In aller Stille - Wolfgang Breuer - E-Book

In aller Stille E-Book

Wolfgang Breuer

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Beschreibung

Erst ein mysteriöser Leichenfund und dann ein Mordversuch. Beides innerhalb weniger Stunden. So etwas haben die Ermittler der Bad Berleburger Kripo auch noch nicht erlebt. Denn die Kurstadt gilt wahrlich nicht als Eldorado des Verbrechens. Die Beamten sehen sich plötzlich Aufgaben aus­gesetzt, die ihnen alles abverlangen. Woher kam der Tote, der in der Nähe des Schlosses gefunden wurde? Wer war sein Mörder? Und warum wurde an der Umgehungsstraße ein Mann einfach von einem Lastzug geworfen und lebensgefährlich verletzt? Auf dem Weg zur Lösung dieser Rätsel stoßen die Kriminalisten durch Zufall auf ein Netzwerk skrupelloser Waffenhändler. Und das mitten im idyllischen Wittgensteiner Land.

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Wolfgang Breuer

In aller Stille

Ein Wittgenstein-Krimi

Dieses Buch ist ein Roman. Handlung und Personen, wie Täter und Opfer, sind frei erfunden. Allerdings spielen darin auch real existierende Personen im sehr realen Wittgensteiner Land eine gewichtige Rolle. Diesen Menschen schulde ich für ihr freundschaftliches Einverständnis dazu meinen aufrichtigen Dank. Sie machen die Geschichte ein ganzes Stück weit authentischer. Bezüge zu und Anspielungen auf Ereignisse des aktuellen Zeitgeschehens sind ebenso gewollt wie notwendig.

Wolfgang BreuerIn aller StilleEin Wittgenstein-Krimi

Cover: Riegel mit Schloss an einer Scheune,Foto Wolfgang BreuerAutorenfoto: Fotoatelier Christiane

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!© Sommer 2017

Impressumratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. [email protected] (bevorzugt)Tel.: (0 22 46) 94 92 61Fax: (0 22 46) 94 92 24www.ratio-books.de

eISBN 978-3-96136-014-7

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Inhalt

Mittwoch, 15. Juli

Donnerstag, 16. Juli

Freitag, 17. Juli

Samstag, 18. Juli

Sonntag, 19. Juli

Montag, 20. Juli

Mittwoch, 15. Juli

„Booooaaaah, was ist denn das für ein abartiger Gestank hier?“ Der Prinz war gerade in den Ökonomiehof von Schloss Berleburg gefahren und aus seinem Offroader geklettert, als er eine richtige Ladung dieser penetranten Widerwärtigkeit einatmete. „Das ist ja grausam!“ Der Mann in den lässigen Outdoorklamotten rümpfte die Nase und schnüffelte vorsichtig in alle Himmelsrichtungen. Seine drei Hunde taten es ihm gleich. Gerade noch waren sie wie abgezogene Flitzbögen hinter dem Adligen her aus dem Geländewagen gesprungen. Aber jetzt standen sie da, als hätte ihnen jemand verdorbenes Fleisch vorgeworfen. Mit fast angewidertem Gesichtsausdruck. Die Lefzen herunterhängend, schnupperten sie diesen süßlich-fauligen Geruch, der die Luft an diesem heißen Mittag schwängerte.

„Das ist ja nicht auszuhalten, Krämer. Seit wann mieft das denn hier so unglaublich?“ Prinz Gustav hatte sich zum Ökonomieverwalter umgedreht, der mit todunglücklichem Gesicht aus seinem Büro gekommen war. „Keine Ahnung, Prinz. Ich … ich weiß auch nicht“, sagte er und zuckte mit den Schultern. „Heute Morgen war das noch nicht. Ich … ich glaube, das ging erst so am späten Vormittag los. Und dann wurde es von Minute zu Minute schlimmer. Wir haben schon überall nachgeschaut. Geguckt, ob irgendwo einer der Hunde vielleicht was rangeschleppt hat. Ein gerissenes Kaninchen oder so. Aber da ist nichts. Die Wildkammern sind absolut sauber. Die Lagerscheunen auch. Und nirgendwo eine tote Katze oder ein Kadaver von irgendwas. Da ist nix. Ich weiß es wirklich nicht, tut mir leid.“ Dem Manne war fast zum Heulen zumute. Und zum Kotzen. Aber das sagte er dem jungen Schlossherrn natürlich nicht.

Dabei ging es dem nicht anders. Gustav, Prinz zu Sayn-Wittgenstein -Berleburg musste gegen Würgereize kämpfen, behielt aber die Contenance. „Ja, kommen Sie, bleiben Sie um Gottes Willen ruhig. Ich mache Ihnen ja keinen Vorwurf. Wer weiß, wo das herkommt. Vielleicht aus der Kanalisation.“

„Nein, Prinz. Daher kommt das nicht. Das haben wir schon überprüft. Aus den Gullideckeln riecht es fast medizinisch im Vergleich zu diesem … diesem Mist hier. Entschuldigung.“

„Wissen Sie was, wir gehen mal rüber zu Röhl und fragen, ob der uns einen Schluck aus der Edelschnapspulle für Gäste genehmigt. Das macht die Atemwege wieder frei. Und dann schauen wir mal gemeinsam, was wir tun können.“

Prinz Gustav stieß einen spitzen Pfiff aus. Und schon tummelten sich die drei Rassehunde um seine Beine. Während er aus dem Hof herausging und über die Straße zum Eingang des Schlossgartens wechselte.

„Ccccchhhhbrrrr“, kam es aus dem Geviert vor der Orangerie. Digby, das Lieblingspferd von Prinzessin Nathalie, Gustavs Schwester, querte gerade in einer perfekten Transversale diagonal über den Dressurplatz. Unterstützt durch leichtes Schnalzen seiner Reiterin. Die beiden hatten´s drauf. Hatten die Bronzemedaille bei den Olympischen Spielen in Peking geholt. Sie mussten keinem mehr etwas beweisen. Trotzdem, ohne Training geht gar nichts.

Als sie ihren Bruder sah, brach Nathalie allerdings das Programm ab und kam im leichten Trab herüber zu ihm und Rainer Krämer. Tätschelnd animierte sie das mächtige Tier zum Anhalten. „Sag mal, habt Ihr das auch gerochen? Das ist ja furchtbar, wie es da drüben in der Parkstraße riecht. Was ist denn das?“

„Kandierter Wallach in Senfsoße – etwas überlagert“, grinste der Prinz und hob gleich schützend die Hände über sich. Nathalie spielte die Angewiderte und warf den Kopf zur Seite.

„Nein, nein, im Ernst. Wir haben keine Ahnung. Vom Ökonomiehof kommt es zumindest nicht. Herr Krämer und die Leute haben alles kontrolliert. Die können sich auch keinen Reim darauf machen.“ Krämer zuckte zur Bestätigung abermals mit den Schultern. „Aber wir wollen mal eben rüber zu Herrn Röhl. Womöglich hat der eine Ahnung.“

„Könnt Ihr Euch sparen. Da kommt er schon“, meinte sie. Nathalie hatte sich aufgerichtet und dem Leiter der fürstlichen Rentkammer zugewunken, der zügigen Schrittes auf dem Weg entlang der Schlossmauer unterwegs in Richtung Parkausgang war. Doch der Forstdirektor zeigte nur mit ausgestrecktem Arm nach vorn und rief: „Wäre schön, wenn Sie mitkommen könnten, Prinz. Und Sie auch, Krämer. Wir müssen drüben bei den Nachbarn mal was nachschauen. Die haben ein riesiges Problem.“

Sein dynamischer Gang erlahmte allerdings schlagartig. Wild kramte Röhl plötzlich ein Taschentuch aus einer seiner Hosentaschen und presste es augenblicklich auf Mund und Nase. Dabei fuhr er herum und starrte zu den dreien am Dressurplatz herüber. „Mann Gottes“, stöhnte er, „was ist das denn?“ Sekunden später wurde auch die Gruppe mit Pferd von dem süßlichen Faulgeruch umhüllt. Ein sachter Windhauch hatte ihn herangetragen. Prinzessin Nathalie sprang vom Pferd und würgte in die rechte Armbeuge.

„Kommen Sie bitte, kommen Sie“, rief Röhl durchs Taschentuch und verschwand durch das Tor des Schlossgartens.

Die Parkstraße war wie leergefegt. Keine Passanten unterwegs. Nur hin und wieder kam ein Auto vorbei. Lediglich vor dem Café „Anno Dazumal“ hatte sich eine kleine Personengruppe zusammengefunden. Nachbarn. Und zwei Männer in Orange mit einem ebensolchen Pickup. Sie hatten Atemschutzmasken in der Hand. Offenbar Mitarbeiter der Stadtwerke, die wohl bereit waren, dem Übel auf den Grund zu gehen. Das mussten sie auch, denn der Café-Besitzer, Michael Kirchhof, hatte richtig Druck gemacht. Eigentlich war das kleine Lokal um diese Zeit immer gut frequentiert. Doch jetzt fanden sich weder drinnen noch draußen irgendwelche Gäste.

