Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein - Wolfgang Huber - E-Book

Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein E-Book

Wolfgang Huber

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Beschreibung

Kein kirchliches Fest, kein politisches Ereignis, kein gesellschaftlicher Diskurs in den vergangenen Jahren, zu dem in der Öffentlichkeit nicht die klare Stimme Wolfgang Hubers zu hören gewesen ist. Er hat seiner Kirche nicht nur einen mutigen, wenn auch schmerzhaften Reformprozess verordnet, positionierte sich nicht nur in wichtigen gesellschaftlichen Fragen wie dem Sonntagsschutz oder dem verantwortlichen Umgang mit Ressourcen – nein, vor allem in den großen Fragen des Menschseins zeigte sich zunehmend seine nachdenkliche Frömmigkeit.

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WOLFGANG HUBER

GOTTES WORT HALTEN, LIEBE ÜBEN UND DEMÜTIG SEIN VOR DEINEM GOTT

PREDIGTEN

Inhalt

Cover

Titel

Vorwort

Wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube

Hebräer 10,19–25 * 1. Advent

Große Freude allem Volk

Lukas 2,1–14 * Heiligabend

Gott nimmt Wohnung

2. Samuel 7,4–6.11–14 * Heiligabend

Vertrauen auf Gottes schöpferische Kraft

Lukas 18,27 * Neujahr

Vom Wein der Lebensfreude

Johannes 2,1–11

Führe uns nicht in Versuchung!

Matthäus 4,1–11 * Invocavit

Des Herrn Wort bleibt ewig

Jesaja 40,8 * Oculi

Ein Stein zieht große Kreise

Markus 12,41–44 * Oculi

Säen müssen wir alle

Johannes 12,23–26 * Laetare

Es ist gut für euch, dass ich weggehe

Johannes 19,16–30 * Karfreitag

Nun soll mir nicht mehr grauen

Johannes 20,11–18 * Ostersonntag

Ich sehe was, was du nicht siehst

1. Samuel 2,1–2.6–8a * Ostersonntag

Heilsame Diskretion

Lukas 24,36–45 * Ostermontag

Marta und die Option für das Leben

Johannes 11,25–27

Christus bei uns

Epheser 1,20b–23 * Himmelfahrt

Ruf nach vorwärts

Johannes 14,6 * Pfingstsonntag

Feuer fangen

4. Mose 11,11–17.24–25 * Pfingstsonntag

Ich bin ein Gast bei dir

Psalm 39

Finsternis ist wie das Licht

Psalm 139

Ungeduldig, zupackend, auf Sensationen aus

Matthäus 17,1–9

Moderat und nicht zancksüchtig

Epheser 1,3–14 * Sonntag Trinitatis

Die königliche Hochzeit

Matthäus 22,1– 14 * 2. Sonntag nach Trinitatis

Erwählt aus Liebe

5. Mose 7,6– 12 * 6. Sonntag nach Trinitatis

In Verantwortung vor Gott und den Menschen

Römer 6,1–11 * 6. Sonntag nach Trinitatis

Der Mensch auf Reise, Gott zur Seite

Jesaja 43,1–7 * 6. Sonntag nach Trinitatis

Alltagskultur und Glaube

Apostelgeschichte 6,1–7 * 13. Sonntag nach Trinitatis

Die Jakobsleiter

1. Mose 28,10–19a * 14. Sonntag nach Trinitatis

Werft euer Vertrauen nicht weg!

Hebräer 10,35–36.39 * Diakoniesonntag

Ohne Ansehen der Person

Jakobus 2.1–13 * 18. Sonntag nach Trinitatis

Segen und Lob sind eins

2. Korinther 9,6–15 * Erntedankfest

Mission beginnt im Alltag

Matthäus 28,16–20 * 20. Sonntag nach Trinitatis

Glaubenscourage und Gottes freie Gnade

Römer 3,21–28 * Reformationstag

Raum der Barmherzigkeit

Judas 2

Mut aus der Zukunft

Lukas 17,20–24 * Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Hiobsbotschaften und Bewahrungsgeschichten

Hiob 14,1– 12 * Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres

Umkehr zu verantworteter Freiheit

Offenbarung 3,14–22 * Buß- und Bettag

Protestation gegen den Tod

Offenbarung 21,1–7 * Ewigkeitssonntag

Verzeichnis der Bibelstellen

Der Autor

Impressum

VORWORT

Gegen Ende von Wolfgang Hubers Amtszeit als Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nahm das Vorhaben konkrete Gestalt an, eine Auswahl seiner Reden und Predigten aus den Jahren 2003 bis 2009 zu veröffentlichen. In den Planungsgesprächen wurden von vornherein beide Gattungen in den Blick genommen: Reden und Predigten. Mit der Gattung der Rede kennt er sich aus wie wenig andere. Reden gehören in die Welt der Universität – und der Politik. Insofern ist Wolfgang Hubers weit gespannte Vortragstätigkeit nicht ganz unbeteiligt an der Entstehung des Klischees, an ihm sei ein Politiker verlorengegangen. In dieser Formulierung stimmt das sogar. Das Klischee verkennt aber die Leidenschaft, mit der er Prediger des Evangeliums, Seelsorger und Hirte geworden ist. Mit der Wahl ins bischöfliche Amt hatte er sich neuen Herausforderungen zu stellen, und so sind Predigten (und Andachten!) nicht weniger als Reden ein Markenzeichen seiner Tätigkeit als Bischof und Vorsitzender des Rates der EKD geworden. Die in den hier vorgelegten Band aufgenommenen Predigten machen das deutlich.

Predigten sind lebendige Stimme des Evangeliums. Wenn sie jedoch aus dem aktuellen Vollzug im Kontext des Gottesdienstes und des Kirchenraums, die ihrerseits mitpredigen, herausgelöst, auf ihre gedruckte Fassung festgelegt und vervielfältigt werden, verändern sie ihren Charakter. Dennoch − gedruckte Predigten behalten etwas von ihrer ursprünglichen Aura und Bestimmung. Auch sie wollen Glauben wecken, stärken und fördern. Und wenn sie darüber hinaus maßstabsetzend wirken und die Urteilskraft der Gemeinde, der Mitglieder des Kirchenvorstandes und anderer Prediger schulen, umso besser.

