Goodbye, Moskau - Wladimir Kaminer - E-Book
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Wladimir Kaminer

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Beschreibung

Wladimir Kaminer blickt anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution auf seine alte Heimat und sieht ein Land auf der Suche nach sich selbst. Das kommunistische Experiment ging unter dem Applaus der freien Welt zu Ende, die Menschen aber sind noch da, und sie brauchen eine Perspektive. Der Kapitalismus lockt als neues Erfolgsmodell, doch die Russen suchen unter der harten Sonne des Kapitals vergeblich nach einem schattigen Plätzchen. Überall liegen bereits die Handtücher anderer Länder. Statt Wohlstand, Fortschritt und Freiheit regieren Repression und Angst. Die politische Führung unter Putin beherrscht zwar die alten Techniken des Machterhalts, aber keine zur Gestaltung der Zukunft. Vorbei an Europa hat sie den Weg in die Vergangenheit und die Isolation eingeschlagen. Mehr als genug Stoff also für eine liebevoll verzweifelte Auseinandersetzung mit Russland.

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Seitenzahl: 204

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Buch

Wladimir Kaminer blickt anlässlich des 100. Jahrestages der Oktoberrevolution auf seine alte Heimat und sieht ein Land auf der Suche nach sich selbst. Das kommunistische Experiment ging unter dem Applaus der freien Welt zu Ende, die Menschen aber sind noch da. Und sie brauchen eine Perspektive. Der Kapitalismus lockt als neues Erfolgsmodell, doch die Russen suchen unter der harten Sonne des Kapitals vergeblich nach einem schattigen Plätzchen. Überall liegen bereits die Handtücher anderer Länder. Statt Wohlstand, Fortschritt und Freiheit regieren Repression und Angst. Die politische Führung unter Putin beherrscht zwar die alten Techniken des Machterhalts, aber keine zur Gestaltung der Zukunft. Vorbei an Europa hat sie den Weg in die Vergangenheit und die Isolation eingeschlagen. Mehr als genug Stoff also für eine liebevoll verzweifelte Auseinandersetzung mit Russland.

Weitere Informationen zu Wladimir Kaminer sowie zu lieferbaren Titeln des Autors finden Sie am Ende des Buches sowie unter www.wladimirkaminer.de.

Wladimir Kaminer

Goodbye, Moskau

Betrachtungen über Russland

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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Copyright © 2017 by Wladimir Kaminer Copyright © dieser Ausgabe 2017 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotiv: FinePic c/o Zero Werbeagentur AB · Herstellung: str Satz: Uhl + Massopust, Aalen ISBN: 978-3-641-20075-6V003www.goldmann-verlag.de
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Oh, Russland, wohin rast du?Gib mir eine Antwort!

Nikolai Gogol

Inhalt

Der Kühlschrank meiner Schwiegermutter

Krim

Umsonst fliegen

Wie ticken die Russen?

Die Demos meines Lebens

Kleine Schnecke, ganz langsam

Die KGB-Feier zum »Tag des Kundschafters«

Die Legende vom goldenen Brötchen

Warten auf Kuba

Im Reich des Labradors

Sowjetisches Lotto

Reiche Russen

Der Globus im Weizen

Türme aus purem Gold

Der Müll, der Staat und der Tod

Singen und schwitzen für die Integration

Unerwarteter Besuch

Die Gedanken sind frei

Die Freundlichkeit der Tyrannen

Die französische Suppe Bouillabaisse

Meteorit

Tschernobyl

Schlafen für den Frieden

Marias Schweigen

Von schreienden Kindern und trampelnden Katzen

Schachmatt

Geflügelte Kirche

Der Schneeberg

Der Gedanke des Kommunismus

Was braucht guter Käse?

