Am Fenster - Wolfgang Breuer - E-Book

Am Fenster E-Book

Wolfgang Breuer

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Beschreibung

"Wer, um alles in der Welt, erschießt denn einen Rollstuhlfahrer?" Nicht nur Oberkommissar Sven Lukas ist entsetzt über den Mord am Schlossberg in Bad Laasphe. Auch die Kolleginnen und Kollegen vom Kriminalkommissariat sind fassungslos. Vor allem, weil es zunächst nichts gibt, was man als Grund für diese Tat hätte ausmachen können. Doch recht bald stellt sich heraus, dass das Opfer, Christof Feistauer, gar kein so unbeschriebenes Blatt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Im Gegenteil. Der Mann, der Jahrzehnte lang mit einem falschem Ticket gelebt hatte, war im Kalten Krieg sogar für gleich zwei untereinander verfeindete Geheimdienste tätig. So kommt das Team um Kripo-Chef Klaus Klaiser bei den Ermittlungen zu diesem Fall nicht nur einmal in die Bredouille. Zumal auch andere Agenten in der Geschichte ihr eigenes Süppchen gekocht haben.

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Wolfgang Breuer

Am Fenster

Ein Wittgenstein-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang Breuer

Am Fenster

Ein Wittgenstein-Krimi

Cover: unter Verwendung einer Zeichnung von

Herbert Kleinbruckner-Gautam (www.bildhauergautam.de)

Foto Coverrückseite: W. Breuer

Autorenfoto: Fotoatelier Christiane

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

© Winter 2020

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

[email protected] (bevorzugt)

Tel.: (0 22 46) 94 92 61

Fax: (0 22 46) 94 92 24

www.ratio-books.de

E-Book: ISBN 978-3-96136-091-8

Print: ISBN 978-3-96136-090-1

published by

Inhalt

Montag, 4. Februar

Dienstag, 5. Februar

Mittwoch, 6. Februar

Donnerstag, 7. Februar

Freitag, 8. Februar

Samstag, 9. Februar

Montag, 11. Februar

Dienstag, 12. Februar

Mittwoch, 13. Februar

Donnerstag, 14. Februar

Freitag, 15. Februar

Montag, 4. Februar

Christof Feistauer saß am Fenster seines Wohnzimmers und schaute hinaus in den Abend. Dort, wo vor seinem Haus die noble Laaspher Privatstraße ‚Schloßberg‘ in die ‚Schloßstraße‘ mündet, war um diese Zeit zwar nie besonders viel los. Trotzdem. Dort zu sitzen und hinauszuschauen war für den 62-jährigen Mann so etwas wie ein Blick in das Schaufenster des Lebens.

Feistauer war auf einen Rollstuhl angewiesen und deshalb zuletzt nur noch ganz selten aus dem Haus gekommen. Bei dem augenblicklichen Wetter wäre ihm ein Ausflug an die frische Luft sogar völlig unmöglich gewesen. Es schneite nämlich seit Tagen so heftig, dass sogar die Räum- und Streudienste in Schwierigkeiten gerieten.

Und das hatte dazu geführt, dass sich selbst dort oben am Berg, am gefühlten Arsch der Welt, gelegentlich großes Kino vor seinen Augen abspielte. Autos, die ihren Fahrern nur widerwillig gehorchten, schlitternde, stürzende Fußgänger und tags zuvor eine richtig derbe Karambolage mit hohem Sachschaden.

Der Fahrer eines sündhaft teuren Mercedes hatte an der Einmündung aus dem ‚Schloßberg‘ die Vorfahrt eines nicht minder teuren BMW zwar beachtet, war ihm aber dennoch mit stehenden Rädern voll in die Seite gerauscht. Der Aufprall war ebenso gewaltig wie das anschließende Geschrei der streitenden Fahrzeuglenker.

Nur gut, dass die Autofahrer mit Mobiltelefonen ausgestattet waren. Der schwerbehinderte Frührentner hätte nämlich nur ungern seinen Logenplatz am Fenster aufgegeben, um Rettungsdienst und Polizei zu alarmieren.

Frederik Tiemann vom Bauhof der Stadt Bad Laasphe kannte die Gefahren an der Einmündung zur Genüge. Denn er fuhr den Schneepflug, der die Chaussee zwischen dem Zentrum Laasphes unten und dem Internat Schloss Wittgenstein hoch oben auf dem Berg zu räumen und möglichst schnee- und eisfrei zu halten hatte.

Tiemann liebte seinen nagelneuen Unimog, der die ziemlich steil ansteigende Strecke hinauf zum ehemaligen Sitz derer zu Sayn Wittgenstein Hohenstein sonst fast spielend nahm. Doch in diesen Tagen musste sich selbst sein „Jorch“, wie er das orangefarbene Kraftpaket getauft hatte, etwas mehr anstrengen, um der Schneemassen Herr zu werden.

Und jedes Mal, wenn er vor dem Hause Feistauer so richtig Gas gab, oder wenn er nur die Einmündung der für ihn sonst uninteressanten Privatstraße räumte, schaute er rüber zu dem Mann mit dem freundlichen Gesicht und winkte ihm zu. Christof am Fenster hob stets einen Arm und erwiderte den Gruß.

Tiemann hatte an diesem Montag Spätdienst und gegen 18 Uhr seine erste Tour am Streusalzdepot gestartet. Noch immer sandte der Himmel Unmengen an Schnee zur Erde. Was die Winterdienstler maßlos ärgerte. Denn schon eine Stunde nach jedem Räumeinsatz war von der zuvor geleisteten Arbeit fast nichts mehr zu sehen.

Es würde wieder eine heftige Nacht werden. Dessen war sich Frederik bewusst. Vor allem die Steigungs- und Gefällestrecken, von denen es in und um Bad Laasphe nicht eben wenige gibt, bedurften bei solchem Schneefall einer besonderen Behandlung. Spätestens, wenn am frühen Morgen der Berufsverkehr einsetzen würde, mussten all diese Straßen in optimalem Zustand sein. Und gerade hinauf zum Schloss war üblicherweise mit einem höllischen Ansturm von motorisierten Lehrern und ‚Externen‘ der Internatsschule zu rechnen.

Natürlich winkte der Mann im Rollstuhl auch diesmal, als Tiemann seinem ‚Jorch‘ so richtig die Sporen gab und mit röhrendem Motor an dessen Haus vorbeidonnerte. Das Licht der Straßenlaterne an der Einmündung verlieh Feistauers Gesicht einen leicht goldenen Schimmer.

„Was für ein armer Hund“, brummelte der Schneepflugkutscher vor sich hin. „Den ganzen Tag über hängt er am Fenster, um wenigstens etwas Abwechslung in dieser Tristesse zu haben. Das ist doch kein Leben, sowas.“

In der Stadt wusste man wenig über den Mann, der vor knapp sechs Jahren das alte, ziemlich baufällige Haus dort oben am Berg gekauft und nach aufwendigen Renovierungsarbeiten bezogen hatte. Bar bezahlt habe er die ‚Bruchbude‘, hatte deren Verkäufer in Frederiks Stammkneipe getönt und daraufhin Serien von Lokalrunden geschmissen.

Damals war der neue Besitzer noch ein durchaus ansehnlicher und sportlicher Typ, den man häufig bei Waldläufen beobachten konnte. Aber er war immer allein. Sein einziger Freund schien sein perlschwarzer 7er BMW mit fremder Zulassung zu sein, den er wenigstens einmal die Woche mit Schlauch und Schwamm vor dem Haus putzte.

Dann aber waren er und sein Auto urplötzlich verschwunden. Und kaum jemand vermisste den Sonderling, der bis dahin Kontakte zu den Menschen im Ort weitgehend vermieden hatte und nahezu jeder Begegnung aus dem Weg gegangen war.

Nur Hannelore Knop, der Verkäuferin in seiner Lieblingsbäckerei in der Königstraße, war sein Fehlen aufgefallen. Denn Christof Feistauer hatte dort mindestens zweimal, manchmal sogar dreimal pro Woche frische Brötchen eingekauft und samstags auch noch ein Bauernbrot mitgenommen.

Über ein freundliches „Bitte“ und „Danke“ waren die beiden jedoch nie hinausgekommen. Ein Zustand, den er vermutlich nie bedauerte. Wohl aber Frau Knop, eine verwitwete Endvierzigerin. Der Mann hätte nämlich durchaus in ihr Beuteschema gepasst.

Entsprechend entsetzlich war für sie das Wiedersehen mit ihm rund acht Monate nach dessen urplötzlichem Verschwinden. Als nämlich direkt vor der Bäckerei ein Rolli-Taxi anhielt und dessen Fahrer bei ihr zwei Kaiserbrötchen, zwei Roggenbrötchen und ein Bauernbrot einkaufte. Exakt das, was der Verschwundene immer bestellt hatte.

Als der Fahrer den Laden verließ, hatte die Verkäuferin einen neugierigen Blick durchs Schaufenster in den Fahrgastraum des Transporters gewagt. Und dort entdeckte sie zu ihrem großen Entsetzen den von ihr so verehrten Mann in einem Rollstuhl. Mit aufgedunsenem Gesicht und stierem Blick.

Schnell hatte diese Nachricht die Runde in der kleinen Lahnstadt gemacht. Und seither wussten die Menschen wenigstens etwas über den ‚komischen Kauz vom Schloßberg‘. Er musste mindestens querschnittgelähmt sein. Und er hatte augenscheinlich keinerlei Betreuung.

Lediglich für seine Besorgungen in der Stadt ließ er sich von Zeit zu Zeit mit einem Spezial-Taxi herunter und wieder hinauf kutschieren. Denn die steile Strecke zu seinem Haus am Berg hätte er niemals mit seinem Rollstuhl geschafft.

Es war 20.18 Uhr, als Frederik Tiemann zum zweiten Mal an diesem Abend die Schloßstraßen-Tour fuhr und an Feistauers Haus vorbeikam. Hinter sich eine kleine Schlange von Autos, deren Fahrer offenbar nur auf ihn gewartet hatten, um überhaupt zum Schloss hinaufzukommen.

