entstellte Leiche einer jungen Frau in der Eder. Schnell ist klar: Das war eiskalter, brutaler Mord. In Arfeld kommt Unruhe auf. Nicht nur wegen des grauenhaften Fundes. Sondern auch, weil zwei Tage zuvor die junge Studentin Hanna nach einem Bad in der Eder spurlos verschwand. Für die Bad Berleburger Kripo werden die Suche nach der Identität der Toten und die fieberhafte Fahndung nach dem oder den Tätern zur Kärrnerarbeit. Zumal in der Gegend auch ein Gangsterpaar sein Unwesen treibt. Haben die Fremden etwas mit dem Mord zu tun? Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 460

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Wolfgang Breuer

Eine Tote im Fluss

Ein Wittgenstein-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang BreuerEine Tote im FlussEin Wittgenstein-Krimi

Coverfoto: Sarah Fricke

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.Alle Rechte vorbehalten!© 2019

Impressumratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. [email protected] (bevorzugt)Tel.: (0 22 46) 94 92 61Fax: (0 22 46) 94 92 24www.ratio-books.de

ISBN 978-3-96136-062-8E-Book 978-3-96136-063-5

published by

Inhalt

Freitag, 3. August 2018

Sonntag, 5. August 2018

Montag, 6. August

Dienstag, 7. August

Mittwoch, 8. August

Freitag, 3. August 2018

Hanna lag im Schatten der uralten Bäume am Ederufer und streckte ihren schlanken, elastischen Körper durch. Sie fühlte sich wie im Himmel. Beglückt, beseelt und total kaputt. War das irre! So etwas hatte sie überhaupt noch nicht erlebt. Noch immer jagte in ihrer Fantasie ein Schauer nach dem anderen über ihre sonnengebräunte Haut.

Arne hatte sie urplötzlich überrascht, als sie, lediglich mit ihrem Bikinihöschen bekleidet, vornübergebeugt im gerade mal potiefen Wasser gestanden und das Nass über ihre Unterarme hatte fließen lassen. Das machte die Studentin in diesem brüllend heißen Sommer häufiger, wenn sie die Nase voll hatte vom Büffeln und ihr die Temperaturen unter dem Sonnenschirm daheim im Garten einfach zu unerträglich wurden.

Zu diesem lauschigen Plätzchen waren es mit dem Fahrrad gerade mal fünf, sechs Minuten aus dem Dorf heraus gewesen. Von der Stedenhofstraße über die Ederbrücke und ein paar Meter dahinter links unterhalb des Abhangs entlang. Schon nach wenigen Metern verschluckte sie der wohltuende Schatten der Laubbäume, die den Weg säumten. Und kurz darauf hatte sie ihr Geheimplätzchen erreicht.

Schon in ihrer Kindheit war das der bevorzugte Badeplatz gewesen. Niemand konnte sie hier sehen. Weder vom Weg diesseits der Eder, noch vom Dorf, von Arfeld aus. Der dichte Baumbestand auf beiden Uferseiten war an dieser Stelle ideal.

Ansonsten schien dieser Ort hier wie für sie reserviert. Hier fühlte sie sich wie Robinson Crusoe auf seiner Insel. Allein, aber glücklich.

Nur Arne kannte dieses kleine Paradies. Und der hatte sich an diesem Freitag leise an sie herangepirscht. Sie erschrak ein wenig, als er sie bei ihrer Erfrischung plötzlich von hinten umfasste und der BWL-Studentin einen langen Kuss auf den Nacken gab.

„Du Miststück!“, hatte sie lachend gekreischt und ihm mit den Händen Wasser ins Gesicht und auf seine Shorts geschaufelt. Woraufhin er ihr kurzerhand die Arme um die Hüften schlang und sie wie ein Ringer aushebelte, um mit ihr der Länge nach in die Eder zu plumpsen.

Wie kleine Kinder hatten sie geplanscht und geprustet in dem seichten Wasser. Ein ungleicher Kampf, bei dem aber Ertrinken kaum möglich gewesen wäre. Die wochenlange Trockenheit drohte das Gewässer mehr und mehr zu einem Bach werden zu lassen.

Dann hatte sich Hanna widerstandslos ans Ufer tragen und auf ihr Badelaken legen lassen. Und sie zitterte vor Erregung, als Arne sie auch noch ihres letzten Textils entledigte, bevor er sie mit einem Handtuch trocken rubbelte. Längst hatte auch er seine klatschnassen Klamotten abgestreift und deckte sie, neben ihr kniend, über und über mit Küssen ein. Sie genoss jede seiner Berührungen und bog ihm in unendlichem Verlangen ihren hübschen Körper entgegen.

‚Wenn es jetzt nicht passiert‘, tobte es in ihr, ‚wenn es jetzt nicht passiert, dann werde ich verrückt.‘

„Bitte, bitte, komm zu mir“, flüsterte sie zitternd vor Erregung und fühlte den ersten Orgasmus bereits kommen, bevor sie ihn überhaupt in sich gespürt hatte.

Was für ein unglaubliches Abenteuer! Die Liebenden wälzten sich eng umschlungen auf der kleinen Lichtung und jagten einem Höhepunkt nach dem anderen entgegen. Immer und immer wieder. Noch nie hatte Hanna so etwas erlebt. Und sie wollte, dass es kein Ende nimmt.

Doch das kam jäh. Ein Klingelton wie in einem amerikanischen Office ließ bei ihrem Lover jede Spannkraft ersterben und in ihm die totale Ernüchterung einkehren.

„Elender Mist“, schimpfte Arne, während er sich seitwärts zu seinem Smartphone rollte. „Kann man nicht mal mehr zur Mittagszeit in Ruhe seine Geliebte verwöhnen?“

„Ja bitte“, schnaubte er ziemlich sauer in das Mobiltelefon, während Hanna nach wie vor selig nach Luft schnappte und ihren Körper streichelte. Das Erlebte klang in ihr nach.

Dann stand der baumlange Mann neben ihr auf. „Richtig, Doktor Arne Priester. Um was geht es? … Ach, Sie sind es. … Wie denn, jetzt schon?“

Hanna begann leise zu lachen, als sie an ihm hochschaute. Aus ihrem Blickwinkel baumelte sein Penis unmittelbar unter seinem Handy. Eine beknackte Kombination, die sie unweigerlich an Telefonsex denken ließ. Doch der promovierte Wirtschaftsanwalt Arne hatte wohl ganz andere Probleme.

„Ich muss …, leider“, hatte er ihr nach dem Telefonat ins Ohr gehaucht, ihr einen langen Kuss gegeben und sich ganz nebenbei die nasse, dreiviertellange Hose über den Hintern gezerrt. Wenige Minuten später hörte man hinten auf dem Weg bereits den Motor seines sechszylindrigen Chevrolet New Conversion starten. Ohne jedes weitere Wort war er verschwunden. Für weitere Erklärungen hatte er offenbar keine Zeit. Hanna ließ es widerspruchslos geschehen und fühlte weiter in sich hinein. Es war wie in einem Traum!

Sonntag, 5. August 2018

„Oh nein! Bitte nicht! Warum ausgerechnet heute? Verfluchte böse Tat!“ Sven Lukas war von seiner Sonnenliege im Garten hochgeschossen und starrte unverwandt zu Mina herüber, die blinzelnd in der Augustsonne lag und vor sich hin briet.

„Wo ist sie gefunden worden?“, rief er in sein Handy. „In Arfeld? Wo denn da? …“ Der ‚Freak’ hörte eine ganze Weile lang aufmerksam dem zu, was ihm der Diensthabende von der Wache in Berleburg mitzuteilen hatte. Dann fragte er schließlich: „Wer ist vor Ort? … Aha. SpuSi, KTU, Gerichtsmediziner auch schon bestellt? … Okay. Ja, ich fahr‘ gleich los. … Was? … Nee, nee, ich bin in Diedenshausen. Jep, Ciao!“

„So eine Kacke, so eine verfluchte!“, schimpfte der Kriminalkommissar und hätte aus einer Drehung heraus beinahe sein Smartphone wie einen Diskus in den Hang unterhalb von Minas Haus geschleudert. „Ausgerechnet heute, ausgerechnet, wo ich allein den Bereitschaftsdienst machen muss, finden die eine Leiche in der Eder. Das ist doch zum Kotzen!“

Mina war inzwischen hellwach und fragte interessiert nach:

„Weiblich oder männlich?“

„Weiblich. Muss ziemlich übel aussehen.“

„Ach, Herrjeh. Und vermutlich auch keine Ahnung, wer das war.“

„Natürlich nicht. Es ist gerade mal 45 Minuten her, dass sie gefunden wurde.“ Ohne weitere Worte sammelte er seine Klamotten ein, um sich drinnen kurz zurechtmachen und anziehen zu können.

Sven, den seine Kollegen wegen seines Hangs zu jeder Form von moderner Elektronik auch ‚Freak‘ nannten, wohnte seit gut drei Monaten bei dieser ausgesprochen attraktiven Frau, die er im Januar erst kennengelernt hatte. Beide hatten sich auf Anhieb ineinander verliebt. Und das mitten in den Ermittlungen zu einem zweifachen Mord in Berghausens Wäldern.