Der Todestanz der Matrosen

1000 Chinesen

Goodbye, Moskau

Über den Autor

Der Kühlschrank meiner Schwiegermutter

Neulich, während eines Besuchs bei meiner Schwiegermutter, konnte ich nicht einschlafen. Seltsame Geräusche drangen ins Zimmer, weit entfernte Explosionen, das Kreischen von Panzermotoren. Es stöhnte und brüllte im Haus, als würde irgendwo, nicht weit von meinem Schlafzimmer entfernt, eine militärische Auseinandersetzung stattfinden. Ich weiß, dass meine Schwiegermutter eine leidenschaftliche Kinoliebhaberin ist. Sie hat in jedem Zimmer sowie in der Küche kleine und große Fernsehgeräte stehen, die ihr als Fenster nach draußen in die Welt dienen. Tagsüber sind sie immer an, während die wirklichen Fenster, nebenbei gesagt, mit dicken Gardinen verhängt und mit Mückenschutznetzen überzogen sind.

Oft schaut sich die Schwiegermutter bis spät in die Nacht Kriegsfilme in der Küche an. Es gibt im russischen Fernsehen einen Extrasender, der rund um die Uhr nichts anderes sendet als diese patriotischen Filme, in denen die Russen immer gewinnen. Es geht dabei um den Sieg der sowjetischen Armee über den Faschismus im Zweiten Weltkrieg. In den letzten Jahren wurde eine Menge neuer Streifen zu diesem Thema gedreht. Je mehr Zeit vergeht, umso wichtiger wird dieser Sieg für die Russen – vielleicht der einzige sinnvolle Sieg, an den man sich gern erinnert. Die Kriege der Neuzeit, der gegen Afghanistan, gegen Tschetschenien, gegen Georgien und die Ukraine, haben es dem Volk und den Filmemachern nicht sonderlich angetan.

Meine Schwiegermutter mag diese russischen Kriegsfilme sehr, doch auch für sie wäre es höchst ungewöhnlich, um drei Uhr nachts vor der Glotze zu sitzen. Ich stand auf und ging in die Küche, um herauszufinden, wer da kämpfte. In der Küche brannte kein Licht, der Fernseher war still. Die Kriegsgeräusche kamen aus dem alten riesengroßen Kühlschrank im Korridor, dem wahrscheinlich ältesten Gegenstand, den meine Schwiegermutter besitzt. Er frisst Unmengen Strom und wird kaum noch benutzt – nur als Ersatzkühlschrank, wenn in den Hauptkühlschrank in der Küche nichts mehr hineinpasst, wenn die Schwiegermutter Vorräte für den Winter anschafft, oder wenn sie zu viele Gurken eingelegt hat, die sie dann im alten Kühlschrank im Korridor halb gefroren aufbewahrt.

Nach dem Geräuschpegel zu urteilen, ging es dem Kühlschrank schon seit Langem nicht gut. Nun schien der Alte voll aus den Fugen zu geraten. Er knurrte so laut, als würde er eine ganze sowjetische Armee beherbergen. Ich machte ihn auf. Nichts war drin, nicht einmal eine Gurke. Nur dass Berge von Eis im Gefrierfach wuchsen. Ich zog das Kabel aus der Steckdose und ging für den Rest der Nacht wieder ins Bett. Am nächsten Tag breitete sich ein Baikalsee auf dem Fußboden im Korridor aus, und meine Schwiegermutter kämpfte mit Waschlappen und Eimer gegen die Überschwemmung. Ich entschuldigte mich.

»Warum schmeißt du den alten Kühlschrank nicht in den Müll?«, fragte ich sie und erfuhr, dass dieses Gerät eine besondere Bedeutung in den Erinnerungen der Schwiegermutter hatte. Dies sei ihr treuester Wegbegleiter, erklärte sie. Sie habe das Gerät SIL-Moskau vor einer halben Ewigkeit als Hochzeitsgeschenk bekommen. Vor Kurzem war der Kühlschrank sechzig Jahre alt geworden, und die ganze Familie hatte gefeiert. In all den Jahrzehnten war er kein einziges Mal ausgefallen. Nur kurz vor dem Jubiläum war das Plastiktürchen im unteren Fach abgefallen, genau dort, wo in pathetischer sozialistischer Sprache »Für Waren besonderer Bedeutung« stand. Seitdem brüllte er wie verrückt.