Die Maskenmänner verschwanden zwischen Hotel und Café. Begleitet von einem der Rompel-Brüder, die zuvor mit in der Gruppe gestanden hatten. Die beiden Unternehmer hatten vor einiger Zeit das Kurhotel „Wittgensteiner Hof“ gekauft. Seit Jahren war dieses einst renommierte Haus geschlossen. Und noch war nicht klar, ob das altehrwürdige Haus umgebaut oder durch einen Neubau ersetzt werden sollte. „Wir haben neulich noch jeden einzelnen Raum inspiziert, vom Keller bis zum Dachboden“, berichtete Kai Rompel. „Da ist nichts drin, was einen solchen Gestank provozieren könnte. Und in das Haus kommt auch nicht die kleinste Maus rein. Alles dicht.“

„Haja, aber von Euch da drüben kommt der Geruch doch“, ereiferte sich der Nachbar. „Eindeutig. Oder vom Ökonomiehof.“

„Nee, nee“, rief Prinz Gustav, der mittlerweile auch eingetroffen war. „Bei uns ist absolut nichts. Alles inspiziert, alles sauber. Aber der Gestank ist tatsächlich bestialisch. Ich würde jedoch auch eher sagen, dass der Grund dafür dort unten liegt.“ Er zeigte in die Gasse, in der das Trio verschwunden war. „Wäre das weiter drüben bei uns, könnte die Ostluft an dieser Stelle hier nicht einen solch infernalischen Mief verbreiten.“ Wieder trieb eine leichte Böe den Hang hinauf und provozierte die Anwesenden zu allen möglichen Ausweichbewegungen.

Schwer lastete die für Wittgensteiner Verhältnisse ungewöhnliche Hitze auf der Szenerie, in der sich die Männer ratlos ansahen. Johannes Röhl schnupperte mit angewidertem Blick. „Ich habe einen solchen Geruch schon einmal erlebt“, sagte er. „Dieses fiese Süßliche darin kriegt man nicht mehr aus der Nase. Im Teutoburger Wald war das. Damals wurde dort ein seit Monaten vermisster …“

Weiter kam er nicht. Denn in diesem Moment tauchte Uwe Rompel zwischen den Häusern wieder auf und schrie wie irre. „Um Gottes Willen, lieber Gott im Himmel, wie ist denn so was möglich.“ Das pure Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dann drehte er ab und kämpfte sehr mit seinem Mageninhalt.

Johannes Röhl wollte nachschauen, was den Mann so entsetzt hatte. Doch da fing sich der Geschockte ein wenig, griff nach des Forstrats Arm und rief: „Nicht. Geh´ nicht runter. Das ist ganz furchtbar. Wir müssen sofort die Polizei rufen.“

In diesem Moment kamen auch die beiden Mitarbeiter der Stadtwerke und rissen sich die Gasmasken vom Gesicht. Einer würgte. „Oh Leute, das ist ja Wahnsinn. So was habe ich noch nicht gesehen. Und ich wünschte, ich hätte es auch nicht gesehen.“

„Ja was ist denn da unten passiert?“ Der Café-Besitzer schob sich nahe an den Mann heran und schaute ihm tief in die Augen. „Ihr tut ja gerade so, als wäre Euch der Leibhaftige begegnet. Was ist denn da unten? Was stinkt denn da so bestialisch?“

„Es ist nicht die Frage, was da stinkt, sondern wer“, brachte der Mann stockend hervor. ‚Jonas Kreidel’ stand auf dem Namensschild seines Overalls.

„Was heißt das, Herr Kreidel? Wer stinkt?“

„Ein Mensch! Eine Leiche stinkt dort, Herr Kirchhof. Eine stark verweste Leiche, verdammt noch mal! Und jetzt lassen Sie mich bitte einen Moment in Ruhe.“

Kreidel drehte ab, dem Kaffeehausbesitzer verschlug es die Sprache. Seine Augen weiteten sich. Dann griff er sich an die Brust. Man hatte den Eindruck, die Nachricht sei geeignet, Herzflimmern bei ihm auszulösen. Aber er setzte sich nur mit leerem Blick auf einen der leeren Stühle vor seinem leeren Café und nahm einen Schluck Mineralwasser.

Im Hintergrund vernahm man energisches Reden. Johannes Röhl hatte, etwas abseitsstehend, zum Smartphone gegriffen und den Polizei-Notruf angewählt. „Natürlich werden Sie eine Spurensicherung brauchen. … Woher ich das weiß? Jetzt stellen Sie bitte nicht so seltsame Fragen. Hier liegt ein halb verwester Mensch herum, sagen die Männer, die ihn gefunden haben. Da werden sie wohl kaum die Verkehrspolizei mit Putzlappen und Schaufel vorbeischicken, nehme ich an. … Wie bitte? Ja, genau. … Ja, der bin ich. … Okay. Natürlich, wir warten hier.“

„Unglaublich, wirklich unglaublich“, murmelte er vor sich hin, als er das Smartphone wieder wegsteckte. „Da hätte ich doch besser gleich hier auf der Wache in Berleburg angerufen. Da kennt man die Leute wenigstens. Der Mensch am zentralen Notruf hat gedacht, ich würde ihn auf den Arm nehmen.“

Wenig später wurde es laut unten in der Stadt. Polizeisirenen. Erst eine, dann zwei oder drei, sendeten ihre enervierenden Töne durch das Tal der Odeborn. Hausfronten reflektierten den sich überschlagenden Klang-Wirrwarr und ließen die Oberstadt mithören.

„Das gibt es überhaupt nicht. Wie der Mann daliegt. Das ist unglaublich.“ Jonas Kreidel berichtete mit bleichem Gesicht von der entsetzlichen Entdeckung, die sie im Hang am Rainchen gemacht hatten. Direkt unterhalb des alten Hotels, an einem Zaun. „Die Leiche muss die ganze Zeit über in einem Plastiksack gesteckt haben. Und der Sack ist wohl jetzt erst geplatzt oder aufgerissen. Vermute ich jedenfalls. Mann, das ist so furchtbar da unten.“

Seine Zuhörer schauderte es ordentlich. Zumal gerade wieder ein Windstoß den Hang hinauf neuen Fäulnisgeruch verbreitete.

„Was meinen Sie, wie lange der Mann schon tot ist?“ Kriminalhauptkommissar Klaus Klaiser hatte sich gerade der Plastiküberschuhe entledigt und auf einen der Stühle vor dem Café gesetzt. Ihm gegenüber saß, im weißen Ganzkörperkondom, Dr. Julius Kölblin vom Rechtsmedizinischen Institut. „Ich habe im Moment nicht die geringste Ahnung. Dazu müssen wir deutlich mehr von dem Leichnam sehen und untersuchen. Bisher kann ich Ihnen nur sagen, dass der Mann eventuell an einer Schnittverletzung am Hals gestorben ist. Aber auch das nur ganz vage. Weil das in diesem, verzeihen Sie, verwesenden Haut- und Gewebematsch vor Ort nicht eindeutig zu erkennen war.“

„Oh, das ist wirklich nicht viel“, entgegnete Klaiser. Der Anblick des Toten hatte ihm unglaublich zugesetzt. „Ich nehme an, es wird eine Zeit dauern, bis Sie klarer sehen“, fügte er an. Der andere nickte. „Das bringt uns natürlich gewaltig unter Druck.“

„Ist mir schon klar. Aber ich kann es wirklich nicht ändern. Wir werden hier vor Ort auch nichts weiter an der Leiche unternehmen. Um nicht etwa Gefahr zu laufen, dass uns irgendwelche Spuren oder Hinweise verloren gehen.“

„Ja, ja, verstehe“, sagte Klaiser, halb abwesend. Er überlegte gerade, wie er die Suche nach der Identität eines Mannes in Gang bringen könnte, ohne auch nur den Ansatz einer Information zur Person zu haben. Schwarzes Haar hatte der Tote. Das war im aufgefallen. Mehr hatte er nicht erkennen können – und auch nicht wollen.