Noch immer saß der Rentner am Fenster und winkte ihm zu. Die kleine Stehlampe auf der Fensterbank neben ihm ließ einen Schatten seines Gesichts in den gerafften Vorhang fallen.

Mag sein, dass Frederik bei den speziellen Lichtverhältnissen glaubte gesehen zu haben, dass das Winken des Mannes etwas statisch wirkte. Aber er dachte sich nicht viel dabei. ‚Er wird sicher müde sein.‘ Mit Vollgas brummte sein Unimog bergan.

Als er allerdings knapp zehn Minuten später wieder vom Schloss heruntergekommen war und die Einmündung der Privatstraße geräumt hatte, erleuchteten seine starken Scheinwerfer die gesamte Fassade des alten Hauses. Und noch immer saß der Rolli-Fahrer mit erhobener Hand auf seinem Platz.

Kein Lächeln, keine Bewegung. Nichts. Dem Schneepflugfahrer schwante Übles. Er schaltete das Fernlicht zu. Spätestens jetzt hätte der Mann am Fenster seine Hand schützend vor die Augen nehmen müssen. Doch Feistauer rührte sich nicht. Er stierte nur geradeaus.

„Shit!“, entfuhr es Tiemann, „da stimmt was nicht.“ Vorsichtig fuhr er quer über die Schloßstraße ganz nah an das Haus heran und schaute in das Fenster, das nun direkt vor ihm lag. Dann gefror Frederik das Blut in den Adern. Denn das Bild, das sich ihm bot, war entsetzlich. Zwischen den starren Augen des Rentners klaffte ein kleines rundes Loch, aus dem ein dünner roter Blutfaden über die Nase rann.

Als der Fahrer, vom Grauen gepackt, beim Zurücksetzen auch noch den Motor seines Fahrzeugs abwürgte, war es plötzlich unheimlich still. Kein Geräusch aus der Stadt drang hinauf auf den Berg. Die dicke Schneedecke wirkte wie ein gigantischer Schallschlucker.

Schaudernd kletterte der junge Fahrer von seinem Bock herunter. Obwohl es ihm widerstrebte, musste er nachsehen, ob dem Mann am Fenster vielleicht doch noch geholfen werden konnte. Mit weichen Knien und Gänsehaut näherte er sich der grausigen Szenerie und traute sich gar nicht so recht, hinzusehen.

‚Ausgerechnet mir muss das passieren‘, haderte er. ‚Ausgerechnet mir! Und dann keine Menschenseele unterwegs. Verdammt nochmal!‘

Doch plötzlich hörte er hinter sich einen Pkw aus der Privatstraße herauskommen. Frederik wollte ihm entgegenlaufen und ihn anhalten. Aber ehe er sich um den Schneepflug herum bewegen und bemerkbar machen konnte, war der Wagen bereits bergab davongefahren. Gesehen hatte er ihn nicht.

Dann schließlich ging er entschlossen zu dem Mann am Fenster. Und nur ein kurzer Blick genügte, um zu bestätigen, was er ohnehin vermutet hatte. Der Mann war tot. Mausetot! Frederik hatte zwar noch nie eine Leiche gesehen. Aber hier gab es keinen Zweifel.

„Verdammt, verdammt, was mach’ ich denn jetzt?!“, rief er weinerlich in den Nachthimmel und fuhr sich übernervös mit einer Hand durchs Haar. Sterne tanzten vor seinen Augen. „Los, Junge“, feuerte er sich plötzlich selbst an, „ruf die Polizei an! Rettungswagen kannst du dir sparen.“

Trotzdem überwand er sich vor dem Anruf noch dazu, alles noch einmal genauer zu betrachten, um am Telefon möglichst präzise Angaben machen zu können.

Feistauer, die gerafften Stores, die Lampe auf der Fensterbank. Alles sah eigentlich so friedlich aus. Wären da nicht das Loch in der Stirn des Mannes und der Blutfaden über Nase, Mund und Hemd gewesen.

Frederik war sicher, dass der Arme seinem Leben selbst ein Ende gesetzt hatte. Doch es war keine Waffe zu sehen. Und warum war der Arm noch immer wie zum Gruß erhoben?

Letzteres erklärte sich von selbst, als er näher hinschaute. Ein Finger der rechten Hand hatte sich in einer Masche der groben Stores verfangen. Während der linke Arm auf der Lehne des Rollstuhls ruhte. Aber wie konnte das sein? Mit einer Hand musste er doch abgedrückt haben.

Noch immer floss Blut aus der Stirnwunde. Und die gab Tiemann ein weiteres Rätsel auf. ‚Wenn sich jemand erschießt‘, dachte er, ‚warum tut er das mit einem Schuss direkt zwischen die Augen? Seitlich in die Schläfe wäre doch einfacher und genauso sicher gewesen. Auf jeden Fall muss er sich mit einer kleinkalibrigen Waffe umgebracht haben.‘

Dass die Fensterscheibe ein winzig kleines Loch hatte, entdeckte er in seiner Aufregung nicht.

Es war exakt 21.03 Uhr, als bei den Klaisers in Berghausen das Telefon klingelte. Klaus und Ute schraken hoch. Sie waren kuschelnd auf der Couch vor dem Fernseher eingeschlafen. Gähnend schüttelte der Hauptkommissar den Kopf und räusperte sich. „Ich geh’ schon, Schatz“, drückte er seine Frau sanft wieder zurück auf das bequeme Möbel und stand auf.

Doch die hielt es nicht lange dort. Denn aus dem Kinderzimmer erscholl ein herzzerreißendes Weinen. Luisa, die Süße, war offenbar vom Klingeln des Telefons wach geworden und bedurfte jetzt dringend mütterlicher Betreuung.

„Klaus, entschuldige, dass ich störe“, meldete sich der Diensthabende von der Berleburger Polizeiwache, „wir haben einen Mord am Schloßberg in Laasphe. Ein Rollstuhlfahrer wurde erschossen. Durch sein Wohnzimmerfenster, berichten die Kollegen. Ganz fiese Nummer.“

„Ein Rollstuhlfahrer? Oh nein! Wie hässlich ist das denn? Wo genau ist das?“

Dirk Finkbeiner gab ihm die notwendigen Informationen und auch gleich darüber Bescheid, dass der Kripo-Chef von Sven Lukas abgeholt würde. Der habe sich bereits von Diedenshausen aus auf den Weg gemacht.

„Bei dem Wetter?“ Klaiser war entsetzt. Denn er hatte beim Blick aus dem Fenster festgestellt, dass seit seiner Räumaktion vor der 20 Uhr-Tagesschau schon wieder gut und gerne 15 Zentimeter Schnee gefallen waren. „Der wäre doch besser gleich von dort aus nach Laasphe gefahren. Wie sehen denn die Straßen unterwegs aus?“

„Kein Prahl zu machen.“ Dirks Zustandsbeschreibung war an Nüchternheit nicht zu überbieten. „Die Räumdienste sind voll im Einsatz. Leimstruth, Stünzel und die Sassenhäuser Höhe werden alle 30 Minuten geräumt und gestreut. Die Höhengebiete um Wunderthausen, Diedenshausen und Girkhausen auch. Unten sieht’s mit Räumen eher mau aus. Mehr können die Jungs halt nicht leisten.“

„Na, hoffentlich haben sie auch auf der Lützel gestreut. Damit KTU und Rechtsmedizin durchkommen“, bemerkte Klaus eher am Rande. „Sind die schon bestellt?“

„Natürlich, haben die Laaspher Kollegen schon von sich aus gemacht.“

„Prima. Wer von denen ist vor Ort?“

„Äääh, warte mal … Clemens Rohrer und Jutta Henning.“

„Okay. Wann, meinst Du, könnte der ‚Freak‘ hier sein?“

„Ich weiß nicht, wie der fährt“, lachte Finkbeiner.

„Ich aber“, lachte der Kripo-Chef etwas gallig. „Wie ein Schwein!“

„Na, dann ist er ja bald bei Dir.“

„Gut, mein Lieber. Ich danke Dir und mach’ mich mal in die Puschen. Und Du informierst bitte noch den Staatsanwalt.“

Nachdem er sich verabschiedet und das Gespräch weggedrückt hatte, sprintete Klaiser hinauf ins Schlafzimmer, um sich für eine kalte und schneereiche Nacht einzukleiden. Keine Ahnung, was ihn dort erwarten würde.

Lange Unterhose, langes Unterhemd, darüber Thermohose, T-Shirt und ein dicker Pullover. Zusammen mit der dicken Winterjacke, gefütterten Stiefeln, Schal, Handschuhen und Mütze müsste das reichen, fand er und schlich auf Zehenspitzen wieder nach unten. Seine Damen schienen wieder eingeschlafen zu sein.

Leise schloss er die Haustür hinter sich. Doch als er vors Haus trat, empfing ihn ein schallendes Gelächter. „Mein Gott, Chef, Du siehst ja aus wie ein Michelin-Männchen. Mit wieviel Grad Frost rechnest Du denn, wenn ich fragen darf?“

Sven war wohl just in dem Moment vorgefahren, als Klaiser seiner Frau einen Zettel geschrieben hatte, um ihr mitzuteilen, wo er hin musste und dass er stattdessen lieber in ihren Armen läge. Die Ehe mit Ute und das knapp dreijährige Töchterlein der beiden, machten ihn nach wie vor zum glücklichsten Mann unter der Sonne.

„Wer von uns beiden hat denn hier laufend Schnupfen, he?“, antwortete er auf den Spott seines jungen Kollegen, den alle nur den ‚Freak‘ nannten. Der Kollege mit seinem fast abartigen Hang zu allen technischen Neuerungen trug nämlich mal wieder seine so typischen ‚Schmuddelklamotten‘. Schimanski-Parka, Jeans und ausgelatschte Camel-Boots.

Immerhin hatte er wenigstens Lederhandschuhe an und eine Russenmütze auf dem Kopf, deren Felllappen rechts und links über seine Ohren hingen.