»Wir haben nach dem Meister gesucht, der Ersatzteile für solche alten Geräte haben könnte«, erzählte die Schwiegermutter. »Der Meister kam, sah den Kühlschrank und bot uns sofort tausend Dollar für ihn an. Ich habe ihn natürlich nicht verkauft, sondern erst einmal im Internet nachgeschaut, wie es um die Preise für einen SIL-Moskau 57 steht. Ich war verblüfft. Es gibt einen regelrechten Hype, was diese sowjetischen Kühlschränke aus den Fünfzigern betrifft. Für einen wie den unseren werden Preise bis zu dreitausend Dollar bezahlt.«

Ich tat es meiner Schwiegermutter nach, recherchierte im Netz und wunderte mich ebenfalls. Der SIL Moskau schien einen sehr guten Ruf zu genießen und zwar in allen ehemaligen Republiken der Sowjetunion. Die Gründe, warum die Leute für alten Schrott so viel Geld ausgeben wollen, waren nicht leicht herauszufinden. Eins stand fest: Der Kühlschrank war mit Legenden und Anekdoten überhäuft. Es wird zum Beispiel erzählt, der SIL Moskau wäre im Schatten des Kalten Krieges gebaut worden, als sich die Welt auf einen Atomkrieg vorbereitete. Im Fall eines solchen Krieges sollte der Kühlschrank als Bunker für sowjetische Bürger dienen. Die Wände dieses Kühlschrankes ließen radioaktive Strahlung nämlich angeblich nicht durch.

Nachgewiesen ist auf jeden Fall, dass der Kühlschrank jede Telekommunikation, alle Funkwellen auf allen Frequenzen, erfolgreich abwehrt. Er ist also ein abhörsicherer Ort, vielleicht der letzte der Erde, zu dem weder NSA noch CIA, FBI oder KGB Zugang haben. Wenn die Russen also über Wichtiges reden wollen, dann ist der Kühlschrank SIL Moskau genau der richtige Ort dafür. Man muss sich nur möglichst warm anziehen, bevor man hineinsteigt.

Andere Leute sagen, dieser Kühlschrank sei gar kein Haushaltsgerät, sondern eine in sowjetischen Geheimlaboren entwickelte transformierbare Waffe, die statt mit Freon mit sogenanntem Rotem Quecksilber, dem streng geheimen, von sowjetischen Wissenschaftlern entwickelten Treibstoff, vollgepumpt ist. Dieses Element kommt in keiner Tabelle der chemischen Elemente vor, kann aber die Temperatur bis minus 500 Grad senken.

Im Grunde weiß heute keiner, was diese Geräte in Wahrheit sind und wozu sie taugen. Fakt ist, sie altern nicht, sie haben alle ihre Hersteller überlebt, sie haben das Land überlebt, das sie produzierte, und den Zweck ihrer Herstellung. Ihr Sinn ist in den Wellen der Zeit verloren gegangen. Nicht einmal Kühlschrankbaumeister wissen noch, wie genau diese Schränke funktionieren. »Manchmal verschwinden Gurken einfach so im Inneren des Gerätes«, erzählte die Schwiegermutter mir. Vielleicht werden eines Tages, wenn nichts mehr geht, allen SIL Moskauern Flügel wachsen. Sie zünden und fliegen einfach los. Zusammen mit den Häusern, in denen sie stehen, mit ihren alten Besitzern und ihren Lebensmittelvorräten werden sie weit, weit weg fliegen, um an einem neuen Ort, auf unbekanntem Territorium eine neue, gerechtere, antikapitalistische Gurkenunion zu gründen – und die Welt vor dem Untergang zu retten.

Bis es so weit ist, solle der Kühlschrank in Ruhe gelassen werden, meinte die Schwiegermutter. Er darf brüllen und knurren und Kriegshandlungen im Korridor imitieren. Jede Nacht rollen darin die unsichtbaren Panzer durch den Schnee, Soldaten rutschen auf dem Eis, und die Vergangenheit eines großen Landes liegt wie eine gefrorene Gurke im Fach »Für Waren besonderer Bedeutung«.