Dass die Predigt als lebendige Stimme des Evangeliums ihren genuinen Ort im Gottesdienst hat, ergibt sich für Wolfgang Huber noch aus einem anderen Überlegungsgang: Wenn „der christliche Glaube für die Menschen, die zu ihm bisher keinen Zugang haben, in seiner Lebendigkeit und Lebensdienlichkeit verständlich werden soll, muss er soziale Plausibilität gewinnen“. Darum besteht die Aufgabe der Kirche auch „darin, die Sozialformen des christlichen Glaubens zu erneuern. Der Gottesdienst ist die grundlegende Sozialform des christlichen Lebens. Das gemeinsame Hören, das gemeinsame Loben und Klagen, die gemeinsame Teilhabe am Heiligen und die Sendung in die Welt bilden den Kern der Kirche als Gemeinschaft“ (W.H., Kirche in der Zeitenwende, 1998, S.12f.).

So war es für Wolfgang Huber in seinem Amt als Bischof selbstverständlich, regelmäßig zu predigen. Das hat es leicht und schwer zugleich gemacht, diesen Band mit seinen Predigten zusammenzustellen: leicht, weil sehr viele Predigten zur Verfügung stehen, schwer, weil eben dies die Qual der Wahl im Gefolge hat. Als Wegbegleiter habe ich mich oft gewundert, woher er die Zeit nahm, sich auf diese Predigt und jene Andacht vorzubereiten. Zu den Gaben, mit denen Gott ihn reich gesegnet hat, gehören nicht nur ein wacher Intellekt und große sprachliche Kraft, sondern − verbunden mit protestantischer Arbeitsdisziplin − auch eine ungewöhnliche Ausdauer und Belastbarkeit. Mit ihm zusammenzuarbeiten ist ein großes Privileg − vorausgesetzt, man vergleicht sich nicht mit ihm.

Dass Wolfgang Huber mit gleicher Leidenschaft als Redner und Prediger gewirkt hat, sagt nicht nur etwas über seine Person, sondern auch über das Amt des Vorsitzenden des Rates, das er sechs Jahre bekleidet hat. Weithin ist unbekannt, dass die Grundordnung der EKD keineswegs vorschreibt, dass der Vorsitzende des Rates ordinierter Geistlicher sein muss. Dennoch ist es seit 1945 noch kein einziges Mal anders gewesen. Und das hat einen starken Grund: Nach evangelischem Verständnis ist die Kirche zu bestimmen als die „Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden“. So sagt es das Augsburger Bekenntnis von 1530 in seinemVII. Artikel. „Beide, Glaube und Glaubensgemeinschaft, verdanken sich dem sich in der Verkündigung des Evangeliums und in den Sakramenten manifestierenden Wort Gottes.“ Darum sind im reformatorischen Verständnis die rechte Verkündigung des Evangeliums und die evangeliumsgemäße Feier der Sakramente „die ‚Kennzeichen der wahren Kirche‘… Mit ihnen ist der Auftrag gegeben, den die Kirche zu erfüllen hat“ (Kirchengemeinschaft nach evangelischem Verständnis, EKD-Texte 69, 2001, S.5–7). Es macht symbolisch einen großen Unterschied, ob der oder die Vorsitzende des Rates selbst das Amt ausübt, durch das sich der Leib Christi aufbaut, oder ob dies nicht der Fall ist. Reden mögen brillant sein, wie sie wollen. Aber sie schaffen weder Glauben noch Glaubensgemeinschaft. Der Vorsitzende des Rates stellt, indem er das Amt der öffentlichen Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung gemäß Artikel XIV des Augsburger Bekenntnisses auch selbst ausübt, in seiner Person die Grundkoordinaten einer reformatorischen Lehre von der Kirche dar.

Im heutigen Verständnis der Predigt kreuzen sich zwei unterschiedliche Traditionslinien. Zum einen schafft sie als Verkündigung des Evangeliums Glauben und Glaubensgemeinschaft. Zum anderen ist sie Zeitansage und Lebensorientierung. Das eine darf das andere nicht ersetzen. Wolfgang Hubers Predigten erfüllen diese Erwartung. Sie sind aktuell, ohne dafür die Verkündigung des Evangeliums unter den Tisch fallen zu lassen, und sie kommen der Aufgabe nach, das Evangelium zu verbreiten, ohne die Erwartung eines Wortes in die aktuelle Situation hinein zu enttäuschen.

Der Titel des Bandes ist dem Buch des Propheten Micha (6,8) entnommen. Wolfgang Huber hat diesen Vers in seiner Predigt über Apostelgeschichte 6,1–7 als Zusammenfassung dessen benutzt, was Gott von uns erwartet: „nämlich nach einem prophetischen Wort: Gottes Wort halten, Liebe üben und demütig sein vor deinem Gott“ (S.161). So lautet die Stelle in Luthers großartiger Bibelübersetzung. Gerade in diesem Fall freilich lohnt es sich, zugleich im Sinn zu haben, wie heutige Bibelwissenschaftler die Stelle übersetzen: „Recht üben, Freundlichkeit lieben und aufmerksam mitgehen mit deinem Gott“.

Dass dieser Band zustande gekommen ist, haben wir – neben dem Autor, der alle Texte noch einmal durchgesehen hat – insbesondere drei Personen zu verdanken: Dr.Elke Rutzenhöfer von der Programmleitung der edition chrismon, die an das Projekt „geglaubt“ und es so durch alle Schwierigkeiten hindurch ins Ziel gebracht hat, Arnd Brummer, dem Chefredakteur von chrismon, der ausdauernd dafür geworben hat, den Schatz zu heben, der uns mit den Reden und Predigten von Wolfgang Huber anvertraut ist, schließlich Oberkonsistorialrat Dr.Christoph Vogel, der als Persönlicher Referent Wolfgang Hubers in der Zeit als Vorsitzender des Rates die nötige Detailkenntnis besaß, um die Texte zeitlich einzuordnen und eine überzeugende Auswahl vorzunehmen.

Mit Wolfgang Huber verbindet mich eine zwölfjährige, immer intensiver gewordene Zusammenarbeit, Weggenossenschaft und Freundschaft. Darum habe ich mich über den Wunsch sehr gefreut, ein Vorwort beizusteuern, und tue das gern.

Dieses Vorwort ist schließlich eine willkommene Gelegenheit, Wolfgang Huber noch einmal für alles zu danken, was er in der EKD und für sie auf den Weg gebracht hat, dem vorliegenden Band eine interessierte und dankbare Leserschaft zu wünschen und empfehlend auf den Band mit Reden (unter dem Titel: „Das Netz ist zerrissen und wir sind frei“) hinzuweisen.