„Steig lieber wieder ein, bevor Dich noch jemand sieht. Du kannst einem ja Angst einjagen in Deinem Outfit“, grinste Klaus und klopfte den Schnee von seinen Füßen, als er sich in Svens Mondeo gesetzt hatte. Kurz darauf wurde ihm bereits zu warm, in dem gut geheizten Dienstwagen.

Lukas hatte den kraftvollen Dieselmotor nur blubbern lassen, um rückwärts aus der Hauseinfahrt hinaus zu kommen. Als er die Lenkung einschlug, knirschte der eiskalte Pulverschnee unter den Rädern. Aber dann nutzte er die Gunst des Drehmoments und ließ sein Gefährt nach vorne schnellen. Die Berghäuser Straßen waren ausnahmsweise frisch geräumt.

Schon an der Klinker’schen Kreuzung in Raumland hatte Klaus das Kunststück fertiggebracht, sich der Winterjacke zu entledigen, ohne sich abzuschnallen. Svens Fahrweise und die Bordheizung hatten ihm bereits so zugesetzt, dass er hätte kübeln können.

Bei leicht geöffnetem Seitenfenster dachte er mit Grauen an eine Dienstfahrt im letzten Winter. Damals hatte er seinen Audi am Rhein-Weser-Turm in eine Schneewehe gejagt. Wollte sich der Kollege jetzt revanchieren? Immerhin hatte der sich an jenem Tag mit keinem Wort beschwert. Im Gegenteil. Blödsinn hatte er gemacht.

Doch danach war jetzt keinem der beiden Kriminalisten mehr zumute. Schlimm genug, was da auf sie wartete. „Wer, um alles in der Welt, erschießt denn einen Rollstuhlfahrer?“, hatte Lukas ihn gefragt, nachdem sie losgefahren waren.

„Ich kann es Dir nicht sagen“, war die lapidare Antwort des Chefs. „Wir werden es hoffentlich herausfinden.“

„Machen wir“, war Sven sicher, „ich versprech’ es dem armen Schwein, das da jetzt tot im Rollstuhl sitzt.“

„Hou, hou, hou, mach’ mal halblang. Jetzt warte erstmal ab, was wir dort vorfinden.“ Klaus Klaiser war absolut kein Freund von Früh- und vor allem von Ferndiagnosen. „Weiß der Geier, wie die Dinge liegen.“ Dann krallte er sich am Griff in der Beifahrertür fest. Sein Magen begann zu rebellieren.

Am Tatort hatte sich eine veritable Menge Mensch eingefunden. Autofahrer vor allem. Und zwar sowohl volljährige Pennäler, die bergauf ins Internat zurückkehren wollten. Als auch solche, die zu später Stunde unten in der Stadt noch ‚etwas zu besorgen‘ hatten. Doch manche Liebe blieb in dieser Nacht unbefriedigt.

Die beiden Oberkommissare Jutta Henning und Clemens Rohrer hatten bereits uniformierte Verstärkung aus Berleburg bekommen, weil an Ort und Stelle alles dort hatte stehen und liegen bleiben müssen, wo es sich beim Auffinden der Leiche befunden hatte. Auch der Unimog mit Schneepflug, der quer auf der Straße stand und den Verkehr beträchtlich behinderte.

Mit vereinten Kräften versuchten jetzt fünf Beamte, die Gaffer zurückzuhalten und wenigstens einige von ihnen vom Ort des Geschehens wegzubekommen. Was nicht ganz einfach war. Wegen der schier unstillbaren Neugier der Leute einerseits und der schon länger nicht mehr geräumten und gestreuten Straße andererseits.

An Clemens Rohrer war es hängen geblieben, den Auffindeort zu sichern und gegen fremde Blicke zu schützen. Aber wie? Irgendwann war Frederik Tiemann auf die Idee gekommen, die eingerosteten Angeln wieder so gängig zu machen, dass die alten Windladen vor dem Fenster, und damit vor dem Toten, zugeklappt werden konnten.

Sven und Klaus hatten bereits weiter unten am Schloßberg ihre liebe Not mit den Straßenverhältnissen. Denn das Wetter hatte kein Erbarmen mit ihnen und der Fahrbahn.

Gerade dort, wo ein zügiges Vorankommen von enormer Wichtigkeit gewesen wäre, hatten die Straßenbauer blöderweise Kurven eingebaut. Und die mit höherer Geschwindigkeit zu nehmen, vermied selbst Lukas, der ‚Freak‘. „Kacke!“, schimpfte er und musste ein ums andere Mal runter vom Gas.

Das Beschleunigen war dann nicht mehr die reine Freude. Weil schon zu viele Fahrer vor ihnen dieses Manöver mitgemacht und die Fahrbahn zu einer Eispiste gemacht hatten.

Und so zeigte die Uhr schließlich 22.07 Uhr, als sie, weil sie ja Blaulicht auf dem Wagen hatten, durch die Absperrung am Schloßberg gelassen wurden. Immerhin aber noch eine halbe Stunde vor Steffen Siebert von der Spurensicherung und Doktor Klaus Faulhaber vom Rechtsmedizinischen Institut. Die hatten allerdings auch den längeren Anfahrtsweg.

„Was für eine Schweinescheiße“, motzte Siebert, als er, die Handschuhe überstreifend, das Haus betrat und die Kriminalisten drinnen antraf. „Solche Einsätze müssten in solchen Nächten verboten werden.“

„Wir haben es uns nicht ausgesucht, Verehrter“, begrüßte ihn Sven Lukas. „Kommen Sie bitte.“

Die dargebotene Hand übersah der Ankömmling geflissentlich und meinte mit hochgezogenen Augenbrauen: „Ihr könnt draußen bleiben. Sonst latscht Ihr mir da drin alles kaputt, was es eventuell an Spuren gibt.“

„Hier gibt es wohl kaum Spuren vom Täter“, bremste ihn Sven Lukas ziemlich barsch. „Die finden Sie alle da draußen. Wir machen den Job schließlich auch schon ein bisschen länger.“

„Jaa, jaa, das sehe ich. Macht Euch lieber ‘n Paar Überzieher an die Füße. Handschuhe alleine reichen nicht!“ Dann marschierte er voraus. „Mann, Mann, Mann, Ihr seid vielleicht ‘n paar Profis“, giftete er weiter.

„Hey!“, rief Sven, „es ist gut! Vielleicht lassen Sie erst mal ‘n bisschen Dampf ab, bevor Sie mit Ihrer Arbeit anfangen.“

Siebert plusterte sich auf. „Also hören Sie mal. So können Sie mit mir nicht reden. Ich hätte unterwegs fast gekotzt wegen dieser Scheiße hier.“

„Ich auch!“, fauchte ihn Klaiser an, der in der Zimmerecke stand. „Und ich motze hier nicht so rum. Mann! Was ist denn mit Ihnen los? Haben Sie gesoffen, oder was?“

Der SpuSi-Mann fuhr erschrocken herum und riss den Mund auf. Doch bevor er etwas sagen konnte, tippte ihm der Kripo-Chef mit dem Zeigefinger auf die Brust. „Nehmen Sie sich mal ‘n bisschen zusammen. Pietät! Da vorne sitzt schließlich ein Toter. Und jetzt kommen Sie und schauen Sie sich das an.“

Das hatte gesessen. Steffen Siebert kannte Klaiser bisher nämlich als moderaten, besonnenen Mann und begriff nun offenbar, dass er mit seinem verbalen Giftangriff schwer danebengelegen hatte. Also riss er sich am Riemen und trottete hinter dem Kripo-Chef her ins Wohnzimmer, das noch immer nur von der Lampe am Fenster erleuchtet war.

„Dort sitzt der Mann“, deutete Klaus auf die Rückseite eines Rollstuhls, über dessen extra hohe Rückenlehne nur ein kleines Stück Haarschopf hinausragte. Die rechte Hand hatte sich in einem grob gewebten Store verkrallt. Am Boden jagten auf einem Sockel drei weiße Windhunde aus Porzellan einer imaginären Beute nach. Als Klaus sie anheben und zur Seite räumen wollte, rief Siebert: „Stopp! Nicht anfassen!“

„Wie?“ Klaiser verstand nicht richtig. „Wegen der Spuren? Ich habe Handschuhe an.“

„Deshalb nicht. Aber mit der Skulptur müssen Sie unbedingt vorsichtig umgehen. ‚Jagende Windhunde‘. Die sind richtig, richtig teuer. In dieser Ausführung Minimum zehn- bis zwölftausend Euro.“

„Was denn?“, fragte Lukas verdutzt, „zehntausend Fleppen für die drei Bellos hier?“

„Minimum, wie gesagt.“

„Oh, da lass’ ich lieber mal ganz die Finger davon“, zog Klaus die Hände zurück. „Ganz mein Reden“, witterte Porzellankenner Steffen Siebert offenbar wieder Oberluft und erntete dabei total irritierte Polizistenblicke.

„Also was haben wir hier?“ Langsam schob er sich seitlich am Rollstuhl vorbei in Richtung Fenster und konnte Feistauer so frontal ins Gesicht schauen.

„Uiii“, sagte er plötzlich und ließ einen leisen Pfiff hören.

„Scheint mir ein Highspeed-Geschoss gewesen zu sein. Kaliber, ich glaube 5,56 x 45 Millimeter und irrsinnig schnell.“ Prüfend schaute er vom Einschuss in der Stirn herüber zur Fensterscheibe und entdeckte das winzige Loch in Kopfhöhe. „Sag ich doch“, bestätigte er sich.