„Warum sich allerdings der Mann, der, ich schätze mal, zwischen Mitte 30 und Anfang 40 Jahre alt gewesen sein dürfte, in diesem Zustand befindet, dazu kann ich Ihnen einiges mehr sagen“, holte ihn der Rechtsmediziner wieder zurück. Der Hauptkommissar schreckte richtiggehend hoch. „Ja? Und warum?“

„Sehen Sie. Der oder die Täter haben den Leichnam mehr oder weniger zusammengefaltet, ihn in diesen Sack aus Kunststoffgewebe gesteckt und regelrecht eingeschweißt. Anders kann man es gar nicht bezeichnen. Damit war so etwas wie Luftdichtigkeit hergestellt. Weil aber unter den hohen Temperaturen der vergangenen Tage die Verwesung zügig voranschritt, sich Faulgase noch und nöcher gebildet haben und der Druck innen anstieg, muss der Sack irgendwann geplatzt sein. Wahrscheinlich heute Vormittag. Kurz darauf wurde der Gestank das erste Mal in der Nachbarschaft der Fundstelle wahrgenommen.“

Klaiser schüttelte sich unweigerlich. Nicht nur wegen der Schlussfolgerungen des Pathologen. Die Bilder vom Fundort schossen ihm immer wieder durch den Kopf. Der junge Kripobeamte hatte zwar schon einige Leichen gesehen. Vor allem bei seinem vorherigen Job im Münsterland. Diese hier aber war mit Abstand die Entstellteste von allen. Es war einfach nur grausig anzusehen, dieses schmierige, nackte Knäuel, das einmal ein Mensch gewesen war.

Für die Bergung der sterblichen Überreste hatten die Männer von der Rechtsmedizin einen luftdicht verschließbaren Spezialbehälter eingesetzt. Ein einfacher Zinksarg hätte weder die förmlich zusammengeklappte Leiche aufnehmen, noch die erforderliche Geruchsdichte garantieren können. Der Spezialbehälter allerdings wirkte Wunder. Der widerwärtige Geruch war fast wie weggeblasen.

Während die Männer in den weißen Anzügen den Behälter durch die Gasse zwischen Hotel und Café nach oben brachten und in ihren Transporter verluden, war die Parkstraße weiträumig abgesperrt. Und das erwies sich auch als dringend nötig. Denn es hatten sich genügend Neugierige eingefunden. Gaffer! Aufmerksam geworden durch das massive Polizeiaufgebot in der Berleburger Oberstadt.

Natürlich machten dort bereits die ersten Gerüchte die Runde. Vom Mord unter Asylbewerbern bis hin zur Horrorvision eines Touristen aus Kopenhagen, der fürchtete, es habe einen Anschlag auf ein Mitglied der Fürstlichen Familie gegeben. Schließlich habe er beobachtet, dass ein aufgeregter Prinz Gustav von Polizeibeamten umringt gewesen sei. Er wähnte darin eine Art Personenschutz für den Mann, dessen Mutter immerhin die Schwester der dänischen Königin ist.

Die Polizeibeamten an den Absperrungen konnten einem leid tun. Denn sie wussten weder konkret, was dort vorne vorgefallen war, noch hätten sie es den Leuten sagen dürfen. Auch nicht dem freien Journalisten Clemens Finger aus dem Ruhrgebiet, der mit seiner Fotokamera ganze Bilderserien machte und immer wieder versuchte, in bessere Schussposition zu kommen.

Christian Retter hatte sich da eine bessere Stelle ausgesucht. Weiß der Himmel, woher der Lokalreporter die eher detaillierte Info über den Tatort hatte. Jedenfalls war er von der Unterstadt her den steilen Hang des Schlossbergs hinaufgeklettert und hatte mit dem Teleobjektiv die Bergung des bedauernswerten Mannes im Plastiksack fotografiert. Ihm drehte sich gerade der Magen um, als er wieder unten auf der Straße stand und die Fotos im Display seiner Kamera kontrollierte. Da würde er einiges „verpixeln“ müssen.

Der hagere Mann an der Pommesbude in der Limburgstraße hatte es eilig, seine Currywurst und die Fritten mit Ketchup und Majo zu verdrücken. Ständig schaute er abwechselnd auf seine Armbanduhr und auf sein Handy, das er vor sich auf den Bistrotisch gelegt hatte. Er war wohl einer der fünf, sechs Trucker, die hier noch einen Happen aßen, um sich für die nächsten Stunden auf ihrem Bock zu stärken. Schon allein der Weg raus aus Wittgenstein war eine Aufgabe für sich. So schön dieser Flecken Erde auch ist, so miserabel ist er an das Fernstraßennetz angebunden. Von Berleburg bis zur nächsten Autobahn mit dem Lastzug mindestens eineinhalb Stunden. Und dann muss man verdammt viel Glück haben, auf den wenigen Bundesstraßen dort hin, die streckenweise diesen Namen nicht mal verdient hatten. Aufgereiht hinter einander harrten ihre Brummis auf dem Parkstreifen dieser Herausforderung.

Wieder schaute der Mann angespannt auf die Uhr und schaufelte die letzten Kartoffelstäbchen in sich hinein. Er schien richtig Druck zu haben. Schweiß rann über jede seiner erkennbaren Hautpartien. Und das offenbar nicht erst neuerdings. Er müffelte, als habe er seit Tagen weder eine Dusche gesehen, noch frische Wäsche.

Plötzlich entspannten sich seine Gesichtszüge. Es hatte leise „kling“ gemacht. Auf seinem Smartphone war eine WhatsApp angekommen, die er wohl sehnlich erwartet hatte. Sofort öffnete er sie. Dann grinste er wie ein Honigkuchenpferd. Es schien ihm zu gefallen, was er dort sah.

Schnell schmiss der Hagere die Pappschalen in den Abfallkorb und wandte sich zum Gehen. Da rief der Pommeskocher: „Hey, Du müsstest noch zahlen.“ Der Mann zeigte keine Reaktion, kramte in der Hosentasche nach irgendetwas und wandte sich ab. Da kam plötzlich aus dem Knäuel dreier zusammenstehender und mampfender Fernfahrer ein mächtiger Arm hervorgeschossen. Die Riesenpranke am vorderen Ende griff den Hemdkragen des Davonstrebenden und zerrte kurz daran. „Trzeba zaplacic´ za!“ Eine ziemlich perfekte Übersetzung der Zahlungsaufforderung ins Polnische.

Mit ungeheurer Geschwindigkeit schoss der klapperdürre Kutscher herum und hielt dem schrankbreiten Berufskollegen ein spitzes Klappmesser unter die Nase. Was den wiederum dazu veranlasste, sofort seine Mordspfote zurück zu ziehen. „Is’ ja gut, is’ ja gut“, beschwichtigte er und hielt seine Handflächen wie kleine Bratpfannen nach außen. Ein Schutzmechanismus, der keine Fragen offen ließ. Auch die Danebenstehenden bevorzugten die Passiv-Variante und murmelten alles mögliche in ihre nicht vorhandenen Bärte.

Hannes Schöler, der Mann hinterm Grill, stand da wie angewurzelt. Mit offenem Mund und entsetztem Blick beobachtete er, was seine Kundschaft da so veranstaltete und wollte gerade in Deckung gehen, als ihm der aggressive Hungerhaken einen zusammen geknüllten Zehneuroschein über die Theke fast ins Gesicht warf und rief: „Is gutt so. Chab ich vargässen. T´schuldigung.“ Verstohlen nestelte Hannes das aufgefangene Geld auseinander und wisperte tonlos: „Is´ okay … Danke. Gute Fahrt.“

Dann war der Mann auf der Straßenseite, entlang der Schlange stehenden Trucks, verschwunden. Neugierig hielten die Zurückgebliebenen Ausschau nach dem Gespann, das der „vermutliche Pole“ dort heraussteuern würde. Aber es passierte nichts. Minutenlang nur vorbeifahrende Autos oder neue Hungrige an der Pommesbude.

„Was war´n das, was Du dem da vorhin hinterhergerufen hast?“, wollte ein nicht gerader baumlanger Trucker von dem Hünen wissen.

„’Du musst noch bezahlen’ auf Polnisch.“

„Aha. Woher kannst´n das?“

„Ach, Junge. Zweimal die Woche Berleburg – Krakau. Und das seit fast vier Jahren. Da hast Du das drauf, sag´ ich Dir.“

„Ja, und wo ist er jetzt hin?“

„Keine Ahnung. Der hat ja nix gesagt. Und ich weiß ja noch nicht mal, ob er mich überhaupt verstanden hat. Ist mir auch egal. Eigentlich müsste ich ihn anzeigen, wegen der Sache mit dem Messer. Aber ich glaub´, das lass´ich.“

„Wieso denn das?“ Der dritte Mann der Runde schaltete sich ein. „Der war doch drauf und dran dich abzustechen.“

„Ich denke, der hatte Angst, dass ich ihm die Luft abdrehe mit dem Kragen. Deshalb ist der ausgerastet.“

„Ja, ja. Kann sein. Aber hast Du Dich nicht gefragt, warum der gleich so´n Messer in der Hand hatte?“

„Meinste, der hätte mit ’nem Taschenmesser ’ne Chance gegen mich gehabt?“, grinste der Hüne. „Außerdem habe ich keine Lust auf Polizei und auf blöde Fragen. Krakau wartet, Jungs. Ich pack´s mal. Macht´s gut.“ Sprach´s, zahlte schnell und verschwand. Zwei Minuten später zog sein Fünfachser aus der Parkreihe heraus und glitt röhrend vorbei. Beladen mit Elastiksportböden aus Bad Berleburg, wie die Planenaufschrift verriet.