HANNOVER, IM FEBRUAR 2010

DR. HERMANN BARTH, PRÄSIDENT DES KIRCHENAMTES

PREDIGTEN

Wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube

HEBRÄER 10,19–25

Da hält mir jemand die Tür auf, so voll bepackt wie ich bin mit Reisegepäck, Mantel und Blumen im Arm. Eine freundliche und aufmerksame Geste.

Während der Berlinale öffnet ein junger Mann jeweils die Tür der anrollenden Luxuslimousinen, damit die Stars ohne Mühe auf den roten Teppich hinaus in das Blitzlichtgewitter gleiten können. Eine sehr begehrte Dienstleistung, wenn auch nur für ein paar Tage.

Da hilft eine Hebamme der erschöpften jungen Frau im Morgengrauen bei der Geburt ihres Kindes. All ihr Können und ihre Erfahrung setzt sie dabei ein und vermeidet so dramatische Komplikationen. Dann ist das Baby da, die Nabelschnur wird durchtrennt und der erlösende Schrei erklingt. Der Weg ist frei für den neuen Anfang.

Da begegnet einem fünfzigjährigen, in all den Jahren zynisch gewordenen Menschen Jesus Christus selbst und die Güte kehrt in sein Antlitz zurück. Alles erhält einen Sinn und fügt sich auf unerwartete Weise zusammen.

Von Jesus Christus sagt der Hebräerbrief, dass er den Vorhang bei Seite schiebt, das größte denkbare Geheimnis lüftet und uns den direkten Zugang zu Gott eröffnet. Hören wir auf den Hebräerbrief:

WEIL WIR DENN NUN, LIEBE BRÜDER, DURCH DAS BLUT JESU DIE FREIHEIT HABEN ZUM EINGANG IN DAS HEILIGTUM, DEN ER UNS AUFGETAN HAT ALS NEUEN UND LEBENDIGEN WEG DURCH DEN VORHANG, DAS IST: DURCH DAS OPFER SEINES LEIBES, UND HABEN EINEN HOHEN PRIESTER ÜBER DAS HAUS GOTTES, SO LASST UNS HINZUTRETEN MIT WAHRHAFTIGEM HERZEN IN VOLLKOMMENEM GLAUBEN, BESPRENGT IN UNSERN HERZEN UND LOS VON DEM BÖSEN GEWISSEN UND GEWASCHEN AM LEIB MIT REINEM WASSER. LASST UNS FESTHALTEN AN DEM BEKENNTNIS DER HOFFNUNG UND NICHT WANKEN; DENN ER IST TREU, DER SIE VERHEISSEN HAT; UND LASST UNS AUFEINANDER ACHTHABEN UND UNS ANREIZEN ZUR LIEBE UND ZU GUTEN WERKEN UND NICHT VERLASSEN UNSRE VERSAMMLUNGEN, WIE EINIGE ZU TUN PFLEGEN, SONDERN EINANDER ERMAHNEN, UND DAS UMSO MEHR, ALS IHR SEHT, DASS SICH DER TAG NAHT. 

Der Vorhang, um den es geht, ist der berühmte und kostbare Stoff, der vor zweitausend Jahren im Jerusalemer Tempel hing. Dieser Vorhang soll schwer gewesen sein, ein wunderbar gewebtes Stück Stoff: Purpur, Weiß und Scharlachrot waren die Farben; eingewebt sah man zwei geflügelte Wächter, groß und majestätisch. Dieser Vorhang trennte einen besonderen Raum des Tempels vom Rest des heiligen Bezirks. Der Vorhang versperrte den Zugang zum Allerheiligsten, zur Wohnung Gottes. Nur einer durfte den Vorhang zur Seite schieben, und auch das nur einmal im Jahr. Erst nach ausgiebigen Ritualen der Reinigung durfte der Hohepriester diese Grenze überschreiten. NICHTS UNHEILIGES oder Schmutziges, nichts Unangenehmes oder Unreines sollte Gott beleidigen. Gottes Herrlichkeit war zu furchtbar, zu groß, zu verzehrend, als dass ein normaler Sterblicher sie aushalten würde.

Die römische Besatzungsmacht nahm die Verehrung des unsichtbaren Gottes im Jerusalemer Tempel nicht ernst. Dafür kannte man in Rom wie im ganzen römischen Reich zu viele Tempel und zu viele Gottheiten. Bereits im Jahre 63 vor Christi Geburt schockierte der römische Feldherr Pompeius die Einwohner Jerusalems, indem er sich Zutritt ins Allerheiligste verschaffte. Er demonstrierte seine Macht, indem er den Tempel entweihte. Als das jüdische Volk mehr als ein Jahrhundert später in einem bewaffneten Aufstand gegen die römische Besatzungsmacht aufbegehrte, ging der gesamte Tempel in Flammen auf. Bis auf die Grundmauern brannte er nieder. Seit diesen Ereignissen gibt es in Jerusalem weder einen abgesonderten Tempelbezirk noch einen Vorhang, der das Allerheiligste vom Profanen trennt. Aber eine Sehnsucht ist geblieben, die jeder spürt, der heute Jerusalem besucht.

Das alles schwingt mit, wenn Jesus über den Jerusalemer Tempel sagt: SIEHST DU DIESE GROSSEN BAUTEN? NICHT EINSTEIN WIRD AUF DEM ANDERN BLEIBEN, DER NICHT ZERBROCHEN WERDE. Und unvergesslich ist es, wie nach dem Bericht des Matthäusevangeliums der Vorhang vor dem Allerheiligsten genau in dem Moment von oben bis unten in zwei Stücke zerreißt, in dem Jesus am Kreuz auf Golgatha stirbt.

Der Vorhang hat sich nicht von selbst beiseite geschoben. Dazu brauchte es die Hingabe Jesu Christi. Dadurch verwandelt sich die Angst vor der Nähe Gottes Schritt für Schritt in Erleichterung und Freude. Es kommt ja kein gnadenloser Scharfrichter, sondern mein Fürsprecher. Ich muss mich nicht zu Tode schämen. Jesus hat sich für mich in den Tod gegeben. Mein Elend und Deine Scham und die Schuld der anderen hat er mitgenommen ans Kreuz. Dort hat er Gott und Welt zusammengebracht. Versöhnt hat er sie. Der Vorhang ist weg. Der Weg ist frei. Ich kann Gott finden in meinem Leben, bei Dir und auch dort, wo es eigentlich nicht passt. Um diesen freien Weg geht es im Advent; auf ihn bereiten wir uns vor; staunend stehen wir davor.