Diese tolle Frau hatte einer Freundin während des Orkans ‚Friederike‘ mehr oder weniger das Leben gerettet und ihr tapfer zur Seite gestanden, als deren Mann spurlos verschwunden war. Und das hatte den Kommissar derart begeistert, dass er die Dame unbedingt kennenlernen wollte. Da war es dann passiert.

Sven verbot es sich, noch weiter in Gedanken abzugleiten. In null Komma nix war er gewaschen, angezogen und zur Abfahrt bereit. Auf dem Weg zum Wagen kam er noch mal im Garten vorbei, verabschiedete sich von Mina mit ein paar Küssen und fragte beiläufig: „Wie komme ich denn von hier auf dem schnellsten Weg nach Arfeld?“

Das zu erklären, war nun wirklich kein Hexenwerk für die junge Hebamme, die heute ausnahmsweise einmal freihatte. „Immer talwärts, über Alertshausen bis Elsoff. Dort biegst Du rechts ab und fährst Richtung Schwarzenau. Und dort wieder rechts ab nach Arfeld.

Es war exakt 15:38 Uhr, als der Kommissar von Schwarzenau her an der Ederbrücke am Ortsrand von Arfeld ankam. Die Zufahrt hinüber zum Gersbachweg war mit Flatterband der Polizei abgesperrt. Aber einer der Beamten hob die Plastikbarriere an, um ihn samt Wagen passieren zu lassen. Es war der Kollege Finkbeiner von der Schutzpolizei.

„Grüß' Dich, Dirk“, rief Lukas ihm zu, als er langsam anfuhr. „Kannst Dir sicher auch was Besseres vorstellen, als hier in der brüllenden Hitze zu stehen.“

„Das kannste aber glauben. Ich koche im eigenen Saft“, antwortete der und hob zur Bekräftigung des Gesagten die Arme. Große dunkle Flecken zeichneten sich unter seinen Achselhöhlen im Uniformhemd ab.

Es bedurfte keiner großen Mühe zu erkennen, wo die bedauernswerte Frau gefunden worden war. Denn zur Linken stand eine dichte Menschentraube rechts der Eder, die zum Flussufer hindrängte, aber von mehreren, ebenfalls schwitzenden Polizeibeamten zurückgehalten wurde.

„Darf ich mal durch?“, versuchte Sven sich ganz knapp am Wasser einen Weg durch die Menge zu bahnen. Doch er wurde ziemlich barsch von einem Mann abgeblockt, der ein Kreuz hatte wie ein viertüriger Kleiderschrank.

„Ey“, motzte der, „hie weard net gedrängelt, Kearle. Sunst gätts Arja.“

Sven hatte nicht alles von dem Satz verstanden. Wohl aber mitbekommen, dass da Ärger drohe, wenn er sich nicht füge.

„Passen Sie mal auf“, tippte er die Schrankwand an und zückte seinen Dienstausweis. Doch der machte offenbar keinen Eindruck bei dem Hünen. Der schaute nicht mal hin.

„Hie bleiweste stenn. Sunst gätts Hiwwe. Fremde wie Dü honn hie suwesu nix ze süche.“

Ein feixender Nachbar war gerne bereit, das ins Hochdeutsche zu übersetzen. „Hier sollste stehen bleiben. Sonst gibt‘s Haue. Fremde wie Du hätten hier sowieso nix zu suchen, sagt er.“

„Das werden wir ja sehen. Machen Sie bitte Platz. Ich bin von der Polizei.“

„Ja, ja. Und ich bin der Kaiser von China“, echote es aus der Gruppe, begleitet von einem nun wirklich unpassenden Gelächter.

Sven knirschte leise mit den Zähnen. Derbe schubste er den Großen nach rechts und ging gleichzeitig in eine Verbalattacke über. „Was soll denn dieser Scheiß hier? Machen Sie jetzt mal Platz! Ich bin dienstlich hier!“

Da kam unvermittelt dessen linke Pranke herüber, die ihn am Oberarm erwischte und ziemlich durchschüttelte. Doch darauf war Sven Lukas bestens vorbereitet. Ohne großen Kraftaufwand entglitt er dem Zugriff durch eine plötzliche Körperdrehung und fasste gleichzeitig mit beiden Händen nach der Riesenpfote, die er blitzartig in den gefürchteten Polizeigriff bog. Der Riese jaulte auf und ging nach vorn auf die Knie.

„Alles, was Sie nun an Schmerzen haben werden, können Sie selbst bestimmen. Ich bin von der Polizei, ich muss hier durch und will nicht von Ihnen bei der Arbeit behindert werden. Ist das bei Ihnen angekommen?“ Während der Frage bog er die ergriffene Hand noch ein wenig in Richtung Unterarm. „Jahaaaa!“, knödelte deren Besitzer und japste nach Luft.

Also konnte der ‚Freak‘ den knienden Hünen gefahrlos wieder loslassen und sich einfach an ihm vorbeiwurschteln. Der Brecher hatte genug und war obendrein noch blamiert bei seinen Kumpels.

Unproblematisch war das Passieren des Absperrrings der uniformierten Kollegen. Die ließen ihn selbstverständlich mit einem Kopfnicken durch. „Hätt‘ste auch besser gemacht, Großer“, hörte er hinter sich den Typen, der ihm gerade eben noch feixend Wittgensteiner Platt ins Hochdeutsche übersetzt hatte. ‚Tja‘, dachte Sven, ‚Freunde muss man sich erarbeiten.‘

Langsam und mit gebotenem Respekt näherte sich der Kommissar dem Ederufer, wo eine Gruppe von drei Schutzpolizisten den Blick auf die Fundstelle verdeckte. Außerdem bot dichter Uferbewuchs eine natürliche Deckung. Für die Gaffer war diese Stelle nicht einsehbar. Und das war auch gut so.

Denn als der Kommissar die letzten Schritte auf die Beamten zuging, drehte sich der mittlere von ihnen um und machte ihm gegenüber eine abwehrende Handbewegung. Es war Rüdiger Mertz, der kopfschüttelnd zu verstehen gab, Lukas möge auf das Schlimmste vorbereitet sein. Der ‚Freak‘ nickte und ging nach vorn.

„Oh mein Gott“, zuckte er erschreckt zurück und sog zischend die Atemluft zwischen den Zähnen ein. Als könne die dadurch entstehende Kühle maßgeblich zur Stabilisierung seines Magenzustandes beitragen. „Was, um alles in der Welt, ist denn das für eine grauenhafte Unsäglichkeit. So etwas habe ich ja noch nie gesehen! Das ist ja …, das ist …“, schnappte er nach Luft, „ich finde dafür gar keine Beschreibung.“

„Das geht uns allen so“, pflichtete ihm Mertz bei und legte ihm den rechten Arm um die Schulter. „Das müssen Wahnsinnige gewesen sein, die das gemacht haben.“

Sven bekam sich nur schwer wieder unter Kontrolle. Was er dort in wenigen Sekunden gesehen hatte, sprengte alles, was seine Vorstellungskraft fassen konnte. Im Ufergebüsch hatte sich ein nahezu nackter weiblicher Körper verfangen, dessen Gesicht nicht mehr vorhanden war. Eingedrückt, zerfetzt, zerstört. Im Brustkorb waren zwei Stichwunden zu sehen, nahezu der ganze Körper wies Risswunden auf.

„Der Leichnam müsse schon seit Tagen im Wasser gelegen haben, sagte der Arzt. Wahrscheinlich von Anfang an hier in der Eder. Demzufolge wurde er von weiter oben hierher abgetrieben. Zwei Jungs haben ihn beim Spielen gefunden und die Leute dort drüben alarmiert.“ Dabei zeigte Rüdiger auf ein alleinstehendes Haus. „Jetzt sitzen sie bei den Sanitätern im Wagen und werden nach dem Schock betreut. Ihre Eltern sind auch dabei. Nette Menschen.“

„Gut so. Lassen wir den Buben und ihren Eltern einen Moment Zeit. Was läuft sonst?“, wollte Lukas schwer atmend und schluckend wissen.

„Wir sind gerade dabei, einen Suchtrupp zu organisieren“, berichtete Kommissar Mertz. „Er soll die Uferbereiche ederaufwärts absuchen nach der Stelle, wo der Mord passiert ist oder zumindest die Leiche ins Wasser geworfen wurde.“

„In Ordnung“, antwortete Sven trocken und starrte gedankenverloren geradeaus. Er fühlte sich wackelig auf den Beinen. Doch er konnte sich jetzt nicht auf und davon machen. Denn er hatte Wochenenddauerdienst. Alle weiteren Arbeiten hier waren hauptsächlich Sache der Kripo. Also seine.

‚Komm Alter‘, gab er sich einen innerlichen Tritt, ‚auf jetzt!‘ Mit kleinen unsicheren Schritten ging er wieder zurück zur Fundstelle und wagte mit angehaltenem Atem einen erneuten Blick hinunter zu dem Körper im Gestrüpp. Noch lag die Frau so, wie sie aufgefunden worden war. Denn zunächst mussten der Gerichtsmediziner und der Staatsanwalt die Leiche gesehen haben.