„Ja, okay, dann hau´ ich jetzt auch ab. Muss noch nach Aachen heute und bis 23 Uhr abgeladen haben. Scheiß A4 da hinter Köln. Eine Baustelle nach der anderen. Und morgen dann nach Antwerpen und sofort retour. Ochsentour, verdammte“, raunte der 1,68-Mann und machte sich ebenfalls ans Bezahlen. Er musste jedoch noch einen Moment warten. Weil jemand vor ihm gerade offenbar die Bestellung für ein Konzern-Abendessen aufzugeben schien. Hannes bat um Geduld.

„Buff“, machte es ziemlich fies jenseits des zweiten Trucks auf der Limburgstraße. Gefolgt von dem Geräusch blockierender Räder. Dann Stille. Fünf Sekunden ganz hässliche Stille. Und dann ein hysterischer Frauenschrei, der nicht mehr enden wollte. Entsetzt rannten alle Gäste des Imbisses gleichzeitig zur vermeintlichen Unfallstelle.

Auf der Fahrbahn links ein weißes BMW-Cabriolet mit offenem Dach, demolierter Frontscheibe und beträchtlicher Delle in der Motorhaube. In der offenen Fahrertür eine schlanke Mitvierzigerin in elegantem Sommerkostüm und auf offenen roten High Heels. Vorstandssekretärin mindestens. Und, gemessen an der Höhe ihres Schreis, leistungsfähige „Sopranette“. Sie war gerade verstummt, als die Armada der Neugierigen und Hilfsbereiten um das Führerhaus des ersten Lastzugs herum auftauchte.

Etwa fünf Meter vor dem BMW liegend ein eigentümlich verrenkter Männerkörper. Reglos und blutend aus allen Knopflöchern. Sofort beugten sich gleich zwei Männer über den Bedauernswerten, der jetzt von einem der beiden ganz langsam von der Bauch- in eine Seitenlage gedreht wurde. Der andere versuchte, den Puls zu ertasten. Mit nachdenklicher Miene und immer wieder mit dem Tastfinger am Handgelenk rauf und runterfahrend. Ein dritter Mann brachte einen Verbandkasten heran und telefonierte parallel mit der Rettungsleitstelle. „Limburgstraße heißt das hier. Direkt vor einem Schnellimbiss. … Ja, sehr schwer verletzt.“

„Ist er tot?“ Die brünette BMW-Fahrerin fragte zaghaft nach und kam näher. Der Mann am Puls hörte sie offenbar nicht, suchte jetzt an der Halsschlagader. „Ist der Mann tot? Sagen Sie doch was!“

„Nein“, der Gesichtsausdruck des Ersthelfers hellte sich auf. „Nein, ich fühle Puls“, rief er euphorisch. „Und der Mann atmet.“

„Oh Gott, bin ich froh. Bin ich froh. Ich dachte schon …“, dann stockte sie und begann leise zu weinen. Passanten stützten die plötzlich Zitternde und führten sie zu ihrem Wagen, damit sie sich setzen sollte. Und Hannes, der kreidebleich seinen Pommeswagen verlassen hatte, reichte ihr eine Flasche Mineralwasser. „Trink was, Jule. Trink. Ich kann Dir auch einen Schnaps holen, wenn Du willst.“

Aber Jule Homrighausen winkte ab, schniefte in ein Taschentuch und schaute sofort wieder herüber zu dem Mann auf der Straße, der gerade auf eine Notfalldecke und ein Kissen gebettet worden war. Abermals dröhnten Martinshörner in der Odebornstadt.

„Der ist mir einfach auf die Haube geflogen. Unglaublich. Auf einmal kam er angeflogen.“ Die BMW-Fahrerin berichtete mit weit aufgerissenen Augen von einem Erlebnis, das keiner so recht glauben mochte.

„Er kam angeflogen?“ Jule musste einen gewaltigen Schock abbekommen haben. Da war sich Hannes sicher.

Er kannte die Frau von Kindesbeinen an, war gemeinsam mit ihr zur Schule gegangen. Bis zur Mittleren Reife. Dann war sie in eine kaufmännische Ausbildung eingestiegen. Er hatte noch das Fachabitur nachgelegt, wollte Sozialpädagoge werden. Damit war er allerdings grandios gescheitert, drohte gar total abzurutschen. Nach Jahren der Um- und Neuorientierung und mindestens einem Dutzend unterschiedlichster Jobs, hatte er schließlich die zündende und gleichermaßen lukrative Idee vom Schnellimbiss, an dieser Entlastungsstraße der B 480. Seine Eltern hatten ihm Wagen und Ausstattung finanziert. Keine sonderlich belastende Hypothek. Denn der Imbisswagen wurde zum Selbstläufer.

Der erste Rettungswagen traf ein. Und kurz darauf der Wagen mit dem Notarzt. Eilig machten sich die Besatzungen daran, den Schwerverletzten auf der Straße grob zu untersuchen, zu intubieren, Infusionen und EKG-Elektroden zu legen und ihm eine Halskrause zu verpassen. Mit äußerster Vorsicht betteten sie den Mann auf eine Art aufgeblasene Unterlage, aus der augenblicklich die Luft abgelassen wurde. So passte sich das Teil der Körperform an, was den Transport bei eventuellen Wirbelsäulenverletzungen bedeutend risikoärmer und für den Verletzten erträglicher machte.

Hannes Schöler hatte ihn längst erkannt. Trotz seiner blutenden Wunden. Der Mann auf der Trage war der vermeintliche Pole, der vor seinem Imbiss mit dem Messer gedroht hatte. ‚Mein Gott, hat es den übel erwischt’, ging es ihm durch den Kopf. ‚Aber wo war der Mann, nachdem er den Imbiss verlassen hatte? Und von woher kam er „geflogen?“’ Vergeblich versuchte er, etwas von den Gesprächen des Rettungsteams mitzubekommen. Er wollte etwas über den Zustand des nach wie vor Regungslosen wissen, der jetzt in den Krankentransporter gehievt wurde. Dann schloss sich die Tür des rot-weißen DRK-Wagens hinter den Helfern.

Schon hörte man das nächste Martinshorn. Ein Polizeifahrzeug kam zügig heran, ein weiteres positionierte sich an der Odebornbrücke vor der Gunsetal. Die Limburgstraße wurde gesperrt, der Verkehr nach oben über die Ederstraße umgeleitet. Am anderen Ende an der Emil-Wolf-Straße hatten sie wohl ähnliches gemacht. Außer einem zweiten Rettungswagen kam nämlich von dort nichts mehr.

Während Frau Homrighausen behutsam zum anderen Sanka geführt wurde, versuchten zwei Polizisten, sich ein Bild von dem Unfall zu machen. Doch niemand der Umherstehenden hatte den Polen beobachtet. Keiner war auffindbar, der zur Wahrheitsfindung hätte beitragen können.

„Die Fahrerin sagt, er sei einfach angeflogen gekommen und auf ihr Auto gekracht.“ Hannes hatte sich sachte an die Beamten heran geschoben und sein Wissen preisgegeben, um sie nicht ganz ahnungslos zu lassen. Denn aus den Krankenwagen war ja zunächst nichts zu erfahren. Auch für die Männer in blau nicht.

„Ja wie …, kam einfach angeflogen. Was meinte sie denn damit?“ Polizeihauptmeister Jürgen Winter hatte bei seiner Frage den Kopf etwas schief gehalten und schaute eher ungläubig aus der Dienstwäsche. Polizeiobermeister Pattrick Born nicht minder. „Will sie damit etwa sagen, dass ihr der Mann von der Seite her auf die Haube gesprungen ist? Kann ich mir nicht so richtig vorstellen. Im Übrigen gibt es bestimmt sicherere Arten sich umzubringen.“

„Ich habe nicht die mindeste Ahnung, was Frau Homrighausen damit sagen wollte. Sie zeigte sich nur völlig entsetzt über das Geschehene. Wir hatten auch keine Gelegenheit, ausführlicher darüber zu reden.“

„Aha, Homrighausen heißt die Dame. Kennen Sie auch ihren Vornamen?“

„Na klar. Jule …, genauer gesagt Juliane. Geboren irgendwann im Juli 1969.“

„Prima, danke. Sie kennen die Frau offenbar näher.“

„Nicht näher. Aber schon länger. Wir sind zusammen zur Schule gegangen.“

Der Pommeskocher ließ seine Blicke wandern und blieb dabei schließlich an der demolierten BMW-Haube kleben. „Wissen Sie was?!? Wenn ich mir das hier anschaue, dann muss der Pole tatsächlich geflogen gekommen sein. Aber nicht von der Seite, sondern von schräg oben.“

„Wie kommen Sie denn darauf“, wollte Winter wissen. „Und woher wissen Sie, dass der Mann Pole ist?“

„Also, das mit der Nationalität war die Vermutung eines Fernfahrers, mit dem der da drin – er zeigte mit seinem rechten Daumen über die Schulter Richtung Notarztwagen – aneinander geraten war. Weil der Mann bei mir nicht bezahlt hatte, rief er ihm auf Polnisch nach, dass er mir noch Geld schulde. Und der hat tatsächlich reagiert. Auf meine Aufforderung in Deutsch vorher nämlich nicht.“

„Und warum sind die beiden aneinander geraten?“

„Naja, der Frank Drescher, so heißt der Trucker, hatte ihn von hinten ein wenig heftig am Hemdkragen gezupft. Darauf hin hat der …, der ääääh Pole, sein Messer gezogen und den Drescher bedroht. Ist aber nix passiert. Und gezahlt hat er schließlich auch. Sogar mit sattem Trinkgeld“, grinste Schöler die beiden Polizeibeamten an.