Die Wochen des Advent laden uns nicht nur dazu ein, besinnlich zu werden, sondern zur Besinnung zu kommen. Gerade an den Adventssonntagen kann uns deutlich werden, dass unser Weg zu Gott unverstellt ist. Niemand verlangt von uns, dass wir vor unser Herz eine Kette hängen, die uns die Freiheit raubt, den Sonntag zur Begegnung mit Gott zu nutzen. Dass wir nicht auch noch die Sonntage dem Kommerz ausliefern, ist ein Zeichen dafür. Jeder kann dieses Zeichen setzen. Wie also wollen wir Gott begegnen? Der Hebräerbrief antwortet: SO LASST UNS HINZUTRETEN MIT WAHRHAFTIGEM HERZEN IN VOLLKOMMENEM GLAUBEN, BESPRENGT IN UNSERN HERZEN UND LOS VON DEM BÖSEN GEWISSEN UND GEWASCHEN AM LEIB MIT REINEM WASSER.

Das sind starke Bilder: BESPRENGT IN UNSERN HERZEN, GEWASCHEN AMLEIB, WAHRHAFTIGES HERZ, VOLLKOMMENER GLAUBE. Anspruchsvoll klingt das, aber auch würdig. Gott naht sich, darum diese hohe Sprache. An die Taufe klingt sie an, daran ist kein Zweifel. In ihr verwirklicht sich die Zugehörigkeit zu Gott. Gottes Ja wird in ihr laut, bevor wir irgendein Ja sprechen können. Deshalb taufen wir auch in dieser Kirche, auch am heutigen Tag, und freuen uns, wenn Kinder und Erwachsene das Ja Gottes zu ihrem Leben hören und spüren.

In diesen Adventswochen können wir uns prüfen, ob der Geist der Taufe neu in uns lebendig wird: Besprengt in unsern Herzen, gewaschen am Leib, wahrhaftiges Herz, vollkommener Glaube. Ein wahrhaftiges Herz bleibt nicht in sich verschlossen. Es ist für Gott und den Nächsten offen. Es erkennt die Not und die Liebe, die nötig ist. Deshalb ist es gut, dass wir pünktlich zur Adventszeit damit beginnen, mehr als sonst an andere zu denken.

Der Advent Gottes ebnet sich Bahn. Er tut es in vielfältigen Formen. Mit diesem Ersten Advent beginnt zum 49.Mal die Aktion „Brot für die Welt“, die weltweite Hilfsaktion der evangelischen Kirchen. In diesem Jahr treten vor allem die Kleinbauern in den Blick. Mit den Spenden dieses Jahres soll unter anderem in Mittelamerika ein Selbsthilfenetzwerk von Kleinbauern entstehen. Die Bauern stärken sich wechselseitig und lernen voneinander. Sie entwickeln Strategien, um nachhaltig und rentabel für die lokalen Märkte anzubauen. Es geht dabei nicht nur um wirtschaftliche Argumente. Es geht um Gerechtigkeit. Es geht um die Zukunft der Armen; deren Anwalt ist nach christlicher Überzeugung Gott selbst.

Der Advent Gottes ebnet sich seine Bahn. Manchmal kommt er sogar in Uniform und bricht die Wohnungstür auf. Er befreit ein verwahrlostes Mädchen aus den Fängen ihrer eigenen Eltern und beendet die Zeit der Finsternis und der Angst. Der Advent Gottes zieht den Vorhang des Schweigens weg und rettet, was zu retten ist.

Der Advent Gottes war vor einigen Tagen siebzehn Jahre alt und weiblich. Er ereignete sich im sächsischen Mittweida. Eine junge Frau half einem sechsjährigen Spätaussiedlermädchen, das von vier Männern herumgeschubst wurde, und beschützte es durch ihren Mut. Sie forderte die Männer auf, das Kind in Ruhe zu lassen. Daraufhin warfen die Täter die Siebzehnjährige zu Boden. Während drei Täter die Jugendliche festhielten, schnitt der vierte ihr mit einem skalpellähnlichen Gegenstand ein Hakenkreuz in die Hüfte. Zudem versuchte er, der jungen Frau eine Rune in die Wange zu schneiden. Dies habe er jedoch wegen der heftigen Gegenwehr der Siebzehnjährigen nicht geschafft, stellte die Polizei fest.

Der Advent Gottes ist stark und anspruchsvoll. Da gibt es nichts zu verniedlichen. Der Weg ist gebahnt. Nicht wir, nicht ich habe ihn gebahnt. Er ist gebahnt worden. Wir brauchen nur noch hineinzugehen. Doch wehe denen, die sich Gott in den Weg stellen. Wehe den Gewalttätern! Wehe denen, die schweigend hinter den Gardinen zusehen, ohne die Polizei zu rufen! Wehe denen, die den Gewalttätern auch nur einen Zentimeter Boden kampflos überlassen.

Es geht um das Festhalten am Glauben. So wie sich einer festhält, der abzustürzen droht. Festhalten können wir nur, wenn wir uns gegenseitig Halt geben und wenn wir uns gemeinsam an Gottes Wort orientieren.

Wir feiern heute den Ersten Advent. Die Tür öffnet sich zu einem neuen Kirchenjahr, zu einem neuen Jahr des Heils. Wir kommen aus den dunklen Novembertagen. Aber nun beginnt etwas Neues. Wir gehen auf Weihnachten zu, auf das Erscheinen Gottes in einem Kind. Schritt für Schritt gehen wir zu dem geöffneten Vorhang. Und wenn wir in den Raum hinein schauen, sehen wir den großen Gott in diesem kleinen Kind. Das Göttliche macht Rast im Normalen, auch in Menschen, die kein Monumentalformat haben. Nicht groß und unnahbar, sondern zart und verletzlich. Klein und zart wie er ist, will er zu mir kommen und bei mir wohnen.

Der Vorhang ist weggezogen; Tür und Tor stehen offen. Gott kündet sein Kommen an. Deshalb wird auch die Welt neu werden. Tretet ein, haltet fest und achtet aufeinander.

Die Adventszeit ist eine Zeit der Achtsamkeit. Da werden sorgsam Adventskalender geöffnet und Geschenke ausgesucht. Die Tage sind voller Festvorbereitungen und Geheimnisse. Eine eigenartige Gespanntheit ergreift uns, Dich und mich. Die Adventszeit ist beispielhaft für das, was möglich ist im wandernden Gottesvolk.

So wie von heute an können wir immer miteinander leben. Dann ist Advent nicht nur im Dezember. Auch in anderen Zeiten des Jahres können wir achtsam miteinander umgehen.