Die Spurensicherer hätten wahrscheinlich weniger Freude, dachte er. Denn rund um den Fundort war alles platt getreten, das Gebüsch unmittelbar drumherum auseinandergezerrt. Das war nicht verwunderlich. Denn Freiwillige hatten nach der Entdeckung eines reglosen Menschen im Wasser zunächst einmal versucht, ihm zu helfen, waren dann aber zurückgeschreckt, als sie das zerstörte Gesicht gesehen hatten. So wie Lukas auch.

Es war eine sportliche junge Frau. Das konnte der Ermittler erkennen. Und ihre Sonnenbräune. Obwohl die graugelbe Leichenblässe durchschimmerte. Neben ihr kauerte, in Gummistiefeln, noch immer der Notarzt, der alle möglichen Eintragungen auf einem Klemmbrett vornahm. Lukas gesellte sich zu dem Mediziner und stellte sich vor. Der Mann schaute auf und lächelte den Kommissar an. „Ich kenne Sie“, stellte er nüchtern fest. „Stünzel vorletztes Jahr.“

‚Lieber Gott, natürlich‘, erinnerte sich Sven. Stünzel 2016. Daher kannten sie sich. Er sprang auf und ging ein paar Meter zur Seite. Nie würde er das vergessen. Weil er selbst zutiefst betroffen gewesen war, von dem Tod einer Studentin, die man in einem Viehanhänger gefunden hatte. Erst tags zuvor hatte er sich in eben diese Frau unsterblich verliebt. Er dachte damals, er würde den Schmerz niemals überwinden.

„Ja, aber das hier“, wedelte der Arzt mit der freien Hand in der Luft herum, während er ihn verfolgte, „das hier ist wirklich extrem brutal. Ich habe viele verstümmelte Unfallopfer gesehen und auch Opfer von Explosionen. Aber es gibt auch für Mediziner immer wieder Momente, wo sie nicht mehr an Gottes Gnade glauben wollen. Jemandem das Gesicht regelrecht zu zertrümmern, das ist so ziemlich das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Was bezwecken die Täter damit?“

Aber Sven hörte schon gar nicht mehr hin. Er war bei der Erinnerung an den Mord auf dem Stünzel innerlich ins Straucheln geraten. War das nötig, dass ihn ausgerechnet der Notarzt an diese furchtbare Zeit erinnerte?

Natürlich, der hatte sich sicher nichts dabei gedacht. Weil er keine Ahnung hatte, wie sehr Sven von dem Fall damals persönlich betroffen war. Wie ein Tier hatte er gelitten. Und trotzdem hatte er, gegen den Rat der Kollegen, seinen Dienst weitergemacht. Gnadenlos gegen sich selbst. Denn allein, ohne Menschen in seiner Nähe, wäre er durchgedreht.

Mehr oder weniger gewaltsam gegen sich selbst, kehrte er in die Gegenwart zurück. ‚Wir müssen dringend Zeugen befragen, bevor die hier wieder alle verschwunden sind.‘ Nur, wer sollte das machen? Der Kommissar war ein wenig hilflos. Er war gebunden, musste zunächst warten, bis Gerichtsmedizin und KTU da waren. Und überhaupt, wo blieb eigentlich der Staatsanwalt? Sven schaute auf seine Armbanduhr. 16:12 Uhr. „Wird langsam Zeit, dass wenigstens der Puhlmann hier antrabt“, knurrte er vor sich hin. „Der hat einen verdammt kurzen Weg von Raumland hierher.“

„Jahaaaa, aber der hatte bis eben kein Auto“, erscholl postwendend die Aufklärung von seiner Rechten. Der Staatsanwalt war von hinten her gekommen und hatte sich zunächst einmal nach Ansprechpartnern von der Polizei umgesehen. „Grüße Sie, Herr Lukas. Was haben wir?“

„Eine bitterböse Geschichte, Herr Staatsanwalt“, antwortete der ‚Freak‘, der überrascht zusammengezuckt war. „Ich grüße Sie auch. Kommen Sie, lassen Sie uns schnell dorthin gehen. Sind nur ein paar Schritte bis da vorn am Ufer. Aber machen Sie sich auf ein unschönes Bild gefasst.“

Puhlmann blieb stehen und fasste Sven Lukas am Arm. „Wieso? Ist es so schlimm?“

„Ja. Sehr! Der oder die Täter, die diese junge Frau, Alter geschätzt Mitte, Ende 20, umbrachten, haben sie verstümmelt. Ihr fehlt das Gesicht und sie hat Einstiche in der Brust. Grauenhaft, dieses Bild! Der Doc meint übrigens, dass sie schon länger im Wasser liegt.“

Puhlmann schluckte. „Oh Gott. Und das am Sonntagnachmittag.“ Er holte tief Luft und meinte schließlich: „Naja, hilft ja nichts. Gehen wir.“

Der Notarzt und ein Rettungssanitäter hatten die Leiche notdürftig mit einer Aluminiumfolie abgedeckt, deren Ecken am Uferbewuchs festgemacht waren. An der Lage der toten Frau, die noch immer im Wasser lag, durfte ja zunächst nichts verändert werden.

Als die Folie weggenommen wurde, um dem Staatsanwalt freien Blick zu gewähren, verschlug es auch ihm den Atem. „Gütiger gerechter Gott“, stieß er hervor, „warum lässt Du so etwas zu?“ Die umherstehenden Polizeibeamten schauten sich verwundert an.

Sven sah, wie dem sonst so taffen Mann Tränen in die Augen stiegen. Dennoch hafteten seine Blicke fest an der Toten. Was mochte der Staatsanwalt jetzt wohl denken?

Puhlmann verharrte einen Moment mit gefalteten Händen, als spreche er ein stilles Gebet. Dann wandte er sich zu Lukas um und fragte mit belegter Stimme: „Wer hat sie gefunden?“

„Zwei Jungs. Die haben die Leiche beim Spielen entdeckt und die Leute im Haus dort vorne alarmiert. Die beiden werden gerade von Sanitätern und ihren Eltern betreut. Ich denke, wir sollten zunächst einen Arzt nach ihnen sehen lassen, bevor wir mit ihnen reden.“

„Sehr gute Idee, Herr Lukas, machen Sie das. Und gehen Sie behutsam vor. Am besten im Beisein der Eltern.“

„Natürlich, Herr Staatsanwalt.“

„Ach, noch etwas, Herr Lukas. Meine Reaktion eben wird Sie gewundert haben.“

„Nein, warum?“, wehrte der ‚Freak‘ ab.

„Ach kommen Sie, ich hab‘s doch gemerkt. Es ist ja auch absolut unüblich, dass sich ein Staatsanwalt derart auf persönliche Gefühle einlässt.“

„Ich bitte Sie, Herr Puhlmann. Muss Ihnen denn in Ihrem Job jede Form von Menschlichkeit abhandenkommen?“

„Nein. Natürlich nicht. Nur werden wohl die meisten Kollegen ihre Gefühlsregungen nicht in dieser Deutlichkeit zeigen. Aber wissen Sie, … ich habe eine Tochter etwa im Alter der Toten. Sie studiert in den USA und ist demzufolge weit weg von uns. Als ich diesen malträtierten Körper sah, musste ich zwangsläufig daran denken, was wäre, wenn wir als Eltern die Nachricht bekämen, die nun die Eltern dieser jungen Frau bekommen werden. Allein dieser Gedanke macht mich fertig. Verstehen Sie? Zumal Morde in den USA ja gewissermaßen an der Tagesordnung sind.“

„Oh ja, ich verstehe Sie sehr gut“, antwortete Sven. Irgendwie fühlte er plötzlich eine Nähe zu dem Mann, der ihm und seinen Kollegen im Dienst schon des Öfteren echte Probleme gemacht hatte.

Es war gerade halb fünf am Nachmittag, als der Mercedes 500 CL mit Reinhard und Desiree Klinkert vor der Doppelgarage in der Stedenhofstraße zum Stehen kam. Der Motor des Wagens knackte unter der enormen Hitze. Und die Lüfteranlage mühte sich brausend um Kühlung.

Es dauerte einen Moment, bis im Innenraum der mondänen Limousine Bewegung einsetzte. Nach diesem Höllenritt vom Lago Maggiore bis nach Arfeld wirkten die Knochen und Gelenke der Insassen trotz komfortabelster Sitze fast wie eingerostet. Gerade einmal zwei kurze Tankstopps mit Pipi-Pause und jeweiligem Fahrerwechsel hatten sie sich gegönnt. Denn sie wollten auf jeden Fall noch rechtzeitig daheim sein und mit ihrer Tochter auf deren 24. Geburtstag anstoßen.

Ursprünglich war ihre Rückkehr erst für Dienstag geplant. Aber dann hatten sie sich doch überlegt, Hanna zu überraschen und vielleicht in zwei Wochen noch einmal ‚runter zu fahren‘, wie sie ihre Italien-Trips nannten.