„Wie bitte?! Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss?“ Der ‚Freak‘ mochte das gar nicht glauben. „Die Dinger sind doch laut Genfer Konvention seit Ewigkeiten verboten. Hab’ ich sogar noch in der Schule gelernt. Wo kommt denn eine solche Scheiße heute noch her?“

Siebert schob die Unterlippe vor. „Wenn ich das wüsste. Ist mir bisher auch noch nicht untergekommen. Aber das hier ist eindeutig. Da geht kein Weg daran vorbei. Schauen Sie sich mal dieses picobello saubere Loch in der Scheibe an.“

Mit einer Taschenlampe leuchtete der Spurensicherer auf den Einschuss im Fenster. „Das Glas hat nicht mal Zeit zum Ausfransen gehabt. Wie gestanzt ist das.“

Sven war irritiert. „Aber das Loch hat doch niemals fünf oder noch mehr Millimeter. Und das im Kopf des Toten auch nicht.“

„Stimmt. Das Geschoss selbst hat nur etwa die Hälfte des Durchmessers seines Patronenhalses. Ist etwas kompliziert, das Ganze.“ Je mehr Siebert mit Wissen glänzen konnte, desto umgänglicher schien er zu werden.

„Und hier“, vorsichtig stützte er den Kopf des Toten unterm Kinn und bat Klaiser, „helfen Sie mir bitte mal eben, den Mann etwas nach vorne von der Lehne wegzuziehen. „Genau hier“, zeigte er eine gedachte Linie vom Hinterkopf zur Rückenlehne, „ebensolche Löcher. Durch den Kopf und durch die Rückenlehne. Das Geschoss steckt wahrscheinlich da hinten in der Wand.“

„Um Gottes Willen.“ Den Kripo-Chef fror es. „Das ist ja unglaublich. So ein kleines Geschoss. Mit einer so ungeheuren Wucht. Wahnsinn!“

Draußen wurde es unruhig. Ein Wortgefecht war durch Fenster und Windlade zu hören. „Du kannst jetzt nicht weg hier.“

„Muss ich aber, verdammt nochmal. Guck doch mal das Wetter.“

„Du sollst hierbleiben, hab’ ich gesagt.“

„Vergiss es. Da wird nichts draus!“ Dann hörte man, wie der Unimog ansprang und Gas gegeben wurde.

Sven reagierte sofort. Wie von der Tarantel gestochen raste er aus dem Wohnzimmer, durch den Flur hinaus aus dem Haus, rutschte aus, knallte hin und stand wieder auf. „Ey!“, brüllte er. „Motor aus! Sofort! Und dann runter vom Bock! Aber zackig!“

Doch Tiemann schien ihn nicht gehört zu haben. Und was ihm der Uniformierte vorhin zugerufen hatte, das juckte ihn offenbar nicht. Gerade ließ er den Räumschild hochfahren, um zurücksetzen zu können. Da schoss der ‚Freak‘ schlitternd auf das Räumfahrzeug zu und konnte sich gerade noch mit ausgestrecktem Arm am Türgriff festhalten. Mit der anderen Faust haute er gegen die Fahrertür.

Erschreckt blickte der Fahrer aus seinem Seitenfenster. Erst da schien er begriffen zu haben, dass es vielleicht doch besser wäre, wenigstens noch einmal verbalen Kontakt mit den Beamten aufzunehmen. Also ließ er das Fenster herunter und rief: „Hey Leute, tut mir leid. Ich muss. Auf den Straßen ist die Hölle los.“

„Sie bleiben hier!“, brüllte Lukas. „Machen Sie bitte den Motor aus und steigen Sie von dem Unimog runter. Sofort!“

Der Mann zuckte mit den Achseln, folgte den Anweisungen und stieg aus. „Wissen Sie, wie viel Ärger ich kriege, weil ich schon seit Stunden nicht mehr räume und streue?“, fragte er Sven. „Weiß der Himmel, wie viele Autos sich da mittlerweile quer gestellt haben und die Bergstrecken nicht fahren können.“

„Sie bekommen keinen Ärger. Das verspreche ich Ihnen. Unsere Kollegen in Berleburg haben längst mit Ihrem Chef gesprochen. Sie werden durch einen Kollegen vertreten. Wir brauchen Sie hier als Zeugen.“

„Aber ich hab’ Euren Leuten doch schon alles erzählt. Ich hab’ doch sowieso nicht viel mitbekommen. Als ich da drüben ankam“, zeigte er auf die Straße am Schloßberg, „da war er tot.“

„Welchen Kollegen haben Sie alles erzählt?“, wollte der ‚Freak‘ wissen.

„Na, den beiden Uniformierten dort vorne.“ Er meinte Jutta Henning und Clemens Rohrer, die noch immer mit Pennälern und mittlerweile wohl auch Pressevertretern herumdiskutierten. Zumindest trugen zwei der Passanten vor der Absperrung ziemlich professionell wirkende Kameras bei sich.

„Ich verstehe, was Sie meinen. Nur waren das ja die beiden Beamten, die auch als erste hier vor Ort waren und zunächst einmal generell erfahren wollten, was hier eigentlich passiert ist“, erklärte Sven Lukas. „Das mussten sie ja auch machen. Aber das ist nicht das, was wir noch alles abfragen müssen.“ Tiemann schien verstanden zu haben und fügte sich in sein Schicksal. Längst hatte er wieder die Kapuze seiner gefütterten Arbeitsjacke mit dem Wappen der Stadt aufgezogen. Denn es schneite nach wie vor, als gäbe es kein Morgen mehr. ‚Wie die Leute am Schloßberg morgen aus ihrer Straße rauskommen wollen, ist mir schleierhaft‘, dachte Tiemann. Dort war nicht ein einziges Mal geräumt worden. Nur eine tiefe, aber schon wieder zum Teil verschneite Autospur war in fast 40 Zentimeter tiefem Schnee zu sehen. ‚Privatstraße, nicht mein Problem.‘

„Machen Sie bitte mal Platz da vorne!“, rief es von hinten aus dem Halbdunkel der Straße. Es war ein Kollege der Spurensicherung, der Fotos vom Ort des Geschehens machen wollte.

„Klar“, rief Sven, „sorry! Wir sind sofort weg.“ Damit zog er den Unimog-Fahrer mit sich und schob ihn in seinen Dienstwagen hinein, dessen Standheizung den Mondeo innen auf fast unverschämte Sommertemperatur gebracht hatte. Schnell hatten die beiden ihre Jacken aufgeknöpft.

Doch kaum saßen die beiden Männer halbwegs bequem, klopfte es am Fahrerfenster. Ein Mann mit Spiralblock und Kuli in der Hand und Kamera vor der Brust zeigte an, Lukas möge doch die Scheibe mal runterlassen. Was der auch tat.

„Gemmecke vom Westfalenkurier. Können Sie mir bitte kurz was zu dem Mord sagen?“

Der ‚Freak‘ schüttelte den Kopf. „Herr Gemmecke, das darf ich gar nicht. Lediglich mein Chef und der Staatsanwalt dürfen mit der Presse reden.“

„Ja, aber …“, der Mann trappelte von einem Bein aufs andere, „Leute, bitte, das geht doch nicht.“

„Was geht nicht?“

„Naja, der Kollege von der ‚Siegener‘ und ich haben von dem Mord erfahren, sind hergekommen und stehen uns seither die Beine in den Bauch. Egal, wen wir von Ihren Leuten fragen, wir erfahren nichts. Rein gar nichts. Wir müssen unseren Schlussredaktionen aber jetzt langsam was liefern, damit wir morgen früh überhaupt was im Blatt haben.“

„Tut mir leid“, antwortete Sven, „ich kann da nichts machen. Sie müssen sich leider gedulden. Ich habe jetzt hier ein wichtiges Gespräch mit einem Zeugen zu führen.“

„Wie?“, rief es lautstark von draußen, als die Scheibe wieder hochgefahren wurde, „Sie sind Zeuge? Können Sie uns denn sagen, was hier eigentlich passiert ist?“

Frederik Tiemann wollte gerade reagieren, als der Kommissar dazwischenfuhr. „Stopp! Jetzt bin erstmal ich dran.“

Das Gespräch brachte den Kriminalisten zunächst aber lediglich um einen wesentlichen Fakt weiter. Christof Feistauer müsse, so hatte Tiemann gemutmaßt, wohl vor etwa 20.15 Uhr getötet worden sein. Denn um diese Zeit sei er bei der Bergfahrt zum zweiten Mal an dessen Haus vorbeigekommen und habe seine Regungslosigkeit bemerkt.

„Aber bei der ersten Fahrt lebte er noch, da sind Sie sicher?“

„Natürlich. Er hat mir ja zugewunken. Auch bei der Fahrt nach unten. Das war so gegen halb sieben, beziehungsweise 18.30 Uhr.“

„Und Sie haben sonst nichts gesehen?“

„Nein. Nichts und niemanden.“

„Okay“, wollte sich Lukas schon bedanken, fragte dann aber trotzdem noch nach: „Ist Ihnen denn sonst noch irgendetwas aufgefallen? Ein Auto am Straßenrand oder so?“

Frederik Tiemann überlegte. „Doch“, sagte er plötzlich. „Als ich hier vor dem Haus ausgestiegen und zum Fenster gegangen bin, hörte ich, wie hinter mir aus dem Schloßberg ein Auto herauskam und runter in die Stadt fuhr. Muss ein ordentliches Schiff gewesen sein.“

„Was meinen Sie mit einem ‚ordentlichen Schiff‘?“

„Naja, mit einem großvolumigen Motor. Mindestens sechs Zylinder. Der hat nicht gebrummt, der hat geblubbert.“

„Geblubbert, aha“, lächelte der Kommissar. „Aber gesehen haben Sie ihn nicht?“

„Nee“, schüttelte der Schneepflugfahrer den Kopf. „Dafür hatte ich in dem Moment keinen Kopf.“

„Kann ich verstehen. Gut, dass Sie sich jetzt wenigstens noch daran erinnert haben. Aber stehen geblieben ist der Wagen nicht etwa?“

„Wie meinen Sie?“

„Naja, ob der Wagen stehen geblieben ist. Weil Sie ja, wie Sie mir erzählt haben, Ihren Unimog quer auf der Straße haben stehen lassen.“

„Ach so, ja.“ Tiemann spielte an seiner Nasenspitze und überlegte einen Moment. „Nee, ist er nicht. Außerdem hatte er ja hinten auch noch genug Platz, um aus der Einmündung nach unten rauszukommen.“

„Seltsam. Mich würde das trotzdem neugierig gemacht haben. Auch wenn ich genug Platz zum Fahren gehabt hätte.“

„Ja, glauben Sie denn, dass das der Mörder gewesen sein könnte, der da weggefahren ist. … Ich meine, der arme Mann da im Haus war doch wahrscheinlich schon längst tot um diese Zeit. Der Täter hätte doch reichlich Zeit gehabt, um zu verschwinden.“

„Weiß man’s?“, antwortete Sven nachdenklich. „Auf jeden Fall vielen Dank, Herr Tiemann. Warten Sie bitte noch einen Moment. Ich rede mal eben mit unseren Leuten, ob wir Sie und Ihr Fahrzeug noch brauchen.“

„Wäre mir sehr recht, wenn ich fahren könnte“, antwortete der Zeuge. „Ich muss hier dringend räumen. Sonst gibt’s morgen eine Katastrophe.“

Kaum waren die beiden ausgestiegen, stürzten sich die Journalisten auf den jungen Mann vom Räumdienst. Aber der zeigte sich ausgesprochen schmallippig und bestätigte im Grunde nur, was vor dem Hause Feistauer ohnehin schon die Runde gemacht hatte. Mehr wusste er ja auch nicht zu erzählen.