Offenbar gehört es zur Hoffnung, dass man sie mit anderen teilt, dass man andere sieht und nicht ohne sie leben will. Viele Menschen sind auf dem Weg zu den Andern. Sie achten auf ihre Mitmenschen. Sie besuchen einander, sie basteln miteinander, sie beten füreinander. KOMM, O MEIN HEILAND JESU CHRIST, MEINS HERZENS TÜR DIR OFFEN IST. 

1.Advent, 2.Dezember 2007, St.

Große Freude allem Volk

LUKAS 2,1–14

I. 

„Kann die christliche Weihnachtsbotschaft auch Nichtgläubigen Mut machen?“ Diese Frage wurde mir vor kurzem gestellt.

Welche Vorstellung war wohl mit dieser Frage verbunden? Liegt ihr die Meinung zu Grunde, dass die frohe Botschaft der Engel nur bei Kirchengeübten auf Verständnis stößt? Die Fülle der Teilnehmer an diesem Gottesdienst und ebenso die zunehmende Zahl derer, die heute in Berlin und im ganzen Land das Evangelium der Weihnacht hören wollen, sprechen eine andere Sprache. Oder meinte die Fragestellerin, dass die christliche Weihnachtsbotschaft von sich aus alle Grenzen überschreitet – auch die Grenzen zwischen Glaubenden, Suchenden oder selbst Ungläubigen? Solche Grenzüberschreitungen schildert uns schon die Weihnachtsgeschichte selbst. Die Botschaft des Friedens und der Freude, die sich mit dem neu geborenen Kind verbindet, erreicht selbst die Hirten auf dem Feld und wird bald Weise aus dem Morgenland herbeilocken. Ähnlich klingt diese Botschaft auch heute über Stadt und Land. Weihnachtliche Orientierung wird gesucht in einer Zeit, in der das Wort „Krise“ zu einer der am meisten gebrauchten Vokabeln geworden ist. Gerade heute wird es gebraucht, das trotzige und zuversichtliche: FÜRCHTET EUCH NICHT. 

Die Frage, ob die Weihnachtsbotschaft auch Nichtgläubigen Mut machen kann, findet im Weihnachtsevangelium selbst ihre Antwort. DerEngel des Herrn gibt sie. Er ruft:FÜRCHTET EUCH NICHT! DENN SIEHE, ICH VERKÜNDIGE EUCH GROSSE FREUDE, DIE ALLEM VOLKE WIDERFAHREN WIRD. DAS FÜRCHTET EUCH NICHT! macht nicht Halt an Kirchenmauern und den Türen von Gemeindehäusern. Die Ermutigung FÜRCHTET EUCH NICHT brauchen alle Menschen. Der Unfriede im eigenen Herzen, die fehlende Wärme untereinander, die Suche nach Trost und Zuversicht – in der Botschaft des Engels findet sich die Antwort. In diesem Ruf ist alle Sorge vor der Zukunft aufgehoben und überwunden. Die Botschaft der Weihnacht gilt jedermann. Diese Weite spiegelt sich auch in unseren Weihnachtsgottesdiensten. Alle sind willkommen; die Fülle nehmen wir gern in Kauf. Wir folgen dem Wink der Engel: FÜRCHTET EUCH NICHT! 

II. 

Die Engel weisen auf die Krippe hin: DENN EUCH IST HEUTE DER HEILAND GEBOREN, WELCHER IST CHRISTUS, DER HERR, IN DER STADT DAVIDS. Die Geburt des Kindes nimmt die Hoffnungen und die Sehnsucht der Menschen in sich auf. Es trägt den Kummer der Menschen. Auf ihm ruht die Hoffnung, dass heil wird, was zerbrochen liegt. Es ist der Trost der ganzen Welt. Deshalb ist die Weihnachtsbotschaft für alle Menschen da. Zugleich legt sie den Grund für all das, was die christliche Kirche ist und wirkt. Sie weist aber zugleich über die Grenzen der Kirche hinaus.

Die Botschaft der Engel, deren erste Zeugen die Hirten auf dem Feld sind, richtet sich an ALLES VOLK. Eine Bewegung kommt in Gang, die am Ende der Geschichte Jesu wieder aufgenommen wird, wenn es heißt: MACHET ZU JÜNGERN ALLE VÖLKER, TAUFET SIE UND LEHRET SIE HALTEN ALLES, WAS ICH EUCH BEFOHLEN HABE. Das Evangelium des Friedens soll alle erreichen.

Als Erste aber machen sich Hirten auf, sie wollen das Kind sehen, in dem sich Gottes Nähe zeigt. Im Stall an der Krippe finden sie bereits einen störrischen Esel und einen Ochsen, zwei Tiere, denen der Volksmund nicht gerade herausragende Verstandeskräfte zuspricht. Aber Weise kommen auch, mit einiger Verspätung versteht sich; sie haben schließlich auch einen weiten Weg. Sie kommen auf Umwegen, wie es bei besonders Klugen eben so ist.

Von dieser Krippe, an der sie sich alle versammeln – Tier wie Mensch, Weise wie Arme, zieht sich eine Spur des Gottvertrauens, der Zuversicht und der Solidarität durch die Geschichte. Dass jeder Mensch die gleiche Würde hat, ist ein Kennzeichen dieser Spur. Gegen diese Kennzeichen des christlichen Glaubens wurde immer wieder verstoßen, auch von christlichen Kirchen selbst. Aber sie haben sich immer wieder Gehör verschafft; und dieses Gehör brauchen sie gerade heute.

Auf diesem Boden ist der Gedanke der unteilbaren Menschenrechte gewachsen; vor sechzig Jahren hat er in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ Gestalt gewonnen. Auch sie gelten allen; niemand ist davon ausgenommen. Aber für diese unteilbare Bedeutung der Menschenrechte müssen wir auch, ja gerade heute kämpfen: dort, wo Menschen ins Dunkel der Armut gedrängt, mit Gewalt bedroht oder in ihrer Freiheit eingeschränkt werden.

Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft hätte kaum formuliert werden können ohne ein christliches Verständnis von Gerechtigkeit. Die christliche Verhältnisbestimmung von Freiheit und Verantwortung prägt bis auf den heutigen Tag die Wertvorstellungen unserer Gesellschaft. Deshalb treten wir energisch einem Verhalten entgegen, das persönliche Freiheit ausnutzt und persönliche Verantwortung vernachlässigt. Denn genau dieses Verhalten hat unsere Welt in eine tiefe Krise gestürzt. Dass „Verzocken“ zu einem der Unworte dieses Jahres gewählt wurde, zeigt, von welcher Denkweise wir uns abwenden müssen.