Noch bevor sie ausstiegen, nahm Desiree beide Hände hinter den Kopf und streckte ihren gertenschlanken Körper. Während ihr Mann seine Schultern vor und zurück rollte und den Rücken durchdrückte. Altes Ritual, gefühlt tausendmal von beiden vollführt. Erst dann stiegen sie aus, um gleich noch ein, zwei Dehnübungen neben dem Daimler zu absolvieren.

Es war still vor dem respektablen Anwesen der Klinkerts. Ein villenähnliches Haus, das das Unternehmerehepaar auf den Grundmauern eines alten Gehöftes hatte bauen lassen.

Sebastian Klinkert, der Urururgroßvater von Reinhard, hatte hier schon 1779 eine Hofstatt errichtet. Heute konnte man das nur noch von dem angekokelten Stirnbalken ablesen, der über dem Tor der Doppelgarage ins Mauerwerk eingelassen war. Denn der Hof selbst war 1998 bei einem Gewitter in Flammen aufgegangen und total zerstört worden.

Bis auf zwei mittelgroße Rollkoffer mussten die Klinkerts später nur noch zwei Kartons Wein aus dem Kofferraum ausladen. Das war alles. Denn in ihrem Feriendomizil an der Via Mattarone in Stresa waren sie seit Jahren mit allem ausgerüstet, was das Herz begehrt. Auch mit vollen Kleiderschränken. Die, wegen der Nähe zu Mailand, immer wieder mal durchforstet werden mussten, um nicht aus allen Fugen zu geraten.

Umständlich puhlte Reinhard Klinkert die Hausschlüssel aus der Tasche seiner luftigen Sommerhose und schloss auf. Angenehme Kühle umlullte das Paar, als es das Foyer betrat. „Wow!“, rief Desiree, „welch‘ eine Wonne.“

„Jahaaa, die Klimaanlage arbeitet hervorragend“, lachte Reinhard. „Die Investition hat sich mehr als gelohnt.“ Doch diese These entpuppte sich im wahrsten Sinne des Wortes als heiße Luft, als er nämlich die Tür zum großen Wohnbereich öffnete. Denn dort empfing sie eine Wärme, die hier drin noch unangenehmer war als vor dem Haus. „Was ist denn hier los?“, wetterte der Hausherr. „Verdammt noch mal, Hanna, was läuft hier?“

Doch es rührte sich nichts. Lediglich aus den Lüftungsschlitzen der Klimaanlage war ein beständiges Pusten zu hören. Ein ungleicher Kampf gegen die Hitze, wie sich schnell herausstellte. Und als Frau Klinkert um die Kaminecke bog, fand sie den Grund für die Misere. Die große Schiebetür zur Gartenterrasse war sperrangelweit offen. „Ooooh Kind“, dachte sie mehr, als dass sie es aussprach, „wo hast Du nur manchmal Deinen Kopf?“

Ihr Mann hatte es trotzdem gehört und spielte schnell den verständnisvollen Vater. „Komm, reg‘ Dich nicht auf“, lächelte er. „Sie wird zu heftig in ihren Geburtstag rein gefeiert haben und liegt jetzt irgendwo, um ihren Rausch auszuschlafen. Womöglich dort draußen in ihrer Lieblingsecke.“

„Da bin ich ja mal sehr gespannt“, lächelte Desiree, die nun auch zur mütterlichen Milde zurückgefunden hatte. Mit einem Griff fischte sie ein kleines Päckchen aus ihrem Koffer, um dann spornstreichs in den Garten hinauszumarschieren. Doch als sie, gefolgt von ihrem Mann, einen Bogen um die große Thuja-Hecke gemacht hatte, schreckte sie zurück und lachte in ihre vorgehaltene Hand.

„Was ist“, zischte Reinhard, den sie mit der anderen Hand festgehalten hatte, „ist was passiert?“

„Das kann man so sagen, ja. Da passiert gerade was.“

„Oh, lass mal gucken“, wollte der Gatte sich gerade losmachen.

„Besser nicht. Oder willst Du Deiner Tochter beim Sex zuschauen?“

„Beim WAS?“

„Pssst“, hielt sie ihm schnell ebenfalls den Mund zu. „Du hast mich schon richtig verstanden.“

„Ja, aber sie kann doch nicht einfach im Garten …“ murmelte er in ihre Hand.

„Kann sie doch“, gluckste Desiree und zerrte ihren Mann zurück zum Haus. „Sie ist volljährig. Geht das da oben bei Dir rein?“, tippte sie mit einem Finger an seine Stirn. Und im Übrigen wissen wir beide sehr genau, was im Garten geht und was nicht“, lachte sie richtig los, als sie wieder im großen Wohnzimmer waren. Hinter zugezogener Tür. „Da hinten kann doch keiner reingucken.“

„Stimmt! Eigentlich hast Du recht. Aber unser Platz ist ja nun ‚verbrannt‘, wenn ich das mal so sagen darf“, sagte er grinsend. „Außerdem haben alte Menschen wie wir ganz andere Bedürfnisse an ganz anderen Orten.“ Mit einem schwungvollen Griff umfasste Reinhard Klinkert die Hüften seiner noch sehr jugendlich wirkenden Frau und gab ihr einen langen Kuss.

„Uuuuh, fühle ich da vielleicht etwas heraus?“, fragte sie mit verklärtem Blick und drehte sich aus dem Arm ihres Mannes heraus, um ihren Koffer Richtung Treppenhaus zu fahren. „Aber vorher möchte ich noch etwas essen und mich frisch machen.“

‚Da ist sie wieder, diese frappierende Nüchternheit, mit der sie dich innerhalb von Sekundenbruchteilen herunterkühlen kann‘, dachte Klinkert bei sich und folgte ihr, seinen Koffer ebenfalls hinter sich herziehend.

Klaus Klaiser brummelte Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart. Gerade erst waren seine kleine Familie und er aus dem Münsterland zurückgekommen. Stippvisiten bei Verwandten. Die waren so nötig, passierten aber leider viel zu selten. Von Freitagmittag bis Sonntagnachmittag. Das war auch viel zu kurz.

Aber es hatte Spaß gemacht, mal wieder in längst vertraute Gesichter zu schauen und deren Geschichten zu lauschen. Und dabei den guten Katenschinken auf dem dort so angesagten Pumpernickel zu essen. Natürlich gab‘s dazu auch das typische Münsterländer Altbier.

Und jetzt? Jetzt jagte er seinen Dienst-A5 mit Kojak-Lampe auf dem Dach und ordentlich „Tatü-tata“ die Landstraße von Berghausen nach Arfeld herunter, um sich, wie der ‚Freak‘ angekündigt hatte, eine der „widerwärtigsten Leichenfundsachen“ anzusehen, die er je zu Gesicht bekommen habe.

„Klasse Job, so für einen Sonntag ohne Dienst“, maulte er, während er, von Dotzlar her kommend, die Ederbrücke beim Arfelder Bahnhof überquerte. „Hat dich aber auch keiner gezwungen, Chef zu werden, du Rindviech.“

Insgeheim aber musste er ob seiner Selbstkasteiung grinsen. Denn Chef zu sein, war ja nun so schlecht auch wieder nicht.

Mit Vorsicht durch eine 30er Etappe und danach durch zwei Kurven bergab. Kurz darauf war er schon raus aus dem Ort und am Ziel. Kurz hinter dem Ortsschild standen zwei Einsatzfahrzeuge am Straßenrand und jede Menge Neugieriger, die hofften, von oben herunter einen Blick auf die Tote im Edertal erhaschen zu können.

Als der verschwitzte Finkbeiner an der Straßensperre Klaiser erkannte, ließ er das blau-weiße Flatterband fallen, um den Kripo-Chef durchzulassen.

Aber der blieb stehen, stieg aus und holte aus seiner Tasche auf dem Rücksitz eine Flasche Mineralwasser. „Hier“, sagte er und drückte dem verblüfften Kollegen die Pulle in die Hand. „Kannst Du behalten. Du siehst nicht so aus, als hättest Du schon ausreichend Abkühlung gehabt heute.“ Dann stieg er wieder ein und fuhr den abschüssigen Weg hinunter.

Unten, hinter der nächsten Brücke, hatte Klaus schnell einen Parkplatz gefunden. Es waren nur ein paar Meter zum Fundort zu laufen. Die renitenten Gaffer am Ederufer waren verschwunden. Denn Rüdiger Mertz war ihnen gehörig auf die Zehen gestiegen und hatte von jedem die Personalien erfragt und notiert. Gesehen oder gehört hatte von denen ohnehin keiner was. Jedenfalls nichts, was zur Aufklärung des Mordes hätte beitragen können.

Vorne, am Ufer der Eder, waren die Herren in Weiß im Einsatz. Rechtsmedizin und KTU in prominenter Besetzung. Doktor Julius Kölblin und Gerd Steiner. Alte und von Klaiser sehr gemochte Bekannte. Entsprechend herzlich fiel auch die Begrüßung aus. Soweit das unter den gegebenen Umständen überhaupt möglich war.