Inzwischen war auch Staatsanwalt Puhlmann eingetroffen, der aus seiner montäglichen Sportgruppe hatte herausgeholt werden müssen. Aber nicht etwa aus einer Sporthalle. Sondern aus dem ‚Tonkrug‘, in dem sich die Juristen, Lehrer und verschiedene Geschäftsleute üblicherweise nach dem Auspowern zur ‚Wiederherstellung des Elektrolythaushaltes‘ trafen.

„Sie brauchen gar nicht so zu schnuppern“, bemerkte er beiläufig, als ihn Klaus Klaiser im Haus begrüßte. „Eigentlich habe ich gar keinen Dienst. Aber ich bin heute Nacht kurzfristig eingesprungen, weil die Frau des Kollegen Eitner mit schweren Wehen ins Krankenhaus musste. Da hatte ich schon einiges intus. Aber ich habe mich fahren lassen“, erklärte er mit etwas schwerer Zunge.

„Das beruhigt mich ungemein“, antwortete der Kripo-Chef leicht süffisant und legte seinem Gegenüber in kurzen Zügen die bisherigen Erkenntnisse zu dem Mord dar. Wobei er manches mehrfach wiederholen musste. „Ich gebe es zu, es ist noch nicht viel. Aber wir werden uns krummlegen. Das kann ich Ihnen versprechen.“

„Was wissen wir bisher über den Toten?“

„Außer seinen Personalien eigentlich noch gar nichts. Bedauerlicherweise. Wir müssen auf Daten aus dem Einwohnermeldeamt Bad Laasphe und aus dem Bundesmelderegister hoffen.“ Mit einem Blick auf seine Armbanduhr ergänzte er, „um diese Uhrzeit ist damit allerdings auch nicht mehr zu rechnen. Morgen früh wissen wir hoffentlich mehr.“

Nachdem Tiemann schließlich mit seinem Räumfahrzeug abgerückt war, hatten Beamte vor dem Haus und an der Böschung oberhalb der Privatstraße Flächen mit Trassenbändern freigesperrt und zwei Mann Position im ‚Schloßberg‘ bezogen. Sie sollten das Auftreffen eines roten Laserstrahls beobachten und den Punkt markieren.

Laut Steffen Siebert müsste das die Stelle sein, von wo aus der Schütze auf den bedauernswerten Feistauer angelegt hatte.

Dem Experiment vorausgegangen war eine heftige verbale Auseinandersetzung zwischen dem SpuSi-Mann und Doktor Klaus Faulhaber. Der Rechtsmediziner hatte nämlich darauf bestanden, den Rollstuhl samt Leiche vom Fenster abrücken, und den Toten mitten im Raum, und damit mit mehr Arm- und Beinfreiheit, untersuchen zu können.

„Nicht, bevor wir nicht die Schussrichtung festgelegt haben!“, hatte Siebert gefordert und war ziemlich laut geworden, als sich Faulhaber einfach darüber hinwegsetzen wollte. Erst als sich der Staatsanwalt lamentierend dazwischengeworfen hatte, glätteten sich die Wogen und der Spurensicherer konnte seinen Plan erläutern.

„Ich möchte durch das Einschussloch in der Rückenlehne und das in der Scheibe einen Laserstrahl nach draußen schicken, um die Position des Schützen zweifelsfrei ausmachen zu können. Dazu muss aber der Rolli dort stehen bleiben, wo er auch bei Einschlag des Geschosses stand.“

Das leuchtete den übrigen Anwesenden ein. Und so achtete sogar der Doktor persönlich peinlichst genau darauf, dass der Rollstuhl sich keinen Millimeter bewegte, während der Oberkörper des Toten nach vorne geklappt wurde. Zwischen Lehne und Fensterscheibe sollte freie Sicht geschaffen werden.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Siebert den Laserpointer so präzise auf einem Stativ eingerichtet hatte, dass er den feinen rote Strahl tatsächlich störungsfrei durch beide Einschusslöcher nach draußen senden konnte.

Der Rest war spielend leicht. Die Polizisten draußen mussten nur noch den Punkt markieren, der ihnen feuerrot im Schnee erschienen war. Und das taten sie sinnigerweise mit einem Besenstiel, den sie in den Schnee steckten. Selbst wenn es noch einen halben Meter mehr geschneit hätte, würde der noch oben rausgucken.

Doch dazu kam es gar nicht. Denn unmittelbar im Anschluss an die ‚Siebert’sche Lasershow‘, wie Doc Faulhaber die Vermessung der Schussbahn nannte, wurde über dem Areal ein Zelt Marke Gartenpavillon mit Seitenplanen aufgebaut.

„Und da latscht mir jetzt keiner mehr rein!“, bestimmte der KTU-Mann.

„Was haben Sie vor?“, fragte Klaiser vorsichtshalber mal nach.

„Was wohl? Spuren suchen natürlich.“

„In dem tiefen Schnee? Die sind doch längst alle zugeschneit.“

„Eben“, entgegnete der andere knapp und ließ den Kripo-Chef einfach stehen, um verschiedene Utensilien aus seinem Transporter zu holen. Darunter eine Gasflasche und einen Heizstrahler. Ohne jedes weitere Wort verschwand er damit in dem Wigwam und zog die Seitenplane hinter sich zu.

Klaus, mittlerweile mit Kapuze auf dem Kopf, hatte sich in sicherer Distanz zu den Geschehnissen neben einem der KTU-Männer postiert und gefragt: „Der wird doch wohl jetzt nicht den Schnee abtauen. Oder?!“

„Doooch, das macht er“, entgegnete der Kollege lächelnd.

„Das wäre nicht das erste Mal, dass er solche Aktionen startet. Ein ‚Geht nicht‘ gibt es bei ihm nicht. Steffen hört immer erst auf, wenn alle Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Und in 98,9 Prozent aller Fälle hat er dann auch was gefunden. Deswegen nennen wir ihn ja auch ‚Trüffelschwein‘.“

„Aber heute hat das Trüffelschwein offenbar schlechte Kartoffeln als Futter bekommen“, entgegnete Klaiser. „Oder warum ist er so mies drauf?“

Der andere pustete die Backen auf. „Um Gottes Willen. Lassen Sie ihn das bitte nicht hören. Ich glaube, Steffen hat daheim richtig Stress. Er kam nämlich schon geladen aus dem Haus, als ich ihn dort heute Abend abgeholt habe. Gift und Galle hat er gespuckt, als er einstieg. Ich hab’ dann lieber den Mund gehalten.“

„Oha. Dann wollen wir ihm auch hier lieber keine weitere Munition liefern“, brummte der Kripo-Chef nachdenklich, drehte ab und lief prompt Peter Puhlmann in die Arme. Der Staatsanwalt, der mit offenem Mantel und weit offenem Hemdkragen ganz vorsichtig voranschritt, war ein paar Meter weiter von den Journalisten gelöchert worden.

„Ich weiß, Herr Klaiser, Sie werden mich für verrückt halten“, sagte Puhlmann und schaukelte verdächtig. „Aber es wäre toll, wenn Sie mir bis morgen Nachmittag Habhaftes zu dem Fall liefern könnten.“

Klaiser schaute ihn mit großen Augen an und bekam einen trockenen Mund. „Bis morgen Nachmittag?“, fragte er ungläubig, „Du lieber Himmel, warum denn das?“

„Wir müssen der Presse Futter geben. Damit mir die Damen und Herren von der Journaille nicht tagtäglich auf den Zehen stehen und mich bei der Arbeit behindern.“

„Finde ich gut, Herr Puhlmann, dass Sie sich Bewegungsfreiheit verschaffen wollen. Aber Sie wissen schon, dass das verdammt viel verlangt ist. Wie sollen wir das denn in so kurzer Zeit schaffen? Bisher wissen wir ja noch nicht einmal, wer der Tote überhaupt ist.“

Doch der ‚Herr des Verfahrens‘, auf dessen Haupt sich mittlerweile eine dünne Schneedecke gebildet hatte, klopfte ihm nur auf die Schulter und meinte wenig nüchtern: „Sie machen das schon. Ich zähle auf Sie und Ihre Leute.“ Dann schlitterte und stolperte er zur Beifahrertür seines Wagens, der mit laufendem Motor abfahrbereit auf ihn wartete.

Dienstag, 5. Februar

„So Leute, es geht lo-hooos!“ Der Ruf des Chefs hallte durch den Flur des Kriminalkommissariats Bad Berleburg. „Morgenrundeee!“

Klaus Klaiser mühte sich trotz fast erschlagender Müdigkeit um einen fröhlichen Ton an die Adresse derer, die in der vergangenen Nacht wenigstens hatten ausschlafen können. Ihm und dem ‚Freak‘ war das nicht vergönnt gewesen. Trotzdem kam der als Erster den Gang entlang geschlurft – mit einer Tasse dampfenden Kaffees in der Hand.