Krim

Es geschah schnell und für die Welt überraschend: Plötzlich erschien meine alte Heimat auf den Titelseiten europäischer Zeitungen und zwar in der alten Rolle als Imperium des Bösen. Sie hat einen Teil der Ukraine verschluckt, die Halbinsel Krim, ohne lange daran zu kauen. Der russische Präsident sagte, die Ukraine sei selbst schuld, sie hätte Russland provoziert, mit ihrer Krim direkt vor seiner Nase gewedelt und gedroht, sehr bald in Richtung EU zu verschwinden.

Zwei Monate zuvor hatte der ukrainische Präsident ein Assoziierungsabkommen mit Europa unterschreiben wollen. Der russische Kollege bat ihn höflich und diskret, dies nicht zu tun. Der ukrainische Präsident geriet zwischen zwei Stühle. Er hatte dem Volk das Wahlversprechen gegeben, das Land in Europa zu integrieren. Er konnte auf dieses Abkommen daher nicht verzichten, hatte jedoch Angst, den mächtigen Nachbarn Russland zu verärgern. Er trickste hin und her und unterschrieb nicht. Das aufgebrachte Volk fühlte sich von seinem Präsidenten verraten, versammelte sich auf dem zentralen Platz der Hauptstadt und ging den ganzen Winter hindurch nicht nach Hause. Die Menschen standen trotz Kälte, Drohungen und der Angriffe der Polizei vor dem Parlament. Steine flogen, es wurde mit scharfer Munition in die Menge geschossen, brennende Autoreifen verpesteten die Luft.

»Hau ab, wir wollen dich nicht! Geh zu deinem Freund nach Russland, du Verräter!«, skandierten die Bürger auf dem Platz.

Der ukrainische Präsident fühlte sich in seiner Residenz nicht mehr sicher und war mit den Nerven am Ende. Der Job machte ihm keinen Spaß mehr. Er beschloss zu flüchten, packte in Eile, nahm nur das Nötigste mit und brach mit zehn LKWs und zwei Hubschraubern Richtung Russland auf. Die Ukrainer feierten den Sieg der Revolution. Eine Übergangsregierung wurde gebildet, die Neuwahlen anordnete, welche drei Monate später stattfinden sollten. Da nutzte der russische Präsident das Durcheinander beim Nachbarn und nahm die Krim ein. Während die Ukrainer sich mit der Vorbereitung ihrer Neuwahlen beschäftigten, besetzten über Nacht schweigsame höfliche Menschen mit Maschinengewehren und in den Uniformen der russischen Armee, aber ohne Abzeichen, die Halbinsel. Niemand wurde verletzt, es wurde kaum geschossen. In der gleichen Woche wurde ein Referendum auf der Krim angekündigt. Dabei sprachen sich um die 100 % der Bevölkerung dafür aus, zu Russland statt zur Ukraine gehören zu wollen, in manchen Städten waren es sogar 120 %. Der russische Präsident strahlte im Fernsehen Selbstbewusstsein aus und wies jede Kritik an seinem Vorgehen zurück.

»Die Krim war schon immer Teil unseres Landes gewesen«, erzählte er. Die Tatsache, dass sie zur Ukraine gehörte, bezeichnete er als »historisches Missverständnis«. Er bestritt, irgendwelche Soldaten auf die Krim entsandt zu haben. Die höflichen Uniformierten mit Gewehren seien bloß besorgte Krimbewohner, die sich ihre Uniformen selbst genäht oder in Bekleidungsgeschäften gekauft hätten, meinte er. Gleichzeitig erklärte das russische Fernsehen, dass die Krimbewohner schon immer furchtbar gelitten und sich seit sechzig Jahren geschämt hätten, Ukrainer zu sein, wo sie doch in Wirklichkeit Russen waren und sind.

»Wir wollen russische Werte und russische Rente«, sagten unbewaffnete Krimbewohner. Die bewaffneten Zugezogenen schwiegen höflich und nickten solidarisch. Die Russen feierten die Rückeroberung überschwänglich, große Kundgebungen fanden auf dem Roten Platz statt. »Die Krim gehört uns«, jubelten die Gemäßigten. »Heute die Krim, morgen der Rest der Welt«, setzten die Radikalen einen drauf.