„Wollen Sie‘s wirklich wagen?“ Der Kummer gewohnte Doc Kölblin war sich nicht ganz sicher, ob der Kriminalist den Anblick der Leiche so einfach wegstecken würde.

„Wieso? Ist es so schlimm? Der Kollege Lukas hat schon solche Andeutungen gemacht. Wo ist denn der überhaupt?“

„Der spricht vorne im VW-Bulli gerade mit den beiden Jungs, die die Leiche entdeckt haben“, antwortete Steiner. „Und ja, der Anblick ist grausam. Da muss ich dem Doc beipflichten. Ich glaub‘, der will Sie nur schützen.“

„Das ändert ja nichts. Ich muss mir ja ein Bild machen können. Von Leichen- und Tatortfotos allein halte ich nicht so besonders viel. Also bringen wir‘s hinter uns.“

„In Ordnung. Wie Sie wollen“, fügte sich Kölblin, öffnete den Reißverschluss am Leichensack von oben bis unten und legte dann mit einem Ruck den gesamten Leichnam der jungen Frau frei, der lediglich einen Slip trug.

Klaus Klaiser schrak zurück und schlug eine Hand vor den Mund. Entsetzt starrte er in den Leichensack und schüttelte nur den Kopf. Dann drehte er sich herum und holte tief Luft. „Wie ist denn so was möglich?“, stammelte er. „Wer zerstört denn, aus welchem Grund auch immer, derart einen so jungen Körper?“

Fassungslos wanderte Klaus im Kreis herum und versuchte, zu klarem Verstand zu kommen. Dann blieb er schließlich wieder vor dem Rechtsmediziner stehen und schaute ihn mit wässrigen Augen an. „Was genau hat man ihr angetan?“

Doc Kölblin zuckte mit den Schultern und schüttelte sein in Ehren ergrautes Haupt. „Was genau, das kann ich Ihnen natürlich erst nach der Obduktion sagen. Falls überhaupt.“

„Wieso?“, fragte Klaiser nach. „Dass ihr Gesicht völlig zerstört ist, das habe ich ja gesehen.“

„Ja, aber wodurch das geschah und ob das todesursächlich war, lässt sich aus dem Stand auf gar keinen Fall sagen. Außerdem weist ihr Körper mindestens zwei Einstiche auf und hat überall Risswunden.“

„Dann waren die beiden Stiche doch wohl eher tödlich, Herr Doktor.“

„So wie es aussieht, stimmt das bei einem auf alle Fälle. Der ging vermutlich direkt ins Herz. Wofür aber hat man dann ihr Gesicht derart zertrümmert?“

„Fragen Sie mich bitte was Leichteres.“

„Wenn ich mich recht erinnere, wurde uns im Studium erzählt, dass es wohl Stämme im tiefen Afrika gebe oder gegeben habe, bei denen es üblich war, ihre getöteten Feinde so zu verunstalten. Damit sie aus dem Jenseits nicht mehr auf die Lebenden blicken konnten. Andere Stämme haben den Getöteten wohl deshalb auch die Augen ausgestochen. “

„Hören Sie auf, hören Sie bitte auf“, wandte sich der Kripo-Chef vehement gegen die Ausführungen des Mediziners. „Sie haben ja ein Gemüt wie ein Schlachterhund. Das gibt es doch gar nicht.“

„Moment, Moment! Ich kann ja verstehen, dass bei Ihnen Kopf und Magen gleichzeitig rebellieren“, brachte sich der Medizinmann in Abwehrstellung. „Aber den Schuh, den Sie mir da hinhalten, ziehe ich mir nicht an. Ich habe lediglich mein Wissen zu der höchst seltenen Praktik des zerschmetterten Gesichts preisgegeben. Das könnte nämlich durchaus auch eine Botschaft sein.“

„Wie?“, versuchte Klaus wieder auf die Höhe der Diskussion zu kommen. „Wollen Sie damit etwa andeuten, dass der oder die Mörder aus einem dieser Länder oder Stämme kommen könnten und so eine besondere Form von Rache üben?“

„Das könnte man so sehen.“

„Ja, aber für was denn bitteschön?“

„Keine Ahnung. Das ist Ihre Sache, verehrter Herr Klaiser. Ich wollte nur helfen“, endete Doktor Kölblin leicht indigniert und wandte seinen Blick ab. „Kann ich den Leichensack jetzt wieder schließen lassen?“

„Ja, natürlich.“ Klaus hatte den Unterton sehr wohl verstanden und bemühte sich um Wiedergutmachung. „Verzeihen Sie bitte meine Reaktion. Das war zu viel auf einmal. Sie hatten von Anfang an recht. Entschuldigung.“

„Schon gut. Alles wieder in Ordnung“, lächelte ihn der Doc etwas schräg an. „Wissen Sie, vielleicht liegen Sie ja richtig mit diesem ‚Schlachterhund‘. In meinem Beruf muss man gelegentlich eine Schwarte haben, gegen die sich eine Elefantenhaut wie Pergament ausmacht. Kann sein, dass man dann auch verbal ein wenig zu weit hinausrudert. Kann sein …“, murmelte er mehr in sich hinein und versuchte, den weißen Anzug vom Leib zu bekommen, der ihm durch den Körperschweiß zur zweiten Haut geworden war.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen“, bot Klaiser an. Doch sein Funkgerät rührte sich plötzlich. Harry Senftleben von der Schutzpolizei meldete einen Fund am Ederufer.

„Ihr müsstet mal hier raufkommen und jemanden von der Spurensicherung mitbringen. Das ist vielleicht so sieben-, achthundert Meter von Euch entfernt auf der rechten Uferseite. Hier geht ‘n Wiesenweg vorbei, der am einfachsten vom hinteren Ende der Stedenhofstraße her erreichbar ist. Dann zweimal links. Wo die Eder fast direkt an den Wald heranführt, stehen wir.“

Klaus Klaiser informierte noch schnell Sven Lukas per Handy und wenige Minuten später waren er, Rüdiger Mertz und Gerd Steiner schon vor Ort. Der KTU-Mann hatte sie zweckmäßigerweise in seinem fahrenden Labor mitgenommen. So hatte er alles dabei, was er unter Umständen brauchen könnte. Zwei seiner Leute mühten sich nach wie vor in der Flachwasserzone am Fundort ab, bedeutsame Funde zu machen. Bisher waren sie leer ausgegangen.

„Grüß Dich, Harry“, streckte Klaiser dem Uniformierten die Hand entgegen. „Was habt Ihr?“

„Och, ‘ne ganze Menge, würde ich behaupten. Da vorne auf der kleinen Lichtung, Frauen-Sommerkleidung, ein Badelaken, einen Bikini und, wenn ich das hier richtig sehe, getrocknete DNA in Form von Sperma.“ Senftleben wies dabei auf eine Stelle auf dem Badetuch, die jeder der Betrachter ebenfalls sofort als vertrocknete Samenflüssigkeit ausmachte.

Nicht weit davon ein Papiertaschentuch, das womöglich einen ebensolchen Inhalt einschloss. Musste man zumindest vermuten. Denn es ließ sich nicht auseinanderfalten. Ein fast untrügliches Zeichen für ‚Männerpattex‘.

„Prima gemacht“, lobte der Kripomann. „Seid Ihr auch sicher, dass die Besitzerin nicht noch irgendwo hier im Wasser sitzt oder herumschwirrt?“

„Na, hör mal“, empörte sich der Polizeikommissar künstlich, „das Zeug bröckelt ja fast. Frisch sieht‘s hier sowieso nirgends aus. Und überhaupt – würdest Du als Frau splitternackt in der Gegend rumlaufen?“

„Er sicher nicht“, schaltete sich Steiner grinsend ein und ging auf die Knie, um das Badetuch näher zu betrachten. „Ich muss Ihnen recht geben“, sagt er nach einer Weile. „Das Sperma ist schon ein paar Tage alt. Das ist knochentrocken. Und riechen tut‘s auch nicht mehr.“

Die anderen schauten ihn kopfschüttelnd und mit gerümpfter Nase an.

„Aber Sie meinen schon, dass sich daraus eine DNA erlesen lässt.“

„Und was für eine“, lachte Steiner. „Vielleicht sogar zwei.“ Dann drehte er ab. „So, jetzt isses aber gut“, beendete er das Thema.

„Hat eigentlich jemand irgendwelche Papiere der Dame hier gefunden? Oder einen Schlüssel, oder etwas in der Richtung?“, wollte Klaus schließlich wissen.

Allgemeines Kopfschütteln. „Auch in Sachen Kampf- oder Blutspuren, oder Gewebeteilen ist die Antwort ‚niente‘.“ Harry Senftleben schwitzte aus sämtlichen Knopflöchern. „War ‘ne ganz schöne Tortur durch das ganze Gestrüpp da.

Und deswegen sind wir flussaufwärts auch noch nicht weiter gekommen. Da wird‘s übrigens noch unwegsamer“, wies er auf eine geschlossene Buschgruppe.