Die wachsende wirtschaftliche Unsicherheit führt in diesen Weihnachtstagen eine nachdenkliche Stimmung herbei. Viele sorgen sich um ihre Zukunft. Sie fragen sich, was das kommende Jahr für sie bereithält. Meine Sorge gilt ganz besonders denen, die in wachsender Zahl an den Türen der Suppenküchen oder an den Ausgabestellen von „Laib und Seele“ warten, die auf eine Mahlzeit bei der Armentafel hoffen, weil sie sich anderes schlicht nicht leisten können. Vor allem Kinder gehören in einem beängstigend hohen Maß dazu.

Sehr herzlich danke ich all denen, die sich für die Armen in unserer Stadt und in unserem Land einsetzen, die auch heute, in der Heiligen Nacht, ihre Kraft und ihre Zeit in vielfältiger und phantasievoller Weise einbringen, damit andere die Freude der christlichen Weihnacht erleben können.

Aber solche Hilfe muss auch über den Tag hinausreichen. Wir müssen denen, die an den Rand gedrängt sind, wieder den Weg dazu öffnen, dass sie am Leben der Gesellschaft teilnehmen und mit eigener Kraft ihren Lebensunterhalt erwerben können. Stärker noch als unsere Unruhe über die wirtschaftliche Entwicklung muss die Unruhe sein, mit der wir gerade heute für eine gerechte Beteiligung aller eintreten.

III. 

Die Weihnachtsbotschaft enthält eine Wahrheit, die für alle Menschen gut und heilsam ist. Gott zeigt sich als Mensch unter Menschen. Wer in Dunkelheit und Leid nach einem Strahl der Hoffnung sucht, findet ihn in dem Licht, in welchem die Krippe erstrahlt. Wer merkt, dass er Freude und Friede nicht selbst schaffen kann, birgt sich in der Botschaft der Engel, dass Gottes Friede und die Freude über die Geburt des Gottessohns höher sind als all unsere menschlichen Versuche, Frieden auf Erden werden zu lassen.

Deshalb wird diese Botschaft wieder und wieder besungen und gemalt. Aber es werden aus ihr auch Konsequenzen gezogen. Zu ihren Wirkungen gehören nicht nur Weihnachtsbilder und Weihnachtslieder. Zu diesen Wirkungen gehört die gelebte Nächstenliebe im Alltag ebenso wie das Wirken der Diakonie und die weltweite christliche Solidarität, für die wir in diesem Jahr zum fünfzigsten Mal die Aktion „Brot für die Welt“ durchführen. Die weihnachtliche Zuversicht ist die Quelle der uneigennützigen Hilfe, ohne die unsere Gesellschaft wirklich arm dran wäre. Auch unsere Kinder und Enkel sollen in der kulturellen Welt des Christentums, auch in der Kultur des Helfens, heimisch werden – diese Hoffnung bestimmt uns gerade an Weihnachten.

IV. 

Die Schlichtheit und die Armut, die den Stall von Bethlehem kennzeichnen, machen deutlich, dass der Friede auf Erden nicht auf materiellem Wohlstand beruht. Hirten wie Könige, Arme wie Machtvolle beugen ihre Knie an der Krippe. Sie richten sich auf Gott aus. Sie hören auf den Gesang der Engel. Die Gemeinschaft im Namen Gottes an der Krippe weist darauf hin, was das Leben auch in seinen Brüchen und an seinen Abgründen trägt. Sie weckt die Bereitschaft, sich miteinander auf den Weg des Friedens zu machen. Wir können einander zum Halt werden, weil Gott selbst uns hält.

Wir lassen uns leiten von dem Stern, der auf die Krippe Jesu weist. Denn wir spüren, dass das Leuchten des Sterns von Bethlehem weiter strahlt als noch so schön glitzernde Werbung. Das Licht der Weihnacht stiftet Zuversicht und Hoffnung; lasst uns diesem Licht folgen – gerade in diesem Jahr.

Heiligabend, 24.Dezember 2008, Berliner Dom und St.Marien zu Berlin

Gott nimmt Wohnung

2. SAMUEL 7,4–6.11–14

IN DER NACHT ERGING DAS WORT DES HERRN AN NATHAN, UND ER SAGTE ZU IHM: GEH ZU MEINEM DIENER DAVID UND RICHTE IHM AUS: SO SPRICHT DER HERR: DU WILLST MIR EIN HAUS BAUEN, IN DEM ICH WOHNEN SOLL? SEIT ICH DIE ISRAELITEN AUS ÄGYPTEN HERAUSGEFÜHRT UND IN DIESES LAND GEBRACHT HABE, HABE ICH NOCH NIE IN EINEM HAUS GEWOHNT. BIS HEUTE BIN ICH STETS MIT EINEM ZELT ALS WOHNUNG UMHERGEZOGEN. UND NUN KÜNDIGE ICH, DER HERR, DIR AN, DASS ICH DIR EIN HAUS BAUEN WERDE, NICHT DU MIR! ICH WERDE DAFÜR SORGEN, DASS EINER DEINER SÖHNE DIR AUF DEM KÖNIGSTHRON FOLGT. DER WIRD DANN EIN HAUS FÜR MICH BAUEN, UND ICH WERDE SEINE HERRSCHAFT UND DIE SEINER NACHKOMMEN FÜR ALLE ZEITEN FEST BEGRÜNDEN. ICH WILL SEIN VATER SEIN, UND ER SOLL MEIN SOHN SEIN.

I. 

Dieser Heilige Abend führt uns tief hinein in die Geschichte Jesu. Von einem Auftrag hören wir, der lange vor der Geburt Jesu im Stall von Bethlehem niedergeschrieben wurde. In die Geschichte Davids, des großen Königs auf dem Thron Israels, sehen wir uns versetzt. Nathan, der Prophet, soll David, den König, davon abhalten, ein Haus für Gott zu bauen. Gott will keinen festen Bau für die Bundeslade, sein Treuezeichen für Israel. Er hat eigene Vorstellungen davon, wie er Wohnung nimmt. Mit dem Volk Israel zog er einst aus Ägypten aus: des Tags in einer Wolkensäule, nachts aber in einer Feuersäule. Und für die Bundeslade war nicht mehr nötig als ein Zelt, die sogenannte Stiftshütte. Indem er mitzog, bürgte er dafür, dass das Volk Wohnung haben und Heimat finden sollte. Gott nimmt Wohnung, indem er Wohnung schafft.