Pattrick Born machte sich unentwegt Notizen in ein kleines DIN-A6-Blöckchen und sah dabei ein wenig aus wie der amerikanische Schmuddelkommissar Columbo. Nicht etwa, weil er ebenfalls in vergammeltem Trenchcoat und verstrubbeltem Haar in der Gegend herumlaufen würde. Nein, er hielt nur Block und Stift in ähnlicher Manier, lächelte dabei stets nett und hatte einen ähnlich leichten Silberblick wie der US-Fernsehkollege.

„Wo ist denn der Drescher jetzt?“ Jürgen Winter hatte das gefragt und sich dabei über die Kühlerhaube des Unfallwagens gebeugt.

„Auf dem Weg nach Krakau – mit seinem Truck. Vielleicht ’ne Viertelstunde, eher 20 Minuten weg.“

„Haben Sie zufällig eine Handynummer von ihm?“

„Nein. Aber ich kann Ihnen die Autonummer geben. Ist ’n Brummi von der „Regupol“. Der kann noch nicht weit sein. Ich schätze mal, der fährt gerade über Sassenhausen das Laasphetal runter und dann über Biedenkopf, Marburg auf die Autobahn.“

Born schrieb mit und ließ sich die Nummer geben, mit der er spornstreichs zum Streifenwagen ging, um diesen Drescher möglichst bald ausfindig zu machen.

„Moment mal“, Hannes Schöler schluckte, „Sie glauben doch nicht im Ernst, dass der Drescher den Polen, oder was immer er ist, auf den vorbeifahrenden BMW geschmissen hat. Der war doch längst weg, als das passiert ist. Außerdem hatte er gar keinen Brass auf den.“

„Haben Sie denn gesehen, ob sich die beiden noch mal getroffen haben, bevor Drescher losfuhr?“

„Nee, konnte ich ja nicht. Die Kutscher gehen ja immer, von mir aus gesehen, um die Böcke herum auf die andere Seite und laufen an der Fahrbahn lang zu ihren Führerhäusern. Der Parkstreifen ist ja breit genug.“

„Na also. Wer sagt Ihnen denn dann, dass da nichts passiert ist? Aber, wie immer, wir brauchen eine Aussage von diesem Fahrer“, erklärte Winter und wandte sich wieder dem BMW zu. „Erklären Sie mir lieber mal, warum Sie meinen, dass der Mann von oben herunter auf das Auto geflogen ist.“

„Will ich Ihnen gerne zeigen und erklären. Schauen Sie her. In der Mitte der Haube ist eine tiefe Delle, fast wie eine Kuhle. Das deutet auf einem senkrechten oder fast senkrechten Fall hin. Der Einschlag in der Scheibe war wahrscheinlich der Kopf. Bei der Vollbremsung wurde er dann noch vorne abgeworfen. Wäre der Mann von der Seite her in den Wagen gesprungen oder geflogen, hätte ihn das Auto wie über einen Keil aufgeladen und eventuell sogar über die Scheibe nach hinten geschleudert. Der Einschlag würde nach meiner Meinung deutlich schwächere Spuren hinterlassen. Die dafür aber quer über die Motorhaube.“

„Alle Achtung“, staunte Jürgen Winter, „das leuchtet irgendwie ein. Aber, sagen Sie mal, woher wissen Sie das denn alles so genau?“

„Ach, ich habe mal ein paar Monate während meines Studiums in einer Karosseriewerkstatt im Ruhrgebiet gearbeitet. Da lernt man es, solche Spuren zu lesen.“

Pattrick Born war zurückgekommen, hatte den Rest gerade noch mit angehört und dann Winter ins Ohr geflüstert: „Wenn dieser Hannes recht hat, dann muss es ja wenigstens einen der Lastzüge da vorne geben, wahrscheinlich der dritte oder der vierte, von dem der Mann heruntergesprungen ist.“

„Oder heruntergeworfen wurde“, ergänzte der Hauptmeister. „Wir sollten mal nachgucken, bevor uns da noch was ganz Wichtiges durch die Lappen geht.“

Die beiden trennten sich. Born übernahm den Kontrollgang auf der Gehwegseite, Winter den auf der Straße. Eigentlich hatten sie gar keine klaren Vorstellungen von dem, was sie suchten, waren mehr auf Zufallsfunde aus.

Es war müßig, die beiden ersten Lastzüge näher zu betrachten. Denn das demolierte Cabriolet stand in Höhe des Führerhauses von Truck Nummer zwei. Sturz und Aufprall müssten also deutlich weiter hinten stattgefunden haben, wenn man Reaktionszeit und Bremsweg dazu rechnete. Mindestens in Höhe der Ladefläche des dritten Zuges. Dahinter war auch eine Lücke. „Da hat der Drescher-Bock gestanden“, berichtete Hannes Schöler, der sich wie eine Klette an Winter gehängt hatte. Der Polizist ertrug das zähneknirschend. Obwohl der ihn gerne abgeschüttelt hätte. Aber immerhin hatte ihm der Karosseriekenner ordentlich geholfen. „Haben Sie eigentlich keine Angst, dass Ihnen derweil jemand den Imbiss ausräumt?“

„Nee, nee. Da verrutscht nix. Meine Freundin is´ gerade gekommen. Die schmeißt den Laden“, grinste Hannes und sah nicht danach aus, als wolle er sich vertreiben lassen. Vielmehr zeigte er auf die Seitenplane an dem Lastzug, die irgendwie schlaff wirkte. „Das ist ja seltsam. Normalerweise sind die an den Trucks so festgespannt, dass man schon mal auf die Idee kommen könnte, die Seitenwand sei aus Metall. Aber vielleicht hat der Fahrer was nachgesehen oder was umgeladen.“

„Gehen Sie jetzt am besten mal ein paar Schritte zurück, nach da vorne“, flüsterte der Beamte Schöler zu und verdeutlichte seinen Hinweis mit energischem Blick und Armwinken in Richtung Menschenauflauf.

„Wieso das denn?“

„Weil ich es sage. Kann sein, dass das hier nicht ganz ungefährlich ist.“

Hannes Schöler schluckte und machte große Augen. „Ich ääääh …!“

„Nun los, bitte gehen Sie.“

Hauptmeister Winter beobachtete noch den Rückzug seines Beraters und machte sich dann für Born bemerkbar. „Gssst, Pattrick, hey“, flüsterte er halblaut. „Kannst Du da drüben was in dem Laderaum erkennen?“

„Nichts. Aber komisch ist das schon“, kam von der anderen Seite.

„Was ist komisch bei Dir?“

„Hier ist die Beifahrertür nur angelehnt, aber keiner im Führerhaus. Hab´ schon geguckt. Wer lässt denn seine Karre so offen rumstehen?“

„Keine Ahnung.“ Winter ging ein paar Schritte zurück und schaute auf das Nummernschild. Der Lastzug kam aus Frankfurt/Main. Schnell machte er ein Foto mit seinem Smartphone. Dann ging er wieder bis zur Ladefläche.

„Gssst, Pattrick, ist die Plane da drüben bei Dir auch offen?“

„Scheint mir nicht so. Fest verzurrt“, antwortete der und schaute zwischen Führerhaus und Sattelauflieger zu Jürgen Winter herüber. „Aber ich kann ja mal hinten nachschauen, wie´s da aussieht.“

„Warte, ich komme auch. Sei vorsichtig.“

Es sah schon fast albern aus, wie sich die beiden, jeweils Hand an der Waffe im Holster, zum Heck des Fuhrwerks begaben. Vorsichtig, gestelzt, als würde jeder ihrer Schritte sonst ein Erdbeben auslösen.