„Guten Morgen, mein Lieber. Naaa, fit für den Tag?“, feixte Klaiser und haute seinem Kollegen dermaßen heftig auf die Schulter, dass der nur mit Mühe die pechschwarze Plörre in seinem Pott behalten konnte. ‚Greatest Cop ever‘ stand darauf. Was so viel bedeutet wie ‚Tollster Bulle aller Zeiten‘.

„Mann!“, rief der Getroffene lachend, während er noch balancierte, „bist Du immer noch neidisch wegen des Spruchs auf meiner Tasse?“

„Nö. Das berührt mich überhaupt nicht. Du weißt doch: jeder, der besser ist als ich, ist geklont“, grinste der Chef.

Ein fast unangemessen lockerer Aufgalopp für einen knüppelharten Tag, der vor ihnen lag. Auch die Kolleginnen und Kollegen, die nach und nach eintrudelten, begriffen wenige Augenblicke später, dass es am Tag eins nach dem Verbrechen weder Zeit für ein reguläres Mittagessen, noch für einen pünktlichen Feierabend geben würde.

„Guten Morgen, Leute“, begann Klaus Klaiser, „wir ermitteln ab sofort in folgendem Tötungsdelikt: Gestern Abend wurde in der Zeit zwischen 18.30 Uhr und 20.18 Uhr der 62-jährige Christof Feistauer in Bad Laasphe erschossen. Es handelt sich dabei eindeutig um Mord. Der querschnittgelähmte Rentner erlag einer Schussverletzung durch ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss des Kalibers 5,56 x 45 mm.“

Die Kollegen rissen die Augen auf. „Ein Hochgeschwindigkeitsgeschoss? Das ist ja irre“, schüttelte Waffennarr Jürgen Winter den Kopf und friemelte sein Smartphone aus der Tasche. „Wo gibt’s denn sowas noch?“

„Ganz offensichtlich in Laasphe“, setzte Klaiser seinen Bericht fort. „Da ist sich die Kriminaltechnik sicher. Der oder die Schützin hat dem Mann nach deren Feststellung aus einer Entfernung von nur etwa 24 Meter durch das Wohnzimmerfenster direkt in die Stirn geschossen. Das Projektil durchschlug seinen Schädel, die Rückenlehne seines Rollstuhls und steckte knapp sieben Meter weiter in der hinteren Wand.

Aufgefunden wurde der Tote durch den Fahrer eines Räum- und Streufahrzeugs um ziemlich genau 20.18 Uhr. Ihm war auf seiner Tour über die Schloßstraße beim zweimaligen Passieren des Hauses Nr. 59 aufgefallen, dass der stets am Fenster sitzende Feistauer entgegen aller Gewohnheit nicht mehr winkte, sondern, dass sein Arm starr in die Höhe ragte.

Leider gibt es keine weiteren Zeugen, die in irgendeiner Form zur Aufklärung der Tat beitragen könnten. Der einzig halbwegs relevante Hinweis stammt ebenfalls von Frederik Tiemann, dem Mann, der den Schneepflug fuhr. Er will gehört haben, dass beim Auffinden des Erschossenen hinter ihm ein Fahrzeug mit großvolumigem Motor Richtung Stadt gefahren ist. Er konnte es aber nicht sehen.

Das wär’s fürs Erste“, endete der Chef. „Ihr könnt Euch vorstellen, dass wir jetzt richtig tief graben müssen. Denn von dem Toten sind augenblicklich nicht einmal die wesentlichen Daten und Fakten über sein Leben vor dem Tod bekannt. Wir kennen gerade mal seinen Geburtsort. Er stammte aus Fulda.“ Die sieben Kriminalbeamten hatten aufmerksam zugehört und sich eifrig Notizen gemacht. Frau Fischer, die von allen geschätzte Kriminalassistentin, verteilte zudem die Kopien des KTU-Berichtes mit entsprechenden Fotos und die des vorläufigen ballistischen Gutachtens.

„Mehr Wehrlosigkeit ist ja kaum mehr vorstellbar“, brachte es Claudia Siegemund beim Betrachten der Bilder auf den Punkt.

„Wer, um alles in der Welt, erschießt denn einen behinderten Menschen? Der Täter muss doch krank und voller Hass sein.“

„Ich glaube, das sehen wir alle so“, stimmte ihr Klaus zu. „Aber eins macht mich dabei besonders stutzig.“

„Mich auch“, mischte sich Pattrick Born ein. „Wenn mich nicht alles täuscht, ist das Hochgeschwindigkeitsgeschoss doch laut Genfer Konvention seit den 90er Jahren verboten.“

„Eben. Und da stellt sich natürlich die Frage, wer sich aus welchem Grund über solche Gesetzmäßigkeiten hinwegsetzt. Und vor allem, wer verfügt über diese Munition und die dazugehörige Waffe?“ Klaiser schaute in die Runde.

„Otto Normalverbraucher wohl eher nicht“, meinte Winter, der noch immer sein Smartphone in der Hand hielt. „Ich hab’ gerade mal im Internet nachgesehen. Die österreichische Firma Steyr hat die Munition und die dazugehörige Waffe ‚Steyr ACR‘ für die US Army entwickelt. Da wird ein Privatmann wohl kaum drangekommen sein.“

„Das rauszubekommen, ist ‘ne prima Aufgabe für Dich, Jürgen. Versuch’s bitte ganz schnell. Wir müssen dringend wissen, wer, außer den Amis, über diese Waffen verfügte, ob welche verschwunden sind und so weiter. Du weißt schon.“

„Okay. Sonst noch was? Oder kann ich schon mal loslegen?“

„Zunächst nicht“, antwortete der Chef und Winter stand auf. „Doch“, wurde er zurückgepfiffen, „und das gilt für uns alle: der Staatsanwalt will bis heute Nachmittag erste greifbare Fakten auf dem Tisch haben.“

„Och näää, ist das denn möglich?“ Claudia Siegemund verdrehte die Augen. „Hat der Herr eventuell heute Nacht schon eine Pressekonferenz für den Nachmittag anberaumt?“

„So ähnlich. Er hat auf jeden Fall gemeint, nur mit Futter könne man die Presse besänftigen und uns den Rücken für störungsfreies Arbeiten freihalten. Wir werden auf jeden Fall …“ Klaus’ Mobiltelefon machte sich bemerkbar.

„Augenblick bitte, geht gleich weiter“, unterbrach er und meldete sich am Handy. Wenige Sekunden später schaute er, als sei neben ihm eine Granate hochgegangen.

„Wie bitte? … Das kann doch wohl nicht wahr sein! Seit wann? … Wissen Sie nicht. Ach du lieber … Was? … Nein. Das lässt sich ja eh nicht mehr ändern. Die sollen tun, was möglich ist. Wir kommen so schnell wie möglich. Bis dann. Danke Ihnen.“ Kopfschüttelnd drückte der Chef das Gespräch weg.

„Was ist los?“ Sven Lukas schaute den Hauptkommissar mit einer Mischung aus Irritation und Interesse an. Und sechs Augenpaare folgten seinem Blick.

„Was los ist? Das glaubt Ihr nicht. Das Haus Feistauer in Laasphe steht in hellen Flammen.“

„Gibt’s doch nicht!“, rief Sven und sprang auf. „Seit wann?“

„Weiß man nicht genau. Wohl seit irgendwann heute Morgen. Ein Lehrer hat auf dem Weg rauf zum Internat das Feuer entdeckt und sofort die Feuerwehr alarmiert. Da schlugen die Flammen aber schon aus den Fenstern.“

Fassungslosigkeit machte sich breit im Konferenzraum. „Ist denn da noch was zu retten?“

Der Chef schüttelte den Kopf. „Die versuchen alles vor Ort. Aber als die Einsatzkräfte dort ankamen, stand bereits das Dach in Flammen. Und die Feuerwehr hat Mordsprobleme. Weil ihr das Löschwasser in den Schläuchen gefriert.“

„Mist“, flüsterte der ‚Freak‘, „und wir haben bis auf seinen Pass rein gar nichts Persönliches von diesem Mann geborgen.“

„War ja auch nichts da“, konterte Klaiser. „Oder weißt Du von einer Ecke im Haus, die wir nicht durchsucht haben?“

„Nee. Aber das ist sowas von unbefriedigend.“

„Kommt, jetzt machen wir hier kein großes Lamento. Du, Sven und Du, Rüdiger, Ihr fahrt da jetzt sofort hin. Und Sarah, Du fährst bitte mit“, ergänzte Klaus nach kurzem Überlegen. „Du kennst Dich in Laasphe doch besser aus als wir alle zusammen. Das könnte sehr hilfreich sein.“

Im Aufstehen verteilte Klaiser die wichtigsten Aufgaben.

„Frau Fischer, Sie sind bitte so lieb und informieren Staatsanwalt Puhlmann und halten mit mir zusammen hier die Stellung. Pattrick“, meinte er, an Born gerichtet, „sieh bitte zu, dass wir Klarheit über Feistauers Personalien und Lebensgeschichte bekommen. Es muss einen ganz speziellen Grund geben, warum ein Mensch, der zu allem Überfluss auch noch im Rollstuhl sitzt, auf diese Weise ermordet wird.

Jürgen, Du kümmerst Dich bitte gemeinsam mit der Kollegin Siegemund um die Herkunft von Waffe und Munition. Das wird sicher ziemlich aufwendig.“ Claudia nickte tapfer. „Dagegen wird die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen womöglich ein Kinderspiel.“

„Ihr schafft das schon“, lächelte der Chef die gröbsten Zweifel weg. „Ich werde mich derweil mit Kriminaltechnik und Rechtsmedizin in Verbindung setzen und dann an den Bericht begeben. Um dem Staatsanwalt wenigstens etwas an Futter zu liefern. So. Und jetzt auf! Macht’s gut. Wir sehen uns hoffentlich alle spätestens zur Nachmittagsrunde.“

„Willst Du fahren?“ Der ‚Freak‘ schaute beim Rausgehen auf den Parkplatz rüber zu Sarah Renner, die sich eigentlich schon auf die Rolle als Mitfahrerin eingestellt hatte.