Später gab der Präsident zu, er habe ein wenig gelogen. Es seien schon einige russische Spezialeinheiten als Friedensmissionare auf der Krim.

»Manchmal muss jeder Politiker eine Unwahrheit sagen, das gehört zum politischen Geschäft«, erklärte der russische Präsident. »Die Westler sind doch bloß Heuchler, sie lügen selbst wie geschmiert. Wer es nicht tut, soll als Erster den Stein werfen. Ich sage aber gleich, ich werfe zwei zurück. Wer ist ohne Sünde? Vortreten!«

Die Welt regte sich noch ein wenig auf und ließ den merkwürdigen Mann dann in Ruhe. »Es sind halt Russen, die waren schon immer schräg drauf, haben Stimmungsschwankungen. Morgens sind sie lieb, und gegen Abend werden sie böse. Besser nicht mit dem Bären spielen, wer weiß, was in seinem Kopf vor sich geht«, dachte vielleicht der Westen und schwieg.

Der russische Patriotismus stieg währenddessen ins Unermessliche. Die Bevölkerung vergötterte ihren Präsidenten geradezu in froher Erwartung neuer Siege. Im zentralen Kaufhaus Moskaus bildeten sich kilometerlange Schlangen, um ein mit dem Präsidenten bedrucktes T-Shirt zu ergattern. Es gab davon drei Motive: der Präsident mit nacktem Oberkörper auf einem Bären sitzend, darüber der Spruch »Lass uns reiten«, der Präsident in Militäruniform mit der Unterschrift »Der höflichste Mann der Welt« und derselbe Präsident als »Man in Black« verkleidet. »Er kann deine Gedanken lesen« stand darunter. In russischen Tattoo-Studios wurde sein Profil zu einem besonders beliebten Motiv. Frauen ließen ihn sich hinten auf den Steiß, Männer auf die linke Brust stechen.

Der Präsident freute sich natürlich über die große Zustimmung des Volkes zu seiner Politik. Er plauderte gerne aus dem Fernsehen heraus mit einfachen Menschen. Seine Gespräche unter vier Augen mit dem ganzen Volk dauerten den ganzen Tag. Jeder durfte ihn direkt in der Sendung anrufen, um seine Begeisterung auszusprechen und Fragen zur aktuellen politischen Lage zu stellen. Die meisten Anrufer wollten wissen, wie es nun weiterging.

»Wann nehmen wir die anderen ehemaligen Republiken zurück? Sie werden sicher zu uns gehören wollen?«, fragten die Rentner den Präsidenten. »Was ist mit dem Rest der Ukraine?« »Und was ist eigentlich mit Alaska?« – das sei doch auch von einem unfähigen gierigen Zaren an die Amerikaner verkauft worden. »Wir sollten es schnellstens zurückerobern!«, drängten die Veteranen, die ihre große Heimat, die Sowjetunion, unbedingt zurückhaben wollten.

Der Präsident vermied klare Antworten auf diese Fragen, er bremste die Rentner aus.

»Wozu brauchen Sie Alaska«, lächelte er aus der Glotze, »dort ist es doch so kalt! Lassen Sie uns lieber auf der Krim am Strand liegen, als in Alaska frieren.«

Die Strände der Krim blieben jedoch leer. Das Tourismusgeschäft, die einzige Einnahmequelle der Halbinsulaner, schien vollkommen einzubrechen. Drei Viertel der Touristen waren nämlich früher aus der Ukraine gekommen. Sie durften nun nicht mehr auf die Krim, weil sie offiziell als ein »vom feindlichen Aggressor besetztes Land« galt. Und die Russen, die ein Viertel der Touristen ausmachten, konnten sich die Reise nicht mehr leisten, weil der billigste Weg mit dem Auto oder mit dem Bus durch die Ukraine zu unsicher geworden war.