Der Gott, der beim Auszug aus Ägypten auf ein festes Dach verzichtet, verwehrt auch dem König David den Plan, ihm ein Haus zu bauen. Der Gott, der sich nicht einmal vom König Israels auf ein Haus einengen oder festlegen lässt, wird Mensch, ohne dass es für ihn in Bethlehem einen Raum in der Herberge gibt. In einer Nacht, in der SIE SONST KEINEN RAUM IN DER HERBERGE HATTEN,nimmt Gott Wohnung unter den Menschen.

Das Christuskind wird unterwegs geboren, während einer Reise seiner Eltern. Nach Bethlehem müssen Maria und Josef ausgerechnet Davids wegen – weil Josef AUS DEM HAUSE UND GESCHLECHTE DAVIDS WAR. Doch königlich ist nichts an ihrer Reise. Nicht einmal ein Zelt für unterwegs; und in Bethlehem nur ein Stall. Ein Futtertrog bietet dem neu geborenen Gotteskind eine Unterkunft, die man wirklich nur dürftig nennen kann. Aber das armselige Obdach erweist sich als Himmel auf Erden für Hirten und für Engel, für Kinder und für Könige, für Arme und für Reiche, für Menschen jeglicher Nationalität. Denn hier nimmt Gott Wohnung, indem er Wohnung schafft. Menschen schöpfen neue Hoffnung. So finden sie eine Bleibe. DIE IHR ARM SEID UND ELENDE,/​KOMMT HERBEI, FÜLLET FREI/​EURES GLAUBENS HÄNDE./​HIER SIND ALLE GUTEN GABEN/​UND DAS GOLD, DA IHR SOLLT/​EUER HERZ MIT LABEN.So dichtet Paul Gerhardt (EG 36,9).

II. 

Die Wohnung und die Weihnacht gehören zusammen. Eine Bleibe braucht man, um zu feiern. In den meisten Familien ist die Wohnung am Heiligen Abend weihnachtlich geschmückt. In ihr treffen sich Eltern und Kinder, Großeltern und Freunde, um sich gemeinsam an der Geburt Jesu Christi zu freuen, um miteinander zu singen und miteinander zu teilen, um gemeinsam zu essen und einander zu erzählen. In vielen Familien wird der Heilige Abend in einer festen Tradition gestaltet. So wie ihn die Eltern und Großeltern begangen haben, feiern ihn auch Kinder und Enkel. Kirche und Wohnung sind die beiden Orte, an denen die weihnachtliche Gewissheit neu wächst: Gott kommt uns nahe; für uns wird er Mensch.

Aber unter uns sind viele, denen ein solcher Ort fehlt. Weihnachten können wir nicht feiern, ohne auch an sie zu denken, an die Kirchenlosen wie an die Wohnungslosen. Die einen sind in der Kirche nicht mehr oder noch nicht wieder heimisch. Und den anderen fehlt für das Dach über dem Kopf die Kraft oder das Geld. Einsame suchen Halt, Traurige Trost, Fragende Antwort. Sie sehnen sich nach einem Ort, an dem sie Gewissheit finden und Hoffnung schöpfen können. Sie suchen nach Gott. Der Wohnung nimmt, indem er Wohnung schafft. Deshalb ist die Krippe ein so wichtiges Symbol. In keiner Kirche und in keiner Wohnung sollte sie in dieser Heiligen Nacht fehlen. Die Krippe steht unter dem Tannenbaum, dreht sich mit einer Weihnachtspyramide oder ist auf einem Fensterbild zu sehen. In der Krippe sehen wir die Wohnung, die kein Mensch uns nehmen kann, weil Gott selbst sie schafft. Mit dem Blick auf die Krippe wissen wir, was uns trägt: die Nähe Gottes.

Wer Wohnung nimmt, will bleiben. So tut es auch Gott. Im Christuskind nimmt Gott Wohnung in der Welt; er tut es, um zu bleiben. Aber das Besondere ist: Er nimmt Wohnung, indem er Wohnung schafft. Er kommt denen entgegen, die ihn suchen. Den Kranken wendet er sich zu wie den Zweifelnden und den Ausgestoßenen. Er gibt ihnen eine neue Bleibe, indem er ihnen den Glauben zuspricht: DEIN GLAUBE HAT DIR GEHOLFEN. 

III. 

Die Suche nach einer Bleibe kann verführerisch sein. Wie gern richten wir uns ein in dem, was bleibt. Wie gern verwenden wir alle Kraft darauf, in dem zu bleiben, was uns vertraut ist. Angst vor Veränderung: So kann man ein Grundthema des zu Ende gehenden Jahres beschreiben. Die Debatten um anstehende Reformen haben einen Veränderungsbedarf wie einen Veränderungsdruck deutlich gemacht, auf den viele Menschen mit Unsicherheit und Sorge reagieren. Von sozialem Abstieg, vielleicht sogar von Entwurzelung fühlen sie sich bedroht. Und manche fragen sich, ob sie ihre Bleibe behalten können oder eher in einer Absteige landen, weil anderes in der Hilfe zum Lebensunterhalt nicht mehr vorgesehen ist, auf die ihre Ansprüche sich reduzieren. Bei manchen gehen Entwurzelung und Heimatlosigkeit noch weiter. Dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, ist kein Trost für den, dem das Brot fehlt. „Mit LAIB und Seele“ müssen wir einer wachsenden Zahl von Menschen helfen. Gestern haben wir in Berlin mit einer Aktion begonnen, die diesen Namen trägt: „Mit LAIB und Seele“. Und den LAIB schreibt man in diesem Fall mit A I, weil die Sorge für den Laib Brot und die Sorge für die Seele in solchen Notlagen zusammengehören – so wie der neugeborene Heiland mit der Krippe im Stall.

Und trotzdem: Im Stall konnte er nicht bleiben. Die Krippe war für ihn nicht mehr als ein Zelt. Der Aufbruch war dem Jesuskind in die Wiege gelegt. Auch das ist von ihm zu lernen: Eine Bleibe finden wir nicht dadurch, dass alles bleibt, wie es war. Zur Heimat des Menschen gehört, dass er im Aufbruch lebt. Denn Gott zieht mit den Suchenden und ermutigt die Fragenden. Gott, der mit uns geht, er selbst ist das, was bleibt. Das macht unseren Blick frei für das, was kommt. Die Zukunft ist unser Haus.

IV. 