„Habt Ihr denn auch mal reingeschaut?“, wollte Mertz wissen.

„Nein! Sag‘ ich doch. Wir haben Euch erstmal über den Fund hier informiert und ‘ne Pause eingelegt. Guck Dir doch mal die Kollegen an“, echauffierte sich Senftleben und wies auf die schwitzenden Polizisten des Suchtrupps, die mit roten Köpfen teilweise an Baumstämmen lehnten.

„Och Mann ey, das hätte doch einer mal gerade machen können. Die Büsche hören ja nach 20 Metern sowieso auf.“

„Ja, ja, mecker‘ Du nur. Weißt Du, wie kaputt wir sind? Das Gestrüpp macht Dich kirre, Mann“, motzte Harry, während er sich vornüberbeugte und beide Hände auf die Knie stützte.

Aber da war Mertz bereits im Dickicht verschwunden. Er musste alle Kraft aufwenden, um halbwegs aufrecht gehend in das Gewirr von Ästen, Zweigen und Blättern einzudringen. ‚Ganz schön dunkel hier‘, dachte er, während er sich vorkam wie von Humboldt im Regenwald. Drei, vier Meter weiter öffnete sich eine kleine Lichtung.

Und dort wich er unweigerlich zurück. So, wie schon vor zwei Stunden, als er die Leiche der jungen blonden Frau zu Gesicht bekommen hatte. Vor seinen Augen schwirrten Tausende von Fliegen herum.

„Hier!“, brüllte er. „Hierher! Schnell! Schnell!“ Mertz‘ Puls raste, Schweiß brach aus jeder seiner Poren, rann an seinem Körper herunter und ließ in Sekundenbruchteilen sowohl sein Uniformhemd als auch seine Hose an der Haut festkleben. Ihm wurde kotzübel.

Während er sich wegdrehte und gegen sein Unwohlsein ankämpfte, wurde es laut hinter ihm. Gleich vier Leute bahnten sich einen Weg durch das Gestrüpp und blieben plötzlich wie angewurzelt stehen.

„Nein! Das gibt es doch nicht“, schrie Klaiser auf. Wer sind denn diese Dreckschweine, die so was machen?“

Auch den anderen stand pure Fassungslosigkeit ins Gesicht geschrieben, als sie sahen, was Mertz entdeckt hatte. Eine riesige Blutlache und von dort aus blutige Schleifspuren hin zu dem Wiesenweg und rüber zum Fluss.

„Das … das sieht nach einem furchtbaren Gemetzel aus“, stellte Gerd Steiner nüchtern fest. „Verdammt, verdammt, verdammt! Das ist mit Sicherheit unser Tatort.“ Überall vertrocknete Blutspritzer und blutige Fußabdrücke. Selbst an zwei, drei Baumstämmen fanden sich die Abdrücke blutverschmierter Hände.

Nebenan im Busch röhrte es plötzlich. Rüdiger Mertz hatte seinen Magen nicht unter Kontrolle bekommen. Nur zu verständlich bei diesen Bildern.

„Leute“, rief Steiner. „Bitte keinen Schritt mehr weiter auf die Funde zugehen. Ich muss das alles fein säuberlich registrieren und fotografieren. Auch alle Fußspuren. Am besten macht ihr alle kehrt und geht den Weg zurück, den wir gekommen sind. Da ist eh alles zertrampelt.“

Die Leute folgten seiner Aufforderung nur zu gerne. Bis auf Klaus, der stehen geblieben war, um Fotos mit seinem Smartphone zu machen. Auch seine Innereien rebellierten. Aber er verbot es sich mit eisenharter Disziplin, hier noch in die Büsche zu kotzen. Wenngleich sich in seinem Mund seltsame Seen sauren Wassers sammelten. Er schluckte einfach dagegen an.

„Ach übrigens, Herr Klaiser, würden Sie bitte per Funk meine Leute hierher beordern und auch den Doc? Wir werden jetzt hier jede Menge zu tun bekommen.“

Im Hause Klinkert in der Stedenhofstraße hatten zwei Duschen parallel gegen all den Schweiß angekämpft, den sich Reinhard und Desiree während ihrer Reise vom Lago Maggiore bis nach Wittgenstein eingehandelt hatten. Und beide fühlten sich frisch und erholt, nachdem sie sich abfrottiert und ihr Haar in Ordnung gebracht hatten.

Die Klimaanlage tat ihr Übriges, um ihr Wohlbefinden noch zu steigern. Jetzt, wo die große Tür zum Garten hin geschlossen war. Sie konnte aber von außen durchaus geöffnet werden, falls das Liebespärchen irgendwann einmal ins Hausinnere zurückkehren sollte.

Und das würde hoffentlich bald sein. Denn die Eltern wollten ihrer einzigen Tochter noch gebührend gratulieren und ein wenig mit ihr feiern. Morgen musste schließlich wieder gearbeitet werden.

„Sag mal“, lachte Papa Klinker seine Frau an, „meinst Du nicht auch, dass die sich die beiden da draußen vielleicht doch ein wenig zu sehr verausgaben?“

„Weiß ich nicht“, lachte Desiree, „was ich gesehen habe, sah sehr entspannt aus. Sie war oben. Konnte nur ihren Rücken sehen.“

„Also, weißt Du“, mupfte er auf, „das musst Du einem Vater aber nicht so en Detail erzählen.“

„Wieso? Ist doch nichts Außergewöhnliches dran. Ich mag das so doch auch ganz gerne. Äh übrigens, wusstest Du, dass Hanna Marie sich ein Tattoo über dem Po hat stechen lassen? So knapp über Hosenbundhöhe.“

„Nee, wusste ich nicht.“ Ihr Mann schüttelte den Kopf. „Muss ganz frisch sein. Als wir am Mittwoch fuhren, hatte sie‘s auf jeden Fall noch nicht. Da lag sie nämlich mit Bikini im Garten bäuchlings auf der Liege und lernte. Das Teil wäre mir aufgefallen. Wie sieht das denn aus?“

„Na, wie so ein typisches … ‚Arschgeweih‘ nennen die Leute das, glaube ich.“

„Ich fass‘ es nicht. Wo bleibt denn das ästhetische Empfinden unserer …“ weiter kam er nicht. Denn er starrte auf die blonde junge Frau, die draußen barbusig auf die Schiebetür zukam. Mit raschen Schritten war er bei der Tür und zog sie auf. So heftig, dass die Frau erschrocken zurückwich.

„Was wollen Sie hier?“, rief er ihr entgegen.

„Sind Sie Gast unserer Tochter?“

Doch die Fremde schüttelte nur den Kopf.

„Ich … ich wollte nur …“, rief sie und machte kehrt.

„Halt! Hiergeblieben“, rief Reinhard der Flüchtenden mit dem Arschgeweih hinterher und legte einen kräftigen Sprint ein, um die Frau zu fassen zu bekommen. Doch die dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

Desiree war furchtbar erschrocken. Wie hatte sie sich nur so irren können? Wie konnte es passieren, dass sie diese Frau für ihre Tochter gehalten hatte? Sie hatte zwar die gleiche Figur und gleiches Haar. Aber … Kurz entschlossen rannte sie ins Arbeitszimmer, um die Polizei anzurufen.

Im Garten kam Reinhard Klinkert der Fremden schnell näher. Doch bei dem Bogen um die Thuja trieb die Fliehkraft Jäger wie Gejagte aus der Kurve. Mit dem Erfolg, dass es beide der Länge nach auf den Rasen haute. Nur war er schneller wieder auf den Beinen. Deshalb konnte er die Frau mit einem beherzten Sprung erwischen, bevor sie sich wieder ganz aufrichtete.

„Wie kommen Sie denn hier auf unser Grundstück, verdammt? Was machen Sie denn hier?“, fragte er, nach Luft hechelnd. Der Sprint hatte ihn Kraft gekostet. „Nun los, antworten Sie“, insistierte er weiter.

„Was wir hier machen?“, kam es von der anderen Seite der Hecke. „In aller Ruhe vögeln, Alter. Und jetzt werden wir erstmal duschen. Und, wenn Du uns einlädst, auch noch gesittet zu Abend essen. Danach werden wir mal sehen.“

„Was erlauben Sie sich?“, brüllte Klinkert dem Mann entgegen, den er gar nicht sehen konnte. „Was sollen denn diese Unverschämtheiten?“

„Kann ich Dir sagen, Alter. Mit solchen Unverschämtheiten verdienen wir unser Geld“, sprach der Unbekannte in aller Seelenruhe weiter und tauchte plötzlich hinter der Hecke auf. Mit einem Trommelrevolver in der rechten Hand, den er auf den Hausherrn richtete.

‚Oh Gott, ein Tarzan-Verschnitt‘, schoss es Reinhard ganz plötzlich durch den Kopf. Langes schwarzes Haar, sonnengebräunt, frisch eingeölt und scheinbar durchtrainiert. Allerdings mit nur kleineren Muskelpaketen.