Die Ukrainer, von der Hinterhältigkeit des Nachbarn anfangs überrascht, haben ihre Meinung über die Russen und ihren Präsidenten schnell korrigiert. Den russischen Präsidenten nannten sie nicht anders als »Arschgeige«, das russische Brudervolk hielten sie für Zombies. Im Internet kursierten Bilder von leeren Stränden auf der Krim und hungrigen Möwen, die zwischen den Steinen verzweifelt nach Essensresten suchten. Keine Touristen weit und breit. Nur hier und da lagen die höflichen schweigsamen Uniformierten. Sie sonnten sich, ohne sich auszuziehen, und gaben ihre Waffen selbst am Strand nicht aus der Hand.

Der russische Präsident rief seine Bevölkerung auf, die Halbinsulaner zu unterstützen und dieses Jahr den Urlaub nicht in Ägypten oder der Türkei, sondern auf der Krim zu machen. Falls sich die Rentner für zwei Wochen Krim entschieden, sollten sie dafür einen Zuschuss vom Staat bekommen. Offiziere, Polizisten, überhaupt alle Staatsangestellten bekämen die Reisekosten von ihrem Arbeitgeber erstattet. Im Internet wurden bereits gefälschte Urlaubsunterlagen, die zur Erstattung notwendig waren, preiswert angeboten. Mit diesem leicht verdienten Geld konnte man auf Zypern billig Urlaub machen. Trotzdem beschwerten sich die Halbinsulaner: kaum Touristen, die Preise im Keller.

Mein Berliner Nachbar Sergej schaute sich diese Bilder an und beschloss spontan, auf die Krim zu fahren.

»Du bist verrückt!«, sagte ich ihm. »Du musst doch bedenken, dass du in ein besetztes Gebiet fährst. Hast du keine Angst, erschossen zu werden?«

Sergej wurde wie ich noch in der Sowjetunion geboren. Als Kind wurde er jedes Jahr während der Sommerferien von seinen Eltern in ein Pionierlager auf der Krim geschickt. Den Urlaub dort konnte er nicht leiden. Bedrückende Hitze, ekliges Essen, laute fremde Kinder und unglaublich viele Urlauber, die auf den Steinen am Ufer saßen und lagen oder im trüben Wasser plätscherten. Sie hockten einander buchstäblich auf den Köpfen. Man konnte keinen Schritt am Strand machen, ohne jemandem auf den Fuß oder den Bauch zu treten. Wie schön wäre es hier ohne die vielen Menschen, hatte Sergej damals gedacht. Nun schien auf der Krim genau die richtige Zeit für Urlauber gekommen zu sein, die gerne alleine am Strand saßen.

»Ich glaube, es wird mir gefallen«, meinte Sergej und fuhr los. Mit seinen zwei Pässen, einem deutschen und einem russischen, erreichte er problemlos die Krim. Mit dem deutschen Pass kam er ohne Visa in die Ukraine, von dort aus gelangte er mit dem russischen Pass auf die Halbinsel. »Bin da«, tippte er mir kurz als Nachricht und verschwand vom Bildschirm, ohne sich noch einmal zu melden. Wir fingen schon an, uns Sorgen zu machen. Zwei Wochen später kam Sergej jedoch zurück, braun gebrannt und gut erholt.

Die Krim, erzählte er, hatte auf ihn einen gespenstischen Eindruck gemacht. Die Menschen haben statt in die Zukunft zurück in die Vergangenheit geschaut, in die Sowjetunion, sind aber in einer Unzeit gelandet. Das alte ukrainische Geld haben sie weggeworfen, das russische noch nicht bekommen. In den Geschäften wurden statt Münzen Gurken benutzt. Der Westen boykottierte die Halbinsel, die Strände waren menschenleer, das Wasser war zum ersten Mal seit hundert Jahren sauber und kristallklar. Die verwirrten Einheimischen liefen in Putin-T-Shirts durch die Gegend. »Lass uns reiten«, »Der höflichste Mann der Welt« und »Ich kann deine Gedanken lesen«. Sie schauten misstrauisch auf Sergej, der keinen Putin trug. Im Radio liefen ununterbrochen alte sowjetische Pionierlieder, und überall an den Häusern hingen Plakate des abgesagten Konzerts von Uriah Heep.