„Gerne, wenn Ihr meine Fahrweise ertragen könnt“, lachte die junge Kommissarin, die erst vor ein paar Monaten von der Schutzpolizei zur Kripo gewechselt war.

„Deine mit Sicherheit eher, als die von Sven“, kommentierte Rüdiger Mertz die Anfrage und zog die Seitenteile seiner Winterjacke vor der Brust zusammen. Es war knackig kalt und der Schnee knirschte unter den Sohlen.

Die Wahl der Fahrerin erwies sich als goldrichtig. Sarah fuhr zügig, aber nicht riskant und beherrschte den Ford mit scheinbarer Leichtigkeit auf der festgefahrenen Schneedecke. Lediglich auf der Sassenhäuser Höhe gab es ein leichtes Schlingern. Der Wind hatte die dort so typischen Schneewehen nach dem letzten Mal Räumen schon wieder beträchtlich anwachsen lassen.

Der Schneefall hatte über Nacht aufgehört. Und in der aufgehenden Sonne präsentierte sich den drei Beamten eine traumhaft schöne Winterlandschaft. Doch dafür hatten sie kein so rechtes Auge. Zu sehr waren sie fokussiert auf die bevorstehenden Aufgaben.

Sie hatte schon den Blinker gesetzt, um in die Schloßstraße einzubiegen, als Sarah Renner durch Martinshorn und aufblitzendes Blaulicht zu einer Schnellbremsung veranlasst wurde. Von links kam ein schweres Löschfahrzeug der Feuerwehr.

„Brennt es hier noch irgendwo?“, fragte Rüdiger auf dem Rücksitz. „Oder wo kommt der jetzt her?“

„Keine Ahnung“, zuckte Sarah mit den Achseln und fuhr direkt hinter dem schweren Lkw her, der mit röhrendem Motor die steile Schloßstraße hinaufgesteuert wurde.

Plötzlich schnupperte der ‚Freak‘. „Sagt mal, riecht Ihr das auch?“

„Was denn?“

„Bier! Hier liegt Bierduft in der Luft. Eindeutig! Als wenn einer ‘ne Wahnsinnsfahne hätte.“

„Wundert mich nicht“, meinte Rüdiger, „zwei-, dreihundert Meter Luftlinie von hier steht die Bosch-Brauerei.“

Die Renner schüttelte den Kopf. „Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe jahrelang da vorne in der Wache Dienst getan“, zeigte sie mit einer Kopfbewegung die Richtung zum Revier an, „und habe dabei die Brauerei nicht ein einziges Mal gerochen.“

„Ja, aber schnuppert doch mal!“, forderte Sven Lukas mit großer Beharrlichkeit weiter, „das ist Bier. Hundertprozentig. Hast Du etwa da hinten heimlich ‘ne Flasche aufgemacht und die Hälfte vergossen?“

„Wenn ich eine Flasche Bier aufmache, vergieße ich nichts“, lachte Mertz. „Das ist mir viel zu wertvoll. Aber vielleicht hat unsere verehrte Fahrerin gestern Abend ein wenig tief ins Glas geschaut.“

„Unterstehe Dich, sowas auch nur zu denken!“, setzte sich die Angesprochene theatralisch zur Wehr. „Dann werde ich Dich nämlich … ou! Jetzt rieche ich auch was.“

Der ‚Freak‘ setzte sich gerade hin. „Aha. Und was?“

„Hier brennt’s irgendwo.“

Das nachfolgende Gelächter hielt an, bis die drei Beamten ihr Ziel erreicht hatten und Sarah den Wagen nur mit Mühe auf jetzt eisglatter Fahrbahn nach rechts in die Privatstraße lenken konnte. Zwei Kollegen von der Schutzpolizei hatten sie durchgewunken und freundlich gegrüßt, als sie Sarah am Steuer erkannten.

Wie recht der ‚Freak‘ mit der ‚Bierfahne‘ hatte, stellte sich heraus, als die drei beobachteten, wie zwei Feuerwehrmänner aus der Kabine des vorausgefahrenen Löschfahrzeugs sprangen. Einen von ihnen erkannte Sarah sofort. „Das ist Dirk Höbener. Der ist hier nicht nur der Feuerwehrchef. Der ist auch der Braumeister von Bosch. Und jetzt ist mir auch klar, warum es hier so nach Bier müffelt!“, rief die Kommissarin.

„Die haben warmes Spülwasser aus der Flaschenreinigung der Brauerei geholt. Das friert in den Schläuchen garantiert nicht ein.“

„Na, hoffentlich schäumt es nicht zu arg beim Löschen“, grinste Sven, der die Kombinationsgabe der Kollegin bewunderte. Gemeinsam mit den beiden anderen baute er sich in respektvollem Abstand zu dem lichterloh brennenden Haus auf der Straße auf.

Die Hitzestrahlung war beträchtlich. Dort, wo die Flammen offen aus den Fenstern und dem aufgebrochenen Fachwerk herausschlugen, war der Schnee längst verschwunden. Doch nur wenige Meter weiter oben konnte man blitzblankes Eis auf der Fahrbahn der Schloßstraße erkennen. Wohl auch deshalb hielt sich die Zahl der Gaffer im einstelligen Bereich.

„Das sind wahrscheinlich Nachbarn aus der Privatstraße“, rief der ‚Freak‘ dem Kollegen Mertz zu, der interessiert zu einer kleinen Personengruppe an der Straßeneinmündung herübergeschaut hatte. „Vielleicht haben die ja irgendwas mitgekriegt. Ich geh’ mal fragen.“

„Häää?“, rief Rüdiger Mertz über den Lärm der Wasserpumpen und Motoren zurück und zeigte mit beiden behandschuhten Zeigefingern auf seine Ohren. „Ich habe keinen Ton verstanden!“, brüllte er schließlich.

Lukas schrie ihm sein Vorhaben direkt ins rechte Ohr und trippelte dann in betont kleinen Schritten zu den Passanten hinüber. Das linke Knie schmerzte noch vom Sturz in der vergangenen Nacht. Derweil rutschten Rüdiger und Sarah die wenigen Meter zu den uniformierten Kollegen bergab.

Der ‚Freak‘ hätte sich den Weg fast sparen können. „Nichts gehört und nichts gesehen“ hatten die Herrschaften geantwortet, die allesamt in dicke Winterklamotten gewandet waren. „Bis die Feuerwehr hier auftauchte.“

Die drei Paare bewohnten Häuser weiter hinten in der Straße und waren nach eigenem Bekunden durch die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge aus dem Schlaf gerissen worden. Zwar war ihnen der Aufmarsch der Polizei vom Vorabend nicht verborgen geblieben. Wegen des starken Schneefalls hatte sich aber niemand weiter darum gekümmert. Weil man davon ausging, dass sich an der Einmündung mal wieder ein Verkehrsunfall ereignet hatte.

Sven ließ sie zunächst auch in dem Glauben und wollte schon abdrehen. Doch da fiel ihm noch eine wichtige Sache ein.

„Sagen Sie bitte, fährt irgendjemand von Ihnen ein Fahrzeug mit einem Sechs- oder Achtzylindermotor?“

„Ich“, meldete sich der Mann, der ihm am nächsten stand, „einen Sechszylinder. Warum?“

„Sind Sie gestern Abend, so gegen 20.15 Uhr mit dem Wagen noch einmal runter in die Stadt gefahren oder von dort zurückgekommen?“

„Wäre schön, wenn ich das gekonnt hätte“, lachte der Mann verkniffen. „Mein Auto steht leider schon seit Freitag vergangener Woche in der Werkstatt. Antriebswelle kaputt. Morgen soll es fertig sein, sagte mir die Werkstatt gestern.“

„Aha. Und wie kommen Sie im Moment in die Stadt und wieder zurück?“

„Mit dem Wagen meiner Frau“, lachte der Mann. „Aber nur auf dem Beifahrersitz.“ Dabei knuffte er die Dame nebenan in die Seite. „Sie gibt ihr Auto nämlich nicht aus der Hand.“

„Stimmt! Ich chauffiere meinen Mann lieber selbst“, meinte seine Gattin. „Weil ich sonst Angst haben müsste, dass er mein kleines ‚Muckelchen‘ genauso behandelt wie seinen Range Rover. Der ist nämlich geländegängig. Mein Polo aber nicht.“

„Klingt schlüssig“, lachte Lukas. Trotzdem fragte er: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir das mit Ihrem Sechszylinder überprüfen?“

„Natürlich nicht. Machen Sie ruhig.“

„Prima. Und würden Sie mir bitte noch Ihre Personalien, das Fahrzeugkennzeichen und den Namen Ihrer Werkstatt geben?“

„Selbstverständlich. Aber jetzt würde ich doch ganz gerne erfahren, warum Sie das alles so genau wissen wollen.“

Sven suchte einen Moment nach der richtigen Antwort und massierte durch seine Mütze hindurch die Kopfhaut. „Weil gestern Abend dort vorne etwas ganz Schlimmes passiert ist“, begann er. „Dort in dem Haus, das jetzt lichterloh brennt, ist ein Mensch umgebracht worden.“

„Wie bitte?“, schrie der Mann vor ihm auf. „Der Mann mit dem Rollstuhl?“

Lukas nickte.

„Ja, aber die von der Feuerwehr haben doch gesagt, der Mann sei rechtzeitig rausgekommen aus dem Haus. Wir haben doch extra gefragt.“

Was sollte er dazu sagen? Vermutlich waren die Wehrleute nicht ausreichend darüber informiert, warum Feistauer nicht mehr im Haus war.