Wer bleiben will, muss teilen können. Denn keiner von uns lebt für sich allein. Nicht alle, mit denen wir zusammenleben, sind uns vertraut. Unser Blick gilt auch denen, die als Fremde kamen, aber nicht fremd bleiben wollen. Er gilt denen, die Zuflucht suchten und nun in dieser Zuflucht ihre Bleibe sehen. Sie möchten, dass ihnen zugestanden wird, was für sie schon lange Wirklichkeit wurde: In dem Land wollen sie auf Dauer leben, in dem sie schon lange sind, ohne in die alte Heimat zurückkehren zu können. Ein Mensch, dessen Biografie sich an einer Kette von Duldungen entlang erzählen lässt, kann sich nicht dauerhaft verwurzeln. Die immer nur kurze Dauer der Duldung hindert ihn daran. Klarheit ist hier nötig, damit Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen können. Missbrauch darf nicht mit einem Mantel der Naivität zugedeckt werden. Aber Härtefälle sind in menschenfreundlicher Weisheit zu entscheiden. Dazu lädt der Härtefall ein, der uns in der Krippe vor Augen liegt.

Wer bleiben darf, gehört dazu. Eine Bleibe zu haben heißt, zur Integration bereit zu sein. Es gibt eine äußere Integration, in der wir uns auf unsere Umgebung einstellen und von ihr angenommen werden. Integration hat aber auch eine Innenseite. Sie hat damit zu tun, was uns im Innersten zusammenhält. Jeder Mensch sehnt sich danach, selbst zu einem Ganzen zusammengefügt zu sein und in seiner Umgebung angenommen zu werden. Niemand kann „integer“ leben, also unversehrt und anerkennenswert, ohne innerlich wie äußerlich eingebunden und getragen zu sein.

Gottes Haus auf Erden ist nicht mit Menschenhänden zu bauen. All unsere Gotteshäuser – und seien sie noch so eindrucksvoll! – sind nur Abbilder des Zeltes, in dem Gott mit den Suchenden mitzieht, den Fragenden nachgeht und den Glaubenden den Weg weist – wie die Krippe, die an jedem Ort dieser Welt stehen kann. Das Wunder der Heiligen Nacht ist, dass Gott unter uns heimisch wird. Dass Gott unter uns wohnt, indem er für uns Wohnung schafft, lässt uns staunen, danken und von seiner Gnade singen. Aus diesem dankbaren Staunen heraus wollen wir sogar selbst für ihn zur Wohnung werden: EINS ABER HOFF ICH, WIRST DU MIR,/​MEIN HEILAND, NICHT VERSAGEN:/​DASS ICH DICH MÖGE FÜR UND FÜR/​IN, BEI UND AN MIR TRAGEN./​SO LASS MICH DOCH DEIN KRIPPLEIN SEIN;/​KOMM, KOMM UND LEGE BEI MIR EIN/​DICH UND ALL DEINE FREUDEN (EG 37, 9). 

Heiligabend, 24.Dezember 2004, Berliner Dom und St.Marien zu Berlin

Vertrauen auf Gottes schöpferische Kraft

LUKAS 18, 27

I. 

„The Secret – das Geheimnis“ – so hieß die erste Internetbotschaft, die mich zum Beginn des neuen Jahres begrüßte. Da winkt ein großes Schnäppchen gleich am 1.Januar, dachte ich (nachdem ich all die Weihnachtsschnäppchen leider verpasst hatte, weil mir zum Wühlen in den Sonderangeboten die Zeit fehlte). Also wollte ich sofort wissen, worin das Geheimnis bestehen könne. „Wie Sie Wohlstand und Unabhängigkeit erreichen können, erfahren Sie hier.“ Nicht mehr als zwei Minuten seien dafür erforderlich. Na klar, die zwei Minuten investierte ich. Das war doch ein gutes Zeit-Leistungs-Verhältnis: zwei Minuten – und die Frage, wie ich Wohlstand und Unabhängigkeit erreichen kann, ist ein für alle Mal beantwortet. Und das zu Beginn des Jahres 2009.Was will man mehr – gerade in diesem Jahr.

Natürlich erwies sich das ganze als Bluff. Eine solche Antwort erhält man nicht in zwei Minuten – und erst recht nicht umsonst. Ich sollte nur heiß gemacht werden auf eine Antwort, für die es in diesen zwei Minuten keinerlei Hinweis gab – außer dem, dass schon alle großen Geister der Weltgeschichte danach gesucht haben. Nun aber sei die Antwort gefunden, ich brauche nur weiter zu klicken. Was ich dann doch lieber bleiben ließ.

Nichts bleibt dir verborgen, „nichts ist unmöglich“ – solche Reklamesätze gehören zu der Welt, die uns umgibt. Es ist die Welt des Homo faber, des Machermenschen, der denkt, dass ihm alles gelingen muss. Unlösbare Aufgaben gibt es für ihn nicht. Der Schweizer Schriftsteller Max Frisch hat ihm vor einem halben Jahrhundert ein Denkmal gesetzt.

„Ich glaube nicht an Fügung und Schicksal, als Techniker bin ich gewohnt, mit den Formeln der Wahrscheinlichkeit zu rechnen…. Ich brauche, um das Unwahrscheinliche als Erfahrungstatsache gelten zu lassen, keinerlei Mystik, Mathematik genügt mir.“ So sagt der Homo faber bei Max Frisch.

Der gleichnamige Roman aus dem Jahr 1957 kritisiert die Weltsicht einer ganzen Epoche. Die Kritik hat auch ein halbes Jahrhundert später noch ihr Recht. Der Glaube an die unbegrenzten Möglichkeiten menschlichen Machens beherrscht uns immer noch. Der Homo faber ist nach wie vor am Werk. Nicht nur Menschenmögliches, sondern auch Unmögliches will er verwirklichen.

Die biblische Botschaft stellt unseren menschlichen Möglichkeiten immer wieder die unbegrenzte Schöpfermacht Gottes gegenüber. Der Prophet Jeremia verdeutlicht das so: ACH, HERR HERR, SIEHE, DU HAST HIMMEL UND ERDE GEMACHT DURCH DEINE GROSSE KRAFT UND DURCH DEINEN AUSGERECKTEN ARM, UND ES IST KEIN DING VOR DIR UNMÖGLICH (JEREMIA 32,17). Aber in einer kaum überbietbaren Kürze geschieht das in dem Wort Jesu, das uns als Jahreslosung durch das Jahr 2009 begleiten will.

II. 

WAS BEI DEN MENSCHEN UNMÖGLICH IST, DAS IST BEI GOTT MÖGLICH (LUKAS 18,27). So heißt die Jahreslosung für das Jahr 2009.