Umsonst fliegen

Meine Tante Ilma durfte ihr Leben lang umsonst fliegen. In der Sowjetunion galten neben dem Grundgesetz, das uns alle möglichen Rechte versprach, noch eine Menge andere Gesetze. Zum Beispiel das Recht, für immer dort zu bleiben, wo man geboren worden war. Jemand, der in Moskau zur Welt gekommen war, durfte in Moskau leben, aber ein in der Ukraine Geborener war der Ukraine verschrieben und durfte nicht einfach nach Moskau ziehen. Wenn eine hochschwangere Person während einer Zugfahrt entbunden hatte, durfte ihr Kind ein Leben lang umsonst mit dem Zug fahren.

Meine Tante hatte das seltene Glück, während eines Fluges Moskau-Donezk in einer TU 154 auf die Welt zu kommen. Ihre Mutter, die Schwester meiner Oma, eine überzeugte Kommunistin und Journalistin von Beruf, arbeitete in Donezk bei der dortigen Zeitung »Bergarbeiters Wahrheit«. Ich kannte sie kaum. Sie hat uns in Moskau nie besucht, wahrscheinlich wegen politischer Differenzen mit meinem Vater, der nicht an den Kommunismus glaubte und leicht aggressiv wurde, wenn man ihn darauf ansprach. Um seine Karriere in Gang zu setzen, hatte er mehrmals versucht, der Kommunistischen Partei beizutreten, und war jedes Mal abgelehnt worden mit der Begründung, er glaube nicht an die Ideen des Kommunismus und würde doch nur an seine Karriere denken.

Diese Unterstellung brachte meinen Vater stets auf die Palme, zumal sie der Wahrheit entsprach. In der Vorstellung meines Vaters glaubte kein Mitglied der Partei an irgendwelche Ideen. Sie gehörten alle aus merkantilen Interessen dieser Organisation an, bezichtigten aber ausgerechnet ihn stets der Hinterhältigkeit. Meine Großtante stellte allerdings ein überzeugendes Beispiel dar, dass mein Vater unrecht hatte. Sie war eine knallharte Kommunistin. Ich erinnere mich an die Postkarten, die wir zu jedem sozialistischen Feiertag von ihr bekamen. Sie waren in einer perfekten Schreibschrift, aber in einer unmenschlichen Sprache geschrieben, als wären sie keine Liebesgrüße an die Verwandtschaft, sondern Regierungsgrüße an das Volk, zum lauten Vorlesen von einer hohen Tribüne bestimmt. Meine Großtante gratulierte uns nie zu irgendeinem Geburtstag, auch Silvesterkarten blieben aus. Sie meldete sich pünktlich zum Jahrestag der Revolution, zu Lenins Geburtstag und zum Tag der Solidarität der Arbeiterklasse.

»Meine lieben Genossinnen und Genossen«, schrieb sie uns ganz im Ernst, »ich möchte euch allen an diesem frühlingshaften (wahlweise herbstlichen) Tag einen kommunistischen Gruß aus der Bergarbeiterstadt Donezk übermitteln. Die ganze progressive Öffentlichkeit beobachtet mit Herzklopfen unsere Siege in Kohleabbau und Metallurgie, während unser Feind, die gierige Weltbourgeoisie, immer mehr ihr Gesicht verliert. Die Zukunft gehört dem Arbeiter, die Zukunft gehört uns.«

Ich lachte mich schlapp über den übertriebenen Pathos ihrer Postkarten. Mein Vater wurde jedoch grün im Gesicht, wenn er diese Grußbotschaften las. Auf einmal sah er aus wie die gierige Weltbourgeoisie in den Phantasien der Großtante.

Im Kampf gegen die Bourgeoisie hatte sie vergessen, eine Familie zu gründen, war alleinstehend, hatte jedoch viele Freunde. Sie fuhr stets im Auftrag ihrer Zeitung zu irgendwelchen Parteitagen und Kongressen, wo sie mit Journalisten aus anderen Republiken Kontakte knüpfen und Erfahrungen austauschen konnte. Nach einem solchen Parteitag wurde sie schwanger. Sie weigerte sich, eine Auszeit bei der Zeitung zu nehmen, arbeitete weiter, als wäre nichts, und flog im neunten Monat schwanger mit einer Gewerkschaftsdelegation nach Moskau. Auf dem Rückflug setzten die Wehen ein, bei der Landung kam Ilma auf die Welt.