Hinten angekommen baute sich Winter tatsächlich mit seiner Walther P99 in der Hand links neben der Ladetür auf, während Born den großen Hebel herumzog und den Laderaum sachte öffnete. Ganz sachte. Doch es passierte nichts. Dann riss er die Tür ganz auf. Immer noch nichts. Allerdings konnte man nun in den Laderaum hineinschauen. Soweit das schummrige Licht dies zuließ. Die Deckenplanen oben waren leicht transparent.

Ganz vorne im Laderaum, also direkt hinter dem Führerhaus, standen jede Menge Holzkisten. Auf-, neben- und voreinander gestapelt. Sah nach einer geschlossenen Lieferung aus. Alle mit Aufdruck. Mit Spanngurten am Verrutschen gehindert und mit Bruchsicherungen aus Stahlband. Bis auf eine längliche, gut zwei Meter lange, Kiste mit Scharnieren und einem Klappschloss, die quer oben draufstand. Ansonsten gähnende Leere im Frachtraum. Da war noch viel Platz zum Zuladen. Einzig ein paar am Boden fest genagelte Vierkanthölzer verrieten, dass darin etwas Großflächiges transportiert werden sollte oder bereits transportiert worden war.

Mit einem Satz war Pattrick Born auf die Ladefläche gesprungen, während Winter draußen die Wumme wegsteckte und dann ebenfalls hinaufkletterte.

„Eigentlich müsste der Mann von hier aus auf den BMW gesprungen sein“, sinnierte Born, als er vor einem Kistenstapel vorne stand und versuchte, die Plane nach hinten zu ziehen. Klappte wie am Schnürchen. Ihre Sicherung war gelöst. Sie glitt zurück wie eine Gardine in der Laufschiene.

„Müsste“, mischte sich Winter in die Gedanken des Kollegen ein, „ist er aber nicht. Das sieht hier ganz schwer nach Mordversuch aus.“

„Um Gottes Willen. Meinst Du nicht, Du übertreibst jetzt ein bisschen?“

„Absolut nicht. Überleg doch mal. Wenn der Mann alleine war und tatsächlich von dem Kistenstapel hinaus auf die Straße gesprungen wäre, hätte er dann im freien Flug die Plane hinter sich wieder zuziehen können? Wohl kaum.“

Pattrick Born schaute erst den Kollegen an, dann die Plane. „Du hast recht. Das wäre die absolut perfekte „One-Man-Show“ gewesen. Die muss jemand wieder zugezogen haben, nachdem der arme Kerl hier rausgeflogen ist.“

Winter zückte das Smartphone und rief in der Wache an, äußerte dort seinen Verdacht und bat um Verstärkung. Irgendwie mussten sie sich ja auch um den eigentlichen Unfall kümmern. Am besten würden da gleich auch Kollegen von der Kripo mitkommen. „Die sollen tunlichst auch die von der Spurensicherung informieren. Das wird hier … Was ist denn jetzt los?“, schrie Jürgen Winter plötzlich auf.

Der LKW bewegte sich, setzte zurück und bremste. Winter haute es der Länge nach hin. Pattrick Born hatte sich gerade noch an einem Spriegel unter der Deckenplane festhalten können. Vorsichtshalber war er aber vom Kistenstapel heruntergesprungen und musste sich jetzt auf dem Boden abrollen, als sich der Truck wieder nach vorne bewegte.

„Bleib´ stehen, Du Irrer! Hey, wir sind hier hinten auf der Ladefläche! Mach keinen Scheiß! Mann! Polizei. Stehen bleiben!“

Doch die Rufe verhallten ungehört. Oder zumindest ohne große Wirkung. Langsam zog der Lastzug aus der Parklücke und wurde beschleunigt. „Der Verrückte fährt auf die Unfallstelle zu“, schrie Born, der sich an der Seitenwand entlang nach hinten bis fast zur Ladetür vorgewagt hatte. Plötzlich kam die Vollbremsung. Die Ladetür knallte zu und Born machte zwei, drei Schritte. Dann stolperte er über eines der Kanthölzer und knallte nun seinerseits auf den Boden. So richtig mit Schmackes.

Doch das schien den jungen Polizisten nur wenig zu beeindrucken. Als der Truck stand, sprang er hinten vom Zug und rannte wie von einer Tarantel gestochen zum Führerhaus. Gerade war die Fahrertür aufgegangen und ein recht muskulöser Mann herausgeklettert, als der Sprinter bei ihm ankam. Er schnappte sich den Typen, riss ihn herum und drehte seinen rechten Arm auf den Rücken. Dann drückte er ihn ziemlich unsanft gegen die LKW-Tür. „Sag mal, bist Du total bekloppt, Mann? Du kannst doch nicht einfach losfahren, wenn wir noch hinten drauf…“ Den Rest verschluckte er. Der Fahrer konnte ja gar nicht ahnen, dass da jemand auf der Ladefläche herumturnt, fiel ihm plötzlich siedend heiß ein.

„Was loss? Was willst Du, Polizei? Ich Pappirre in Ordnung, will farre nach Chause. Lange nix gesänn Cheimatt. Ich chabe grosse Fammilie.“

Jürgen Winter war aufgetaucht. Er machte einen leicht belämmerten Eindruck. Er hatte wohl bei dem Sturz auf den Boden einen heftigen Schlag abbekommen. „Komm, lass ihn los. Aber bleib´ bei ihm. Und lass´ Dir seine Papiere zeigen. Auch die Frachtpapiere. Die Kollegen sind unterwegs. Ich muss mal gerade zum Sani“, lallte er noch. Dann klappte er zusammen wie ein Gummimännchen. Born stierte fassungslos auf ihn herunter.

Diese Schrecksekunde nutzte der gerade noch Festgesetzte und wollte sich um die Motorhaube seines Trucks herum verdünnisieren. Aber der Polizist hatte geschaltet und stellte dem Flüchtenden ein Bein, so dass der sich selbst in die Hacken trat und stürzte. Direkt vor dem neugierigen Schöler. „Halt´ den mal grad´ am Boden fest. Arm einfach nach hinten drehen. Das geht schon. Ich muss schnell nach meinem Kollegen gucken!“, rief Born. Doch da war bereits ein Rettungssanitäter aus dem Wagen gesprungen und zu dem Beamten herübergelaufen, der sich gerade aufrappeln wollte. „Nix, nix, liegen bleiben. Erst mal sehen, was mit Ihnen los ist.“

Born, der sich mit Blick aus dem Augenwinkel versicherte, dass Schöler den Mann am Boden unter Kontrolle hatte, schilderte dem Sanitäter kurz, was mit Winter passiert war und fragte: „Sagen Sie, wissen Sie, wie es dem Unfallopfer geht?“

„Ich sitze auf dem anderen Wagen, habe mich um Frau Homrighausen gekümmert. Aber so viel ich mitgekriegt habe, nicht besonders gut. Der hat richtig was abbekommen. Mehrere Knochenbrüche wohl, innere Verletzungen und, so wie es aussieht, vermutlich auch einen Schädelbruch. Sie haben Christoph 25 bestellt. Der muss gleich hier sein. Landet vermutlich am Ende der Parkkolonne.“

„Was für eine verfluchte Scheiße“, entwich es dem sonst eher besonnenen Pattrick Born. „Und das alles noch zusätzlich zu dem Leichenfund von heute Mittag. … Passen Sie gut auf meinen Kollegen auf.“ Von letzterem verabschiedete er sich wie ein Hipp-Hopper, Faust auf Faust. „Wird schon, Alter. Ich drück´ Dir die Daumen.“ Dann drehte er ab, um Schöler den am Boden liegenden Trucker zu entreißen. Der Sünder lag auf dem Bauch, den rechten Arm auf den Rücken gedreht und ein Knie des Pommesbarons im Kreuz.

„Danke, kannst loslassen. Und bitte, steig von ihm ab.“

Wadim Plosicz rannte wie von tausend Teufeln gehetzt. Immer wieder dreht sich der Mann beim Laufen um und schaute wie ein gejagtes Tier nach hinten. Mit Ach und Krach war er unentdeckt von dem Lastzug weggekommen, war zwischen ein paar Büschen durchgewutscht und über den Lidl-Parkplatz zu einer Parallelstraße herübergerannt. Mitten in einem Industriegebiet war er gelandet und hatte nicht die geringste Ahnung, wo genau, in welcher Stadt. Noch bis vor einer halben Stunde hatte er tief geschlafen, in der Koje des Lastzuges. Direkt hinter dem Fahrer. Zum ersten Mal seit fast drei Tagen.