„Es stimmt schon, dass er nicht mehr drin war. Allerdings schon seit gestern Nacht. Er wurde gestern Abend tot in seiner Wohnung aufgefunden.“

„Wie ist er umgekommen? Können Sie uns das sagen?“

„Er wurde erschossen.“

Die Nachbarn starrten den Kommissar entsetzt an. „Das kann doch wohl nicht wahr sein. Dieser arme Mann. Der war doch immer so freundlich. Meistens saß er an seinem Fenster, wenn wir dort vorbeikamen. Und dann hat er uns zugewunken.“

‚Den Nachbarn also auch‘, registrierte Sven. „Hatten Sie denn auch mal Gelegenheit, mit ihm zu reden?“

„Ja, mein Mann und ich“, meldete sich eine der anderen Frauen. „Damals war er allerdings noch nicht auf den Rollstuhl angewiesen. Er stand gerade vor dem Haus und lud eine wirkliche Kostbarkeit aus seinem Wagen aus. Drei Windhunde aus Porzellan.“

„Aha. Kennen Sie sich mit so etwas aus?“

„Nicht wirklich. Aber meine Eltern hatten exakt diese Plastik in reinweiß. Und die haben sie gehütet wie einen Augapfel. Nach ihrem Tod haben wir sie von einem Auktionshaus versteigern lassen und über fünftausend Euro dafür bekommen.“

„Und darüber sind Sie mit dem Mann ins Gespräch gekommen?“

„Ja. Weil ich insgeheim gehofft hatte, das könnten die Hunde meiner Eltern sein. Die sind in dieser Ausführung nämlich sehr rar. Doch er sagte, er könne das weder bestätigen, noch dementieren. Was er bezahlt hatte, wollte er uns aber nicht sagen.“

Sven Lukas hatte interessiert zugehört und fragte sich insgeheim, ob die Hunde des Herrn Feistauer das Feuer wohl unbeschadet überstehen würden. Siebert, das alte Ekel, wird einen Schreikrampf kriegen, wenn er von dem Brand erfährt.

Doch den Mann mit der schier unglaublichen Spürnase konnte die Vorstellung von einem Brand in dem Laaspher Mord-Haus zumindest in dieser Hinsicht nicht schocken. Denn die Windhunde standen, mit einer Asservatennummer versehen, mitten auf einem breiten Tisch in einem Nachbarraum seines Labors.

Er hatte in der vergangenen Nacht zwar kaum geschlafen. Doch seine Laune hatte sich deutlich verbessert.

Fröhlich pfeifend hatte er gerade das Geschoss auf den Objektträger seines Elektronenmikroskops geklemmt, das den Schädel des Mordopfers scheinbar mit Leichtigkeit durchschlagen und tief in der Wand gesteckt hatte.

„Unglaublich“, flüsterte er beim Blick auf den Bildschirm. „Unglaublich! Dass es diese Scheißdinger immer noch gibt.“

„Was murmelst Du da?“ Neugierig geworden kam sein Kollege Helmer aus dem Nachbarraum rüber.

„Hier, schau Dir das mal an, Rainer. Das ist das schnellste Gewehrgeschoss der Welt. Da kannst Du davon ausgehen, dass das Opfer schon mausetot war, bevor der Schütze den Knall seines Schusses überhaupt gehört hat. Diese sogenannte ‚Flechette-Munition‘ fliegt 1.500 Meter in der Sekunde.“

„Wahnsinn“, meinte Helmer kopfschüttelnd. „Unter dem Mikroskop sieht das Geschoss ja fast aus wie ein Dartpfeil.“

„Genauso ist es. Und der Hammer dabei ist, dass dieses nadelfeine Miststück laut Fachliteratur noch auf 600 Meter Entfernung 35 Millimeter dicken Stahl durchschlägt. Da ist es in unserem Fall direkt verwunderlich, dass das Teil nicht gleich hinten wieder raus ist aus der Wand.“

„Hua, jetzt friert’s mich“, wandte sich der Kollege ab. „Wer hat denn diese Munition entwickelt?“

„Eine österreichische Firma.“

„Boa, menschenverachtend!“

Siebert schaute ihm stirnrunzelnd hinterher. „Menschenverachtend? Kennst Du eine Art von Munition, die das nicht ist?“ Doch Helmer winkte ab. „Du weißt schon, wie ich das meine. Äääh, by the way, wo liegt das Taschentuch mit dem Etikett?“

„Auf dem Tisch mit den Fundstücken. Musst halt genau hingucken. Das ist in einem großen Beutel. Einen kleinen hab’ ich heute Nacht mit meinen klammen Fingern nicht aufmachen können.“ Dabei streckte Siebert beide Hände in die Luft und täuschte Gymnastikübungen mit seinen zehn Fingern vor.

„Geht aber wieder“, lachte er.

Das Auffinden des Taschentuchs war einem Zufall zu verdanken. Den hätte es nie gegeben, wenn sich nicht der Vize-Chef der Spurensicherung daran gemacht hätte, unter dem aufgebauten Zeltdach am Schloßberg in Laasphe sukzessive den Schnee abzutauen. Schicht um Schicht.

Alles in der Hoffnung, die kleinste Kleinigkeit dort zu finden, wo der Schütze nach Sieberts Überzeugung gesessen, gekniet oder etwas erhöht gelegen haben musste. Doch bis auf eine einzelne Zigarettenkippe hatte er nichts gefunden. Und der maß er nur wenig Bedeutung bei.

Erstens musste die schon dort gelegen haben, bevor der erste Schneefall einsetzte. Denn sie kam erst zum Vorschein, als der Rinnstein unter dem abgetauten Schnee auftauchte. Und zweitens, dachte er, würde ein derart spezialbewaffneter Killer nicht so blöde sein und einen runtergerauchten Zigarettenstummel vor Ort liegen lassen.

Das Taschentuch mit dem Stoffetikett, auf dem eine vierstellige Nummer und ein Buchstabe prangten, entdeckte er erst beim Abbau seines Zeltes. Da hatte er nämlich die beiden Heizsonnen vor Wut und Enttäuschung einen Meter weiter in den Schnee geworfen, sie aber ganz schnell wieder aufgehoben. Denn die Teile knackten verdächtig. Und einen Totalschaden wollte er unter allen Umständen vermeiden.

Mulden waren dort in den Schnee geschmolzen, wo die Heizkörper gelegen hatten. Und in einer mittendrin erkannte er plötzlich einen kleinen schwarzen Schriftzug. Er wollte das erst gar nicht glauben und griff mit Fingerspitzen danach. Da ertastete er drumherum weißen Stoff, den er im Schnee nicht wahrgenommen hatte.

Vorsichtig barg er durch Zupfen ein weißes Taschentuch. Und am Rand des Tuchs klebte ein Etikett mit der Zahlen- und Ziffernfolge 5129F. Auffällig dabei die 9, die unten nahezu keinen Bogen besaß.

Leise pfiff der Spurensicherer durch die Zähne. „Trüffelschwein Siebert“, sagte er zu sich selbst, „Du trägst Deinen Kampfnamen nicht umsonst. Wo immer das Taschentuch herkommen mag. Das Teil lag keinen halben Tag an dieser Stelle.“

Auch wenn er rein gar nichts mit dem Allerweltstuch und seiner Aufschrift anfangen konnte, war er doch sicher, „dass das hier einer von den Galgenvögeln verloren hat.“ Und deswegen musste es eingetütet und mitgenommen werden.

Seiner Gesamtstimmung jedoch hatte der Fund keinen besonderen Schub gegeben. So, wie er gekommen war, verschwand er auch wieder in Richtung Siegerland. Stinkig.

Doch diese Befindlichkeit war schlagartig eitler Freude gewichen, als er spät in der Nacht nach Hause kam. Dort nämlich hatte ihn seine Frau weinend und um Verzeihung bittend empfangen. Nie wieder würde sie ihm seinen Beruf und die damit verbundenen ‚Fehlstunden‘ an ihrer Seite vorwerfen.

Dass die Versöhnung schließlich fast den Rest der möglichen Schlafstunden aufzehrte, bestärkte ihn in der Überzeugung, Nacht-Ruhe werde schlicht überbewertet.

Im Berleburger Kommissariat glühten die Telefonleitungen. Vor allem Pattrick Born gönnte sich keine Minute ohne irgendein Ferngespräch. Schon kurz vor acht Uhr hatte er das Einwohnermeldeamt in Bad Laasphe erreicht, war jedoch über eine schüttere Personenauskunft nicht hinausgekommen.

‚Christof Feistauer, geboren am 13.07.1956 in Fulda, ledig, kinderlos, seit 02.03.2014 wohnhaft Schloßstraße 59, Bad Laasphe, zuvor Hindenburgdamm 11, Bad Oeynhausen.‘ Keine Info darüber, seit wann und wieso der Mann im Rollstuhl saß und woher er eventuell Rentenleistungen bezogen hatte. Angaben zum erlernten und zum zuletzt ausgeübten Beruf des Mordopfers negativ.

„Absolut unterirdisch“, befand Born. Auf der weiteren Suche nach Erkenntnissen zur Person Feistauer wählte er sich die Finger wund. Doch Fortuna stand ihm bei seinen Recherchen nicht gerade zur Seite.

Der Getötete schien zu Lebzeiten weder einen Hausarzt in oder in der Nähe der Stadt gehabt zu haben, noch kannte ihn das Versorgungsamt als zuständige Stelle für Schwerbehinderte. Und selbst die Abfrage beim Bundesmelderegister in Berlin brachte den Ermittler keinen Millimeter weiter.

„Es ist einfach zum Mäusemelken!“, schnauzte Born nach dem letzten Telefonat und knallte den Hörer aufs Telefon. Jetzt blieb ihm als einzige Hoffnung, dass man noch verwertbare Unterlagen in der Brandruine finden würde.

Doch die Chancen darauf schmolzen von Minute zu Minute. Denn das alte Haus an der Laaspher Schloßstraße brannte wie Zunder. Jahrhundertealtes trockenes Holz im Dachstuhl, im Fachwerk und in den Zimmerdecken bot den gefräßigen Flammen Futter ohne Ende.