Wie einer, der vor lauter Kraft nicht gehen kann, kam der Typ auf Klinkert zu und zielte mit der Waffe direkt auf sein Gesicht. „Irgendwas schiefgelaufen beim Italien-Urlaub? Schon überraschend, dass Ihr so früh wieder zu Hause seid. Sonst hätten wir Eure Hütte in aller Ruhe ausgeräumt und wären geräuschlos wieder verschwunden.“

„Wie – Urlaub in Italien. Woher wissen Sie das denn? Hat Ihnen das unsere Tochter erzählt? Wo ist die überhaupt?“

„Nein, das hat uns ihre Nachbarin erzählt, die uns heute Vormittag anquatschte. Die wollte wissen, was wir hier treiben. Da haben wir ihr erzählt, dass wir Hanna Marie an ihrem Geburtstag überraschen wollten.“

„Also kennen Sie unsere Tochter?“, fragte Reinhard nach.

„Nee. Aber sie hatte ja zum Glück den Perso an ihrer Badestelle liegen lassen.“

„Den was?“

„Den Perso, den Personalausweis, Du Knaller. Und den wird sie jetzt vermutlich dort auch noch suchen. Vergeblich, wie Du Dir denken kannst.

„Ja, aber …“

„Was aber?“

„Wo ist Hanna denn jetzt?“

„Keine Ahnung. Ist uns auch scheißegal. Wir hatten ja alles, was wir brauchten. Die Adresse und sogar ‘ne offene Terrassentür an Eurem Superbunker hier.“

„Und woher wissen Sie von dem Geburtstag?“

„Schon mal in so ‘n Ausweis reingeguckt? Da steht auch ein Geburtsdatum drin, Du Hirni! Scheint Euch hier recht gut zu gehen, was?“

„Hören Sie augenblicklich mit dem Geschwafel auf“, herrschte Klinkert den Aggressor an und ging samt der zappelnden Arschgeweihträgerin im linken Arm noch einen Schritt auf ihn zu. Was den dazu veranlasste, Reinhard die Waffe fast auf die Nase zu drücken.

„Oh, die kenne ich. Das ist ‘ne Röhm“, bemühte sich Klinkert um totale Lockerheit. „Reiner Schreckschussrevolver. Hab‘ ich auch – für Silvester.“ Völlig unerschrocken schaute er dem Versuchsrambo tief in die Augen.“

„Hä, Schreckschussrevolver?“, stieß der hervor und schaute sich die Waffe prüfend an. „Willste mich verarschen?“

In dem Moment stieß Reinhard die junge Frau weg und entwandt dem blöde dreinschauenden Typen mit stahlhartem Griff die Kanone. Indem er das Ding in dessen Hand so gegen den ‚Strich‘ und Richtung Boden drehte, dass die Finger zu knacken begannen. Beim letzten Knack löste sich ein Schuss. „WUMM“, Dreck spritzte unmittelbar neben seinem rechten Fuß auf.

„Oh, Scheiße, verguckt! Is‘ ja doch scharf.“ Noch immer gab sich der Hausherr betont lässig. Aber ihm sauste die Muffe 1:200.000. Doch der Coup war nun mal gelungen.

Lässig zielte er seinem Widersacher mit der Waffe auf den Bauch und befahl: „Umdrehen! Und ab zum Haus. Und Sie auch“, herrschte er die total verdutzte Frau an. „Aber dalli! Wie ich meine Frau kenne, wird die sich richtig freuen über Ihren Besuch.“

Und wie die sich ‚freute‘. Desiree stand drinnen, hinter der geschlossenen Glastür und starrte, das Telefon noch in der Hand, auf das Trio, das ihr da entgegenkam. Auf einen Wink ihres Mannes schob sie den schweren Glasflügel zur Seite und begab sich außer Reichweite der beiden Einbrecher.

Mit einem katzenhaften Satz war die immer noch halbnackte Frau bei ihr und wollte sie angreifen. Doch das büßte sie schneller als sie gucken konnte. Desiree hatte ihren Sprung nach vorn noch in der Luft mit einem wuchtigen Handkantenschlag seitlich auf den Hals jäh gebremst und sie kraftlos zusammenbrechen lassen.

„Taekwondo, schwarzer Gurt, zweiter Dan“, stellte ihr Mann nüchtern fest. „Ich würde Ihnen raten, sich nicht mit meiner Frau anzulegen. Mit mir übrigens auch nicht. Ich kann aber leider nur Karate.“ Der Schmalspurtarzan schluckte und schaute jetzt noch blöder aus der Wäsche.

„Ich hab‘ übrigens die Polizei schon angerufen. Die schicken so schnell wie möglich eine Streife, wurde mir versichert.“ Desiree Klinkert legte das Mobilteil des Telefons zur Seite und schaute mit einer Mischung aus Wut und Mitleid auf die Frau am Boden. Die kam langsam wieder zu sich und weinte, während sie mit einer Hand die Einschlagstelle an ihrem Hals massierte.

„Wo ist Hanna?“, fragte sie die mittlerweile erbärmlich Zitternde am Boden.

„Wo ist wer?“

„Unsere Tochter. Hanna! Wo ist sie?“, insistierte die Mutter mit Nachdruck.

„Keine Ahnung. Woher soll ich das denn wissen?“

„Woher?“, rief Desiree hysterisch. „Ja, aber wie kommen Sie denn in unser …“ – ‚Haus‘ wollte sie noch sagen. Doch ihr Mann unterbrach sie und packte dem Kumpanen, der sich gerade dem Griff seiner linken Hand entwinden wollte, mit rechts ziemlich brutal zwischen die Beine.

„Junge, wenn Du noch einen solchen Versuch machst, mach Dich auf was gefasst. Dann is‘ nix mehr mit ‚mal in aller Ruhe vögeln‘, wie draußen im Garten. Du bleibst jetzt hier stehen, bis die Polizei da ist. Und in der Zwischenzeit erklärst Du uns noch mal in aller Ruhe, warum Ihr hier seid und wie Ihr in den Besitz von Hannas Sachen kamt.“

Doktor Kölblin war gemeinsam mit dem ‚Freak‘ zur Fundstelle auf der kleinen Lichtung gekommen. Während der Doc noch ein Telefonat führte, gab der Kriminalbeamte seinem Chef schnell einen Bericht über die Befragungen. „Nichts brauchbares darunter“, erzählte er enttäuscht. „Keiner hat etwas gesehen. Bis auf die beiden Jungs, die die Tote gefunden haben. Zwei Brüder, neun und elf Jahre alt. Die sind total fertig und werden jetzt zu Hause vom Notfallseelsorger und einem Arzt betreut.

Die Eltern sind natürlich fast genauso schwer betroffen. Wer rechnet schon damit, dass seine Buben beim Spielen am Flussufer einen solchen Fund machen? Keine Ahnung, wie man das aus deren Köpfen wieder rausbekommt.“

„Das wird schwer“, nickte Klaus. Man sah ihm an, wie sehr auch ihn der Fall belastete. „Das ist so unerträglich, was wir hier haben. Ich …, ich kann es gar nicht beschreiben.“

„Ja, ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich mich da heute schon an meinen Grenzen gesehen habe“, nickte Lukas. „Und was Ihr hier im Wäldchen gefunden habt, muss die Unerträglichkeit ja nur noch steigern, sagen die Kollegen.“

„Da vorne auf der kleinen Lichtung muss sich Furchtbares abgespielt haben“, antwortete Klaiser. „Hier, guck Dir das an“, zeigte er Lukas das Display seines Smartphones, auf dem er im Zweisekundentakt Fotos durchlaufen ließ.“

„Oaaaaah, mach das weg, Chef. Bitte!“ Sven wandte sich ab und bekam einen Hustenanfall, während Doktor Kölblin um eine erneute Vorführung der Bilder bat. Tonlos bewegte er dabei seine Lippen. Der Mediziner verstand offenbar die Welt nicht mehr.

Genauso wenig wie jene Männer im weißen Ganzkörperkondom, die jetzt auf und um die Lichtung herum Schwerstarbeit leisteten. Teilweise auf allen vieren kriechend, suchten sie den Waldboden nach jeder noch so kleinen Spur ab. Stets darauf achtend, dass sie nicht irgendetwas übersehen oder gar durch Fußtritte zerstören würden.

Keiner von ihnen hielt seinen Blick länger auf den Blutlachen, die einen hässlich süßlichen Duft verbreiteten und offenbar eine Labsal für jede Art von Fluginsekten darstellten.