Der Mann aus Kaunas in Litauen war wieder mal durchgefahren, von Malaga in Spanien bis nach Frankfurt. Ohne Schlaf. Dafür aber mit jeder Menge gekauter Kaffeebohnen. Und auf drei verschiedenen Lastzügen, die immer im lockeren Konvoi hinter einander herfuhren. Malaga, Barcelona, Lyon, Neuenburg am Rhein, Frankfurt. Das machten sie schon immer so bei seiner Spedition. Durch den Fahrerwechsel auf der Strecke hätte ihnen keine Polizei der Welt etwas wegen Überziehung der gesetzlichen Lenk- und Ruhezeiten anhaben können. Seit Jahren verdiente er sein Geld mit Lebensmitteltransporten. Einmal die Woche mit Tiefkühltorten von Frankfurt nach Malaga, dann sechs Stunden Schlaf. Und zurück mit einer Ladung Früchte für den Frankfurter Großmarkt.

Von dort hatten sie ihn einfach entführt. Ihm völlig unbekannte Typen. Angebliche Inspizienten seines Arbeitgebers, der Spedition TruckiTRANS aus Vilnius. Sie waren auf dem Großmarkt aufgetaucht, hatten ihm ein Papier mit dem Briefkopf von TruckiTRANS unter die Nase gehalten und sich durch reichlich Interna aus dem Unternehmen legitimiert. Ein Info-Gespräch sollten sie mit ihm führen. Wie mit all seinen Kollegen auch, denen sie angeblich schon vorher begegnet waren. Natürlich hatte er nichts gegen eine gute Tasse starken Kaffees und ein ordentliches Frühstück gehabt und war ihnen in ein Straßencafé gefolgt. Aber dort endete seine Erinnerung nach zwei, drei Schlucken Kaffee und nicht mal einem halben Schinkenbrötchen. K.-o.-Tropfen vermutete er.

Wadim Plosicz musste anhalten, sich auf eine Gartenmauer setzen. Sein Puls hämmerte in den Halsschlagadern. Sterne tanzten vor seinen Augen. Die Kondition spielte einfach nicht mehr mit. Tief atmete er durch und versuchte so, seinen Puls zu beruhigen. Sein kariertes Hemd war nur noch durch zwei Knöpfe vor der Brust gehalten. Die anderen hatte er aufgemacht, um Luft an seinen muskulösen, schwitzenden Körper zu lassen. Wieder schaute er sich sichernd um. Drüben auf der anderen Straßenseite spielten drei Kinder auf dem Rasen vor einem Mehrfamilienhaus. Ansonsten kamen lediglich Passanten und Autofahrer vorbei. Desinteressierte. Niemand kümmerte sich um den Mann auf der Mauer. Dass er am linken Handgelenk eine Handschelle trug, hatte wohl keiner bemerkt.

Was war das für eine widerwärtige Aktion, die sich da vor seinen Augen abgespielt hatte. Der Fahrer hatte ihn ziemlich unsanft geweckt, die Handschelle am Haltegriff in der Kabine gelöst und ihn aufgefordert, sofort aus der Koje heraus zu klettern. Als das dem Trucker nicht schnell genug ging, half er mit zwei markigen Faustschlägen in Rippen und Magengrube nach. Dann war er auf die Ladefläche des Zuges getrieben worden, wo ihn der Fahrer ganz nach vorne nötigte. „Mach´ mal links die Plane zurück, damit man hier mehr sieht“, hatte er ihn auf Russisch angeherrscht. Und Plosicz gehorchte mit schmerzendem Körper. Danach war er wieder angekettet worden.

Plötzlich war ein zweiter Mann auf der Ladefläche. Den hatte der andere offenbar erwartet und war mit ihm ohne große Worte auf den Kistenstapel geklettert, wo sie nun gemeinsam das obere Behältnis öffneten. Der Trucker hatte einen Schlüssel dafür. Eifrig räumten sie in der Kiste jede Menge Teile beiseite. Wohl, um weiter unten fündig zu werden. Doch dann hatte der Fahrer plötzlich eine Eisenstange in der Hand, die er dem anderen kurzerhand auf den Hinterkopf schlug. Der Aufschlag der Stange auf die Schädeldecke hörte sich für Plosicz an, als wäre ein Kürbis beim Herabfallen auf den Fußboden geborsten. Ekelhaft. Vor seinen entsetzten Augen war der klapperdürre Mann blutend zusammengebrochen und auf dem Rand der offenen Kiste liegen geblieben. Er rührte sich nicht mehr. ‚Um Gottes Willen. Ist der Mann tot? Was soll der Scheiß? Warum schlägt dieser brutale Hund hier einfach einen Menschen tot?’ Ihm wurde schlecht vor Angst.

Als der gnadenlose Fahrer auf ihn zukam, dachte der Mann aus Litauen, sein Ende stehe bevor. Er wollte schreien. Doch dieser Schweinehund drückte ihm von vorn so heftig die Kehle zu, dass er glaubte, jeden Moment werde der Knorpel im Hals brechen.

„Du chilfst mirr jetzt“, herrschte ihn der Mann an. „Sonst bringe ich dich um. Wie den da.“ Dann schloss er die eine Handschellenhälfte auf, befreite ihn so von der Ladebordwand und schleppte ihn mit Karnickelfanggriff zum Kistenstapel. Hustend und röchelnd war Plosicz, die Pranke des Irren im Genick, stolpernd mitgelaufen und am Fuß des Kistenberges angelangt. „Rauf mit Dirr“, brüllte dieser Unmensch und folgte ihm die zwei, drei Stufen auf der Seite mit der offenen Plane. Immer wieder schaute er nach hinten durch die offene Ladetür, bis er auf einmal brüllte: „Komm, ancheben! Nun los, mach! Schneller!“ Dann lud er mit Plosicz´s Hilfe den Leblosen über seine rechte Schulter, drehte sich zur offenen Seite des Trucks hin und warf sein Opfer mit beiden Armen einfach hinaus. Als wenn der Mann gar nichts wöge. Er warf ihn einfach so weg.

Plosicz erstarrte. Als er dem Niedergeschlagenen hinterher schaute, sah er über die Kante der Seitenbordwand hinweg von links eine Cabrio-Frontscheibe und einen Frauenkopf mit brünettem Haar vorbeikommen. Im selben Augenblick krachte es. Reifen blockierten, gefolgt von einem leisen ‚pflatsch’. Dann war es für einen kurzen Moment still. Bis die Frau ganz entsetzlich schrill zu schreien begann.

Der Killer war von der Öffnung zurückgewichen und mit einem Satz von dem Kistenstapel heruntergesprungen. Dann hatte er mit einem Ruck die Plane zugezogen. Er lauschte nach draußen, wo man jetzt aufgeregte Stimmen hörte. Rufe nach Rettungsdienst und Polizei wurden laut.

Für Plosicz die Chance, aus diesem Wahnsinn heraus zu kommen. Schnell war er von den Kisten heruntergestiegen, durch den Frachtraum gesprintet und aus der Ladetür gesprungen. Draußen warf er den offenen Flügel zu und legte kurzerhand den Riegel um. Er hatte gehofft, dass sein Peiniger hinterhergekommen wäre und dabei in die Tür eingeklemmt, zumindest aber von ihr getroffen würde. Doch der große Aufschrei blieb aus. Auch ein fast ersehntes Geräusch brechender Knochen war nicht zu vernehmen.

Immerhin aber war der Drecksack jetzt für einen Moment gefangen. Denn er würde sich angesichts des Menschenauflaufs draußen nicht trauen, die Plane wieder zurückzuziehen und seitlich über die Ladebordwand auf die Straße herunter zu klettern. Zumal es einen kleinen Stau entlang der geparkten Lastzüge gab. Zu viele Augenzeugen.

Der Flüchtende wollte ebenfalls ungesehen davonkommen. Sachte schaute er auf der Gehwegseite um die Ecke des Trucks nach vorn. Keine Menschenseele zu sehen. Auch von hinten nichts. Nur die Lücke bis zum nächsten Lastzug ließ ihn da stehen wie auf dem berühmten Präsentierteller. Zu seinem großen Glück wendeten auf der Straße gleich zwei Pkw hintereinander. Deren Fahrer wollten offenbar aus dem Stau heraus und einen anderen Weg in die Stadt hineinnehmen. Die hatten etwas Wichtigeres zu tun, als nach ihm zu schauen. Mit zwei großen Sätzen überquerte er also den Gehweg und verschwand hinter den Büschen. Die boten ausreichend Sichtschutz. Aber seine Freude darüber währte nicht lange. Denn zwei Meter weiter bremste ihn ein Zaun.

Mist! Wohin jetzt? Nach rechts ging es nicht weiter. Da endete die Buschgruppe. Und man hätte ihn von der Straße aus sehen können. Also nach links. Nach ein paar Metern wehte ihm der verräterische Duft der Imbissbude um die Nase. Pommes und Bratwurst. Augenblicklich bekam Plosicz Hunger. Aber er konnte sich beherrschen. Für eine Portion Pommes rot/weiß war die Bedrohung viel zu groß. Lieber hungrig davonkommen, als beim Essen von diesem durchgedrehten Typen erwischt zu werden. Kurz darauf hatte er den Lidl-Parkplatz erreicht.