Diese unglaubliche Geschichte hat niemanden im Familienkreis groß gewundert. Meine Großtante galt schon lange als durchgeknallt, von der Realität völlig abgehoben. Es passte zu ihr, auch ihre Kinder in der Luft zu bekommen. Durch das Wunder ihrer Geburt bekam Tochter Ilma, nach der finnischen Göttin der Lüfte benannt, das Recht, umsonst in jede Richtung zu fliegen – innerhalb der Grenzen ihrer Heimat, der Sowjetunion, versteht sich.

Ilma hatte den marxistischen Glauben ihrer Mutter nicht geerbt. Ihr Leben lang arbeitete sie in einem Betrieb in Donezk, der Staubsauger produzierte: Möwe I und Möwe II. Und sie flog jedes Wochenende irgendwohin. Anders als ihre Mutter war sie oft bei uns zu Besuch, einfach so, um ein paar freie Tage in der Hauptstadt zu verbringen. »In der Luft Geborene halten es am Boden nicht lange aus«, witzelte sie, wenn wir nach dem Ziel ihrer Reise fragten. Uns hat sie ab und zu einen Staubsauger als Geschenk mitgebracht. Sie waren super. Sämtliche Betriebe in der Sowjetunion produzierten in erster Linie Kriegstechnik, alles andere war bloß eine Nebenproduktion zur Tarnung, entstanden aus den Resten der Militärproduktion. Auch die Staubsauger Möwe I und Möwe II, die wir von Tante Ilma bekamen, konnte man als Kriegsgerät einsetzen. Sie hatten eine unglaubliche Saugkraft. Als Kind experimentierte ich viel damit. Mit Möwe I konnte man vom Zimmer aus die Tauben vom Balkon einsaugen. Mit Möwe II gelang es sogar, aus zwei Metern Entfernung eine ausgewachsene Katze rückwärts durch die Wohnung anzusaugen.

Das Leben ging weiter, die Zeit verging wie im Flug. Die alte Kommunistin wurde in Rente geschickt und bekam als Auszeichnung für ihre langjährige Arbeit einen Dank und eine wertvolle Bleikristallvase vom Kollektiv ihrer Zeitung geschenkt. Meine Großtante wollte aber nicht in Rente gehen, sie wollte weiter den Sozialismus aufbauen. Die Kollegen wollten sie aber unbedingt los sein. Bei der Verabschiedung kam es daraufhin zu einem Streit, und in einem Wutanfall schmiss sie die wertvolle Bleikristallvase auf den Boden. Die Vase zerbrach in Millionen kleine Kristalle, die nicht einmal von Möwe II eingesammelt werden konnten. Noch Monate danach knirschte es unter den Füßen der Redakteure.

Die Großtante musste nach Hause, und der Sozialismus schritt ohne sie weiter von einem Sieg zum nächsten, aber nicht mehr lange. Auf einmal stolperte er, flog auf die Nase, und niemand war da, um ihn wieder auf die Beine zu stellen. Die Sowjetunion zerbrach wie die Bleikristallvase, jede Republik erklärte sich für unabhängig. Die verdiente Rentnerin der Sowjetunion verfluchte Gorbatschow und wanderte nach Bielefeld aus. Ilma aber blieb in Donezk, allein in der großen Dreizimmerwohnung ihrer Mutter, direkt am Hauptplatz der Stadt mit Blick auf ein Lenin-Denkmal. Wie ihre Mutter hatte sie keine Familie gegründet. Ihr Betrieb ging irgendwann pleite, da sich die Produktion von Staubsaugern, wie überhaupt fast jede Produktion, im Wildkapitalismus nicht mehr lohnte. Ilma arbeitete daraufhin in kleinen Geschäften als Verkäuferin, guckte Fernsehserien und langweilte sich im Großen und Ganzen.