„Wir müssen die Fläche absperren und Proben nehmen an allen möglichen Stellen. Kann sein, dass da auch Blut eines Täters dabei ist. Das will ich haben“, hatte Steiner denn auch entschieden. „Bringt die Proben bitte schnell zum Doc raus, bevor der hier reinkommt. Wir brauchen nicht noch jemanden, der alles platt trampelt.“

„Hab‘ schon verstanden“, erscholl die sonore Stimme des Gerichtsmediziners durch das Gebüsch. „Danke fürs Einsammeln. Ich mach‘ mich dann, wenn nichts dagegen spricht, schon mal zurück ins Institut. Ich will möglichst schnell obduzieren und mich an einer Gesichtsrekonstruktion versuchen. Wir wollen ja schließlich wissen, wer die unglückselige Person ist.“

„Klar“, rief Gerd Steiner zurück. „Aber Sie werden sich noch einen Moment gedulden müssen. Hier geht noch ein Pfad in die Büsche, der, wenn ich mich nicht irre, auf dem Weg herauskommen müsste. Auch da liegt reichlich Blut. Kann da mal jemand von draußen ran und nachschauen, ob dort was zu finden ist?“

Rüdiger Mertz war mit wenigen Schritten an der vom KTU-Mann beschriebenen Stelle. „Sie haben recht“, rief er, „hier muss ebenfalls was ganz übles passiert sein!“

„Wieso?“ Steiner war hellhörig geworden.

„Weil hier nicht nur Blut im Gras und auf dem Boden zu finden ist. Hier gibt es offenbar auch Gewebefetzen. Aber das müssen Sie sich selbst anschauen. Ich glaube, das könnte auch interessant für Doktor Kölblin sein.“

„In Sachen Haut und Blut bin ich eh die Nummer eins“, rief es aus dem Busch. Kölblin hatte sich in Gang gesetzt.

„Aber lassen Sie mir noch ‘n Schluck übrig“, rief Steiner zur Vervollkommnung der makabren Inszenierung hinterher.

„Das ist deren besondere Art des Sarkasmus, den sie wohl pflegen müssen, um mit einer solchen Scheiße überhaupt fertig werden zu können“, entschuldigte Klaiser gegenüber Sven Lukas die lautstark geführten Gespräche der beiden Spezialisten.

„Ach, wir können noch ganz anders“, wandte Doktor Kölblin ein. „Aber mir ist hier wirklich nicht danach.“

Nachdem er, neben den Tüten aus dem Gebüsch, auch noch die mit der DNA vom vermeintlichen Liebesspiel übergeben bekommen hatte, verabschiedete sich Kölblin und ließ sich vom ‚Freak‘ wieder zurück zur Ederbrücke bringen. Dort warteten seine beiden Mitarbeiter bereits in dem Transporter, in dem sie auch gleich die sterblichen Überreste der jungen Frau mit nach Siegen nahmen.

„Hier ist die Polizei. Sie hatten uns gerufen.“ Die Meldung einer netten Frauenstimme kam aus der Haussprechanlage, an der sich Desiree Klinkert auf Klingeln gemeldet hatte. Mit dem Summer öffnete sie die Haustür und ging dann selbst zur Tür zum Vorraum, um die Beamten einzulassen.

„Oh, das ging ja dann doch ganz schön flott“, sagte sie und bat die Uniformierte und deren Kollegen ins Haus.

„Guten Abend. Ich bin Oberkommissarin Sarah Renner. Und das ist mein Kollege, Oberkommissar Jens Höver“, stellte sie den zweiten Beamten vor.

„Wir sind vom Revier Bad Laasphe und von den Berleburger Kollegen um Hilfe gebeten worden. Für die gibt es augenblicklich sehr viel zu tun. Was ist denn passiert?“

„Kommen Sie erst mal mit durch, bitte. Dann werden Sie selbst sehen, was hier los ist.“ Desiree führte die beiden Polizisten um die Kaminecke, wo sie von Reinhard Klinkert mit ‚Tarzan‘ im Schraubstockgriff und der ‚falschen Hanna‘ auf dem Fußboden begrüßt wurden. Die junge Frau trug inzwischen ein T-Shirt, das ihr die Dame des Hauses aus eigenen Beständen gegeben hatte.

Als Jens Höver die Waffe auf dem Tisch liegen sah, verfinsterte sich seine Miene. „Wem gehört die?“, fragte er scharf, bevor überhaupt ein anderes Wort gesprochen worden war.

„Ihm“, antwortete Klinkert und drehte ein wenig an der Armschraube.

„Warum haben Sie eine Waffe dabei?“, wollte der Beamte wissen. „Lassen Sie ihn bitte mal los. Der haut uns nicht ab“, bat er beiläufig.

„Warum, warum …“, äffte der Einbrecher nach. „Warum hat man eine Kanone? Zum Selbstschutz natürlich. Hätte ich vorhin gut gebrauchen können. Der Typ hier hat auf mich geschossen.“

„Ist das wahr?“

„Blödsinn! Ich habe nicht auf ihn geschossen. Der Schuss hat sich gelöst, als ich ihm die Waffe abringen wollte. Niemand wurde getroffen. Das Geschoss steckt draußen im Rasen.“

„Abringen. Interessant“, meinte Höver, während der mit spitzen Fingern den Revolver aufnahm und an der Mündung schnupperte. „Wie lief das denn ab? Oder warten Sie“, wehrte er mit erhobenen Händen ab. „Das wird alles später kommen. Jetzt prüfen wir erst einmal Ihrer aller Identität. Können wir mal Ihre Personalausweise oder Reisepässe sehen?“

Desiree holte ihren und den Pass ihres Mannes aus dem kleinen Büro. Die beiden Eindringlinge konnten oder wollten mit derlei nicht aufwarten.

„Wie, keine Personalpapiere dabei?“, fragte Sarah Renner, immer noch sehr freundlich. Schulterzucken bei den Angesprochenen.

„Vielleicht sollten Sie mal nach deren Klamotten schauen. Die liegen, glaube ich, noch immer draußen hinter der Thuja-Hecke“, meinte Frau Klinkert. „Da haben wir die beiden auch entdeckt, als wir aus Italien zurückkamen.“

„Ja, ich hol‘ sie Ihnen“, rief ‚Tarzan light‘ und wollte schon nach draußen enteilen. Aber da hatte er die Rechnung ohne Sarah Renner gemacht. Die stellte sich kurzerhand in dessen Laufweg und brachte blitzschnell seine rechte Hand in eine außergewöhnlich schmerzhafte Haltung für deren Besitzer. „Wenn, dann gehen wir gemeinsam“, sagte sie. Und das duldete keinen Widerspruch.

„Lass mich doch in Ruhe, Du dumme Fo…!“ Sarah Renner wurde ernst.

„Wie bitte?“, brüllte ihr Kollege den Typen an. „Wir wollen doch hier höflich bleiben. Klar!? Sie hätten zumindest allen Grund dazu.“

„Was willst Du Arschloch denn? Du kannst uns gar nix.“

„Na, schon allein das A-Wort reicht für eine Beamtenbeleidigung. Und Ihr aggressives Verhalten gefällt mir überhaupt nicht.“ Mit einem Griff auf den Rücken hatte er Handschellen von seinem Gürtel geholt und zunächst an dem Arm festgemacht, den die Kollegin so sehr unter Spannung gehalten hatte. Dann kam der nächste dran. „Fertig. Setzen“, befahl Höver.

„Wir haben nix gemacht. Außer ‘nem kleinen Nümmerchen da draußen im Garten.“

„Jetzt nehmen Sie sich mal zusammen! Hier sind schließlich drei Frauen mit im Raum“, motzte der Polizist.

„Wieso? Meinste, die wüssten nicht, was ‘n Nümmerchen ist. Ohne die Weiber ginge das alles ja gar nicht“, griente der Typ, der trotz der Klemme, in der er saß, seine große Klappe einfach nicht halten konnte.

„Setzen!“, wiederholte der Beamte.

Und endlich folgte das Großmaul. Mit den Händen auf dem Rücken. Höver setzte sich daneben, um Notizen machen zu können. Reinhard stellte allen ein Glas Mineralwasser hin.

Auch den ungebetenen Gästen. Derweil war Sarah Renner mit Desiree Klinkert zusammen nach draußen gegangen, um nach den Sachen der Eindringlinge zu sehen.

„Dort vorne habe ich sie entdeckt. Sie hatten Sex. Und ich dachte zunächst, das sei Hanna, unsere Tochter. Wollte natürlich nicht stören und bin gemeinsam mit meinem Mann wieder ins Haus gegangen.“

„Das ist ja nicht zu fassen“, war die Polizistin baff. „Ist das wirklich wahr? Die machen einfach auf fremdem Gelände miteinander rum, wo sie nicht hingehören und wo sie niemand reingelassen hat?“

„Genau so ist es. Die sind ganz offensichtlich durch die Terrassentür rein, die Hanna nur leicht zugezogen hatte, als sie fortging. Ich hab‘ ihr tausendmal gesagt, dass das nicht geht. Aber für sie war‘s praktisch und sie meinte immer, dass hier in dem ‚Kaff‘ sowieso keiner einbrechen würde.“

„Aber wie sollen sie denn an die Adresse rangekommen sein?“

„Angeblich haben sie die an der Badestelle unserer Tochter an der Eder gefunden. Behaupten sie zumindest. Da hätten Hannas Papiere gelegen.“

„Und daher kannten sie wohl auch Ihre Adresse.“

„Genau. Das haben sie uns sogar brühwarm erzählt. Nachdem sie hier eingebrochen waren, haben sie alles fein säuberlich auf dem Tisch im Wohnzimmer deponiert.“

„Ja – und wo ist Ihre Tochter?“