Vor und neben dem „Wittgensteiner Hof“ hatten die von der SpuSi das ganz große Besteck aufgefahren. Mindestens fünf Leute in weißen Raumfahreranzügen und mit blauen Plastiküberschuhen wuselten dort herum. Die Parkstraße war nach wie vor voll gesperrt. Der Verkehr wurde über den Berlebach, an den Kliniken vorbei, umgeleitet. Noch immer standen Neugierige an den Absperrungen herum und erzählten sich die wildesten Räuberpistolen. Nur Clemens Finger, der freie Journalist, hatte mittlerweile eine klarere Sicht der Dinge. Auf allen Vieren kriechend, um den Polizeiblicken zu entgehen, hatte er sich hinter der Schlossmauer in Position gebracht und direkt in die Gasse blicken können, an deren Ende der Leichnam gefunden worden war. Jede Einzelheit hatte er mit seinem ofenrohrgroßen Tele eingefangen. Die Bilder waren längst per Mail zu einer Fotoagentur gegangen.

Und weil er aus seiner unbequemen, aber strategisch optimalen Position heraus so ganz nebenbei manches Gespräch der Ermittler belauschen konnte, manchmal auch nur Gesprächsfetzen, baute er sich aus dem Erlebten und Gesehenen seine ganz eigene Geschichte zusammen. Für die Boulevardpresse. Nicht umsonst hatte er in der Branche von den seriösen Kollegen den Spitznamen „Schlimmer Finger“ bekommen.

Eigentlich war es purer Zufall, dass Finger diesen Aufreger in Bad Berleburg mitbekam. Denn sein Augenmerk hatte er ursprünglich auf das Flüchtlingserstaufnahmelager in der ehemaligen Rothaarklinik gelegt. Mal sehen, wie sich dort die Wachmannschaften aufführen. Nach den wirklich furchtbaren Zuständen in Burbach und anderswo, nicht nur für einen Boulevard-Reporter ein Thema, an dem man eigentlich nicht vorbeikommt.

Doch irgendwie kam er hier nicht zu Potte. Die Lage schien unaufgeregt zu sein, dort oben. Und die Flüchtlinge, die er unterwegs traf, meist Menschen aus Syrien, wussten nichts besonders Negatives zu berichten. Außer, dass sie durch ihre Unterkunft sehr weit entfernt von der Stadt waren. Tatsächlich war das schon eine elendige Latscherei von dem Klinikkomplex am „Spielacker“ runter in die Innenstadt. Und zurück erst recht. Da waren einige Höhenmeter zu überwinden.

Die hatte übrigens auch Clemens Finger aus Dortmund-Hombruch in den Knochen. Denn wer Geschichten von Menschen erfahren will, die zu Fuß unterwegs sind, sollte tunlichst auf das Nebenherfahren mit dem Auto verzichten. Schweren Herzens hatte er sich also selbst per pedes auf den wirklich beschwerlichen Weg gemacht, um seine Story „rund“ zu bekommen, wie die Journalisten sagen. Allein, es war ihm trotz heftiger Bemühungen und einigem Rauf auf den Berg und Runter in die Stadt nicht gelungen, auch nur einen der meist Englisch sprechenden Flüchtlinge dazu zu bekommen, so richtig abzulästern. Das, was er von den Leuten am häufigsten als Antwort bekam, war „thank you Germany“. Frustrierend für einen, der ausgezogen war, einer Schweinerei auf die Spur zu kommen.

Bis er auf einem seiner Wege über das Rainchen hinauf zur Oberstadt plötzlich auf die Polizeiabsperrung Ecke Parkstraße traf. Fünf Minuten Recherche, den Gaffern zuhören und beobachten, reichten dem routinierten Schlagzeilenhai völlig aus. Schlagartig switchte er im Kopf um, vergaß augenblicklich die emotionsgeladene Geschichte von misshandelten Menschen im Flüchtlingslager. Hier lauerte die wahre Geschichte. Ein grausames Verbrechen in der Provinz. Eine Story, die es in sich hatte – und Geld brachte. Das hatte er im Urin.

Nachdem der Tote abtransportiert worden war, hatte der fiese Gestank in der Oberstadt stark nachgelassen. Verschwunden aber war er noch nicht. Kein Wunder. Denn der Leichensaft, oder wie immer man die Flüssigkeit bezeichnen wollte, die da aus dem Plastiksack ausgetreten war, hatte das Erdreich getränkt. Und das müsste dringend abgetragen und entsorgt werden. Allerdings waren da die Herren im Ganzkörperkondom strikt dagegen. „Zunächst müssen die Spuren dort akribisch gesichert werden“, hatte Gert Steiner, Chef der Spurensicherung, bereits den Nachbarn mitgeteilt. Und damit deren Illusion zerstört, bald wieder befreit einatmen zu können. „Sorry, das dauert noch. Wir haben ja bis jetzt nicht einmal eine Ahnung, wie der Mann überhaupt dort unten hingekommen ist. Vom Warum ganz zu schweigen. Aber das müssen die Kollegen von der Kripo klären.“

Und die hatten richtig was zu tun. Erst die Leiche am Rainchen. Und jetzt auch noch der versuchte Mord in der Limburgstraße. Das war mehr, als man in dem eher verbrechensarmen Wittgenstein seit Jahrzehnten erlebt hatte. Vorsichtshalber hatte Hauptkommissar Klaiser in Absprache mit Dienststellenleiter Bernd Dickel schon mal die Kollegen in Siegen um Mithilfe gebeten. Denn die Aufgaben, die jetzt auf sie zukommen würden, überschritten ihre personellen Möglichkeiten um ein Vielfaches. Selbst wenn sie sich die Fälle teilten, was im Übrigen bereits geschehen war.

Während er an dieser ausgesprochen seltsamen Sache mit dem Toten am „Wittgensteiner Hof“ bleiben wollte, übernahm Kriminalkommissarin Corinna Lauber den versuchten Mord am Truck. Und jeder von ihnen hatte lediglich einen Kollegen als Unterstützung an der Hand. Corinna konnte auf die dauerhafte Hilfe von Polizeiobermeister Pattrick Born zählen. Und Klaiser hatte eigentlich auf Jürgen Winter gebaut, der ihm schon in der jüngeren Vergangenheit immer wieder mal mit hervorragender Arbeit zur Seite gestanden hatte. Doch der war nach seinem Sturz auf dem Lastzug zur Untersuchung und Beobachtung ins Krankenhaus gekommen. Wie lange er ausfallen würde, dazu war keine Prognose zu bekommen.

Also holte er sich Obermeister Sven Lukas als Teamkollegen. Der war zwar ein unglaublicher Computerfreak und daher eher für IT-Ermittlungen in Wirtschaftskriminalfällen geeignet, aber Klaiser wusste, dass dieser Mann sich in komplizierte Fälle richtiggehend reinbeißen konnte. Recherchieren bis der Arzt kommt. Genau das, was jetzt gefragt war.

Längst hatten sie alle verfügbaren Kolleginnen und Kollegen der Schutzpolizei auf den Schlossberg geschickt, um Befragungen bei den Anwohnern zu machen. Hatte jemand etwas Verdächtiges gesehen, gehört? Und, wenn ja, was und wann? Wem waren Fahrzeuge und/oder Leute aufgefallen, die zwischen „Wittgensteiner Hof“ und Café etwas abgeladen hatten, oder zumindest abgeladen haben könnten; eventuell eine Leiche.

Wadim Plosicz schnappte noch immer heftig nach Luft. Die Flucht bis zu dieser Mauer am Hilgenacker hatte erstaunlich viel Kraft gekostet. Überraschend viel für den Mann, der sich eigentlich sportlich fit wähnte. ‚Wahrscheinlich machen dich die K.-o.-Tropfen so fertig’, dachte er, während er nach wie vor den spielenden Kindern gegenüber zuschaute.

Plötzlich war am Himmel ein Hubschrauber zu hören. Erst nur vage. Dann schien er zügig immer näher zu kommen. Und dort, von wo aus er geflohen war, startete ein Fahrzeug mit Martinshorn. Neugierig versuchte der Flüchtende zu verstehen, was da abging. Aber er traute sich nicht einmal, um die Hausecke hinter seinem Rücken zu schauen.

Der Hubschrauberpilot schien auf einem Platz ganz in der Nähe landen zu wollen. Vadim kannte das verräterische Knattern der Rotorblätter, wenn sie vom Piloten verstellt werden, um Höhe zu verlieren. Immer näher kam er und wurde immer lauter. Und dann war der Eurocopter zu seinem großen Erschrecken auf einmal direkt über ihm und zog eine Schleife. Deutlich konnte er von unten „ADAC Luftrettung“ an der knallgelben Maschine lesen. Dann war sie schon wieder weg. Hinter den Hausdächern verschwunden.